15

Ihre Welt

»Das meinst du nicht ernst«, stammelte ich.

»Beim ersten Mal ist es ein bisschen komisch«, gab Anton zu, »aber irgendwann muss man anfangen. Wir haben das Beste bis zum Schluss aufgehoben. Für dich. Du musst nicht nervös sein. Als Frischling solltest du nicht zu viel auf einmal zu dir nehmen. Es ist besser, wenn man am Anfang nicht übertreibt. Wir haben es dir wirklich einfach gemacht. Privater geht’s nicht. Besser kann dir die Beute nicht angerichtet werden.«

»Emma, was ist los mit dir?«, fragte Donne und sah mich misstrauisch von der Seite an. »Du musst doch inzwischen total ausgehungert sein. Besonders, nachdem du Anton und mich trinken gesehen hast.«

Der Moment der Wahrheit. Ich wusste, dass ich ihnen nicht von meinem unklaren Vampirstatus erzählen wollte. Damit würde ich warten müssen, bis ich mir sicher war, dass sie damit umgehen konnten. Aber wenn ich mich weigerte zu trinken oder einfach weglief, würde es nur noch schlimmer – das hatte mir gerade noch gefehlt, drei weitere Vampire zum Feind. Mir gefiel keine dieser beiden Möglichkeiten.

Eine andere gab es noch. Trinken.

Allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht und ich bekam eine Gänsehaut. Ich sollte sein Blut trinken? Warmes, dickflüssiges Blut? Ich sollte mit den Lippen an der Haut eines fremden Typen saugen?

Die Entscheidung drängte. Lange würde es nicht mehr dauern, bis Donne auf mich losginge.

»Na gut«, sagte ich. »Gebt mir noch eine Sekunde.« Ich kniete mich neben den jungen Kerl, während Anton ihm bereits das Hemd von der offenen Wunde zog. Denk nach. Du könntest nur so tun als ob …

»Nur dass du es weißt, ich werde dich nicht aus den Augen lassen, innocente.« Donne sprach das französische Wort mit einem sarkastischen Unterton aus, als würde sie nicht daran glauben. »Wenn du doch eine perdu bist, wird mir das nicht entgehen.«

»Wenn ich eine perdu wäre, hätte ich dir schon dein zartes Genick gebrochen.« Langsam begann sie mit ihrer Art zu nerven.

»Wir werden sehen.«

»Warum eigentlich an der Schulter?«, erkundigte ich mich. »Haben die soleils dafür auch irgendeinen spirituellen Grund?

»Wer will schon einen Schnitt am Hals haben?«, antwortete Donne.

Anton lachte.

»Ach, hör doch auf«, zischte Donne und trat halbherzig nach ihm. Dann sah sie mich an. »Jetzt mach schon.«

Ich beugte mich vor. Der Geruch des jungen Typen drang mir in die Nase, was nicht allzu unangenehm war. Im Gegensatz zu seiner Wohnung wirkte er sauber.

»Was ist mit der Infektion?«, fragte ich. »Wird er jetzt nicht selbst zum Vampir? Ich dachte, man müsste sie umbringen, damit sie nicht verwandelt werden …«

Donne sah mich angewidert an. »Das gilt für diese Tiere, die perdus. Sie haben keine Kontrolle über ihren Hunger. Sie trinken so viel, diese gierigen Schweine, dass sie keine andere Wahl mehr haben, als zu töten. Oder mehr sang nouveau hervorzubringen wie dich. Ich habe dir doch gesagt, dass die soleils Würde haben. Wir sind zivilisiert. Deshalb nehmen wir von jedem Menschen nur ein kleines bisschen. Nie annähernd genug, um sie zu verwandeln. Keine Sorge, wenn du zu gefräßig wirst, werden wir dich schon bremsen. Jetzt zögere es doch nicht dauernd weiter hinaus.«

Mein Mund war jetzt ganz nah an seiner Schulter. Bring’s hinter dich, Emma.

Ich legte die Lippen über den Schnitt.

