|95|SECHSTES KAPITEL

 

Mina Murrays Tagebuch

 

Whitby, den 24. Juli

Lucy holte mich am Bahnhof ab. Sie sah schöner aus als je zuvor, und wir fuhren zusammen zum Haus am Crescent, wo sie Zimmer bewohnen. Es ist ein reizendes Fleckchen Erde. Der kleine Fluss, der Esk, kommt durch ein tiefes Tal herunter, das sich in der Nähe des Hafens erweitert. Ein großer Viadukt führt darüber hinweg, mit hohen Steinpfeilern, durch welche sich eine entzückende Aussicht auf die Landschaft eröffnet. Das Tal ist lieblich grün und so tief eingeschnitten, dass man von den Hängen aus einfach darüber hinwegschaut, wenn man nicht bis direkt an den Rand tritt. Die Häuser der Altstadt auf der gegenüberliegenden Seite sind alle mit roten Dachziegeln gedeckt und übereinandergeschachtelt, ganz wie es auf Bildern von Nürnberg aussieht. Über der Stadt erhebt sich die Ruine der Whitby Abbey1, die von den Dänen zerstört wurde und in der der Teil von »Marmion«2 sich abspielt, in dem das Mädchen eingemauert wird. Es ist eine sehr schöne Ruine von ungeheurer Ausdehnung und voll von herrlichen, romantischen Plätzen, von denen die Sage geht, dass sich öfter eine Weiße Frau sehen lasse. Zwischen dem Kloster und der Stadt befindet sich noch eine Kirche, die Pfarrkirche, um die herum sich ein großer Friedhof mit vielen Grabsteinen ausbreitet. Meiner Ansicht nach ist es der reizendste |96|Fleck von ganz Whitby, denn er liegt direkt über der Stadt und gewährt volle Aussicht auf den Hafen und die Bucht, in die sich die Kettleness genannte Landspitze weit hinausstreckt. Die Böschung ist so steil, dass schon Stücke heruntergebrochen sind, wodurch eine Anzahl Gräber zerstört wurde.

An einer Stelle hängen die Grabsteine sogar direkt über dem sandigen Fußweg tief unten. Es führen Spazierwege mit Bänken durch den Friedhof. Den ganzen Tag sitzen und gehen hier Leute, genießen die herrliche Aussicht und freuen sich am kräftigen Seewind. Ich werde sehr oft heraufkommen und meine Arbeit mitbringen. Tatsächlich sitze ich auch jetzt gerade an dieser Stelle und schreibe, mein Buch auf den Knien, und höre den Gesprächen dreier alter Männer neben mir zu. Anscheinend machen sie nichts weiter, als den ganzen Tag hier zu sitzen und zu reden.

Tief unter mir liegt der Hafen. Auf der anderen Seite der Flussmündung ragt eine Granitmauer weit ins Meer hinaus, deren Ende sich nach außen biegt und einen Leuchtturm trägt. Ein mächtiger Wellenbrecher schützt die Außenseite. Der Wellenbrecher auf meiner Seite ist einwärts gebogen und trägt auch einen Leuchtturm. Zwischen den beiden Piers ist nur eine schmale Einfahrt in den Hafen, die sich dann aber plötzlich verbreitert.

Besonders schön ist es bei Flut, aber wenn diese sich verlaufen hat, dann liegt der Hafen fast trocken, und der Esk schlängelt sich zwischen sandigen, von Felsbrocken gesäumten Ufern hindurch. Außerhalb des Hafens zieht sich, wohl eine halbe Meile lang, ein großes Riff hin, dessen scharfe Kanten gerade hinter dem südlichen Leuchtturm beginnen. Dort ist eine Boje mit einer Glocke, die bei hoher See anschlägt und klagende Töne in den Wind schickt. Es gibt hier eine Legende, dass man auf dem Meer Glocken hört, wann immer ein Schiff untergegangen ist. Ich werde mal den alten Mann danach fragen, der hier gerade entlang kommt …

Das war aber ein lustiger alter Herr! Er muss schon schrecklich |97|alt sein, denn sein Gesicht ist durchfurcht und zerrissen wie die Rinde eines Baumes. Er erzählte mir, dass er schon fast hundert sei und Matrose in der Grönländischen Fischereiflotte war, als Waterloo3 geschlagen wurde. Er ist, fürchte ich, sehr skeptisch, denn als ich ihn über die Glocke auf der See und die Weiße Frau in der Abtei fragte, antwortete er mir eher schroff:

»Ich würd’ mich nich’ um so was kümmern, Miss, die Leute erzählen ja so viel. Das soll natürlich nich’ heißen, dass es solche Dinge niemals gegeben hat, aber zu meiner Zeit habe ich so was nich’ erlebt. Das ist alles schönes Zeug für Reisende und Fremde, aber für hübsche junge Damen wie Sie taugt das nich’. Diese Urlauber aus York und Leeds, die immer nur geräucherten Hering haben wollen und Tee trinken und nach billigem Kram Ausschau halten, die glauben das alles. Ich würd’ gern wissen, wer denen diese ganzen Lügen erzählt, selbst die Zeitungen sind ja voll davon!« Ich dachte, man könnte von ihm wohl allerlei interessante Dinge erfahren, und ich bat ihn deshalb, mir etwas vom Walfang in den früheren Zeiten zu erzählen. Er wollte eben damit anfangen, da schlug es sechs, worauf er sich mühsam erhob und sagte:

