14
Blutjagd
»Lange genug leben wofür?«, fragte ich.
»Um l’éruption du soleil zu erleben«, antwortete Lena.
Alle drei schienen gleichzeitig von einem Schaudern ergriffen zu werden, als steckten sie in ein und demselben Körper. Sie zitterten wie ein Gewässer, über das eine Brise weht, bis sich die gesamte Oberfläche kräuselt.
»L’éruption du soleil?«, fragte ich.
»Das ist ein sehr altes Wort«, sagte Lena. »Wir bezeichnen damit ein Ereignis, das uns … heiliger ist … ja ich glaube, das kann man so sagen … als alles andere. Es ist viele Jahre her, seit ich den Begriff zum letzten Mal laut ausgesprochen habe. L’éruption du soleil ist das Heiligste, was wir kennen.«
»Was bedeutet das Wort?«, erkundigte ich mich. »Mein Großvater ist Franzose. Und ich glaube, das ist auch wieder Französisch, oder? Ich weiß, was soleil ist. Soleil heißt Sonne.«
»Das stimmt«, antwortete Lena. »Und Sonneneruption ist genau das, was mit dem Begriff beschrieben wird … eine Eruption, ein Ausbruch der Sonne.«
»Wie eine … Explosion?«“
»Man könnte es so nennen, auch wenn wir das Wort als deutlich zu klein empfinden und zu …«
»Physisch«, ergänzte Anton.
»Aber wie kann eine Eruption der Sonne nicht physisch sein?«, fragte ich.
»Natürlich ist sie physisch«, erwiderte Lena. »Aber sie ist noch so viel mehr. Sie ist etwas … wie sagt man es am besten?«
»Etwas Spirituelles«, sagte Donne. »So würde ich es bezeichnen.«
»Ein spirituelles Ereignis?«
»Ja.«
»Und was passiert dabei?«, erkundigte ich mich. »Fliegt die Sonne in die Luft?«
Sie sahen sich an, als würden sie einem Kind aus Höflichkeit nicht widersprechen wollen.
»L’éruption du soleil hat nichts mit Zerstörung zu tun«, erklärte Lena. »Vielmehr geht es um … Reinigung. Ja, so könnte man es nennen. Heilung trifft es vielleicht auch ganz gut. Heilung für Vampire – wie du uns nennst – auf der ganzen Welt. Es ist eine Zeit, die wir herbeisehnen. Eine Zeit, in der … unser Leiden ein Ende hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles verstehe«, erwiderte ich. »Diese … spirituelle Eruption geschieht mit der Sonne und ist irgendwie Grund zur Freude für Vampire?«
»Na ja, nicht für alle«, schränkte Anton ein. »Es gibt einige, gar nicht so wenige übrigens, die nicht spirituell veranlagt sind. Die meisten von ihnen glauben nicht an l’éruption du soleil. Andere glauben sehr wohl daran, haben aber das Gefühl, bis in alle Ewigkeit verdammt zu sein.«
»Viele von ihnen sind krank«, ergänzte Lena. »Wir nennen sie die perdus.«
»Verloren«, sagte ich. »Perdu bedeutet doch verloren, oder?«
»Ja«, bestätigte Lena. »Gemeint ist nicht so sehr ein physischer Verlust, als ein … ein Verlust, der …« Sie schien nach dem Wort zu suchen und fasste sich stattdessen aufs Herz.
»Der Seele? Meinst du den Verlust der Seele?«
Lena nickte. »Ein Nichtvorhandensein. Da die meisten perdus nicht mehr an l’éruption du soleil glauben, wenn sie es überhaupt je getan haben, sind sie für uns die wahren Vampire. Die Monster. Viele von ihnen sind nicht nur bösartig, sondern geradezu teuflisch.«
Moreau, dachte ich. Sie sprechen über Moreau. Er ist einer der perdus.
Ich überlegte, ob ich ihnen von Moreau erzählen sollte. Nein. Noch nicht.
