20

Fallen

Zurück auf dem Parkplatz lehnte ich mich an den Jeep. Sagan legte den Arm um meine Taille.

»Du weißt, dass du mir die besten Tage meines Lebens bescherst«, sagte ich. »Mit mir ist noch nie jemand ausgegangen.«

»Das habe ich mir irgendwie gedacht.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie fühlte ich mich an mich selbst in meinen letzten Schuljahren erinnert. Als ich noch in der Schule war, habe ich es auch nicht besonders oft gemacht, und wenn, dann war es eher freundschaftlich. Ich habe mich mit der Chefredakteurin der Schülerzeitung getroffen, weil ich ebenfalls Redakteur war, so etwas eben. Oder mit einem Mädchen aus der Schach-AG.«

»Du warst in einer Schach-AG?«

»Ja.« Er streckte seine Brust vor. »Hast du etwa was dagegen?«

»Und in der Schulband warst du wahrscheinlich auch. Sag’s mir nicht. Du hast Tuba gespielt. Nein! Du warst immer mit einem dieser tragbaren Xylophone unterwegs …«

Er küsste mich.

»Hm. Du küsst aber nicht wie jemand aus der Schach-AG.«

Sagan umschlang mich von hinten. Ich konnte seinen Mund in meinem Haar spüren. Jede neue Bewegung steigerte mein Wohlbefinden, bis ich es kaum noch aushielt. Lag es daran, dass ich ein Vampir war? Oder war es etwas anderes?

»Du verwirrst mich ganz schön, weißt du das eigentlich, Sagan?«, stöhnte ich.

»Das ist meine Absicht.«

Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Nur weiter so.«

Lange saßen wir noch in seinem Jeep, redeten und knutschten. Irgendwann war der Parkplatz leer, abgesehen von uns und einem Straßenreinigungsgerät, das immer näher kam und uns dezente Hinweise gab.

»Sagan«, sagte ich.

»Was?«

»Würdest du ewig leben wollen, wenn du es könntest?«

Er legte eine Hand an sein Kinn und rückte ein Stück zur Seite. »Na ja, Genetiker sagen, dass in fünfzehn bis zwanzig Jahren fast alle Krankheiten heilbar sein werden und sich damit die Lebenszeit quasi ins Endlose verlängert. Klar, wer würde das nicht wollen? Es gibt so viele Dinge, die ich gern sehen und machen würde.«

»Aber denk doch mal darüber nach«, entgegnete ich. »Für immer. Es geht nie zu Ende. Ich weiß, dass es blöd klingt, aber überleg dir mal, was das bedeutet.«

»Du meinst, worin das endet? Was aus uns würde?«

»Ja, genau.«

»Ich weiß nicht, mir gefällt, was wir sind.«

Ich wurde eindeutig zur Nachteule. Nachdem Sagan mich abgesetzt hatte, war ich kein bisschen müde. Mit ihm zusammen zu sein, war wie eine Droge, die mich am Leben hielt. Nachdem ich eine Stunde lang auf der Luftmatratze gelegen hatte und nur an ihn gedacht hatte, stand ich auf und sah mich in dem schäbigen Zimmer nach einem Zeitvertreib um.

Ich sehnte mich nach einem Laptop – nie zuvor hatte ich mich so abgeschnitten von der Welt gefühlt.

Schließlich setzte ich mich an den schimmeligen Schreibtisch, holte Mandas Bild hervor und betrachtete es. Nach einer Weile legte ich meine Finger auf eine imaginäre Tastatur und begann Tastenkombinationen zu tippen, die mir so vertraut waren, dass ich nicht einmal mein Gedächtnis zu bemühen brauchte. Eher fühlten sie sich wie Muster an, mit denen ich geboren worden war. Muster, die mir vor der Geburt in die Finger eingegeben worden waren.

Muster.

Die Tischplatte fühlte sich moderig, fast aufgeweicht an, was mich jedoch nicht störte. Ich tippte weiter, bis mich gar nichts mehr störte.

Als ich wieder aufblickte, stand der Vampir in der Tür. Wie immer war er von einem lavendelfarbenen Leuchten umgeben. Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Er beobachtete mich. Sein schiefer Mund war zu einem zufriedenen Lächeln verzerrt.

Ich hatte keinerlei Waffen hier drinnen, nur Dinge wie Batterien oder Tüten mit Kleidung.

Mir fiel es schwer, ruhig zu bleiben. Vielleicht könnte ich ihn zurückdrängen und so hart zuschlagen, dass er vom Turm fiele.

Doch als ich versuchte aufzustehen, war ich unfähig, mich zu bewegen.

Noch immer lagen meine Hände auf dem Tisch. Jetzt geschieht es wieder, dachte ich. Ein weiterer Anfall. Ich kämpfte, gefangen im gepolsterten Gefängnis meines Kopfes, innerlich fluchend. Moreau kam immer näher, füllte den Raum. Er betrachtete die Wände, den Tisch, die übrigen Möbel. Das Einzige, was ich bewegen konnte, waren meine Augen; ich schaute von links nach rechts und versuchte ihm mit dem Blick zu folgen, um zu sehen, wofür sich der Vampir interessierte.