»Ich muss jetzt wieder heim, Miss. Meine Enkeltochter hat’s nich’ gern, wenn ich sie mit dem Tee warten lasse. Ich brauch’ schon sehr lange für die Stufen, und es sind sehr viele. Auch muss man in meinem Alter zu festen Zeiten essen.«

Damit humpelte er davon, und ich sah ihm zu, wie er, so gut und rasch es eben ging, die Stufen hinunterkletterte. Die Treppe ist eine wundervolle Eigenart dieses Ortes, sie führt von der Stadt zur Kirche hinauf. Es sind Hunderte von Stufen, ihre genaue Anzahl kenne ich nicht, und sie machen einen großen Bogen nach oben. Die Steigung ist so leicht, dass man sogar mit dem Pferd herauf und hinunter käme. Vermutlich hatte sie ursprünglich etwas mit der Abtei zu tun. – Ich sollte jetzt wohl auch heimgehen. |98|Lucy ist mit ihrer Mutter unterwegs, sie machen Besuche. Da es aber nur Anstandsvisiten sind, bin ich nicht mitgegangen. Sie werden jetzt wohl auch wieder zurückkommen.

 

25. Juli

Ich bin vor einer Stunde mit Lucy hier heraufgekommen, und wir hatten ein sehr interessantes Gespräch mit meinem alten Freund und den zwei anderen, die sich ihm immer zugesellen. Er ist für sie offenbar eine Autorität und muss seinerzeit eine diktatorische Persönlichkeit gewesen sein. Er lässt nur seine eigene Meinung gelten und diskutiert jeden nieder. Wenn er mit seinen Argumenten nicht siegen kann, wird er grob und nimmt das darauf eintretende Stillschweigen dann für Zustimmung. Lucy sieht süß aus in ihrem weißen Tenniskostüm: Sie hat Farbe bekommen, seit sie hier ist. Ich bemerkte, dass die alten Männer Eile hatten, heraufzukommen und sich neben sie zu setzen. Sie ist so nett mit den alten Leuten; ich glaube, diese haben sich schlankweg in sie verliebt. Sogar mein alter Freund gab sich besiegt und widersprach ihr nicht, während er mir dagegen doppelten Widerstand leistete. Ich brachte ihn auf das Thema alter Legenden, und er begann plötzlich, eine Art Rede zu halten. Ich will versuchen, sie aus dem Gedächtnis niederzuschreiben.

»Das is’ alles Unsinn, das ganze Zeug, nichts als Lug und Trug! Diese Geschichten von Verwunschenen, Geistern, Kobolden, wandelnden Seelen und so weiter taugen nur dazu, Kinder und schwache Weiber zittern zu machen. Sie sind nichts weiter als Einbildungen. Sie und alle Vorzeichen und Warnungen und Drohungen sind erfunden von Pfaffen, schlappen Bücherwürmern und Straßendieben, um den Leuten ein bisschen Gänsehaut zu machen oder sie zu etwas zu bringen, was sie sonst nich’ täten. Ich werde ganz wild, wenn ich nur daran denke! Aber nich’ genug, dass sie diese Lügen in Zeitungen drucken und von den Kanzeln herunter predigen, nein, sie müssen sie auch auf die Leichensteine schreiben. Schauen Sie sich nur um, all diese Steine |99|hier, die so stolz und aufrecht stehen – umfallen müssten sie eigentlich unter der Last der Lügen, die sie tragen: ›Hier liegt begraben …‹ und ›Im ewigen Gedenken …‹ steht auf jedem. Dabei liegt kaum unter der Hälfte von ihnen wirklich ein Toter. Und mit ›ewigem Gedenken‹ is’ auch nichts, keine Prise Schnupftabak is’ das wert. Nur Lügen, nichts als Lügen, so oder so! Mein Gott, das wird ein sonderbares Gedränge geben am Jüngsten Tage, wenn sie alle hier heraufkommen, um ihre Grabsteine zu holen, mit denen sie im Jenseits beweisen wollen, wie gut sie hienieden waren. Die Hälfte wird ganz klapperig sein, und ganz verhutzelt vom langen Liegen im Meer.«

Ich sah an der selbstzufriedenen Miene des alten Mannes und an der Art, wie er sich nach dem Beifall seiner Kameraden umsah, dass er meinte, mir nun gehörig imponiert zu haben. Um ihn zum Weiterreden zu veranlassen, entgegnete ich:

»Aber, Mr. Swales, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sicher sind diese Grabsteine doch nicht alle falsch?«

