19

Möglichkeiten

Ich will nicht lügen. Der Gedanke, dass die drei Vampire mich ausgetrickst haben könnten und ich in ein Nest der perdus geraten war, kam mir sehr wohl. Womöglich wartete hinter der nächsten Ecke Moreau. Vielleicht gab es auch gar keine Unterscheidung zwischen perdus und soleils und sie erlaubten sich einen Spaß mit mir. Sie hatten ja so viel Zeit totzuschlagen …

Doch ein Blick in Lenas Augen zerstreute diese Befürchtung sofort. Über die Macht eines Vampirblicks gibt es viele Geschichten, doch was ich in ihren Augen sah, war nichts als Schmerz. Schmerz und Trauer und der jahrelange Versuch, darüber hinwegzukommen.

»Aber …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Lass mich dir helfen«, bot Donne an. »Du fragst dich, ob das nicht alles Schwachsinn ist, stimmt’s, Emma? Die soleils. Die Reinigung durch besonderes Sonnenlicht, das Fasten. Gib’s zu.«

»Aber ich habe gesehen, wie ihr euch auf der Blutjagd verhalten habt«, stammelte ich. »Es war so … anders, völlig anders als das, was ich erlebt habe. Euch sind die Leute, von denen ihr trinkt, nicht egal.« Abermals sah ich Lena an. »Bist du vielleicht beides?«

»Lange Zeit war ich eine perdu«, sagte sie und klang müde. »Ich kannte ja nichts anderes. Nur so konnte ich überleben.«

»Hast du … hast du Leute getötet?«

»Ja. Ja, das habe ich getan. Es soll keine Entschuldigung sein, ehrlich, aber ich war so … gebrochen. Man hatte mir beigebracht, Gott zu ehren, und genau von diesem Gott fühlte ich mich jetzt verraten. Zuerst durch Pastor Orton, dann durch die Art, wie mir Valentin genommen wurde. Die einzige Freude, die ich je gekannt hatte. Ich hatte eine Wut auf die Welt. Vor allem auf die Männerwelt. Sie allein war schuld am Leiden der Menschheit. Ich glaubte es rechtfertigen zu können. Nein, mehr noch, ich fühlte mich im Recht. Fast wurde ich zu einer Dämonin. Man redete über mich. Vielleicht kursieren die Geschichten immer noch, ich weiß es nicht. Die Graue Lady wurde ich genannt. Ich war brutal, wer mir zum Opfer fiel oder was für Leid ich über die Betreffenden brachte, das alles kümmerte mich nicht. Dann, eines Nachts, stürzte ich in eine Kirche … ich weiß nicht einmal mehr, was für eine Kirche es war. Ich war gierig, blutrünstig. Meine einzige Sorge war, ob ich dort drinnen ein warmes, menschliches Wesen antreffen würde, über das ich herfallen konnte. Tatsächlich war dort ein Mann. Er war sehr jung und kniete vor dem Altar. Sein Hut lag neben ihm. Die Kleidung war schäbig und zerrissen. Er hatte mir den Rücken zugewandt. Er hatte keine Chance. Erbarmungslos stürmte ich auf ihn zu wie ein Orkan. Doch als ich mich gerade auf ihn werfen wollte, sah ich, dass er vor einem Kind kniete, das in einem kleinen weißen Sarg lag. Es war ein vielleicht vierjähriges Mädchen. Ich landete so leichtfüßig, dass er mich vielleicht nie bemerkt hat. Langsam wich ich von ihm und dem toten Kind zurück, bis ich wieder draußen war. Ich stürzte die Treppen hinab und weinte bitterlich über das, was aus mir geworden war. Danach wollte ich alldem ein Ende bereiten. Ich wartete auf den Sonnenaufgang, aber als es so weit war, fehlte mir der Mut. Ich versteckte mich im Keller eines nahe gelegenen Hauses, wo eine alte Frau allein lebte. Ich hätte sie jederzeit nehmen können. Aber ich merkte, dass ich gegen die Gier ankämpfen konnte. Eines Nachts wurde sie jedoch so stark, dass ich in die Dunkelheit floh. Ich blieb, wo immer es möglich war, und raubte den Leuten so wenig Blut, wie ich konnte. Dennoch fühlte ich mich nach wie vor abscheulich und konnte damit immer weniger umgehen. Verzweifelt versuchte ich mich zu bessern. Zufällig geriet ich nach Washington D. C., wo wegen des Krieges viele Krankenschwestern gebraucht wurden. Ich hatte keine Ausbildung, aber sie waren unterbesetzt und suchten verzweifelt nach Helfern. So wurde ich Nachtschwester in einem Bürgerkriegslazarett.

