30
Belagerung
Ich legte mir den Zimmermannsgürtel mit den Halterungen für Werkzeuge und Klettverschlusstaschen um. Wir waren zu dem Schluss gekommen, dass es am besten war, nicht zu viel mitzuschleppen. Die größte Waffe, die ich bei mir trug, war deshalb der Winkelschneider mit Diamantscheibe.
Damit rannte ich über die Kante des Turmdachs hinaus und warf mich ins Leere. Ich landete auf dem langen Eisenarm, mit dem einst die Raketentriebwerke über einen Schacht gehängt worden waren. Durch den Schacht war der Abgasstrahl in eine Grube geleitet worden. Sagan nannte den Arm »Abschussrampe«. Das war Position zwei.
Ich lief bis in die Mitte, griff nach der Kettensäge, die dort deponiert war, und zog am Seilzug – nach einigen Versuchen sprang sie an. Ein paar Mal ließ ich sie laut aufheulen und schickte damit ein durchdringendes, störendes Geräusch in den Wald.
Dann ließ ich die Säge über das Geländer an einer zuvor daran befestigten Nylonschnur hinunter, sodass sie frei in der Luft baumelte. Kurz berührte ich die Schnur, damit die Säge nicht mehr pendelte, und eilte dann in das Turmzimmer zurück.
»Okay«, meldete ich über das Funkgerät. »Alles bereit.«
Sagan fluchte.
»Was ist? Was ist los?«
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Aber jetzt ist es nicht mehr da.«
Ich holte tief Luft. »Sagan … falls wir das überstehen …«
»Wenn wir das überstanden haben …«
»… möchte ich.«
Ich hielt inne. Blinzelte in die Finsternis. Mein Herz begann höherzuschlagen. Ja. Sechs lavendelfarben leuchtende Flecken bewegten sich durch den Wald und kamen schnell näher. Einer von ihnen war deutlich vor den anderen.
»Emma?«, hörte ich Sagan. »Bist du da?«
»Ich kann sie sehen!«, flüsterte ich ins Mikrofon. »Sie kommen! Sie haben den Köder geschluckt. Sie sind auf direktem Wege vom Observatorium hierher.«
»Halt dich bereit. Wo sind sie gerade?«
»Kurz vor der verminten Wiese.«
Die Vampire begannen sich jetzt aufzuteilen. Ich fragte mich, ob Moreau der vordere Lichtfleck war, aber irgendetwas sagte mir, dass es auch die Frau, Lilli, sein könnte. Sie war von dem Bild der Sonne am wenigsten beeinträchtigt gewesen.
Der erste lavendelfarbene Fleck blieb am Rand der Wiese stehen, als befürchtete der perdu dort etwas Unangenehmes.
»Wo sind sie inzwischen?«, meldete sich Sagan wieder.
»Sie bleiben gerade stehen«, berichtete ich. »Als wüssten sie, dass dort eine Gefahr lauert. Nun macht schon! Worauf wartet ihr?«
Zwei weitere lavendelfarbene Flecken schlossen zu dem ersten auf, während die anderen seitlich ausschwärmten, als suchten sie einen Weg um die Wiese herum.
Nein! Nun lauft einfach geradeaus. Bitte.
Dann bewegten sie sich tatsächlich wieder vorwärts. In einem Höllentempo flogen sie förmlich über die Wiese.
»Sie rennen drüber!«, sagte ich ins Mikro. »Aber nichts … nichts passiert! Sie werden nicht einmal langsamer!«
Das Funkgerät rauschte, weil Sagan so laut fluchte.
»Mach, dass du wegkommst, Emma. Schnell!«
Als sie die Lichtung hinter sich gelassen hatten und den langen Hang, der zu dem Bunker führte, herabgelaufen kamen, nahmen die perdus Gestalt an. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Frau vorn war; sie bewegte sich eleganter als die anderen, wirkte zielstrebiger.
Ich merkte, wie ich instinktiv die Zähne zusammenbiss und den Blick verengte. Jetzt war es wirklich so weit. Es wurde ernst.
Ich dachte an meinen Großvater im Krankenhaus und an eine der wenigen Kriegserfahrungen, von denen er mir erzählt hatte.