»Meinetwegen, dann mögen halt ein paar wenige zutreffen, aber nich’ die, auf denen die Leut’ zu doll gelobt werden. Es gibt Leut’, die halten einen Nachttopf für das Meer, solange er nur ihnen gehört. Überall nur Lügen. Nu, sehen Sie mal, da kommen Sie als Fremde hierher, und Sie sehen diesen Gottesacker hier …« – Ich nickte, um ihm so meine Zustimmung zu zeigen, obgleich ich seinen Dialekt kaum verstand. Dass er vom Friedhof sprach, hatte ich immerhin mitbekommen. Er fuhr fort: »Glauben Sie wirklich, dass alle diese Steine da über Toten stehen, die hier in Ruhe modern?« Ich nickte wieder als Zeichen der Zustimmung. »Nu, sehen Sie, genau da beginnt schon der Schwindel: Da sind nämlich Gräber dabei, die sind so leer wie die Tabakbox vom alten Dun am Freitagabend!« Er stieß seine Freunde an, und alle lachten. »Und bei Gott, wie sollte das auch anders sein? Sehen Sie einmal diesen hier an, den ersten hinter der Bank, lesen Sie nur!« Ich ging hinüber und las:

»Edward Spencelagh, Seemann, ermordet von Piraten vor der |100|Küste von Andres im April 1854, im Alter von 30 Jahren.« Als ich wieder zurück war, fuhr Mr. Swales fort:

»Da frage ich mich doch, wer den wohl heimgebracht haben soll, um ihn hier zu verbuddeln! Ermordet vor der Küste von Andres! Und Sie meinen wirklich, der würde hier liegen? Nu, ich könnte Ihnen sofort ’n gutes Dutzend Namen nennen, deren Knochen oben vor Grönland auf dem Meeresgrund liegen« – er wies mit seinem Arm nach Norden – »oder dort, wohin die Strömungen sie gespült haben mögen. Ihre Grabsteine stehen aber hier um uns herum. Sie können mit Ihren jungen Augen sogar noch die kleine Schrift auf den Lügensteinen lesen. Da, Braithwaite Lowrey – ich kannte seinen Vater, vermisst mit der »Lively« vor Grönland anno 20; oder Andrew Woodhouse, 1777 in denselben Gewässern ertrunken. Oder John Paxton, ein Jahr später bei Cape Farewell ertrunken, oder der alte John Rawlings, dessen Großvater mit mir zusammen gesegelt ist, der ertrank im Golf von Finnland anno 50. Glauben Sie denn, dass alle diese Leute nach Whitby stürzen werden, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts ertönt? Da hab’ ich doch einige Bedenken. Ich sag’ Ihnen was: Wenn die wirklich alle herkommen sollten, dann würd’ das ein Handgemenge geben wie in den alten Zeiten auf dem Eis draußen, wo wir von morgens bis abends aneinander war’n und am Abend dann beim Polarlicht unsere Schrammen einwickelten.« Das war offenbar ein stehender Witz unter den Einheimischen, denn der alte Herr kicherte amüsiert, und seine Kumpane stimmten vergnügt ein.

»Nun«, sagte ich, »wie dem auch sei, mit Ihrer Behauptung, dass all die armen Seeleute oder ihre Seelen zum Jüngsten Gericht ihre Grabsteine mit hinaufschleppen müssen, liegen Sie gewiss falsch. Meinen Sie denn wirklich, dass das nötig sein wird?«

»Nu, zu was wären die Grabsteine denn sonst gut? Können Sie mir das vielleicht sagen, Miss?«

»Zum Trost der Angehörigen, denke ich.«

»Zum Trost der Angehörigen, meint sie!«, sagte er spöttisch. |101|»Wie kann es denn die Verwandten trösten, wo sie doch wissen – und wo die ganze Stadt es weiß –, dass da nur Lügen draufstehen?« Er deutete auf den alten Grabstein zu unseren Füßen, der als Unterlage für unsere Bank diente, die dicht an der Klippe stand. »Lesen Sie nur einmal die Zeilen auf diesem Grabstein da«, sagte er. Von meinem Platz aus standen die Buchstaben auf dem Kopf, Lucy aber saß günstiger und las:

»›Zur ewigen Erinnerung an George Canon, der in der Hoffnung auf die Auferstehung starb am 29. Juli 1873, da er von den Felsen von Kettleness stürzte. Dieses Denkmal wurde dem heiß geliebten Sohn von seiner trauernden Mutter errichtet. Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war Witwe.‹ – Wirklich, Mr. Swales, das finde ich überhaupt nicht spaßig!« – Lucy sprach diese Worte mit ernster, fast ein wenig strenger Stimme.

»Sie finden’s überhaupt nich’ spaßig? Ha, ha! Das kommt daher, weil Sie nich’ wissen, dass die Mutter eine richtige Höllenkatze war, die ihn hasste, weil er krumm war – ein richtiger Krüppel war der! Und er hasste sie so sehr, dass er sich umbrachte, nur damit sie nich’ die Versicherungssumme bekam, die sie auf sein Leben abgeschlossen hatte. Er hat sich nämlich die Schädeldecke mit ’ner alten Muskete weggeschossen, die sie zu Hause hatten, um die Krähen damit zu erschrecken. Auf diese Weise is’ er vom Felsen gepurzelt. Und was die Hoffnungen auf die Auferstehung anbetrifft, da hab ich ihn öfter sagen hören, er wolle in die Hölle. Seine Mutter war nämlich so fromm, dass er sie nich’ auch noch im Himmel ertragen wollte. Nu, was sagen Sie, is’ dieser Stein nich’ in jeder Hinsicht« – er hämmerte mit seinem Gehstock darauf herum, während er sprach – »ein Haufen Lügen? Und wird der Erzengel Gabriel nicht kichern, wenn Georgie, den Leichenstein auf seinem Buckel schleppend, die Stufen hinaufgehumpelt kommt, um sich damit zu legitimieren?«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber Lucy gab dem Gespräch eine andere Wendung, indem sie im Aufstehen sagte:

»Oh, warum haben Sie uns dies erzählt? Hier ist mein Lieblingsplatz, |102|und ich will ihn nicht aufgeben. Und da sagen Sie mir nun, dass ich auf dem Grab eines Selbstmörders sitze!«

»Das schadet Ihnen schon nichts, mein Herzchen, und es würde dem armen Georgie gewiss eine große Freude bereiten, wenn er wüsste, dass so ein süßes Ding auf seinem Grabstein sitzt. Das darf Sie also nicht genieren. Sehen Sie, ich sitze hier schon fast zwanzig Jahre lang, und es ist mir noch nie ein Leid geschehen. Kümmern Sie sich also nich’ darum, was da unter Ihnen liegt oder auch nich’ liegt. Erst, wenn Sie all die Grabsteine davonrennen sehen und der Platz hier so blank wie ein Stoppelfeld ist, dann ist’s an der Zeit, sich zu gruseln. – Da schlägt die Uhr, ich muss los. Ich empfehle mich, meine Damen!« Und schon humpelte er davon.

Lucy und ich blieben noch eine Zeit lang sitzen, und es war so viel Schönheit vor unseren Blicken ausgebreitet, dass wir einander die Hände hielten. Sie sprach unablässig von Arthur und ihrer kommenden Hochzeit, was mich fast ein wenig herzenskrank machte, denn ich habe nun schon seit über einem Monat nichts mehr von Jonathan gehört.

 

Am selben Tag

Ich kam alleine wieder hier herauf, denn ich bin sehr betrübt. Es war immer noch kein Brief für mich da. Ich hoffe inständig, dass Jonathan nichts zugestoßen ist. Eben hat es neun geschlagen. Ich sehe die über die Stadt verstreuten Lichter, wo die Straßen entlanglaufen, bilden sie Reihen, dann leuchten sie wieder vereinzelt an verschiedenen Stellen. Sie laufen den Esk hinauf und verlieren sich schließlich in der Biegung des Tales. Links ist mir die Aussicht durch das dunkle Dach des Hauses neben der alten Abtei versperrt. Lämmer und Schafe blöken auf der Weide hinter mir, und man vernimmt das Klappern von Eselshufen auf der gepflasterten Straße tief unten. Eine Musikkapelle spielt auf dem Pier einen schnellen Walzer, sie halten den Takt ausgezeichnet. Weiter entfernt vom Hafen ist irgendwo in einem Nebengässchen |103|eine Zusammenkunft der Heilsarmee. Keine der Kapellen stört die jeweils andere, aber von hier oben aus kann ich sie beide hören. Wo mag Jonathan gerade sein, ob er wohl an mich denkt? Ich wünschte, er wäre hier.

 

Dr. Sewards Tagebuch

 

5. Juni

Der Fall Renfield wird immer interessanter, je mehr ich den Mann verstehen lerne. Er hat einige sehr stark hervortretende Eigenschaften: Egoismus, Verschlossenheit und Zielstrebigkeit. Ich möchte wissen, worauf sich Letzteres bezieht. Ich glaube, er hat einen ganz bestimmten Plan, aber was es damit auf sich hat, weiß ich noch nicht. Seine beste Eigenschaft ist vielleicht seine Liebe zu Tieren, dann aber behandelt er sie wieder mit abnormer Grausamkeit. Seine Haustiere sind seltsam, gegenwärtig ist der Fliegenfang sein Hobby. Er hat mittlerweile eine solche Menge beisammen, dass ich schon protestieren musste. Zu meinem großen Erstaunen folgte daraufhin kein Wutausbruch, sondern er nahm es mit gesetztem, ruhigem Ernst einfach hin. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Können Sie mir drei Tage gönnen? Danach werde ich sie alle abschaffen.« Natürlich gab ich mich zufrieden, ich muss ihn aber beobachten.

 

18. Juni

Er hat sich nun auf Spinnen verlegt, von denen er schon mehrere große Exemplare in einer Schachtel gefangen hält. Er füttert sie mit seinen Fliegen, deren Zahl auch schon beträchtlich abgenommen hat, obgleich er die Hälfte seiner eigenen Mahlzeiten dazu verwendet, neue Fliegen zu ködern.