Wegen meiner mangelnden Erfahrung bekam ich die widerwärtigsten Aufgaben zugeteilt. Meine Station hatte achtzig Betten. Der Gestank war unbeschreiblich, erst recht für den Geruchssinn eines Vampirs. Um ihn ertragen zu können, bespritzte ich mich jeden Abend mit Lavendelwasser. Aber weißt du, wovor ich mich am meisten fürchtete, Emma? Die armen Männer zu versorgen, die mit Wunden, aus denen das Blut spritzte, frisch vom Schlachtfeld kamen. In jenen Momenten wurde meine Gier so maßlos, dass ich glaubte, vor lauter Scham über diesen raubtierhaften Trieb wahnsinnig zu werden. Und doch lernte ich meinen verfluchten Appetit zu zügeln. Es war ein schwerer Kampf, doch ich fühlte mich besser. Nicht nur, dass ich die Kontrolle über mich zurückerlangte, mir tat es auch gut, helfen zu können. Ich fütterte, wusch und tröstete sie und lernte sogar mit Amputationen umzugehen, ohne mich selbst zu verlieren.

Und dann, eines Nachts, als ich mich um einen sterbenden Mann kümmerte, der in der Schlacht von Fredericksburg schwer verletzt worden war, hatte ich eine Eingebung: Ich konnte eine Art Erlöserin für hoffnungslos leidende Menschen werden. Während er vor sich hin dämmerte, sang ich ihm für eine Weile etwas vor, dann legte ich meine Lippen an seine Kehle und saugte ihm den letzten Lebensfunken heraus.

Ich schäme mich zu sagen, dass es mir eine tiefe – physische und geistige – Befriedigung verschaffte. In jenem Lazarett blieb ich bis zum Ende des Kriegs. Keine Ahnung, wie viele leidende Männer ich ins Jenseits beförderte, während ich meinen Durst stillte. Aber ich tat es nicht nur, um zu überleben. So seltsam es klingt, aber für mich war es ein Weg, um … menschlich zu bleiben.«

Lena zog ihre Beine hoch und setzte sich im Schneidersitz auf die Mauer.

»Nach dem Krieg blieb ich noch so lange, wie ich konnte, aber bald gab es nicht mehr viele Stellen für Nachtschwestern und ich war gezwungen weiterzuziehen, weil sie mich in der Tagschicht einsetzen wollten. Ich hatte große Angst, dass die alten Zeiten mit all dem damit verbundenen Schrecken zurückkehren könnten. Dann hörte ich zum ersten Mal von den soleils und erinnerte mich daran, wie ich meinem Hunger zu widerstehen gelernt hatte, bevor ich in dem Lazarett tätig gewesen war. Ich schloss mich ihnen an, begann zu fasten und bin bis heute mit ihnen zusammen«, beendete sie ihre Geschichte.

Mein Kopf war voller Fragen: Washington D. C. während des Sezessionskriegs? Ich musste es einfach wissen.

»Hast du ihn je gesehen?«

»Wen?«

»Du weißt schon … den Präsidenten?«

»Ach so.« Lena lächelte. »Ja, ich habe ihn tatsächlich gesehen. Allerdings nur ein einziges Mal. Den größten Teil seines Amtes hat er ja tagsüber ausgeübt. Aber eines Abends hat er unser Lazarett besucht, um den Truppen Mut zuzusprechen, und ich war auch dort.«

»Du bist ihm tatsächlich begegnet. Du hast Abraham Lincoln getroffen.«

»Nicht nur das. Ich habe sogar mit ihm gesprochen. Der Präsident hat meinen Arm berührt …«

»Ich fasse es nicht. Wie war er?«

»Er war ein Mensch. Für mich war er ein Mensch und nicht das Denkmal, zu dem man ihn heute machen will. Er hatte ein sehr trauriges, ernstes Gesicht. Aber als einer der Männer ihn zum Lachen brachte und ihm einen Witz über einen Südstaatler erzählte, der halb Maultier war, wurde er plötzlich ganz anders … so lebendig. Er trug einen schwarzen Mantel und eine dunkelblaue Fliege. Seine Augen waren hellgrau. Sein Gesicht war von Falten zerfurcht, sein Haar noch ziemlich dunkel, aber bereits von grauen Strähnen durchzogen. Ich weiß noch, dass ich gern mit einem Kamm hindurchgegangen wäre. Seine Stimme war überraschend hoch für einen so großen Mann. Er war schlank, gab aber dennoch eine stattliche Figur ab. Seine langen Finger … als sie mich berührten …«

Sie hielt inne und ließ den Blick über das Steinhaus-Hotel schweifen und dann weiter bis zum dunklen Horizont am Ende des Tals.