Im Krieg regiert die Angst … und das, was sie aus dir macht. Wenn du nicht brutal sein kannst, dann sind sie brutal mit dir. Es ist nicht fair. Fairness gibt es nicht. Es geht nur darum, wer am Ende noch steht. Fairness ist später wieder dran.
Ich kauerte mich hinter einen Pfeiler und versuchte so viel meines eigenen schwachen Leuchtens abzuschirmen wie möglich.
Du kannst es schaffen, sprach ich mir selbst Mut zu.
Die leuchtenden Gestalten kamen zwischen den Bäumen hervor und liefen auf den Bunker zu. Vor dem Eingang blieben sie stehen und schienen etwas zu besprechen. Wollten sie etwa dort rein?
»Was ist los?«, fragte Sagan.
»Psst! Sie können dich hören.«
Ich sah, wie sie gestikulierend auf den Bunker zeigten. Dort ist etwas. Sie drängten sich vor dem Eingang und schauten. Das Herz schlug mir bis in die Ohren.
Ich hockte mich in den Eingang des Turmzimmers, angespannt und jederzeit bereit, auf die Galerie fast sechs Meter weiter unten zu springen …
Die Vampire entfernten sich vom Eingang des Bunkers und näherten sich dem Fuß des Turms. Flach atmend schwang ich mich wieder auf den Steg der Abschussrampe.
»Alles okay«, meldete ich ins Mikrofon. »Sie waren vor dem Bunker, aber jetzt sind sie auf dem Weg zum Turm.«
Ich konnte sie jetzt hören. Die perdus riefen sich gegenseitig etwas zu. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, weil es Französisch war, anscheinend eine Art Signal.
»Ich kann sie sehen!«, rief Sagan. »Alle zusammen an der Ostseite des Turms, aber noch am Boden. Sie zeigen nach oben.«
Moreaus tiefe Stimme drang zu mir herauf. »Droit et gauche. Repartir.« Daraufhin liefen drei von ihnen nach links, zwei weitere nach rechts.
»Flüstere lieber«, riet ich Sagan. »Sie scheinen sich aufzuteilen, jeder übernimmt eine Seite des Turms.«
»Ich glaube«, sagte er leise, »einer von denen … ja tatsächlich, einer beginnt an der Ostseite raufzuklettern.«
»Der gedrungene Kerl? Dieser Bastien?«
»Kann ich nicht erkennen.«
Ich hörte den Kletterer fluchen. Er hatte sich in den klappernden Stolperdrähten verfangen, die wir überall um den Turm herum gespannt hatten. Wütend zerrte er daran, dann wurde es plötzlich still.
Schnell bewegte ich mich von dem Metallarm zum Turm zurück, schwang mich über das Geländer und landete so leichtfüßig wie möglich auf der Galerie eine Etage weiter unten.
Dort angekommen drückte ich auf das Mikrofon am Funkgerät. »Position drei. Wo ist er?«
»Er ist wieder unterwegs«, berichtete Sagan. »Ein Viertel des Turms hat er schon geschafft, er klettert schräg …«
»Ich sehe ihn.«
Es war tatsächlich Bastien. Der stämmige Vampir sprang nicht, sondern zog sich an den Händen hinauf. Jede Griffmöglichkeit nahm er wahr, um sich weiter hochzuhieven. Ein kaltes Schaudern durchfuhr mich. Wenn es ihm gelang, mich mit diesen Pranken zu packen … Ich verdrängte den Gedanken und versuchte mir einzureden, es sei ein Vorteil, dass ich den Turm viel besser kannte als er.
»Hier lang!«, rief Bastien.
Ich schwang mich über das Geländer der Galerie und hing nun darunter, während der Vampir wie eine riesenhafte Krabbe immer näher kam. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf den besten Moment loszulassen. Der perdu kroch keine zehn Meter an mir vorbei. Ich wartete noch einen Moment, um sicher zu sein, dass er mich nicht gesehen hatte, bevor ich mich wieder auf die Galerie schwang.
»Noch zwei«, meldete Sagan.
Ich blickte nach unten. Die beiden Vampire, die wie Brüder aussahen, hatten sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Im Absprung riefen sie sich noch etwas zu und schienen in der Luft zu laufen, bevor sie den gleichen Weg an der Wand des Turms hinauf nahmen wie der gedrungene perdu vor ihnen.