 

|104|1. Juli

Seine Spinnen werden nun eine ebenso große Plage wie die Fliegen, und heute erklärte ich ihm, dass er sich auch von ihnen werde trennen müssen. Er wurde bei dieser Ankündigung so traurig, dass ich ihm sagte, er solle wenigstens einige davon freilassen. Darüber beruhigte er sich, und er wurde wieder fröhlich, da ich ihm dieselbe Frist setzte wie zur Vernichtung der Fliegen. Dann jedoch überkam mich ein starker Ekel vor ihm, denn als eine große Schmeißfliege, aufgebläht von irgendwelchem Unrat, in den Raum schwirrte, fing er sie, hielt sie frohlockend ein paar Augenblicke zwischen Daumen und Zeigefinger, und ehe ich noch seine Absicht erraten hatte, steckte er sie in den Mund und verspeiste sie. Ich schalt ihn deswegen, aber er erwiderte, es wäre sehr schmackhaft und äußerst gesund – schließlich wäre es Leben, kräftiges Leben, und dieses Leben würde nun in ihm sein. Das brachte mich auf eine Idee, oder wenigstens auf das Rudiment einer Idee. Ich muss aufpassen, wie er sich seiner Spinnen entledigt. Er ist zweifelsohne mit einem großen Problem beschäftigt, denn er führt ein Notizbuch, in das er ständig etwas einzutragen hat. Ganze Seiten sind mit Kolonnen von Zahlen gefüllt, deren Summen dann wieder Kolonnen bilden, als wenn er irgendeine statistische Feststellung machen wollte.

 

8. Juli

Es ist Methode in seinem Wahnsinn, und die noch unvollständige Idee in meinem Kopf nimmt festere Gestalt an, bald wird etwas Vollständiges aus ihr werden. Ich hielt mich meinem Schützling einige Tage fern, sodass ich genau feststellen konnte, ob irgendeine Änderung eintreten würde. Die Dinge blieben so, wie sie gewesen waren, nur dass er mit einigen seiner Launen gebrochen und neue an ihre Stelle gesetzt hatte. Er hat mit Mühe einen Sperling gefangen und hat ihn schon beinahe gezähmt. Seine Dressurmittel sind einfach – die Spinnen sind schon weniger geworden. Die übrig Gebliebenen sind übrigens gut genährt, |105|denn er bringt ihnen noch immer die Fliegen, die er mit seinen Mahlzeiten ködert.

 

19. Juli

Es geht vorwärts. Mein Freund hat nun eine ganze Sperlingskolonie, und seine Fliegen und Spinnen sind schon tüchtig dezimiert. Als ich eintrat, rannte er auf mich zu und sagte, er möchte mich um eine große Gunst bitten, um eine sehr, sehr große Gunst. Und wie er so sprach, schmiegte er sich an mich wie ein schmeichelnder Hund. Ich fragte ihn, was es denn wäre, und er antwortete mit einer gewissen Erregung in Stimme und Gebärden:

»Ein junges Kätzchen, ein niedliches, kleines, schmiegsames, verspieltes Kätzchen, mit dem ich spielen und das ich dressieren und füttern kann – füttern – füttern!« Seine Bitte traf mich nicht gänzlich unerwartet, denn ich weiß ja mittlerweile, dass seine Haustiere beständig an Größe und Stärke zunehmen. Und da es mich nicht besonders kümmert, wenn er seine zahme Spatzenfamilie auf dieselbe Art auslöscht wie die Fliegen und die Spinnen, sagte ich ihm, man werde sehen. Zugleich fragte ich ihn, ob er denn – im Falle, es werde ihm gestattet – statt eines kleinen Kätzchens nicht lieber eine ausgewachsene Katze haben wolle. Der Eifer seiner Antwort verriet ihn.

»Oh ja, ich will eine Katze! Ich habe nur um ein junges Kätzchen gebeten, weil ich fürchtete, Sie würden mir die Katze verweigern. Ein kleines Kätzchen hingegen, das kann man mir nicht abschlagen, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf und sagte ihm, dass das nicht so schnell gehen würde, dass ich die Sache aber im Auge behalten wolle. Sein Gesicht wurde lang, und ich konnte ein bedrohliches Zucken darin erkennen. In seinem Blick vermeinte ich kurz sogar so etwas wie den Willen zu erkennen, mich zu töten. Der Mann ist ein wahnsinniger Mörder, dessen Tötungsmanie sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Ich werde seine gegenwärtige Gier untersuchen und sehen, wohin sie führt – dann wird man mehr sagen können.

 

|106|10 Uhr abends

Ich habe ihn erneut besucht und fand ihn brütend in einer Ecke. Als ich eintrat, warf er sich vor mir auf die Knie und flehte mich an, ihm doch eine Katze zu genehmigen, sein Seelenheil hinge davon ab. Ich blieb trotzdem fest und machte ihm klar, dass ich seinen Wunsch jetzt nicht erfüllen könne, worauf er sich, ohne ein Wort zu sagen, umdrehte und sich, an seinen Fingern nagend, wieder in die Ecke setzte, wo ich ihn bei meinem Eintritt gefunden hatte. Ich werde ihn morgen früh wieder besuchen.