Natürlich wusste ich, wie Blut schmeckt. Man kann keinen Mannschaftssport betreiben, ohne sich mindestens einmal die Lippe aufzuschlagen. Immer wieder wird gesagt, es würde »salzig«, »kupfern« oder sogar »metallisch« schmecken.

Ich konnte das nicht bestätigen, auch wenn ich den Geschmack nicht beschreiben konnte. Das Einzige, was ich sagen konnte, war, dass es »fremdartig« schmeckte – eindeutig nicht wie etwas, das durch meine Kehle fließen sollte.

Die Zunge hielt ich aufgerollt im Mund. Bislang musste ich immerhin nicht würgen und es gelang mir, nicht zu zeigen, wie furchtbar ich es fand. Tu einfach so, dachte ich und begann die Sekunden zu zählen. Mehr ist es nicht.

»Ich schaue zu«, warnte Donne. »Und ich kann sehen, ob du schluckst oder nicht. Also fang lieber an.«

Oh Gott. Sie meint es ernst.

Ich beschloss zu schlucken, ohne etwas im Mund zu haben, doch fast augenblicklich begann das Blut zu fließen, als wenn durch die Bewegung in meiner Kehle ein Vakuum entstanden wäre. Eine warme, scheußliche, klebrige Flüssigkeit floss mir über die Zunge. Langsam füllte sich mein Mund mit dem Zeug. Noch ein Moment der Wahrheit. Entweder ich würde Donne alles vor die Füße spucken oder …

Ich zog das Gesicht zusammen und schluckte. Und schluckte noch einmal. Plötzlich schmeckte ich etwas Vertrautes … auch wenn es eigentlich kein Geschmack war, sondern ein Geruch, der als solcher daherkam.

Bier. Der Typ hatte Bier getrunken. Ich konnte es in seinem Blut schmecken.

»Igitt!«, rief ich, bekam einen Schluckauf und musste würgen. Gerade noch rechtzeitig zog ich meinen Mund weg … nur einige Sekunden länger und ich hätte mich übergeben.

Ich hustete und spuckte, während Anton hysterisch anfing zu lachen. Die Faust, um ihm damit ins Gesicht zu schlagen, hatte ich bereits erhoben, als Donne nach meinem Handgelenk griff und mich reumütig ansah. Sie lächelte sogar ein wenig.

»Tut mir leid, aber wir mussten uns vergewissern. Nun bin ich zufrieden. Du bist ein wahrer Frischling! Das ist unverkennbar. Ich hoffe, du hast genug bekommen. Er wird bald wieder zu Bewusstsein kommen. Wir sollten sehen, dass wir wegkommen.«

Noch immer schmeckte ich das fettige, nach Bier riechende Blut, das mir durch die Kehle bis in den Magen geflossen war. In meinen Magen. Sofort musste ich an meinen Besuch in Moreaus Kopf denken, wie das Blut der sterbenden Frau durch meine Speiseröhre gelaufen war. Würg! Erneut spürte ich Übelkeit in mir aufsteigen und richtete mich ruckartig vom Sofa auf. Als ich wieder stand, holte ich mehrmals tief durch die Nase Luft, bis ich mich wieder ein wenig besser fühlte.

»Schnell weg hier«, murmelte ich und hastete zur Tür, während die anderen beiden noch mein Frühstück aufwischten.

Draußen ging es mir bald besser, obgleich ich durch die Nachwehen der Aktion noch recht wackelig auf den Beinen war. Anton hatte sichtlich Spaß dabei, mich zu beobachten, wie sich jedes Mal meine Wangen aufblähten, wenn ich versuchte den Brechreiz in Schach zu halten. Den Berg hinauf mussten Donne und er mich stützen.

Ich überlegte, wie spät es wohl wäre. Dann erinnerte ich mich an Sagans Geschenk und zog meine Taschenuhr heraus: 4:23 Uhr. Bald würde die Nacht zu Ende sein. Weshalb sich mir die Frage aufdrängte, wo die drei Vampire, die sich selbst soleils nannten, wohl die Tage verbrachten.

»Das war köstlich«, schwärmte Anton, wobei ich mir nicht sicher war, ob er sich auf seinen vollen Magen bezog oder auf die Tatsache, dass sie mich reingelegt hatten.