»Ich hätte ihn verwandeln können. Auch wenn ich mich vor dem Gedanken scheue, aber in dem Moment wäre es möglich gewesen. Denk doch mal an die Folgen: Dann wäre er noch heute unter uns. Zugegeben, diese Vorstellung ist irgendwie unheimlich.«

Ich war inzwischen mehr oder weniger sprachlos vor Erstaunen, saß nur da und versuchte zu begreifen. Ich dachte an all die Dinge, die sie in all den Jahren erlebt haben musste … und was es für mich bedeutete. Dass ich mich in hundert Jahren in der gleichen Situation befinden könnte … oder in zweihundert … und noch immer keinen Tag älter als siebzehn wäre.

Der Gedanke überforderte mich. Besonders nachts. Und besonders, nachdem ich mit meinem Großvater telefoniert hatte. Was würde ich in hundert Jahren noch von ihm wissen? Und von Manda? Würde ich mich überhaupt noch daran erinnern können, wie sie oder meine Mutter aussahen? Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Stimmung war offenbar ansteckend. Ich hatte die drei Vampire noch nie so still erlebt.

»Darf ich euch etwas fragen?«, durchbrach ich schließlich das Schweigen. »Euch alle drei?«

»Natürlich«, sagte Anton und lehnte sich zurück.

»Wenn man so lange lebt, muss man doch viel gelernt haben. Unendlich viele Erfahrungen gesammelt haben?«

Donne schnaubte verächtlich. »Das glaubst du wohl, du frischester Frischling, den ich je gesehen habe.«

Ein wenig trotzig antwortete ich: »Ich weiß nicht, was ich glaube. Aber eigentlich müsstet ihr doch …«

Lena machte eine Handbewegung, als wollte sie die Wogen glätten. »Was Donne sagen will, ist, dass so viel von dem Wissen, das wir uns aneignen, letztendlich nutzlos ist, weil es veraltet, wenn die Zeit fortschreitet«, erklärte sie. »Kannst du dir vorstellen, wie wenig hilfreich ein Universitätsabschluss von 1891 oder selbst einer von 1932 im 21. Jahrhundert noch ist?«

»Aber das größte Problem ist, dass du die Lust verlierst«, fügte Donne hinzu.

»Woran?«

»An Begegnungen. Man hat keine Lust mehr, mit anderen Leuten zusammen zu sein, sich mühsam anzupassen, während man gleichzeitig dem alten Leben nachhängt.«

»Sie hat Recht, es ist einfach zu anstrengend«, pflichtete Anton ihr bei und legte seinen Arm um ihre Taille. »Sich immer verstecken und lügen zu müssen und immer kurz davor zu sein, erwischt zu werden, ist mühsam. Und dann muss alles, ausnahmslos alles, im Dunkeln stattfinden. Und wie viele große Ereignisse ereignen sich schon nachts? Sei ehrlich?« Er lachte abermals. Und dieses Mal schlug ihm Donne dafür auf den Arm.

»Aber das ist noch nicht alles«, sagte jetzt wieder Lena. »Wir haben auch deshalb nicht viel Kontakt zu anderen Leuten, eigentlich fast gar keinen, weil es … unbehaglich ist, wenn man irgendeine Form von Gewissen hat. Das ist eines der großen Opfer, die wir erbringen müssen. Unsere Erfahrungen sind ziemlich begrenzt, weil unsere Bindungsmöglichkeiten begrenzt sind. Kannst du dir vorstellen, einen Großteil deiner Zeit mit jemandem zu verbringen, der dazu bestimmt ist deine Nahrung zu sein?«

Mir kribbelte der Kopf. So wohl ich mich bei ihnen auch inzwischen fühlte – ab und zu tat sich zwischen uns eine erschreckend hohe Wand auf. Eine Wand, die mich stets daran erinnerte, dass sie, egal wie fest unsere Freundschaft würde, ein Problem hätten, das mich selbst nicht betraf: Ich würde nie das Blut anderer Leute trinken müssen, um zu überleben.