Moreau griff nach den Schubladen des Aktenschranks, hielt jedoch, kurz bevor er die Griffe berührte, inne. »Würdest du so freundlich sein und sie für mich öffnen, Mademoiselle? Damit ich mir einen Überblick verschaffen kann, was darin ist?« Er lachte, und es klang wie rollende Steine. »Das hätte ich gar nicht gedacht.«

Plötzlich lehnte sich der Vampir über den Tisch und ich sah die fleischige Wunde an seinem Kopf direkt vor mir. Mir stockte der Atem. Ich wusste, dass er nicht körperlich anwesend war, aber es fühlte sich doch so an.

»Und was tust du hier?« Er richtete sich auf und ich begann wieder zu atmen. »Ein … Zimmer«, stellte der Vampir fest. »Sehr sachlich. Alt. Keine décoration. Ich würde sagen, irgendwo in einem … Bürogebäude? Liege ich damit richtig? Eine abgewickelte Firma in Huntsville, Alabama, wo du dich versteckt hältst. Mit Tüten von … lass mich mal sehen, was ist das … United Outfitters und Outdoorwelt. Interessant.«

Dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: Mandas Bild, das auf dem Tisch lag.

Nein, schrie ich innerlich. Lass sie in Ruhe. Ich bringe dich um.

Lange betrachtete der Vampir das Foto und lächelte dabei. Schließlich entfernte er sich von dem Tisch und setzte sich in die Luft. Wo auch immer er sich physisch aufhielt, musste an der Stelle ein Sitzmöbel stehen.

»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Mademoiselle. Eine Geschichte über attachement – über Zugehörigkeit. Eines der ersten Kinder, das ich je … verwandelt habe, war ein junges Mädchen namens Ava. Sie erhörte meinen Ruf, obwohl ich zu der Zeit selbst noch nicht genau wusste, wie das funktionierte. Ich war selbst dort hineingerutscht. Meine Fähigkeiten waren ungelenk, rudimentaire. Ava kam dennoch. Ich nahm sie mit auf ihre erste chasse de sang. Wir verbrachten die Tage gemeinsam unter der Erde. Zeit hatte für uns keine Bedeutung mehr. Alles, was zählte, war, dass ich die Zeit mit ihr verbringen konnte.

Eines Nachts wachte ich auf und Ava war verschwunden. Es war mir vollkommen unbegreiflich. Hatte jemand sie gestohlen? Auf meinen Ruf reagierte sie nicht mehr.

Jahrelang suchte ich nach ihr, aber ich war zu inexpérimenté, zu unerfahren, um sie zu finden. Jahrzehnte vergingen. Ich zeugte viele neue Kinder, bis ich dessen überdrüssig wurde. Ich wollte nur noch allein sein. Um mich selbst zu finden, zog ich mich an einen Ort im Gebirge zurück. Ich habe die Berge immer gemocht, weil man dort abgeschieden von allem anderen sein konnte. Das behagte mir.«

Der Gesichtsausdruck des Vampirs veränderte sich, doch ich konnte ihn nicht deuten.

»Eines Frühlings traf ich Ava durch einen großen Zufall wieder. Sie stand an einer alten Fährstation am Fluss Neuse und blickte auf das Wasser, als würde sie auf jemanden warten. Ich betrachtete sie. Ihr goldenes Haar, ihre adolescence, ihre Jugend.Und dabei fühlte ich etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Ava erkannte mich sofort und rief überrascht meinen Namen, als wir aufeinander zueilten. Wir fielen uns in die Arme. Ich drückte sie fest an mich. So, weißt du?« Der Vampir kreuzte die Arme vor seiner breiten Brust und umschlang sich selbst. »Ich wollte sie nie mehr gehen lassen. Immer kräftiger drückte ich sie.«

Der Vampir umschlang sich fester, bis sein Gesicht rot wurde und er vor Anstrengung das Gesicht verzog.

»Ihre Augen weiteten sich, weil ich so sehr drückte. Bis schließlich … ihre Knochen knackten …«

Der Vampir lockerte den Griff um sich selbst und ließ die langen Arme sinken. Dann holte er mehrfach tief Luft und starrte auf den Boden.

»Um dir das zu erzählen, bin ich heute Nacht gekommen«, sagte er. »Um dir diese Erinnerung zu schenken. Mir geht es einzig und allein um Zugehörigkeit.«

Moreau erhob sich von dem unsichtbaren Stuhl. Langsam wich ihm die Farbe wieder aus dem Gesicht.

»À toute à l’heure.«

Er verschwand in der Dunkelheit.

À toute à l’heure. Ich wusste, was das hieß. Mein Großvater sagte es dauernd.

Bis später.

Die Anwesenheit des Vampirs hallte in dem Raum noch nach. Deshalb kletterte ich schnell aufs Dach und ließ mich auf die Luftmatratze fallen, nicht ohne nach der Axt zu tasten. Dieses Mal war Moreau so leicht zu mir durchgedrungen. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich einen Anfall bekam. Bedeutete das, er war näher gekommen? Zumindest hatte er keine neuen Hinweise bekommen.

Oh nein. Die Tüten. Der Vampir hatte die Tüten aus dem Shoppingcenter gesehen, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Die Schlinge zieht sich zu.