»Ihr wusstet, dass der Typ getrunken hat«, sagte ich und versuchte meine Übelkeit als Abneigung gegen Bier zu verkaufen.

»Ach, du hättest sehen sollen, was sie mit mir gemacht haben!«, rief er. »Kein Bier, nein … Whiskey! Ein Betrunkener in der Gosse. Du kannst dankbar sein, dass wir dir jemand … Besseren ausgesucht haben.«

Er grinste so breit und wirkte mit seinem schwarzen Haar, das ihm in die Augen fiel, so kindlich und unschuldig, dass ich mich beherrschen konnte und ihn nicht besinnungslos schlug.

»Ich dachte, du hättest gesagt, Lena hätte dir bei deiner ersten Blutjagd geholfen?«, hakte ich nach und wischte mir zum x-ten Mal den Mund ab.

»Tut mir leid, das war gelogen«, antwortete Anton. »Der, der mit mir das erste Mal losgezogen ist, war ein richtiger trou de cul

»Trou de cul?«

»Du willst es gar nicht wissen«, mischte sich Donne ein.

»Ich meine den Allerwertesten«, klärte mich Anton lachend auf.

»Wie dem auch sei, auf jeden Fall war das alles offenbar gerade eine große Inszenierung«, fluchte ich. »Dieses ganze Gefasel von ›Der ist nicht für dich‹.«

Donne zog nur die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts.

»Ha! Wenn du es dir mit ihr verscherzt, wird sie es dich spüren lassen«, sagte Anton zwinkernd. »Nimm’s nicht so ernst.«

Je höher wir kamen, desto fitter fühlte ich mich wieder. Bald rannten und sprangen wir zu dritt mühelos zwischen den Bäumen hindurch. Ich habe menschliches Blut im Magen, dachte ich immer wieder. Ich habe sein Blut getrunken. Der Gedanke war so befremdlich, dass es unmöglich war, ihn abzuschütteln.

»Seid ihr … erfolgreich gewesen«, wollte Lena wissen, als wir zum Steinhaus-Hotel zurückkehrten.

Sie lag ausgestreckt auf der Decke, mit der sie mich überwältigt hatten, und hielt die Augen geschlossen. Zum ersten Mal bemerkte ich ihre Füße: Sie waren erstaunlich klein für ihre Größe und so blass, dass sich die Zehennägel selbst für meine Vampiraugen kaum von der bleichen Haut abhoben. Ihre Schuhe standen an der Wand: schmale, schwarze Schnürschuhe mit Gummisohlen, wie man sie auf Booten trug.

»Du hättest ihr Gesicht sehen sollen!«, rief Anton und lächelte verschmitzt in meine Richtung. »Grün wie Gras, habe ich Recht, Donne?«

Donne antwortete nicht, sondern ließ sich nur neben Lena auf die Decke fallen. »Warum bin ich nach einer Blutjagd bloß immer so müde?«, stöhnte sie gähnend.

Lena öffnete die Augen und setzte sich auf. »Weil es fast Schlafenszeit ist. Bald geht die Sonne auf.«

Das war mein Stichwort. »Wo … wohnt ihr?«, fragte ich neugierig, überlegte aber sofort, ob es nicht unhöflich war. »Tagsüber meine ich.«

Lena sah Donne an. »Was meinst du?«

»Ich glaube, sie ist in Ordnung«, antwortete Donne. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der vorsichtiger trinkt. Sie könnte uns noch etwas beibringen, was maßhalten angeht.«

»Das lag am Bier«, sagte ich, damit meine Entschuldigung nicht in Vergessenheit geriet. »Nächstes Mal bin ich besser.«

»Den Hunger können wir nicht kontrollieren«, sagte Lena. »Aber egal wie viele Jahre man es tut, das Trinken bleibt ein unnatürlicher Akt. Immerhin sind wir noch immer Menschen.«

»Also, wo schlaft ihr nun?«

Sie erhoben sich und ich half den dreien die Decke zu falten. In gewisser Hinsicht war es die eigenartigste Erfahrung dieser Nacht: Vier Vampire stehen kurz vor dem Morgengrauen in den Ruinen eines abgebrannten ehemaligen Hotels und tun das Normalste der Welt: Sie falten eine Decke. Sonderbarerweise empfand ich es als beruhigend, dass vier Leute aus vollkommen verschiedenen Zeiten die Decke auf genau dieselbe Art und Weise falteten. Zuerst wurde sie halbiert und dann gingen wir aufeinander zu, bis wir uns trafen. Einige Dinge ändern sich wohl nie.