»Ich sehe sie«, teilte ich ihm mit.
»Und zwei weitere kommen von der anderen Seite, aber sie nehmen die Treppe.«
»Wo ist Moreau?«
»Jedenfalls ist er keiner von denen, die gerade klettern. Ich habe ihn aus den Augen verloren.«
Mir darüber Gedanken zu machen, blieb mir keine Zeit. Die beiden Brüder waren schräg auf dem Weg nach oben.
Schnell.
Aus dem Funkgerät drang ein Husten.
»Bist du da?«, fragte Sagan.
»Hier!«, rief einer der Brüder in dem Moment. »Ich sehe sie! Schau mal! Ihr éclat!«
Mein Leuchten. Er hat mich leuchten gesehen.
»Ich muss Schluss machen!«, flüsterte ich und rannte auf der Galerie bis zu einem dicken Stützpfeiler, hinter dem ich mich verstecken konnte. Ich bekam Gänsehaut. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Der perdu, der mich gesehen hatte, stieg nur gut fünf Meter von mir entfernt auf die Galerie und lächelte.
»Das ist kein sehr gutes Versteck, Mademoiselle.« Er machte einen Schritt auf mich zu und deutete auf den Zimmermannsgürtel. »Willst du etwas bauen?«
Ich starrte ihn nur an.
»Du musst es mir nicht sagen. Das wirst du schon tun, wenn ich mit dir fertig bin, sofern du dann noch sprechen kannst.«
Der perdu zog die Schultern zurück und hechtete auf mich zu.
Ich legte den Schalter auf dem gelben Würfel um, an dem ich stand, und hob die Düse des Sandstrahlers. Überrascht riss der Vampir die Augen auf.
»Merde!«
Als ich das Gerät startete, traf ein scharfer Strahl aus Sand und Wasser den Vampir aus nächster Nähe direkt ins Gesicht.
Er kreischte, wich zurück und riss die Hände hoch, um seine bereits scheuernden Augen zu schützen. Ich ließ nicht von ihm ab. Den Sandstrahler zog ich hinter mir her und hielt die Düse erbarmungslos auf sein Gesicht und die Arme. Der Vampir taumelte rückwärts und ich folgte ihm, bis ich ihn bis ans Ende der Galerie getrieben hatte.
Jetzt konnten wir nirgends mehr hin, es sei denn, wir würden springen. Der Vampir brüllte vor Wut und versuchte erneut anzugreifen. Ich wich ihm aus und startete die Düse erneut. Dieses Mal bekam er eine Ladung direkt ins Ohr. Er prallte gegen die Verkleidung des Turms und hielt sich ächzend den Kopf. Langsam sackte er in sich zusammen.
Plötzlich nahm ich hinter mir eine Bewegung wahr. Schnell schwang ich die Düse herum.
Nicht schnell genug. Der zweite Bruder hatte sich bereits auf mich geworfen und drückte mich gegen das Geländer. Vor Angst und Schmerzen schrie ich laut auf. Mein Rücken wurde brutal nach hinten gebogen. Fluchend boxte mir der perdu mit den Fäusten in den Magen; wenn der Sandstrahler nicht so schwer gewesen wäre und ich mich nicht daran hätte festhalten können, wäre ich abgestürzt.
Mit den Beinen verhakte ich mich in den Metallstreben des Geländers und versuchte die Düse auf den Angreifer zu richten, aber er war zu nah – die Sandfontäne blies zwischen uns in die Luft.
Spuckend und fluchend kämpften wir um die Düse. Der Vampir war größer und stärker als ich. Er drückte mich mit all seiner Kraft zurück und zerrte an dem Strahler. Die Werkzeuge in meinem Gürtel stachen mir in den Bauch, aber ich wollte die Düse nicht loslassen, um sie zurechtzurücken.
Inzwischen hing mein Oberkörper fast waagerecht in der Luft. Unter mir ging es mehr als 15 Meter in die Tiefe. Der Sturz würde mich nicht umbringen, der perdu hingegen schon, so geschockt und hilflos wie ich hier hing.
Ich begann abzurutschen, ein Fuß hatte bereits keinen Halt mehr …
Der Vampir sah mich triumphierend an, sein Gesicht war so nah, dass ich in seine Nasenlöcher hinaufschauen konnte.