Abermals lag ich schlaflos da, abwechselnd ängstlich, dass er noch heute Nacht zurückkehren könnte, und wütend, dass er mir immer nur als Geist erschien. Das wuchs sich zu einem Psychokrieg aus.

Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich körperlich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Punkt, an dem ich nur überleben wollte, war überschritten. Ich hatte genug von seinen Spielchen. Ich wollte Moreau ruinieren, ihn zerstören, zermalmen. Aber dafür musste ich mehr darüber wissen, wo er war und was er tat.

Wieder saßen sie auf der steinernen Mauer. Aus der Ferne sahen sie aus wie lavendelfarbene Laternen mitten im Wald.

»Ach, unser Frischling ist wieder da«, rief Donne. »Sie kann einfach nicht von unserem trajet lassen.«

»Friss mich doch«, fauchte ich zurück. »Für so einen Mist habe ich heute keine Geduld.«

»Würde ich ja gern, aber wer weiß, ob du schmeckst?« gab Donne zurück, worauf Anton in albernes Gelächter ausbrach.

»Guten Abend, Emma«, grüßte Lena.

»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen«, sprach ich sie sofort an. »Deine Geschichte über Valentin – du hast erwähnt, dass er dir einmal erschienen ist, ohne körperlich anwesend zu sein. Das Wort begann mit ›LE‹.«

»L’essentiel«, antwortete Lena. »Ist das das Wort, nach dem du suchst? So nennen wir das Wesentliche.«

»Ja, genau das ist es. Ich muss unbedingt mehr darüber wissen … Wie geschieht das?«

Donne schnaubte verächtlich. »Ist das alles?«

Lena hingegen lächelte und reagierte wie immer zuvorkommend. »Das Wissen über l’essentiel eignet man sich mit der Zeit an. Dafür braucht man Geduld.«

»Und wenn ich es sofort wissen muss? Könntet ihr mir nicht eine Kurzfassung geben?«

Sie sah mich verständnisvoll an. »Gut, am besten beginnen wir mit dem champ.«

»Champ, das ist natürlich auch Französisch, oder?« Ich setzte mich neben sie. »Und es heißt so etwas wie ›Feld‹, glaube ich.«

»Stimmt«, bestätigte Lena. »Aber es hat nichts mit einem Kornfeld zu tun …« Sie blickte zu Anton hinüber. »Du kannst es besser erklären.«

Anton hüpfte von der Mauer und zeichnete mit dem Zeigefinger ein Strichmännchen in den Sand. »Hier, Emma, sagen wir, das bist du, okay?«

»Gut.«

Dann zog er einen Kreis um das Strichmännchen herum. »Dieser Kreis ist dein champ. Eigentlich ist es kein Kreis, denn es ist überall, verstehst du?«

»Überall um mich herum?«

»Sogar noch mehr. Um dich herum, in dir, durch dich hindurch …«

»Das champ ist also eine Art … unsichtbare Kraft, die überall um mich herum ist, in mir und so weiter?«

Anton schnippte mit den Fingern. »Genau! Nur dass eine ›Kraft‹ auf etwas anderes wirkt. Sie agiert. Das champ hingegen ist einfach da. Verstehst du? Es tut nichts, es ist einfach da. Die ganze Zeit. Egal, wohin du gehst. Dein champ, meins, Donnes, Lenas und so weiter und so fort.«

»Was ist mit den perdus?«, fragte ich.

»Die natürlich auch«, bestätigte Anton. »Alles hat ein champ, sogar Steine.« Er klopfte auf den Bären. »Es gibt unzählige verschiedene champs, die alle zusammen ein einziges großes champ darstellen. Ich erkläre es dir. Dein champ ist gleichzeitig alle champs zusammen, okay? Sie sind verbunden und bilden ein riesiges champ, das alles umfasst und alles abdeckt.«

»Wir sind also alle ein Teil dieses gigantischen champs.«

»Ja und nein«, antwortete Anton. »Jeder Teil enthält auch das Ganze. In jedem der kleinen champs ist eine … Abbildung … des Ganzen.«

»Klingt wie ein Hologramm«, sagte ich, weil ich mich daran erinnerte, dass wir über so etwas vor Kurzem in Physik gesprochen hatten.

»Ein was?«

»Ein Hologramm ist eine Art Bild, das man in kleinere Bilder zerschneiden kann, wobei das Gesamtbild immer erhalten bleibt. Egal, wie klein man es schneidet.«

»Genau so ist es!«, rief Anton. »Gefällt mir. Ein Hologramm. Das muss ich mir merken. Alle champs sind also verbunden und bilden ein großes champ, sodass unser Handeln durch alle champs hindurch wirkt. Sobald du ein Gefühl dafür bekommst, spürst du, dass sich jemand nähert. Ihr champ kündigt sich durch Schwingungen an.«

»Wie Spidermans Spinnensinn«, sagte ich.

»Hä?« Mit Spiderman konnte er offenbar nichts anfangen.