Wir machten uns auf den Weg in den Wald hinter dem maison de pierres. Wir gingen an einem kleinen Bach entlang, der über eine Klippe in die Tiefe fiel. Ich hörte das Wasser unten auftreffen. Entsprechend führte auch unser Pfad jetzt steil bergab.

Nach all der Aufregung hatte ich zum ersten Mal Zeit, ein wenig darüber nachzudenken, was ich gerade erlebte. Ich kannte jetzt jemanden, der vor dem Sezessionskrieg, dem Amerikanischen Bürgerkrieg, geboren worden war. Die Härchen in meinem Nacken standen mir zu Berge … Ich würde ihr Fragen stellen können und würde als Antwort Berichte von Ereignissen aus erster Hand bekommen, die kein Nicht-Vampir je miterlebt haben konnte. Jedenfalls keiner, der noch lebte und den man fragen konnte. Wo sollte ich anfangen? Angesichts der vielen Möglichkeiten wurde mir schwindelig.

Weit gingen wir nicht. Der Pfad führte uns um den Wasserfall herum. Einen Meter weiter befand sich ein Überhang. Lena und die beiden anderen hockten sich nieder und krochen darunter. Von dort ging es weiter in den Berg hinein, als ich zunächst gedacht hatte. Auch wenn es keine richtige Höhle war …

»In einer tieferen Höhle würde ich nicht leben wollen«, sagte Lena. »Da dann die Gefahr besteht, die nächste éruption du soleil zu verpassen.«

Als wir an eine Stelle gelangten, wo eine steinerne Nase aus der Wand herausstach, hob sie ihr Kleid über die Knie und kroch auf Händen und Füßen um den Vorsprung herum. Dann gelangten wir an eine Spalte, die mit einer Steinplatte verschlossen war – sie zu verrücken würde menschliche Kräfte übersteigen. Auf den ersten Blick konnte man deshalb glauben, in eine Sackgasse geraten zu sein. Doch Lena und die anderen bohrten die Finger in die Erde unter die Platte und zerrten sie so weit hervor, dass wir uns gerade hindurchquetschen konnten.

Dann schoben sie sie wieder an ihren Platz zurück. Ich rechnete mit Spinnen und ähnlichem Getier, doch der niedrige Gang öffnete sich bald zu einem breiten Raum, der hoch genug war, um darin zu stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein schmales Loch, durch das man, wie durch ein natürliches Fenster, den Wald sehen konnte. Für meine Vampiraugen war es hier drinnen fast taghell, auch wenn mir ein Blick auf die Uhr verriet, dass es bis zum Sonnenaufgang noch mindestens eine Stunde dauern würde.

»Von draußen kann man das Loch in der Wand nicht erkennen«, sagte Anton und ging darauf zu. »Es ist zu hoch oben. Das ist unser Ausguck.«

»Scheint die Sonne denn nie dort herein?«, fragte ich.

»Nein.« Er nahm meine Hand und zog mich zu sich. »Schau mal, dort drüben … siehst du das?«

Jenseits des Wasserfalls erstreckte sich in einer weiten Kurve ein Gebirgszug.