»Auf Wiedersehen, bonne femme.«
Die Nasenlöcher hinauf.
Ich gab den Versuch, die Düse zurückzuziehen auf und drückte sie dem Vampir stattdessen auf die muskulöse Brust, sodass ihm der Sandstrahl direkt in die Nase blies.
Jetzt riss auch dieser perdu vor Schreck die Augen weit auf, als ihm der Sand mit Hochdruck in die Stirnhöhle schoss. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sich jeder Teil seines Gesichts aufblähen; die Augen traten fast aus den Höhlen und die Haut färbte sich dunkelrot.
Der Vampir wankte rückwärts. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und das Blut spritzte zwischen seinen Fingern hindurch. Reglos stand ich am Geländer und beobachtete ihn. Er blickte in meine Richtung, aber es war deutlich, dass er mich nicht sehen konnte. Am ganzen Körper zitternd stolperte er nach vorn und stürzte dann vor meinen Füßen zu Boden. Reglos blieb er liegen.
Noch immer hatte ich die Hand auf dem Knopf und blies Sand in die Luft. Als ich ihn losließ, merkte ich, wie ich schnaufte. Der Vampir rührte sich nicht.
Ich fuhr herum und hielt nach seinem Bruder Ausschau.
Er war nirgends zu sehen.
Suchend blickte ich nach oben. Ungefähr drei Meter über meinem Kopf befand sich eine kleine Metalltür mit einer Plattform davor. Die Tür war geschlossen, aber das Schloss hatte ich bereits vorher aufgebrochen. Ich warf die Düse fort, schwang mich auf die Plattform und hechtete durch die Tür, die ich hinter mir zuschlug. Schnell verkeilte ich eine Stange als Verriegelung davor, fiel keuchend auf die Knie und versuchte nicht zu heulen.
»Nein. Nein. Nein.«
Nach einer Weile hatte ich mich ein wenig beruhigt, fürchtete aber, dass jeden Moment jemand die Tür eintreten könnte. Ich befand mich in einem Gang, der von einer Seite des Turms auf die andere führte. Überall hingen Rohre und Kabel herab und diverse Schläuche und alte elektrische Schalttafeln lagen herum.
Hier würde ich bleiben können. Diesen Ort hatten wir als letzten Rückzugsort für den Notfall vorgesehen. Ich starrte geradeaus. Die Zeit verging – wie viel wusste ich nicht. Sekunden? Minuten? Sagan hatte gesagt …
Plötzlich wurde mir bewusst, dass er die ganze Zeit in mein Ohr redete.
»Emma! Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, mir … mir geht es gut!« Ich versuchte nicht zu heulen.
»Wo bist du?«, wollte Sagan wissen. »Ich sah jemanden fallen. Danach habe ich immer wieder angerufen. Ist wirklich alles in Ordnung? Bist du verletzt?«
Seine Stimme zu hören, war wie ein großes Glas frisches, kühles Wasser zu trinken. Laut schluchzend rief ich: »Ich habe dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist. Ich bin auf Position acht und die Tür ist verrammelt.«
»Bist du dort sicher? Was ist los gewesen?«
»Ich habe … ich habe zwei von ihnen mit dem Sandstrahler erwischt. Die beiden jungen Typen, die wie Brüder aussehen.«
»Sind sie … sind sie tot?« Ich vernahm ein Beben in Sagans Stimme.
»Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung! Einen habe ich blind gemacht. Ich glaube, er ist abgestürzt. Der andere … er … ich … ich glaube, vielleicht ist er … Mein Gott, Sagan …«
»Emma, ist bei dir wirklich alles in Ordnung? Bist du verletzt?«
Ich berührte meine Seite und streckte mich – wenn auch unter Schmerzen. »Bei mir ist alles in Ordnung. Wo sind die anderen?«
»Zwei sind oben auf dem Turm und halten Ausschau. Der gedrungene perdu, der Bastien heißt, und der Riese.«
»Hast du irgendeine Vorstellung, wo Moreau sein könnte? Oder Lilli?« Eilig überlegte ich mir weitere Fragen, um nicht daran denken zu müssen, was ich gerade getan hatte.