»Egal.«

»Wir kommunizieren auch damit. Das champ ist wie ein Telefonkabel. Man kann mit seiner Hilfe sprechen, wenn man weiß, wie.« Antons Augen blitzten. »Aber das champ bedeutet auch Gesundheit! Wenn du dafür sorgst, dass es im Lot ist, sorgt es im Gegenzug dafür, dass es dir gut geht. Die Infektion, wenn ein perdu jemanden überfällt, ist eigentlich ein Angriff auf das champ dieser Person. Verstehst du?«

Ich nickte. »Ich glaube schon.«

Anton zeigte mit dem Finger auf den Kreis im Sand. »Die Infektion ist nicht im Blut. Ein Arzt würde nichts finden. Sie ist keine Infektion des Körpers, sondern befällt das champ des jeweiligen Körpers.«

»Wow. Aber was ist jetzt mit l’essentiel?«

»Dazu komme ich noch. Wenn man von jemandem trinkt, verbinden sich die beiden champs vorübergehend«, erklärte Anton. »Sie mischen sich. Und wenn man lange genug trinkt, sind sie dauerhaft miteinander verkoppelt.«

»Aha. Als wir auf der Blutjagd waren, habt ihr gesagt, wenn man nicht zu viel von einer Person trinkt, wird diese nicht zum Vampir. Dann trennen sich die champs also wieder?«

Anton hob einen Finger. »Richtig, sie werden wieder zwei. Und bleiben unverändert.«

Ich dachte an Moreau. Wie lange war mein Feld mit seinem verbunden gewesen? Lange genug jedenfalls. Aber warum war ich nicht vollständig verändert worden? Der Anfall, dachte ich. Der tonisch-klonische Anfall musste den Prozess unter- oder vielmehr abgebrochen haben. Mir lief ein Schauer über den Rücken.

»Und … woher wisst ihr, wann ihr aufhören müsst?«, fragte ich.

»Das hat man im Gefühl«, schaltete sich Lena ein. »Man weiß, wann man sich der Grenze nähert. So ungern ich es sage, Emma, aber sobald diese Grenze überschritten ist, wird zwischen deinem champ und dem des Angreifers, der dich verwandelt hat, immer eine Bindung bestehen und diese wird auch mit der Zeit nicht nachlassen.«

Mir wurde schlecht. Nicht mit Moreau. Bitte nicht.

»Du meinst, ich werde diesen Scheißkerl nie mehr los, solange ich lebe? Er kann l’essentiel zu mir schicken, wann immer er will?«

Anton nickte. »L’essentiel kann wieder und wieder erscheinen. Bei den champs gibt es immer einen Absender und einen Empfänger. Der Absender kontrolliert die Verbindung und der Empfänger muss sich dem fügen.«

Abermals hob er den Finger. »Aber warte! Es gibt Hoffnung. Der Kontakt ist dennoch keine Einbahnstraße. Normalerweise ist derjenige der Absender, der die Verbindung initiiert. Es kann aber auch derjenige mit dem stärkeren Willen sein. Mit Geduld und jahrelanger Praxis kannst du mit deinem Willen gegen die Verbindung ankämpfen. Bis die Infektion jedoch vollkommen von l’éruption du soleil bereinigt wird …«

»Mein Gott, das kann Jahre dauern«, murmelte ich.

»Es sei denn, man kennt die Abkürzung«, meldete sich jetzt Donne.

»Und die wäre?«

»Ihn zu töten.«

Während ich all diese Informationen verdaute, waren die drei anderen Vampire für eine Weile still. »Wovor du dich vor allem schützen musst, ist l’appel«, begann Lena dann wieder. »Der Ruf. Du musst ihm widerstehen. Er wird immer wieder versuchen, ihn gegen dich zu verwenden. Damit kontrollieren die perdus ihre Opfer.«

»Warum, was ist ihr Ziel?«

Lena sah Donne an, die sich ungewöhnlich ruhig verhielt. »Für einige ist die Verbindung … physisch. Andere versuchen, so ihre Einsamkeit zu bewältigen. Sie wollen Macht ausüben, dominieren. Sind regelrechte Kontrollfreaks. Heutzutage werden sie jedoch dahin gehend angeleitet ihren Killerinstinkt zu unterdrücken, damit sie insgesamt nicht weniger werden, was unglaublich schwierig ist. Man muss es sich ungefähr so vorstellen wie das Bändigen von wilden Tieren. Dafür bedurfte es einer außergewöhnlichen Führung.«

»Und wer verbirgt sich dahinter?«

Sie sahen einander besorgt an.

»Hört auf, erzählt mir jetzt nicht, das ist so wie bei Harry Potter«, empörte ich mich. »Der Böse, dessen Namen man nicht aussprechen darf. So ein Unsinn! Ihr könnt mir doch wohl sagen, wie er heißt.«

Lena raffte ihre Röcke, sodass sie von der Mauer steigen konnte. »Es ist kein Er, sondern eine Sie«, belehrte sie mich.

Wir saßen jetzt alle gemeinsam um den kleinen Tisch im Versteck der soleils.