 

20. Juli

Sehr früher Besuch bei Renfield, noch bevor der Pfleger seine Runde gemacht hatte. Ich fand ihn schon auf den Beinen und vor sich hin summend. Er streute am Fenster seinen Zucker aus, den er sich aufgespart hatte, und begann offenbar wieder mit seiner Fliegenfängerei. Dabei schien er zufrieden, und er hatte auch gute Erfolge. Nach seinen Vögeln blickte ich mich vergeblich um, und fragte ihn daher, wo diese denn seien. Er erwiderte, ohne sich umzudrehen, sie wären alle fortgeflogen. Es lagen aber einzelne Federn im Zimmer umher, und auf seinem Kopfkissen war ein Tropfen Blut. Ich sagte nichts und ging wieder, beauftragte aber den Pfleger, mich sofort zu benachrichtigen, wenn sich im Laufe des Tages etwas Besonderes ereignen sollte.

 

11 Uhr vormittags

Soeben hat mich der Pfleger aufgesucht und mir gemeldet, dass Renfield sehr krank sei und eine Menge Federn erbrochen habe. »Ich glaube, Herr Doktor«, sagte er, »dass er seine Vögel gegessen hat. Er hat sie einfach gepackt und im rohen Zustand verzehrt!«

 

11 Uhr abends

Ich habe Renfield zur Nacht ein starkes Opiat gegeben, genug, dass selbst er schläft. Dann nahm ich sein Notizbuch an mich, |107|um es zu studieren. Es bestätigt die Ansichten, die ich bisher über seinen Fall gehabt habe.

Mein Mörder in Wartestellung ist von ganz eigener Art; ich muss einen neuen Begriff für seinen Wahnsinn prägen. Ich glaube, ich nenne ihn einen Zoophagus, einen Fresser lebendiger Wesen. Sein Verlangen besteht darin, so viele lebendige Wesen zu absorbieren wie möglich, und sein Verfahren ist kumulativer Art: Er verfütterte viele Fliegen an eine Spinne und viele Spinnen an einen Vogel. Schließlich wollte er eine Katze, auf dass diese die vielen Vögel fresse. Was wären seine nächsten Schritte gewesen? Fast reizt es mich, ihn das Experiment zu Ende bringen zu lassen. Dazu wäre natürlich ein hinreichender Grund vonnöten. Allerdings: Man hat auch über die Vivisektion gespottet, aber man sehe nur ihre Ergebnisse! Warum sollte man die Wissenschaft auf ihrem kompliziertesten und vitalsten Gebiet, auf dem Gebiet der Hirnforschung, nicht auch so vorantreiben können? Wenn ich doch nur das Geheimnis eines einzigen Gehirns besäße, wenn ich den Schlüssel zu den Ideen nur eines einzigen Wahnsinnigen hätte, so würde ich meinen Wissenschaftszweig zu einer solchen Höhe emporführen, dass Burdon-Sandersons Physiologie oder Ferriers Lehre vom Gehirn4 einfach ein Nichts wären. Wenn doch nur ein hinreichender Grund vorläge! Ich darf nicht zu sehr daran denken, sonst komme ich wahrlich noch in Versuchung. Ein einziger guter Grund könnte den Ausschlag zu meinen Gunsten bewirken. Bin ich denn nicht ebenfalls ein außergewöhnlicher Kopf?

Wie klar dieser Mann argumentiert! Innerhalb ihrer eigenen Welt vermögen die Wahnsinnigen dies übrigens oft. Ich frage mich, auf wie viele »Leben« er wohl einen Menschen taxieren würde, vielleicht nur auf eines? Er hat seine Berechnungen ganz gewissenhaft abgeschlossen, und heute hat er wieder von Neuem |108|begonnen. Wie viele von uns vermögen es schon, jeden Tag ihres Lebens aufs Neue zu beginnen?

Mir kommt es wie gestern vor, dass mit dem Erlöschen meiner Hoffnungen auch mein bisheriges Leben endete. Nun müsste ich eigentlich mit etwas Neuem beginnen. Und so wird dann wohl weitergehen, bis der große Buchhalter mit mir abrechnet und mein Hauptbuch mit einer Bilanz zu meinen Gunsten oder zu meinen Lasten abschließt. Oh Lucy, Lucy, ich kann dir nicht zürnen, noch meinem Freund, dessen Glück ja auch deines ist! Für mich aber heißt es jetzt, ohne Hoffnungen weiterzumachen und zu arbeiten. Arbeiten, arbeiten!

Wenn ich dafür doch nur einen ebenso starken Antrieb hätte wie mein armer wahnsinniger Freund, einen guten, selbstlosen Grund, so wäre ich schon zufrieden.