»Der Berg ist vor der Sonne. Und wenn das indirekte Sonnenlicht doch mal zu stark wird, können wir es auf diese Art draußen halten.« Er zog an einer Schnur, die von der Decke hing, woraufhin sich ein dickes Stück Stoff die Wand hinabrollte und die Öffnung verschloss. »Meistens lassen wir sie jedoch offen«, sagte Anton. »Weil wir ja die nächste éruption du soleil nicht verpassen wollen.«

»Wir leben so viel wie möglich draußen«, fügte Lena hinzu. »Auch das gehört zum Leben als soleil. Außerdem, wo sollten wir sonst bleiben? Die perdus, die immer unterwegs sind, müssen sich dauernd ein neues Quartier suchen, meistens in verlassenen Gebäuden irgendwo in der Wildnis mit einer Decke aus frischer Erde oder tief in den Gedärmen der Stadt. Unterirdisch. Unterhalb von Betonkonstruktionen, was sie eben gerade finden. Glaub mir, Emma, einen Platz zum Ausruhen zu finden, ist eines der größten Probleme in unserem ohnehin problembelasteten Leben.«

»Aber in Büchern und Filmen werden Vampire – ich meine Leute wie wir – immer in großen alten Häusern oder Schlössern gezeigt«, entgegnete ich. »Oft sind sie reich.«

»Das ist unrealistisch«, antwortete Lena. »Denk doch mal nach. Wir können keine Häuser besitzen, weil wir keine Geschichte haben.«

»Keine Sozialversicherungsnummer, keine Geburtsurkunde, keine Zeugnisse, keine feste Adresse, nichts dergleichen«, ergänzte Anton. »Selbst wenn wir diese Dinge hätten, wie sollten wir alle damit verbundenen Verpflichtungen nachts regeln?«

»Was die beiden sagen wollen, ist, dass das, was du in Filmen siehst oder in Büchern liest, der Glamour, die Romantik, die fantastische Kleidung …« Donne sprach den Satz nicht zu Ende und steckte drei Finger durch ein Loch in ihrer Jeans und lachte hämisch auf. »Die Hose habe ich gestohlen und auch das wird immer schwieriger.«

»Weil es keine Wäscheleinen mehr gibt«, erklärte Anton und strich Donne liebevoll über den Arm.

»Ich habe eine Sozialversicherungsnummer«, sagte ich.

»Natürlich«, erwiderte Donne. »Leider nützt sie dir bloß nichts mehr.«

Ihre Worte versetzten mir einen Stich und ich dachte an all die Dinge, die ich bis dahin für selbstverständlich erachtet hatte: gekochtes Essen, ein Dach über dem Kopf, bestimmte elektrische Geräte, warmes Wasser zum Duschen … Die Liste war unendlich.

»Wir mischen uns nicht oft unter die Menschen dort unten«, sagte Lena und hob den Saum ihres zerrissenen Kleides. »Jedes Mal, wenn wir das tun, setzen wir uns der Gefahr aus, gesehen zu werden. Hier sind wir zumindest vorgewarnt, weil man es leicht mitbekommt, wenn sich jemand unserem Zuhause nähert.«

Zuhause.

Lena zündete eine Öllampe an. »Sie erinnert mich an die Sonne«, erklärte sie.

Ich betrachtete den Raum genauer. Darin standen drei Stühle, die nicht zueinanderpassten und schief standen, weil der Boden uneben war. Auch der kleine Holztisch war nicht gerade. In einer Ecke stapelten sich einige alte Kartons. Der obere war offen und ein zerschlissenes Sweatshirt sowie ehemals weiße, inzwischen grau gewordene Socken hingen heraus. Ein kleiner, blauer, zerkratzter Plastikeimer enthielt Dinge wie Desinfektionsspray, weitere Tupfer und antiseptische Mittel, eine Flasche Babyshampoo, Seife und kleine Metallwerkzeuge, die ich nicht genauer erkennen konnte. An der Wand sah ich einen großen Krug Wasser. Drei Pritschen aus Paletten, mit einfachen Holzrahmen leicht erhöht, waren auf dem Boden verteilt. Kleine Sofakissen dienten offenbar als Kopfkissen. Außerdem hatten sie an einer Wand Bretter zu einer Art Regal zusammengefügt – für Bücher?

Ich beugte mich hinab, weil es mich interessierte, was Vampire wohl lasen?

»Antonio Adverso?«

»Mich brauchst du nicht anzusehen«, sagte Donne und nickte in Lenas Richtung. »Sie ist der Bücherwurm.« Sie gähnte laut. »Ich … schlafe lieber.«

Die Bücher waren dick und alt und hatten weiße Aufkleber mit einer Büchereiklassifikation auf den Rücken.