»Hier drinnen sind wir ungestört«, sagte Anton. »Umgeben von Erde, Steinen, Bäumen – Dingen mit dicken champs, die unsere eigenen überdecken.«

»Also, wer ist sie nun?«

»Ich weiß nicht, ob irgendjemand der soleils ihren ursprünglichen Namen kennt.« Jetzt sprach wieder Lena. »Wir nennen sie la Mangeuse. In vielen Gebieten ist sie the Eater, im Süden la Comedora

»Und das heißt?«

»Die Esserin«, antwortete Lena.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Habt ihr sie je selbst gesehen?«

»Bist du verrückt?«, rief Donne. »Sehen wir so aus, als würden wir uns la mangeuse weiter als höchstens hundert Kilometer nähern?«

»Aber wo ist sie?«

»Soweit wir wissen, ist sie, genau wie die anderen perdus, immer unterwegs«, antwortete Lena.

»Ich habe mal gehört, dass sie in Tennessee ist«, meinte Anton.

»Eindeutig zu nah.« Das war Donne.

»La Mangeuse hat alles verändert«, behauptete Lena. »Sie hat den Krieg angefangen.«

»Und wie?«, fragte ich. »Wie hat sie die perdus zusammengebracht?«

»Sie hat ihnen mithilfe des champs ein Angebot gemacht«, antwortete sie, »bei dem selbst ein perdu hellhörig werden musste.«

»Und was war das für ein Angebot?«

»Die Welt.«

»Du meinst, sie wollen alle Menschen auslöschen?«, fragte ich ungläubig.

»Oh nein, ganz und gar nicht«, entgegnete Anton. »Sie wollen sich mehr Menschen züchten, um sich zu ernähren.«

Ich versuchte mir eine Welt vorzustellen, in der Menschen von Vampiren als Sklaven gehalten wurden, nur um deren Durst zu stillen.

»Aber warum sind sie so mächtig? Wie kommt es, dass sie alles kontrollieren?«

Die drei Vampire sahen sich abermals an.

»Durch Androhung von Folter«, übernahm Lena schließlich die Antwort. »Einer so schrecklichen Folter …« Sie hielt inne, als fiele es ihr schwer, auch nur darüber zu sprechen.

»Die soleils nennen es la perte. Den Verlust.«

»La perte bedeutet, dass das Opfer von seinem champ abgeschnitten wird«, erklärte Anton.

»Aber … ihr habt doch gesagt, das champ sei überall, in allem?«, wunderte ich mich.

»Es ist sehr wohl noch da«, erklärte er, »aber das Opfer hat keinen Zugang mehr dazu. Uns wurde erzählt, von seinem champ abgeschnitten zu sein, sei so, als ob man existiere, ohne zu leben. Es gibt kein Entkommen. Bald wird sogar das Nachdenken darüber, wie man diesem Ort ohne champ entkommen könnte, zu schwierig.«

»Und dann stirbt diese Person?«, fragte ich.

»Das Opfer ist zwar noch ein lebendes, atmendes Wesen. Fühlt sich aber mit nichts und niemandem mehr verbunden. Nicht mit der Erde, nicht mit anderen Menschen. Diese Personen sind vollkommen isoliert und hilflos und werden nur notdürftig versorgt.«

»Und in diesem Zustand befinden sie sich bis in alle Ewigkeit?«

»Langsam begreift sie es«, sagte Donne schnippisch.

Lena warf ihr einen warnenden Blick zu. »Wir wissen gar nicht mit Sicherheit, ob es so ist. Du machst Emma Angst.«

»Ein bisschen Angst tut diesem Frischling ganz gut«, schimpfte Donne und spuckte auf Antons Zeichnung.

»Und wie war der Krieg?«, fragte ich unbeirrt.

»Es war eher eine Schlacht als ein Krieg«, antwortete Lena. »Die soleils wollten keinen Krieg. Aber als die perdus immer zahlreicher und stärker wurden, ging es um unser Überleben, da l’éruption du soleil offensichtlich auf sich warten ließ. Deshalb haben sich die soleils zusammengetan, um die Esserin zu finden und sie zu töten.«

»Um der Schlange den Kopf abzuschlagen«, sagte ich.

»Genau.«

»Und was geschah dann?«

Lena antwortete nicht sofort und hob stattdessen eine Hand an den Mund, als wollte sie die Worte nicht herauslassen.

»Die soleils, die gegen sie in den Kampf zogen, haben la perte erlitten. Sie haben ihr champ verloren.«

All das schwirrte mir im Kopf herum, als ich nach Hause eilte und einen verrückten Plan zu schmieden begann. Anton hatte mich darauf gebracht. Bei den champs gibt es immer einen Absender und einen Empfänger. Der Absender kontrolliert die Verbindung.

Deshalb war es mir gelungen, zu Moreau vorzudringen, als ich mit den Spielkarten experimentiert hatte. Ich hatte den ersten Schritt getan. Ich war der Absender gewesen. Die Zeit für einen erneuten Angriff war reif. Ich wollte den Vampir zur Strecke bringen. Doch zuerst musste ich noch einen Anruf tätigen.

Ich holte das Funkgerät hervor, um Sagan zu kontaktieren. Es dauerte eine Weile, bis er ranging.