Lena wirkte auf einmal bedrückt. »Emma, ich habe die Sonne seit über eineinhalb Jahrhunderten nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich noch genau an die Wärme, wie sie sich auf den nackten Schultern anfühlte, und daran, wie mir die Sonne in die Augen schien. Wie sie Wasser zum Glitzern brachte. Spürst du ihn bereits? Den ewigen Verlust der Sonne? Weißt du, wie es ist? Du wirst es erfahren.«
»Vermisst ihr sie also?«, fragte ich. »Ihr vermisst die Sonne … obwohl sie euch schadet?«
»Soleil heilt«, sagte Lena. »Das ist das große Missverständnis. Wir könnten ins Sonnenlicht treten und der Heilungsprozess würde sofort beginnen.«
Ich musste an Moreau denken und schluckte. »Es ist also nur ein Mythos? Dass die Sonne Vampire umbringt?«
»Nein, es stimmt«, antwortete Donne. »Unter normalen Umständen ist sie in der Tat tödlich für uns. Das müsstest du doch eigentlich wissen. Du brauchst es nur einmal auszuprobieren.«
Ich habe es gerade heute ausprobiert, dachte ich. Doch eine innere Stimme sagte mir, dass ich auch diese Information noch für mich behalten sollte.
»Soleil, die Sonne, ist widersprüchlich – es ist wie mit den zwei Seiten einer Medaille«, erläuterte Lena. »Wenn wir ins Tageslicht hinausgehen, sterben wir, ja. Nicht weil es an sich schlecht für uns ist, sondern weil die Sonne nicht intensiv genug scheint. Die heilende Wirkung in normalen Strahlen ist zu gering, um etwas zu bewirken. Die Menge ist zu klein. Und eine zu niedrige Dosis ist in der Tat schädlich.«
»Sie will sagen, dass es zu langsam zu uns durchdringt«, ergänzte Donne. »Zwar ist sehr wohl ein Anteil von dem heilenden Wirkstoff im normalen Sonnenlicht enthalten, aber … er reicht nicht aus. Er gelangt nicht schnell genug in ausreichender Menge zu uns. Deshalb sind wir bei normalem Sonnenlicht dem Schädlichen schutzlos ausgeliefert. Der schädliche Anteil in den Strahlen frisst uns viel schneller auf, als der gute uns erreicht.«
»Bei l’éruption du soleil hingegen geschieht alles gleichzeitig«, erklärte jetzt Anton weiter. »Die Reinigung. Dann ist die Sonne mehr als nur normales Licht.«
»Diese wertvolle Substanz«, jetzt sprach wieder Lena, »tritt nur während l’éruption du soleil schnell genug und in ausreichender Menge aus, um heilende Wirkung zu haben und den Körper von der … infection … zu reinigen.«
»Infektion?«, fragte ich. »Soll das heißen … Vampirismus kann geheilt werden?«
»Ja, l’éruption du soleil ist eine Reinigung, die die Infektion aus dem Körper vertreibt.«
Ich spürte einen Stich in der Brust. Heilung ist möglich. Sagan. »Wir können also wieder zu … Menschen werden?«
»Das glauben wir zumindest«, bestätigte Lena. »Die perdus hingegen …«
»Aber … l’éruption du soleil … werden sie von ihr denn nicht auch geheilt?«, wunderte ich mich. »Würden nicht alle Vampire geheilt werden?«
»Schon«, antwortete Anton. »Überleg doch mal. Die Erde wäre schon längst mit Vampiren, wie du uns nennst, übervölkert, wenn es nicht gelegentlich l’éruption du soleil gäbe.«
»Wie oft kommt so eine Eruption denn vor?«, fragte ich.
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete Lena. »Jedenfalls nicht regelmäßig. Die letzte fand statt, als ich ungefähr in deinem Alter war, also, wie gesagt, 1859. Damals war ich noch ein Mensch. Dort, wo ich lebte, war es gerade Nacht. Alle wurden geheilt, außer denen, die sich währenddessen unter der Erde befanden. Die perdus. Drei Jahre nach l’éruption du soleil wurde ich von einem von ihnen verwandelt.«
Ich stand auf, entfernte mich einige Schritte von der Mauer und sah die drei dann an. »Ihr behauptet also, die Bösen … Die perdus … haben das Boot verpasst und sind deshalb verbittert? Und jetzt lassen sie es an uns aus?«
»Wer weiß, was sie denken«, rief Donne verärgert. »Sie denken an sich selbst und an sonst niemanden.«
»Der einzige Grund, warum sie sich kurzfristig zusammengeschlossen haben, war ihre gemeinsame Wut«, sagte Lena.
»War das der Krieg?«, mutmaßte ich.