»Vampire können also einen Büchereiausweis bekommen?«

»Die sind leicht zu stehlen.« Donne wirkte ein wenig beleidigt.

»Das streite ich ab!«, rief Anton. »Ich bin kein Dieb. Sie wollten mir einen Büchereiausweis geben, aber nur, wenn ich meinen Namen in Blut schreiben würde.« Er brach in albernes Gelächter aus.

»Niemand findet das auch nur im Entferntesten komisch«, mokierte sich Donne und schlang den Arm um seinen Hals. »Aber wir lieben ihn trotzdem.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund.

Ich kam mir wie ein Eindringling vor und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ob sie wohl ein Bett teilten? Unwillkürlich musste ich an Sagan denken.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte ich, um mich aus der Verlegenheit zu retten.

Donne und Lena sahen sich an. »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht«, antwortete Lena. »Drei oder vier Jahre vielleicht? Deshalb lese ich lieber dicke Bücher. Was soll ich sonst machen? Wenn die Zeit ziemlich bedeutungslos ist, hört man auf, darauf zu achten.«

»Außer auf den Sonnenaufgang«, sagte Donne. »Bist du nicht ein wenig zu spät dran, Emma? Wo verbringst du den Tag? Hast du einen Unterschlupf?«

Lena sah mich an. »Du kannst gern heute hier bleiben. Leg dich in mein Bett. Ich wollte ohnehin lesen.«

Donne blickte finster drein.

Ich verstand die Botschaft. »Danke, aber ich habe ein Quartier«, lehnte ich daraufhin dankend ab. »Es ist gar nicht weit weg. Ich bin ganz schnell dort.« Ich wandte mich Anton und Donne zu. »Vielen Dank nochmals, dass ihr mich mitgenommen habt, auf meine erste … wie nennt ihr es noch einmal?«

»Chasse de sang«, sagte Anton. »Gern geschehen. Hat Spaß gemacht. Und Dank zurück, dass du es uns nicht allzu übel genommen hast.« Jetzt küsste er Donne, als wollte er ihren Mund schließen, bevor sie noch etwas Abfälliges von sich gab.

Ich wusste, dass ich gehen sollte, aber in meinem Kopf schwirrten noch so viele Fragen umher.

»Warum verwendet ihr so viele französische Wörter?«, erkundigte ich mich noch schnell.

»Das hängt in erster Linie von der Gegend ab«, erklärte Lena. »Wenn du weiter nach Süden reist, nach Florida, sind es eher spanische Begriffe. Weiter nördlich, in Richtung Carolina und Virginia, finden sich mehr deutsche Worte. Zufällig war hier in diesem Gebiet Französisch vorherrschend. Ich selbst bin deutscher Herkunft, aber das spielt keine Rolle. Entscheidend ist, was dort, wo du dich während der letzten éruption du soleil aufgehalten hast, vor allem gesprochen wurde. Bei der letzten Reinigung. Bei der nächsten Eruption werden die alten Wörter aus den verschiedenen Sprachen wahrscheinlich verschwinden – außer bei den perdus natürlich.«

Lena ließ sich mit einem Buch auf einem der Stühle nieder. Sie schleuderte die Schuhe davon und machte es sich im Schneidersitz bequem.

»Darf ich … darf ich wiederkommen? Können wir uns wiedersehen?«, fragte ich noch.

Lächelnd hob sie die smaragdgrünen Augen von ihrem Buch. »Das musst du selbst entscheiden. Aber ich hoffe es sehr! Für uns ist es … sehr lange her gewesen.«

»Ich habe auch noch so viele Fragen«, sagte ich. »Über den Krieg und darüber, wie ihr lebt und was ihr die ganze Zeit gemacht habt.« Oh ja. Das liegt mir besonders am Herzen.

»Dann bin ich guter Dinge, dass du zu uns stoßen wirst«, sagte Lena und wandte sich wieder ihrem Buch zu.

Zu uns stoßen? Um mit ihnen zu leben? Dann verstand ich.

Sie wollte, dass ich mich den soleils anschließe.