»Hi … du bist’s.« Ich konnte hören, wie er zufrieden gähnte. »Meine Straßenkehrerin.«

»Sagan, hör zu …«

»Ist alles in Ordnung? Was ist los?«

»Alles in Ordnung. Aber ich muss dich um einen Gefallen bitten. Es ist sehr wichtig, sonst würde ich dich nicht damit behelligen. Allerdings musst du dafür in eine andere Stadt fahren.«

»Ähm, klar, worum geht’s?«

»Hast du noch die Adresse meiner Mutter?«

»Machst du Scherze? Sie ist mir sozusagen in die Haut graviert.« Er wirkte jetzt hellwach.

»Würdest du morgen früh bitte dorthin fahren, um zu sehen, ob es ihr und Manda gut geht? Wie du dorthin kommst, googelst du lieber. Wenn ich versuche, es dir zu erklären, endet es nur im Chaos.«

»Ja, okay.«

»Aber nicht klingeln, das wäre ganz schlecht. Bleib einfach vor dem Haus stehen und warte. Sie müssten so gegen 7:30 Uhr rauskommen, weil Manda dann zur Schule muss. Wenn du einfach nur nach ihnen sehen könntest, würde mir das viel bedeuten.«

Er gähnte abermals, dieses Mal laut. »Eine Frage noch …«

»Was?«

»Meinst du nicht vielleicht heute statt morgen? Es ist 3:22 am Morgen.«

»Mist. Du hast Recht. Tut mir leid, ich habe den Überblick verloren, wie spät es ist.«

»Ich habe dir doch extra eine Uhr besorgt«, murmelte er amüsiert. »Aber trotzdem schön, deine Stimme zu hören.«

»Es ist wirklich wichtig.« So weiß zumindest jemand, dem ich vertraue, wo sie sind, für den Fall, nur für den Fall, dass … Ich mochte den Gedanken nicht zu Ende denken.

»Ist etwas passiert?«, erkundigte sich Sagan.

»Nein, alles in Ordnung! Ich wäre dir nur sehr dankbar, wenn du für mich dort hinfahren würdest. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich will nur etwas ausprobieren.«

»Warte, du klingst plötzlich so ernst, wie jemand, der sein Testament macht. Was ist wirklich los?«

»Ich habe nur Angst um sie, das ist alles. Ach ja, damit du sie auch sicher erkennst: Meine Mutter fährt einen weinroten Kia. Prüf einfach, ob alles normal wirkt, ich muss es wissen.«

»Stecken sie in Schwierigkeiten? Emma, lass mich die Polizei rufen!«

»Mein Gott, Sagan, bestimmt ist bei ihnen alles in Ordnung. Aber wenn du die Polizei rufst, werden die Bullen dich zwingen, ihnen zu sagen, wo ich bin, und dann muss ich wieder fliehen. Ich habe dir doch schon gesagt, was dann passiert. Hast du mich verstanden? Wenn du glaubst, es besser zu wissen, und es dennoch tust, sind wir tot.«

»Ist ja schon gut.«

»Und ruf mich sofort an, wenn du zurück bist.«

»Ich rufe dich von dort an, wie wäre das?«

»Noch besser, gute Idee. Und lass dich nicht erwischen.«

»Von wem?«

»Von meiner Mutter natürlich, von wem sonst?«

»Aber eine Waffe oder so etwas brauche ich nicht?«

»Sagan, das ist kein Spaß.«

»Wer macht hier Spaß?«

Ich schaltete das Funkgerät aus und schob es in meine Tasche. Los geht’s. Dann nahm ich das Seil aus dem Baumarkt und schritt den schäbigen Raum auf dem Turm damit ab. Er war ungefähr fünf Meter lang. Anschließend schnitt ich ein wenig mehr als die Hälfte dieser Länge von dem Seil ab. Ein Ende knotete ich mir mit drei Hausfrauenknoten fest um den Bauch. Das andere Ende band ich an einem der Tischbeine fest. Zum Schluss befestigte ich noch einige der dicken Handtücher um scharfe Kanten im Raum und machte es mir auf dem wackeligen alten Stuhl so bequem wie möglich. Schließlich nahm ich die Spielkarten heraus und machte mich an die Arbeit.

Ich hatte vor, bewusst einen Grand-Mal-Anfall auszulösen.

Ob es funktionieren würde, wusste ich allerdings nicht. Ein großer Teil von mir hoffte sogar auf ein Scheitern. Aber ich musste unbedingt wissen, wo der Vampir war, und das schien mir die beste Möglichkeit zu sein. Die kleinen oder partiellen Anfälle dauerten immer nur 30 bis 60 Sekunden, während ein generalisierter Anfall mehrere Minuten anhalten konnte – und diese zusätzliche Zeit im Kopf des Vampirs brauchte ich.

Natürlich hatte ich eine Heidenangst und mir war kotzübel, doch ich musste mir irgendwie einen Vorteil verschaffen. Außerdem fürchtete ich mich vor dem, was womöglich sonst noch geschähe. Vielleicht war die Verbindung zwischen unseren beiden champs so fest, dass ich in Moreaus Kopf etwas losrüttelte. Wie er Mandas Bild angeschaut hat … Gott möge mir helfen, aber ich war zu allem bereit, um zurückzuschlagen.