Lena sah Anton an, der aussah, als wollte er etwas sagen. »Ja, der Krieg«, antwortete sie dann und lächelte traurig. »Wenn man es überhaupt so nennen konnte.«
Eine Weile schwiegen alle drei, dann ergriff Donne das Wort: »Warum machen wir kein Feuer und grillen Marshmallows?«, schlug sie vor. »Hier einfach nur rumzusitzen und zu reden ist … Zeitverschwendung.«
»Läuft dir die Zeit weg?«, fragte Lena verschmitzt.
»Mir nicht, aber der innocente«, erwiderte Donne und zeigte auf mich. »Sie braucht Nahrung.«
»Ach so«, sagte darauf die ältere Vampirin. »Und ich habe gedacht, du wärst ungeduldig, stattdessen warst du umsichtig. Verzeih mir. Und vielen Dank.« Sie wandte sich mir zu. »Donne hat Recht. Wie nachlässig von mir … du brauchst sofort Nahrung. Du bist noch nicht erfahren genug, um zu fasten.«
»Wartet mal«, stammelte ich, als ich langsam begriff, was sie meinten. »Ihr meint …«
Anton stand auf und klatschte erfreut in die Hände. »Prima! Wir dürfen mit dir auf deine erste chasse de sang gehen.«
»Was ist das?«, erkundigte ich mich nervös.
»Eine Blutjagd.«
Anton griff abermals nach meinem Arm. Wieder empfand ich seine Haut als seltsam glatt.
»Es hilft so sehr, wenn beim ersten Mal jemand Erfahrenes dabei ist«, sagte er und wirkte ehrlich begeistert.
Donne erhob sich ebenfalls. »Ich habe keine Lust, jemand Neues mitzunehmen.« Sie starrte mich an. »Das hat nichts mit dir persönlich zu tun, Emma, aber das Risiko steigt einfach enorm, wenn man jemanden dabeihat, der nicht weiß, was er tut. Aber der Gedanke, dass du allein gehst, gefällt mir auch nicht. Außerdem könnte ich selbst etwas gebrauchen.«
»Ihr wollt doch nicht etwa sagen … was ich glaube, dass ihr sagt, oder?«, fragte ich stotternd.
»Natürlich!«, antwortete Anton. »Je mehr, desto besser. Was ist mit dir, Lena?«
»Sie fastet doch noch«, sagte Donne.
»Ach ja«, antwortete Anton und sah mich an, als schuldete er mir eine Erklärung. »Lena ist phänomenal. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so lange ohne aushält wie sie.«
»Jetzt stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, tadelte Lena und nickte in Donnes Richtung. »Wir alle fasten bisweilen, Emma. Das gehört zu unserem Umgang mit … mit der Sache. So kann man es vielleicht sagen. Es ist Teil unseres Lebens. Statt uns von unserer Gier beherrschen zu lassen, kontrollieren wir unseren Hunger, basierend auf unserem Glauben und unserem Willen. Das bedarf einer gewissen Übung, aber mit der Zeit ist es machbar.« Sie sah Anton an. »Bleibt nicht zu lange unten, denkt an das Morgengrauen.«
»Keine Sorge. Wir brauchen nicht lange. Komm«, rief Anton und zog mich hinter sich her. »Wir zeigen dir genau, wie es geht. Nur wenige Dinge im Leben sind aufregender als eine chasse de sang kurz vor Tagesanbruch.«
Ich ließ mich vom Steinhaus-Hotel fortziehen. Die Gedanken wirbelten wild in meinem Kopf umher. Ich merkte, dass wir in Richtung der Straße unterwegs waren. Durch den Wald ging es hangabwärts. Schon bald konnte ich Lena nicht mehr sehen, nur die Steinblöcke hoben sich noch vor den dunklen Bäumen ab. Wenig später rannten wir bereits.
Das darf nicht wahr sein, dachte ich. Ich war auf dem Weg nach Huntsville, um von einem unschuldigen Opfer Blut zu trinken?
»Wartet«, rief ich, »Bitte. Ich glaube, ich bin noch nicht so weit.«
Anton lachte. »Oh doch, du bist so weit, keine Sorge. Du hättest mich beim ersten Mal sehen sollen. Ich weiß nicht, was ich ohne Lena gemacht hätte! Ich hatte panische Angst, wenn du die Wahrheit wissen willst.«
»Aber … wie kann ich … ich kann nicht«, sagte ich.