»Nein«, antwortete Sagan. »Lilli habe ich vor einer Weile an der Nordseite gesehen, aber jetzt ist sie verschwunden. Danach habe ich etwas ganz hier in der Nähe gehört, ich weiß nicht, was es war …«
Ich fluchte. »Und dann redest du die ganze Zeit mit mir? Sie können dich hören!«
»Keine Panik. Ich kann hier niemanden sehen. Ich bin so blöd, ich hätte …« Er sprach nicht zu Ende.
»Was ist?«
»Ich weiß nicht, ich hätte mir etwas Besseres einfallen lassen müssen. Etwas anderes, um deine Sicherheit zu gewähren. Ich sollte dir dort oben helfen …«
»Du hilfst mir doch. Beobachte sie weiter, damit ich ihnen einen Schritt voraus bin.«
»Emma … ich halte es nicht mehr aus. Schleich dich runter und lass mich raus. Wir fliehen zum Jeep.«
»Aber wohin? Wohin sollen wir fliehen?«
»Ich weiß es nicht! Nur fort von hier.«
»Sagan … sie werden uns finden. Schlimmer noch: Wenn sie uns nicht finden, werden sie früher oder später unsere Familien aufsuchen. Wir müssen ihrem Treiben ein Ende bereiten. Wir haben keine Wahl. Ich muss wieder raus.«
Ich rieb mir die Augen und machte mich durch den ganzen Müll hindurch auf den Weg zu der kleinen Tür am anderen Ende des Gangs. Dort legte ich mein Ohr auf das Metall. Nichts. So leise, wie ich konnte, schob ich die Stange beiseite, mit der die Tür verriegelt war, und hielt sie wie eine Waffe vor mich, während ich öffnete.
Niemand war zu sehen. Ich blickte auf eine andere kleine Plattform hinaus, von der links und rechts Treppen hinunterführten. Lauschend wartete ich und streckte den Kopf dann weiter heraus, bis ich die gesamte Westseite des Turms einsehen konnte. Nichts, in keiner Richtung. Und dann …
»Emma! Pass auf!«
Sagan hätte es mir gar nicht sagen müssen. Der riesige Vampir mit den weichen Gesichtszügen war direkt vor mir gelandet, als wäre er vom Himmel gefallen. Zuerst dachte ich, er würde schweben. Dann sah ich, dass er sich an einem alten Gartenschlauch festhielt, der wegen seines Gewichts bis zum Anschlag gespannt war. Er lächelte.
Ich flüchtete zurück in den kleinen Gang, verriegelte die Tür wieder und entfernte mich durch den Gang so schnell wie möglich. Ein lautes Krachen war zu hören, die Tür wackelte und drohte trotz der Verriegelung herauszubrechen. Ich lief zu der anderen Tür. Doch auch von dort war ein Krachen zu hören und sie bebte.
Bastien?
Doch ich hatte keine Zeit, um mich zu vergewissern. In der Mitte des Ganges drückte ich mich ab und brach durch die Asbestplatten an der Decke hindurch. Staub und Rostteilchen regneten auf mich herab und ich war sofort von herunterhängenden Kabeln und Rohren umgeben. Mit den Armen rudernd kämpfte ich mich dort hinauf, bis ich mich waagerecht vorwärtsbewegen konnte. Dabei versuchte ich, nicht auf die zerbrechlichen Platten zu treten.
Doch im nächsten Moment zerbarst unter mir eine dieser Platten und eine Eisenfaust umfasste meine rechte Wade. Ich erhaschte einen Blick auf das Gesicht des riesigen Vampirs. Ich trat mit Wucht nach seinem gewaltigen Kiefer und traf stattdessen seine fette Wange. Einem normalen Menschen hätte dieser Tritt den Schädel von der Schulter gerissen, der große perdu hingegen verlor nur kurz das Gleichgewicht; ich hechtete vor, um zu fliehen.
Wieder schoss eine Hand durch die Platten und klammerte sich an meinem Knöchel fest. Abermals schwang ich den Fuß, dieses Mal trat ich mit voller Kraft gegen das Handgelenk des Vampirs. Doch er ließ nicht locker und begann mich hinunterzuziehen. Verzweifelt hielt ich mich an dem dicksten Rohr fest, das ich erreichen konnte.
Bitte, bitte, bitte!