Ein letztes Mal prüfte ich das Seil. Ich musste schnell sein; bis zum Morgengrauen blieb nicht mehr viel Zeit. Bald würde sich Moreau unter der Erde verkriechen. Genau wie beim ersten Mal begann ich die Spielkarten vor meinen Augen zu mischen. Dann legte ich sie im Schachbrettmuster vor mir auf den Tisch und drehte sie anschließend eine nach der anderen schnell um. Nichts tat sich.

Was machte ich falsch?

Ich versuchte mich abermals zu konzentrieren, abwechselnd zu fokussieren und im nächsten Moment ins Leere zu starren. Schließlich fiel ich in einen Trancezustand und schob den Stuhl zurück, bis ich davon geweckt wurde, dass mir ein Speichelfaden übers Kinn lief.

Japsend beugte ich mich vor. Plötzlich wusste ich wieder, was ich beim letzten Mal getan hatte, als ich Moreau einen Besuch abgestattet hatte. Meine Narbe … Ich hatte meine Narbe berührt.

Wieder blickte ich auf das Muster, das die Karten bildeten, und fuhr mir mit dem Finger über die Erhebung an meinem Bein. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau. Dann fügte ich etwas Neues hinzu. Ich begann ruckartig vor- und zurückzuschaukeln und gelangte in einen energischen Rhythmus, der zu dem Streichen über die Narbe passte. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau. Bring mich zu Moreau.

Der Stuhl quietschte laut, als ich immer schneller wurde. Schneller, schneller. Schließlich spürte ich das inzwischen vertraute Gefühl, als hätte ich ein dickes Handtuch als Puffer zwischen Augen und Hirn. Langsam verloren die Karten ihre Form und schmolzen, wurden Teil des Tisches.

Jede Sekunde würde es jetzt so weit sein …

Moment mal.

Dieser Geruch … nach Zimt und Äpfeln.

Ich öffnete ein Auge und konnte Bäume sehen. Das andere Auge drückte gegen etwas Steiniges, Hartes. Ich lag auf der Seite, irgendwo draußen. Wie bin ich dorthin gekommen?

Lange konnte ich mich gar nicht bewegen und ein erster Versuch, mich aufzurichten, scheiterte. Mein Oberkörper fühlte sich doppelt so schwer an wie normal. Ich sank auf die Seite. Die Rippen schmerzten, als hätte jemand mit dem Vorschlaghammer darauf eingedroschen.

Eine Hand lag unter meiner Hüfte. Ich hob die andere und versuchte nach irgendetwas zu greifen, an dem ich mich hinaufziehen konnte. Doch es gab nichts. Ich betrachtete meine Hand vor dem Himmel, aber ich hatte keine Kontrolle mehr darüber. Sie schien nicht mehr zu mir zu gehören.

»Mom?«, sagte ich, ohne zu wissen, ob das Wort meine Kehle tatsächlich verließ.

Niemand kam. Schließlich gelang es mir, mich auf den Bauch zu drehen. Ich schob die Hände unter mich und drückte mich ab. Nachdem ich mich einige Zentimeter nach vorn bewegt hatte, brach ich erneut zusammen.

Ich drückte, so kräftig ich konnte, und rollte auf den Rücken. Über mir sah ich den bläulich-schwarzen Nachthimmel: blinkende Sterne, kleine Wolkenfetzen. Mir tat alles weh. Alles sah rund aus. Die Welt begann sich zu drehen. Ich schloss die Augen, doch der Schwindel wurde dadurch nur noch schlimmer.

Eine warme Flüssigkeit lief mir die Beine hinunter.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich ein Seil um den Bauch trug. Ein Seil? Unter meinem Rücken schien es weiter zu verlaufen. Von dort schien auch ein Teil des Schmerzes zu kommen. Ich legte den Kopf ein wenig nach links und öffnete abermals die Augen – ich erblickte eine große Metallkonstruktion. An nichts konnte ich mich erinnern, nicht einmal an meinen Namen.

»Hallo«, sagte eine tiefe Stimme.

Mein Herz machte einen Ruck und schlug dann schnell weiter.

Mit Mühe gelang es mir jetzt, mich aufzusetzen. Ein Mann saß mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Boden. Er trug ein graues, fleckiges Hemd mit kleinen Korkstückchen als Knöpfen. Dazu einen langen Mantel, eine dunkle Hose und Stiefel, an denen getrocknete Erde klebte. Seine Arme lagen auf den hervorstechenden Knien. Die Hände hielt er vor dem Körper zusammen. Oh nein. Was ist das? Sein ganzer Körper leuchtete in einem rötlichen Lavendelton.

Das machte keinen Sinn. Warum sollte jemand so leuchten, es sei denn, er war – etwas anderes als ein Mensch?

Um Gottes willen. Auch mit seinem Kopf stimmte etwas nicht, als hätte er einen grausamen Unfall gehabt. Ein langer, rosafarbener Lappen hing ihm über die Augenbraue. Sein Anblick war kaum zu ertragen.

Der Mann erhob sich; er war sehr groß. Dann ging er einige Schritte, das lavendelfarbene Licht folgte ihm. Ich drehte mich um und sah, was er betrachtete: die riesige Eisen- und Stahlkonstruktion. Wenn mein Gedächtnis doch bloß funktionieren würde. Wo war dieser Ort?