»Du kannst«, unterbrach Donne mein Stammeln und sah mich scharf an. »Wenn nicht, dann … na ja, dann wissen wir Bescheid.«
»Was wisst ihr dann?«
»Dass du keine Freundin bist. Vielleicht hast du Angst davor, dass wir dir beim Trinken zuschauen. Das könnte dich verraten … vielleicht bist du sogar eine Spionin der perdus.«
»Unsinn«, rief Anton lachend. »Es ist vollkommen offensichtlich, dass sie keine Spionin ist.«
»Halt den Mund, Anton«, rief Donne.
Jetzt griffen sie beide nach meinen Händen und sausten mit mir weiter den Berg hinab. Beim Rennen schmiedete ich die albernsten Pläne, wie ich ihnen entkommen oder sie vielleicht sogar vom Töten abhalten könnte.
Viel zu schnell wurde der Wald lichter und der Untergrund begann flacher zu werden. Bald kamen wir an Häusern vorbei, die in die felsige Landschaft gebaut waren. Vor uns waren Straßenlaternen. Sie beleuchteten einen älteren Stadtteil. Die beiden Vampire ließen mich los und wir wurden langsamer, auch wenn wir noch immer viel schneller unterwegs waren, als Menschen gehen würden. Wie Quecksilber bewegten wir uns durch die Straßen. Wegen der nachtschlafenden Zeit war alles totenstill. Fenster waren dunkel, Terrassenlichter ausgeschaltet.
»Es gibt einen Trick, wie man le trajet erhält«, erklärte Donne ruhig. »Das Jagen um diese Zeit ist schwieriger. Weil nicht so viel Leute unterwegs sind. Aber genau deshalb haben wir sie uns ausgesucht. Wer nach Mitternacht auf der Straße ist, gehört einem bestimmten Typ Mensch an. Die meisten sind ungebunden. Jung. Alleinlebend.«
»Oder sie sind älter«, ergänzte Anton. »Und haben nicht viele oder überhaupt keine Freunde. Arbeiten in einsamen Nachtjobs, weil sie Leute sind, die nicht mit anderen zusammen sein wollen.«
»Oder es sind Leute, die so anders sind, dass andere nicht sehen sollen, wie anders sie sind«, fuhr jetzt wieder Donne fort. »Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Leute uns verraten, ist deutlich geringer. Und wir wechseln: verschiedene Straßen, andere Stadtteile. Gegenden, wo öfter unerklärliche Dinge geschehen, aber selten infrage gestellt werden.«
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich sie so über Menschen reden hörte … Menschen, die wir überfallen würden! Ich dachte an Sagan … er war jemand, der spät nachts noch unterwegs war. Und er war weder einsam noch seltsam. Nur hatte er tagsüber keine Zeit, seiner geliebten Kometenjagd nachzugehen. Was war mit seiner Familie? Was wäre, wenn die Vampire zum Beispiel über eine seiner Schwestern herfielen? Was dann?
»Die perdus müssen deshalb immer weiterziehen«, erklärte Anton. »Sie achten nicht auf solche Dinge.«
»Aber sie achten sehr wohl darauf, nicht gefasst zu werden«, entgegnete Donne. »Anton hat trotzdem Recht. Die perdus leben eher nomadisch. Sie ziehen in ländlichen Gegenden von einem Ort zum anderen und von Stadt zu Stadt. Wir – die soleils – sind wahrscheinlich sogar mehr als sie. Aber man braucht stets mehr gute Leute, um die Bösen in Schach zu halten. Denn die Bösen leben ohne Regeln. Psst!«
Vor uns bewegte sich etwas. Da ich ihnen so aufmerksam zugehört hatte, war mir entgangen, dass wir inzwischen an kleinen, coolen Geschäften vorbeikamen: Second-Hand-Buchläden, Bioläden, Restaurants, in denen seltsame Gerichte mit Zutaten wie Tofu und Soja serviert wurden.
Jetzt sah ich die Person, die Donne beobachtete. Es handelte sich um einen älteren, müde wirkenden Mann, der die stummen Zeitungsverkäufer an der Straßenecke mit der Morgenzeitung füllte. Sonst war niemand in Sichtweite, nicht ein einziges Licht. Er schien ungefähr so alt zu sein wie der Rektor unserer Schule, Ende fünfzig vielleicht. Obwohl es alles andere als kalt war, trug er eine dicke blaue Jacke. Wir waren noch ungefähr hundert Meter von ihm entfernt, aber ich konnte hören, wie er in seine Hand hustete.