 

Mina Murrays Tagebuch

 

26. Juli

Ich bin so besorgt, und es bietet mir etwas Erleichterung, mich hier aussprechen zu können. Es ist so, als ob ich mir selbst etwas zuflüsterte und zugleich auf mich lauschte. Auch ist etwas in den stenografischen Zeichen, das sie so sehr von der normalen Schrift unterscheidet. Ich bin unglücklich wegen Lucy und wegen Jonathan. Ich hatte schon so lange nichts mehr von Jonathan gehört, da sandte mir gestern der liebe Mr. Hawkins, der immer so gut zu mir ist, einen Brief von ihm. Ich hatte ihm geschrieben und ihn gefragt, ob er denn nichts Neues von Jonathan wisse. Er antwortete, er hätte soeben eine Nachricht erhalten, die er mir beifügte. Es ist nur eine Zeile, geschrieben auf der Burg Dracula, in der Jonathan von seiner bevorstehenden Abreise Mitteilung macht. Das Ganze passt vom Stil her aber ganz und gar nicht zu ihm; ich verstehe ihn nicht und es ist mir unheimlich. Dann hat Lucy, die sonst ganz wohlauf ist, zu allem Überfluss ihre alte Gewohnheit |109|des Nachtwandelns wieder aufgenommen. Ihre Mutter sprach darüber mit mir, und wir haben ausgemacht, dass ich jede Nacht die Tür unseres Zimmers zuschließen und den Schlüssel zu mir nehmen werde. Mrs. Westenra weiß, dass Nachtwandler gewöhnlich auf Dachfirsten und an Klippen spazieren gehen, dann aber plötzlich aufwachen und mit einem grässlichen Schrei hinabstürzen.

Arme Frau, sie hat natürlich Angst um Lucy, und sie erzählte mir, dass ihr Mann, Lucys Vater, dieselbe Gewohnheit hatte. Er stand oft in der Nacht auf, zog sich an und wäre fortgegangen, wenn man ihn nicht aufgehalten hätte. Lucy will im Herbst heiraten und macht schon ihre Pläne bezüglich Kleidung und Hauseinrichtung. Ich nehme lebhaften Anteil daran, denn ich bin ja in der gleichen Lage, nur dass Jonathan und ich beabsichtigen, uns ganz einfach einzurichten. Mr. Holmwood – das ist Hon. Arthur Holmwood, der einzige Sohn von Lord Godalming – wird hierherkommen, sobald er abkömmlich ist, seinem Vater geht es nämlich nicht gut. Ich glaube, Lucy zählt die Minuten, bis er da ist. Sie möchte ihn gerne hier heraufbringen und ihm von der Bank an der Friedhofsklippe aus die Schönheit von Whitby zeigen. Es ist, möchte ich fast sagen, das Warten, das ihr so zusetzt. Wenn er ankommt, wird es ihr besser gehen.

 

27. Juli

Keine Nachricht von Jonathan. Ich beginne mich um ihn zu sorgen, obgleich ich ja keinen Grund dafür anzugeben wüsste. Aber ich wünsche so sehnlichst, dass er schreiben möge, und wäre es auch nur eine Zeile. Lucy nachtwandelt mehr denn je, und jede Nacht weckt mich ihr Herumgehen im Zimmer auf. Glücklicherweise haben wir so warmes Wetter, dass sie sich wenigstens nicht erkälten kann, aber schon die Sorge um sie und die immer gestörte Nachtruhe beginnen schädlich auf mich einzuwirken. Ich werde selbst schon nervös und schlaflos. Gott sei Dank hält Lucys Gesundheit stand. Mr. Holmwood ist plötzlich nach Ring |110|zu seinem Vater gerufen worden, der wohl ernsthaft erkrankt ist. Lucy ist bekümmert, weil das Wiedersehen nun wieder hinausgeschoben ist, aber äußerlich merkt man ihr nichts an. Sie ist ein bisschen kräftiger geworden, und ihre Wangen haben einen lieblichen, rosigen Schimmer. Sie hat das anämische Aussehen vollkommen verloren, und ich bete darum, dass ihr Zustand von Bestand sein möge.

 

3. August

Wieder ist eine Woche vorbei, und noch immer keine neue Nachricht von Jonathan. Mr. Hawkins teilte mir mit, dass auch er keine Post von ihm erhalten habe. Ich hoffe, er ist nicht krank geworden, aber das hätte er mir sicherlich geschrieben. Immer wieder nehme ich seinen letzten Brief zur Hand, doch es tröstet mich nicht: Das sind nicht seine Worte, und doch ist es seine Handschrift, ganz ohne Zweifel. – Lucy ist in der letzten Woche nachts nicht mehr so viel herumgewandelt, aber sie ist jetzt so seltsam angespannt, dass ich ganz verwirrt bin. Selbst in ihrem Schlaf scheint sie mich zu beobachten. Auch versucht sie, die Tür zu öffnen, aber da diese verschlossen ist, geht sie im Zimmer umher und sucht nach dem Schlüssel.

 

6. August

Weitere drei Tage ohne Nachricht. Dieses Warten wird langsam unerträglich. Wenn ich nur wüsste, wohin ich schreiben oder an wen ich mich wenden könnte, dann wäre es mir leichter. Aber niemand hat ein Wort von Jonathan erhalten seit seinem letzten Brief. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als Gott um Geduld zu bitten. – Lucy ist erregter als gewöhnlich, befindet sich aber ansonsten wohl.