Was hatte er mit mir vor?

»Ach hier hast du dich versteckt«, sagte der Mann. »Ich habe in der Stadt gesucht, aber du warst die ganze Zeit woanders.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Das ist eine Industrieanlage, dessen bin ich mir sicher. Nicht gerade modern, oder, Mademoiselle?«

Warum nannte er mich so? Der Mann lächelte und leckte sich über die Lippen. Seine Augen waren kohlrabenschwarz.

»Wer … bist du?«, brachte ich schließlich lallend hervor. In meinen Ohren klang es wirr und verzerrt.

»Sie spricht«, sagte der Mann und wirkte erfreut. »Très bien. Aber dir ist etwas zugestoßen, stimmt’s?«

War dieser seltsame Kerl Franzose? Ich versuchte mich aufzurichten, fiel aber sofort wieder auf Knie und Hände. Ich hatte das Gefühl, einen Kreisel im Kopf zu haben, der mich schwanken ließ. Der Mann schaute noch immer auf den Turm.

»Irgendwo habe ich so etwas schon einmal gesehen … Fast möchte ich es für einen affût perché, einen Hochsitz, halten, um nach Feuern Ausschau zu halten … stimmt das? Nein, dafür ist er zu aufwendig gebaut.«

Der Mann kam näher. Noch immer befand ich mich auf allen vieren und mir war so schwindelig, dass ich mich kaum bewegen konnte. Er kniete sich nieder und hielt die Hände hoch, sodass ich seine Handflächen sehen konnte. Anschließend schüttelte er den Kopf, bis ihm das strähnige, nasse Haar vor dem Gesicht hing. Dennoch konnte ich erkennen, dass er mich noch immer anstarrte.

»Hast du je mit Wasserfarben gemalt?« fragte er. »Man kann nicht verhindern, dass sie auf der toile, auf der Leinwand verlaufen. Sie mischen sich, egal was man tut. So sind auch wir, Mademoiselle. Du bist jetzt ein Teil von mir. Ich bin ein Teil von dir. Wir sind unzertrennlich.«

Nach wie vor hielt er die Hände vor sich. Ich spürte eine Zugkraft.

Das Ziehen wurde stärker, obgleich sich der Mann nicht vom Fleck rührte. Wie ein riesiger Magnet wurde ich von seinen stählernen Händen angezogen. Ich hatte das Gefühl, ich würde jeden Moment vornüberkippen.

Aber ich wollte unbedingt zu ihm. Ich wollte und gleichzeitig wollte ich nicht. Auf allen vieren begann ich auf ihn zuzukriechen. Das Seil zog ich hinter mir her wie einen Schwanz. Der Mann wartete auf den Knien kauernd, den Kopf hielt er noch immer gesenkt und die Arme ausgestreckt, bis ich schließlich vor ihm kniete und sich unsere Knie fast berührten. Der Mann war viel größer als ich. Plötzlich wollte ich ihn umarmen. Wollte umarmt werden. Wie konnte das sein? Ich fand ihn abstoßend. Ich sah sein Gesicht jetzt deutlich – die fürchterliche Hakennase und den hängenden Schädellappen.

Er wollte, dass ich ihn küsste, und ich wollte ihn küssen. Ich begann meinen Kopf zu drehen, um es uns einfacher zu machen.

Wir waren kaum mehr einen Zentimeter voneinander entfernt. Wenn ich einatmete, atmete ich seinen Atem ein. Er lächelte. Dieser Mann war hier, um mir zu helfen …

Ich blinzelte und sah in seinen Augen Bilder von Leichen. Blutverschmierte Wände. Haare. Kleidung. Möbel, an denen Blut klebte. Einen einzelnen Turnschuh …

Der Name traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Moreau.

Plötzlich wusste ich wieder, wo ich war. Wer ich war.

Moreau!

Noch immer hatte er Macht über mich. Ich konnte mich nicht bewegen. Deshalb starrte ich ihn aus nächster Nähe an. Ich zwang das Blut in meine Augen, um sie zum Glühen zu bringen. Ich dachte an die Sonne … Sagans Sonne … die glühende, grelle, erbarmungslose Mittagssonne. Ließ sie von meinem Hirn in den ganzen Kopf ausstrahlen, wo sie jeden Winkel, jede Spalte mit so intensivem Licht füllte, dass mein Schädel der Kraft irgendwann nicht mehr standhielt.

Für einen Moment schwankte der Vampir, dann wurde sein Lächeln zu einer Grimasse. Er stand auf und taumelte mit den Händen vor dem Gesicht rückwärts.

Für einen kurzen Moment verstand ich, wie das champ funktionierte, spürte, dass der mit der größeren Willenskraft die Macht über den anderen hatte. Für einige Sekunden herrschte ich über ihn und verwandelte seine kleinen schwarzen Augen in faulenden Schleim.

Noch immer hatte er sein Gleichgewicht nicht wiedergefunden. Für mich war es lange genug, um mich von seiner Anziehungskraft, dem Ruf, zu befreien. Ich machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, worauf er weiter zurückwich, immer weiter, bis er in der Nacht verschwunden war.