Ich überlegte, was ich sagen könnte, um sie aufzuhalten. Der Gedanke, sie anzugreifen, während sie über den armen Kerl herfielen, behagte mir gar nicht.
»Aber … was ist, wenn die Person krank ist oder so was? Wenn sie einen tödlichen Virus in sich trägt?«, fragte ich. »Stecken wir uns dann nicht an?«
Dieses Mal lachten beide Vampire. »Du bist wirklich eine innocente«, sagte Anton. »Auf einer Jagd dieser Art war ich schon eine Weile nicht mehr. Das wird lustig!«
»Sie sind diejenigen, die sich wegen einer infection Sorgen machen müssen, findest du nicht?«, kicherte Donne. »Glaubst du, dass du die Erste bist, die diese Frage je gestellt hat? Als könnten menschliche Viren uns irgendetwas anhaben.«
Mir lag noch eine andere Frage auf der Zunge: »Ihr habt gesagt, ihr wüsstet nicht, ob wir eines natürlichen Todes sterben können. Aber können wir … getötet werden?«
»Zu Hunderten«, antwortete Anton. »Während des Krieges …«
»Natürlich können wir sterben«, unterbrach ihn Donne und warf Anton einen bösen Blick zu. »Wir sind Lebewesen, keine Untoten. Das ist Quatsch.«
»Man kann uns das Herz oder irgendein anderes der lebenswichtigen Organe rausnehmen, uns den Kopf abschlagen, uns zweiteilen, die Möglichkeiten sind zahlreich«, zählte Anton auf. »Es ist schwierig, aber es geschieht dauernd. Doch wir sollten uns jetzt konzentrieren. Ich habe Hunger.«
Bei den Worten fletschte er die Zähne, messerscharfe Reißzähne sah ich jedoch nicht.
Genau wie Donne und Anton blickte ich wieder zu dem Alten bei den stummen Verkäufern. Gewissenhaft öffnete er jedes Fach, warf die alten Zeitungen fort, steckte die neuen hinein und schlug die Klappe dann wieder zu. Er schien ganz bei der Sache zu sein und hielt seinen Kopf gesenkt. Ein leichtes Ziel. Viele Fluchtmöglichkeiten schienen sich ihm nicht zu bieten; ich sah ein Auto, einen kleinen weißen Toyota, ein Stück weiter die Straße hinauf. Qualm kam aus dem Auspuff. Aber der Wagen stand viel zu weit entfernt, als dass er ihn würde erreichen können. Ich merkte, wie Anton und Donne immer angespannter wurden, je mehr wir uns näherten.
»Wartet mal«, versuchte ich sie zu bremsen. »Stürzen wir uns einfach auf ihn und reißen ihm die Kehle raus? Das ist krank …«
Ihre Aufmerksamkeit war so sehr auf ihr Ziel gerichtet, dass sie mich gar nicht wahrnahmen. Die verschiedensten Gedanken schwirrten mir durch den Kopf … sollte ich sie mir beide schnappen – sie waren kleiner als ich – und dem Alten zurufen, er müsse schnell in seinem Auto verschwinden? Doch ich wusste, dass er keine drei Schritte weit kommen würde.
Oder ich rannte einfach weg. Haute ab. Anton und Donne würden mich nie einholen. Ich war zehnmal sportlicher als sie. Außerdem waren sie ausgehungert. Sie brauchten etwas zu essen. Doch diese Vorstellung widerstrebte mir.
Was aber sollte ich tun? Den Mann einfach sterben lassen? Allerdings taten sie so etwas wahrscheinlich jede Nacht. Wenn ich ein Leben rettete, was wäre dann? Sie würden sich einfach ein anderes Opfer suchen. Der Gedanke machte mich wahnsinnig. Unterdessen näherten wir uns immer weiter. Der Mann schlug eine Klappe nach der anderen zu und war vollkommen ahnungslos.
Dann, als wir nur noch ungefähr fünfzehn Meter entfernt waren, hielt Donne kurz inne und huschte hinter die Mauer eines kleinen Restaurants.