Ich trat wie verrückt und hatte nur noch mit einer Hand Halt. Dann fiel mir das Messer in meinem Zimmermannsgürtel ein. Ohne weiter nachzudenken, zog ich das Messer am Griff heraus und hieb damit nach unten. Die Klinge traf die dicken Finger des Vampirs und schnitt zwei Spitzen ab, ein dritter Finger wurde bis zum Knochen aufgetrennt.
Der riesige perdu kreischte auf und hätte mir fast das Bein ausgerissen, als er seine gewaltige Hand zurückzog. Beinahe wäre ich gestürzt und das Messer wäre mir aus der Hand gerutscht und in den Gang eine Etage tiefer gefallen.
Weitere Hände brachten die Platten zum Bersten und lavendelfarbenes Licht drang von beiden Seiten zu mir herein, während ich mich verzweifelt wand und versuchte, ihnen zu entkommen. Vor mir sah ich einen weißen Eimer, doch in dem Moment zerbarst eine ganze Platte und vier massive Arme begannen den Metallrahmen der Decke hinunterzureißen.
Ein großer Teil fiel krachend in den Gang. Ich hielt mich an den Rohren fest und hatte das schreckliche Gefühl, für meine Gegner wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Unter mir konnte ich jetzt Bastien und den großen perdu sehen, die sich wütend abdrückten und hochsprangen. Als sie sich auf mich warfen, stürzte der Rest der Decke ab.
Gerade noch bekam ich den Rand des weißen Eimers zu fassen und stieß ihn um.
20 Liter Schwimmbadchlor kippten mit einem lauten Flopp um und schneiten den perdus mit chemischer Brennkraft direkt ins Gesicht. Eine Wolke stob auf und schmerzte auch mir in Nase und Augen. Ich schloss den Mund und hechtete blind durch die große Öffnung, die die Vampire gerissen hatten.
Mir blieb die Luft weg, als ich auf dem Stahlboden landete. Doch dann öffnete ich schnell die tränenden Augen, rappelte mich hoch und lief los. Meine Lunge schrie nach Sauerstoff, aber ich wagte hier drinnen nicht zu atmen. Im letzten Moment drehte ich mich um und sah die beiden perdus. Zusammengekauert kratzten sie sich die Gesichter und würgten elendig.
Ich stürmte durch die halb geöffnete Tür auf die Plattform und atmete gierig die Nachtluft ein. Hinter mir konnte ich zornige Rufe hören.
Klettern, dachte ich nur. Klettern.
Ich sprang ab und landete so leichtfüßig wie eine Katze an der Wand des Turms. Allerdings wäre ich auch fast gefallen wie eine Katze, die davon überrascht wird, dass der Landeplatz schwieriger ist als gedacht.
Die rostige Verkleidung des Turms war mit tellergroßen, sechseckigen Schrauben versehen, an denen ich mich festhielt. Leider standen die Schrauben nicht so weit vor, wie ich gehofft hatte, sodass es nicht leicht war, sich zu halten.
Unter mir schlug die Tür zum Gang auf und Bastien stürmte brüllend auf die Plattform. Sein Gesicht war weiß vom Chlor und die Augen leuchtend rot.
»Tuez-la, tuez-la, tuez-la!«
Hastig kletterte ich die steile Wand des Turms weiter hinauf, indem ich mich von einer Schraube zur nächsten hangelte. Bastien schnaubte wie ein wild gewordenes Tier und war schon wieder direkt hinter mir.
Aus dem Funkgerät, das ich noch am Ohr hatte, hörte ich Sagan etwas brüllen, aber ich konnte an nichts anderes denken als an das Monster, das mir auf den Fersen war. Jeden Moment würde er mich am Knöchel festhalten und vom Turm schleudern.
Tatsächlich rutschte ich von einer Schraube ab und sofort bekam mich Bastien mit seiner Pranke zu fassen. Zum Glück griff er nicht fest genug zu und ich konnte mich noch einmal befreien. Ich fand mein Gleichgewicht wieder und stieß mich mit den Zehenspitzen ab. Dabei betete ich, dass ich genug Vorsprung herausarbeiten würde, um auf die nächste Galerie zu gelangen.
Ich schnellte nach oben und fand tatsächlich Halt an der metallenen Bodenplatte, sodass ich mich über die Reling schwingen konnte. Kaum dass ich gelandet war, lief ich auch schon wieder die Galerie entlang.