Die letzte Nacht sah es draußen sehr bedrohlich aus, und die Fischer prophezeiten Sturm. Ich werde versuchen, auf so etwas zu achten und die Wetterzeichen kennenzulernen. Heute haben wir einen grauen Himmel, und die Sonne steht, während ich dies |111|schreibe, in Wolken gehüllt hoch über Kettleness. Außer dem smaragdgrün leuchtenden Gras ist alles grau; graue Felsen, über der grauen See hängen graue Wolken, deren unterste Ränder von der Sonne kaum durchleuchtet werden, und die Sandbänke strecken sich wie graue Finger ins Meer hinaus. Die See brandet über die Untiefen und Sandbänke, und graue Nebel streichen landeinwärts. Auch der Horizont verliert sich in grauem Dunst. Alles ist so riesig, die Wolken türmen sich wie gigantische Felsen, und über dem Wasser liegt ein dumpfes Brummen, als kündigte sich ein Unglück an. Dunkle Gestalten tauchen da und dort am Strand auf, zuweilen halb verhüllt von den Nebeln – sie sehen aus wie wandelnde Bäume. Die Fischerboote eilen heimwärts und heben und senken sich in der Brandung, bevor sie in den Hafen einlaufen und sich schräg übers Speigatt auf die Seite legen. Da kommt der alte Mr. Swales. Er hält direkt auf mich zu, und an der Art, wie er den Hut abnimmt, erkenne ich, dass er mit mir sprechen will …

 

Ich bin tief ergriffen von der Veränderung, die in dem Alten vorgegangen ist. Nachdem er sich neben mich gesetzt hatte, begann er in einer sehr sanften Weise:

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Miss.« Ich sah, dass es ihm nicht leicht wurde. So nahm ich denn seine alte runzlige Hand und bat ihn, geradeheraus zu sprechen. Dann sagte er, indem er seine Hand in der meinen ließ:

»Ich fürchte, meine Liebe, ich habe Sie mit all den hässlichen Dingen gekränkt, die ich die letzte Woche gesagt hab’, über die Toten und so. Doch so bös’ hab ich es nich’ gemeint, und ich bitt’ Sie, daran zu denken, wenn ich einmal nich’ mehr bin. Wir alten Leut’, die doch schon gebrechlich sind und mit einem Fuß im Grabe stehen, wir lieben es nich’, daran zu denken, und wir fühlen auch nich’ gern die Nähe des Todes. Deshalb hab’ ich mein eigenes Herz etwas aufheitern und mich etwas erleichtern wollen. Aber, Gott segne Sie, Miss, ich fürchte den Tod nich’, nich’ ein |112|bisschen, ich will nur jetzt noch nich’ sterben, wenn’s möglich ist. Meine Zeit wird schon recht nahe sein, denn ich bin alt, und volle hundert Jahre sind zu viel, als dass man das erwarten dürfte, dabei bin ich so nahe dran, dass der Knochenmann wohl schon seine Sense schleift. Sie sehen, ich kann nich’ von der Gewohnheit lassen, darüber zu scherzen. Bald wird der Todesengel für mich seine Posaune ertönen lassen. – Aber nu fangen Sie mal nich’ an zu weinen, meine Liebe!« Er sah, dass mir die Tränen kamen. »Und wenn er heut Nacht noch riefe, so würd’ ich mich nich’ sträuben, seinem Ruf zu folgen. Denn das Leben ist schließlich doch nichts als ein Warten auf etwas anderes, was wir gerade nicht haben, nur der Tod ist etwas, worauf wir uns unbedingt verlassen können. Aber ich bin zufrieden, wenn er zu mir kommt, und er kommt rasch. Er kann schon unterwegs sein, während wir da hinausschauen und nachdenken. Vielleicht kommt er mit dem Wind weit draußen über der See, der Zerstörung, Schiffbruch, Verzweiflung und Trauer bringt. – Doch sehen Sie nur da, sehen Sie!«, unterbrach er sich plötzlich. »Da ist etwas in diesem Wind und in der Luft, das sieht aus und riecht und schmeckt wie der Tod. Er liegt in der Luft, ich fühle ihn kommen. Mein Gott, lass mich zuversichtlich sein, wenn der Ruf an mich ergeht!« Er breitete seine Arme demütig aus, erhob seinen Kopf und bewegte den Mund, als würde er beten. Nach einigen Augenblicken des Stillschweigens erhob er sich, drückte mir die Hand, segnete mich und sagte mir Lebewohl, dann humpelte er davon. All das rührte mich tief und regte mich sehr auf.

Ich war froh, als ein Mann von der Küstenwacht mit seinem Fernrohr unter dem Arm vorbeikam. Er blieb stehen, um mit mir ein paar Worte zu wechseln, wie es hier üblich ist, aber er sah dabei immer wieder hinaus zu einem seltsamen Schiff.

»Ich kann’s nicht genau erkennen«, sagte er, »dem Aussehen nach ist es russisch, aber es schaukelt so eigentümlich herum, als ob die Mannschaft überhaupt keinen Plan hätte. Sie sehen wohl den Sturm kommen, können sich aber nicht recht entscheiden, |113|ob sie nach Norden ins offene Meer sollten oder bei uns festmachen. Sehen Sie nur! Die steuern mächtig komisch, vielleicht gehorcht das Schiff dem Steuermann gar nicht mehr? Jeder Windstoß wirft sie hin und her. Nun, bis morgen um diese Zeit werden wir wohl noch einiges erleben!«