»Bist du bereit?«, fragte sie Anton.
Anton griff sich in die Tasche und zog eine kleine weiße und goldfarbene Tube hervor.
»Die vergesse ich nicht wieder, nach der Erfahrung vom letzten Mal«, sagte er.
Donne zog ebenfalls etwas aus der Tasche. Sie hatte etwas Schmales aus Metall in der Hand, das aussah wie ein silberfarbener Stift. Außerdem ein weißes, gefaltetes Stofftaschentuch und ein kleines, braunes Fläschchen mit einem Gummistopfen, aber ohne Etikett. Sie gab einige Tropfen der Flüssigkeit aus der Flasche auf das Tuch und drückte es in ihrer zarten Faust zusammen. Ein scharfer und zugleich süßlicher Geruch waberte durch die Luft.
»He, was macht ihr …«
Mein Satz blieb unvollendet, weil sich die beiden Vampire in dem Moment auf den Zeitungsmann stürzten.
Ich sage stürzten, dabei bewegten sie sich lautlos und so geschmeidig und elegant, dass sie eher aussahen wie über einen See streifende Schwäne als wie springende Tiger. Man konnte sie nur als anmutig bezeichnen, keinesfalls als tödlich, monströs oder gar bedrohlich. Es wirkte nicht wie ein Angriff, sondern eher wie ein Tanz.
Sagan, du würdest es nicht glauben, dachte ich.
Ich folgte ihnen. Anton und Donne waren in zwei verschiedene Richtungen gesprungen. Zwischenzeitlich segelten sie mehr als drei Meter hoch in der Luft, bevor sie kurz mit einem Fuß aufkamen, nur um sich wieder abzudrücken, als wollten sie die letzte Ecke eines Dreiecks schließen.
Der Alte bekam nicht mit, was ihn zur Strecke brachte. Er hatte sie nicht kommen hören und sich gerade vorgebeugt, um einen weiteren Stapel alter Zeitungen herauszuziehen, als die Vampire hinter ihm landeten. Anton griff ihn sich als Erster. Er drückte ihm die Arme an den Körper. Ich eilte zu ihnen und versuchte mich für Donnes Angriff zu wappnen, die im nächsten Moment in die Kehle des Mannes beißen und ihn diese aufreißen würde.
Doch es geschah ganz anders. Donne legte ihren Arm um die Schultern des Mannes, während Anton ihn weiter festhielt, und platzierte das nasse Tuch über Nase und Mund.
Auch wenn ich das Gesicht des Mannes nicht sah, konnte ich mir doch gut vorstellen, wie sich seine Augen einen Moment lang vor Schreck weiteten. Ich glaube nicht, dass er einen der Vampire sah. Zwei oder drei Mal zuckte sein Körper lautlos. Als Anton den Mann herumdrehte, war sein Körper bereits schlaff und die Augen geschlossen. Behutsam legten die Vampire ihn auf den Gehsteig.
Anton hob den Kopf des Alten auf seinen Schoß. Donne zog den rechten Arm des Bewusstlosen aus dem Jackenärmel und dehnte dann den Kragen seines T-Shirts, sodass ein blasser Hals und ein Teil der Schulter zum Vorschein kamen. Jetzt geht es los, dachte ich und stand wie vom Donner gerührt da.
Donne nahm das kleine stiftähnliche Objekt, das sie in der linken Hand gehalten hatte, und zog eine fünf Zentimeter lange Linie an der Schulter des Mannes. Nur dass es kein Stift war, sondern eine Art Messer.
Der Mann rührte sich nicht und stöhnte nicht einmal, als das warme Blut wie rote Fäden aus dem dünnen Schnitt quoll. Ich sah, wie sich Anton über die Lippen leckte. Donne ließ ihm den Vortritt. Er senkte den Kopf und begann zu trinken, dass es wie ein leidenschaftlicher Kuss aussah.
Er trank höchstens zwanzig Sekunden, was mich überraschte. Anschließend war Donne an der Reihe und sie trank genauso – wie beim Küssen. Sie verhielten sich so manierlich und vorsichtig, so vollständig anders als die brutale, gewaltsame Art und Weise, mit der das Monster Moreau mir das Bein aufgerissen hatte, dass ich nur sprachlos zuschauen konnte.
Donne bemerkte, dass ich sie beobachtete.