Ich war auf der Suche nach einem bestimmten Metallrohr … bei dem hohen Tempo sahen alle Balken ziemlich ähnlich aus.
Bastien hatte die Galerie jetzt ebenfalls erreicht.
»Venez, elle est là!«, brüllte er hinunter. Dafür brauchte ich keine Übersetzung. »Sie ist hier!«
Der perdu raste auf mich zu. Tastend griff ich in das Rohr über mir und fand, was ich suchte – die Nagelpistole, die wir dort versteckt hatten.
Ich nahm sie in beide Hände und feuerte dem Vampir kleine Nägel in die Brust. Bastien stöhnte, als sie sich tief in seinen Körper bohrten, aber er kam noch immer näher. Ich zielte direkt auf sein Gesicht und schoss so schnell hintereinander, wie das Gerät es zuließ. Pop, pop, pop.
Bastien verzog das Gesicht. Ich sah, wie sich schwarze Punkte auf seiner Haut abzeichneten – die Nagelköpfe –, dennoch verringerte er den Abstand weiter und ich spürte eine Wand hinter mir. Nicht einmal, um von der Galerie zu springen, blieb Zeit. Ich musste mich auf einen Zusammenstoß einstellen.
»Tuez-la, tuez-la, tuez-la!«
Bastien rammte mich mit der Wucht eines außer Kontrolle geratenen Autos. Ich flog gegen die Verkleidung des Turms. Eine der großen Schrauben bohrte sich schmerzhaft in meinen Rücken.
Der gedrungene Vampir warf sich auf mich. Der Geruch nach Chlor und seinem ungewaschenen Körper drang mir in die Nase. Der Lauf der Nagelpistole wurde von seinem dicken Bauch zur Seite gedrückt und nach unten gedreht. Die Pistole ging los und ein Nagel landete in meinem Fuß.
Ich schrie mehr vor Überraschung als vor Schmerzen. Den Nagel spürte ich überhaupt nicht. Alles, was ich spürte, war der Schrecken, mich in Bastiens Fängen zu befinden.
Die Pistole fiel zwischen uns und Bastien drückte seine fleischigen Finger in meine Kehle. Die Narbe auf seiner Nase war leuchtend rot und seine Augen glänzten vor Hass. Um die Nagelköpfe herum quoll Blut hervor und lief ihm übers Gesicht.
Ich versuchte meine Hände zu befreien, doch der schwere Oberkörper des Vampirs hielt meine Arme unten. Ich bekam kaum noch Luft. Er quetschte das Leben aus mir heraus. Dann fühlte ich plötzlich etwas Hartes, Metallisches an der Hüfte. Den Winkelschneider.
Zwar gelang es mir, ihn aus dem Gürtel zu ziehen, aber weiter konnte ich ihn nicht heben. Bastien hatte noch immer die Hände an meiner Kehle und drückte sie immer fester zu. Mir wurde schwarz vor Augen, ich verlor das Bewusstsein …
Mit dem Daumen legte ich den Schalter des Winkelschneiders um und die Scheibe begann kreischend sich zu drehen. Ich stieß sie dem perdu mit geballter Vampirkraft in den Körper und zog sie dann im Bogen hinauf …
Bastiens Augen traten hervor. Die Diamantscheibe fräste sich mit einem schmatzenden Geräusch in sein Bauchfleisch und warmes Blut spritzte mir auf die Hände. Immer tiefer presste ich das Werkzeug in ihn hinein. Bastien ließ meine Kehle los und griff verzweifelt nach dem Schneider, doch die Scheibe trennte ihm die Finger ab.
Der perdu bemühte sich vergeblich, mich wegzuschieben. Dann versuchte er sich an meinen Schultern, an den Armen und sogar im Gesicht festzukrallen. Überall beschmierte er mich mit Blut, aber die Kraft wich mehr und mehr aus seinen mächtigen Armen.
Er taumelte einige Schritte rückwärts. Dann drehte er sich um und floh wankend über die Galerie. Nach drei Schritten sackte er jedoch in sich zusammen. Winselnd rollte er auf den Rücken. Sein Körper bebte, die Augen waren geöffnet. Dann wurde er ruhig. Am ganzen Körper. Noch immer hatte er Nägel im Gesicht.