»Der hier ist nicht für dich, Frischling«, sagte sie.
Auch sie trank weniger als eine Minute. Sie verdrehte die Augen, bevor sie sie schloss und es vorbei war, ehe es richtig begonnen hatte. Als sie den Kopf hob, hatte sie nicht einmal Blut am Mund. Sie hätte dem Kerl ebenso einen Knutschfleck machen können.
Die beiden waren fertig, so viel war klar. Doch anstatt den Mann liegen zu lassen und zu verschwinden, tupfte Donne die Wunde mit einem Tuch ab und Anton drückte ein wenig der entzündungshemmenden Salbe aus der weißen Tube heraus und massierte sie sanft mit einem Finger ein, bis die Blutung stoppte. Zum Abschluss zogen sie dem Mann die Jacke wieder richtig an und trugen ihn behutsam zum Gehsteig, wo sie ihn wieder ablegten und ihm noch einen Arm gebeugt unter dem Kopf platzierten.
Ich hatte das Gefühl, mich inmitten von Außerirdischen zu befinden. Ich war Zeugin von etwas geworden, was offenbar auf der ganzen Welt immer wieder geschah, von dem die Menschen aber keinerlei Schimmer hatten.
»Und was jetzt?«, fragte ich.
»Abwarten und Tee trinken«, antwortete Donne.
Sie und Anton zogen mich zum zweiten Mal hinter die Mauer des kleinen Restaurants, von wo aus wir den reglos auf dem Boden liegenden Mann beobachteten.
»Womit hast du ihn ausgeschaltet?«, fragte ich flüsternd.
»Äther«, antwortete Donne. »Man kann auch Chloroform nehmen. Leicht zu bekommen ist keins von beiden, es sei denn, man befindet sich nahe an einer Universität.«
»Aber woher wisst ihr, wie viel ihr ihm geben müsst?«, fragte ich weiter.
»Wenn man es ein paar Hundert Mal gemacht hat, weiß man es«, antwortete Donne und tat wieder einmal so, als wäre ich ein wenig schwer von Begriff.
»Und … worauf warten wir jetzt noch?«
»Wir müssen sicherstellen, dass mit ihm alles in Ordnung ist«, behauptete sie.
»Ihr verarscht mich«, schimpfte ich. »Ihr habt dem Typen gerade Blut ausgesaugt und jetzt seid ihr besorgt, ob es ihm auch gut geht?«
»Ja. Manchmal haben sie komische … Nachwirkungen. Außerdem ist er wehrlos.«
»Was seid ihr nur für seltsame dunkle Gestalten?« Ich musste fast lächeln.
»Wir sind menschliche Wesen«, antwortete sie mürrisch. »Und wir tun unser Bestes.«
Als sich der Zeitungsmann ächzend aufsetzte, verschwanden wir in der Nacht.
»Gut, und was nun?«, fragte ich.
»Jetzt machen wir das Ganze noch mal.«
Das nächste Opfer war eine ziemlich fette Frau, die langsam über einen fast leeren Supermarktparkplatz watschelte. Wir setzten sie hinter dem Lenkrad ihres Pick-ups ab und warteten, bis sie hustend wieder zu sich kam und sich verwirrt umschaute. »Wahrscheinlich arbeitet sie in einer Bäckerei«, sagte Anton schmatzend. »Sie schmeckt nach Mehl.« Das dritte Opfer war ein Typ, der allein in einer kleinen Portiersloge an einem Fabrikgelände saß und im Internet surfte. Sie bewegten ihn nicht einmal von seinem Stuhl weg.
Jedes Mal sagte Donne etwas wie: »Der ist nicht für dich.« Puh, dachte ich. Ich beschwere mich ja gar nicht.
Ich fühlte mich schuldig, obwohl Anton und Donne nicht behutsamer hätten sein können. Obwohl »behutsam« zugegebenermaßen ein seltsames Wort ist im Zusammenhang mit zwei Vampiren, die jemanden mit einem X-Acto-Messer aufschlitzen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sie ihre Opfer mit extremer Sorgfalt behandelten und alles taten, um den Schaden zu minimieren – psychisch und physisch.
»Aber … fragen sie sich später nicht, wer sie bewusstlos geschlagen hat? Woher der Schnitt kommt?«, erkundigte ich mich.
»Sicher«, pflichtete Anton mir bei. »Es sei denn, sie sind betrunken oder anderweitig nicht ganz bei Sinnen.«
»Und würden sie es dann nicht am nächsten Tag melden?«
»Und was würdest du der Polizei sagen?«, mischte sich Donne ein. »Ich bin mit diesem feinen Schnitt an der Schulter aufgewacht.« Sie lachte spöttisch.
Ich musste daran denken, wie die Vampirfledermäuse an dem Schwein gesaugt hatten.
»Was ist mit Tieren?«
»Funktioniert nicht«, entgegnete Anton. »Die Verwandtschaft ist zu weitläufig.«
»Okay … und Krankenhäuser? Blutbanken?«, schlug ich vor. »Könntet ihr euch … könnten wir uns nicht dort bedienen?«
»Glaub mir, wir kennen diese Witze«, erwiderte Anton. »Guten Tag! Bin ich hier bei einer Blutbank? Ich würde gern eine Abhebung tätigen.«
»Das Blut taugt nichts«, klärte Donne mich auf und warf Anton einen abschätzigen Blick zu. »Für Menschen ist es okay, aber es lebt nicht mehr wirklich. Wenn wir versuchen würden, uns davon zu ernähren, würden wir sehr bald verhungern.«
»Vampire können also verhungern? Davon sterben?«
»Na ja, streng genommen wissen wir nicht genau, wie es enden würde. Und ich habe auch kein Interesse, das herauszufinden.«
»Du hast gesagt, Lena würde gerade fasten …«
»Das stimmt«, antwortete Anton. »Sie ist unglaublich. Ihre Willensstärke. Ich würde es nicht aushalten, nicht so lange jedenfalls. Sie schafft es mehrere Wochen.«
»Das gehört zum Leben als soleil dazu«, erklärte Donne. »Wir haben nicht darum gebeten, von menschlichem Blut leben zu müssen. Aber mit Fasten erhalten wir unsere Würde. So grenzen wir uns von den maßlosen Blutsaugern ab.«
»Von den perdus«, sagte ich.
»Genau.«
Der letzte Typ, den wir aussuchten, war deutlich jünger als seine Vorgänger. Wir hatten uns bereits einige Kilometer von den bisherigen Tatorten entfernt, als wir auf ihn stießen. Sein Auto parkte vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft, das noch geöffnet war, und wir warteten, bis er mit Käseringen und Limonade wieder herauskam. Dann folgten wir ihm bis zu seiner Wohnung.
An dem Auto dranzubleiben machte Spaß. In vollem Tempo jagten wir durch Hinterhöfe, wichen Hindernissen aus, sprangen über Hydranten und Hunde und verschwanden schnell im Dunkel, wenn der Fahrer sich umdrehte. Mein Bedürfnis nach Geschwindigkeit und der ungestüme, tierische Jagdinstinkt, der mir so gefehlt hatte, seit ich aus der Fußballmannschaft geworfen worden war, wurden damit mehr als befriedigt. Dem armen Kerl nachzustellen war sicher falsch, aber es fühlte sich nicht falsch an … es war berauschend. Hinter einem Auto durch dunkle Straßen zu jagen, war, als würde sich der kühnste Traum eines abenteuerlustigen Kindes erfüllen.
Anton und Donne überwältigten den Typen, als er gerade den Wohnungsschlüssel im Schloss umdrehte. Wir fingen ihn auf, bevor er nach vorn in den Flur kippte, und zerrten seinen reglosen Körper dann zügig aufs Sofa. Anton und Donne schienen sich ihrer Sache sicher zu sein, ich hingegen schaute mich einen Moment um, um sicherzugehen, dass niemand sonst anwesend war.
In der Spüle türmte sich der Abwasch der letzten Woche und auf Tisch und Fußboden lagen überall getragene Kleidungsstücke herum, dazwischen leere Bierdosen. Billigbier. Es roch säuerlich.
Anton und Donne ließen die Tür einfach offen stehen, aber ich hatte ein komisches Gefühl dabei und schloss sie lieber.
»Beeilt euch«, sagte ich.
Lange dauerte es nicht, bis alles vorbereitet war und der Typ auf dem Sofa bereitlag.
Donne hob den Kopf von der Schulter des jungen Mannes, wischte sich mit dem Mund über den Unterarm und sah mich an.
»Du bist dran.«