»Und … möchtest du uns jetzt auch etwas erzählen?«, erkundigte sich Lena und riss mich damit aus den Gedanken. »Wir sind auch neugierig.«

Ich wusste, was sie meinte. Ich hielt mit der Geschichte meiner Vampirwerdung hinterm Berg. Mit Moreau. Meiner Epilepsie. Dem Ruf.

»Ich … ich möchte euch gern von mir erzählen«, antwortete ich. »Ihr seid so offen mit mir gewesen. Und ich werde es auch sein. Aber ich … ich brauche noch ein wenig Zeit.«

Als Donne darauf reagieren wollte, hob Lena die Hand und bremste sie damit einmal mehr.

»Das verstehen wir vollkommen«, antwortete sie. »Über so etwas Schreckliches zu reden, wenn es noch ganz frisch ist … Das ist sehr schwierig. Nimm dir die Zeit, die du brauchst.«

Ich musste herausfinden, wie ich ihnen erklären konnte, wer ich war – ein halbvampirischer Mensch, der der Grund dafür war, dass sich ein Monster uns allen immer weiter näherte.

Am nächsten Morgen wachte ich spät auf und war schlecht gelaunt. Heute war Montag. Sagan hatte jeden Tag Seminar, aber montags, mittwochs und freitags war er immer besonders lange an der Uni. Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich ihn wiedersehen konnte. Bis zum nächsten Abend.

Früher bin ich komischerweise nie ein Nachtmensch gewesen, jetzt konnte ich es kaum erwarten, bis das Tageslicht schwand. Wurde ich jemand anders?

Ich nahm die Taschenuhr heraus, die Sagan mir geschenkt hatte. Erste Stunde, Englisch bei Ms Rose. Dort sollte ich jetzt sein. Wir behandelten gerade ein Buch, das ich nicht ausstehen konnte. Aber nun würde ich nie erfahren, wie es ausging. Nie im Leben. Denn ich würde nie auf die Idee kommen, so etwas freiwillig zu lesen.

Danach Chemie mit all den seltsamen Gerüchen, Bunsenbrennern und Reagenzgläsern. Anschließend das Geschichtsreferat, das ich mit meiner Arbeitsgruppe vorbereitet habe. Eigentlich mochte ich keinen dieser Mitschüler, aber wir waren eben … eine Gruppe. Mathe. Was auch immer sie heute Nachmittag lernten, würde in meinem Gehirn für immer fehlen.

Was wäre, wenn ich nie mehr dorthin zurückkehren könnte? Wenn ich so … für immer leben müsste?

Nie würde ich meine Abschlussnoten erfahren. Und nie wieder eine dieser albernen Cheerleaderveranstaltungen mitmachen. Keinen Schulabschlussstreich mehr erleben. Nie mehr in der Kantine Schlange stehen. Kein Gedrängel vor den Schließfächern mehr. Nie wieder Typen über meinen Busen lästern hören.

Ich habe mich in der Schule nie wohlgefühlt. Warum machte es mir jetzt plötzlich etwas aus, nicht mehr dort zu sein? Niemand hielt mich davon ab, für mich selbst zu lernen …

Der Gedanke, keinen Abschluss zu haben, gefiel mir noch weniger, als mir die Schule jemals gefallen hatte. Die ganze Arbeit umsonst. All die Krämpfe in der Hand vom Mitschreiben. So viel Lesen. Die zahlreichen Referate. Und auch die fünfzig Pfund Bücher hätte ich umsonst durch das Gedrängel in der Pausenhalle geschleppt. Alles wie abgeschnitten und erledigt.

Ich konnte es selbst kaum glauben, dass ich die Schule vermisste. Es ist schon komisch, dass man etwas, was man immer schrecklich fand, sofort nicht mehr als so schrecklich empfindet, wenn man es von außen betrachtet. Es gibt immer eine Kehrseite, und die heißt nicht Liebe. Es ist vielmehr das Gefühl, Teil von etwas zu sein, ob man will oder nicht.

Ich überlegte, ob ich in der Schule schon offiziell als eine der »Verlorenen« galt, der demnächst mit einem Schwarz-Weiß-Foto – das für Tod steht – an irgendeinem unpassenden Platz wie der Cafeteria, der Turnhalle oder neben der Tür zum Büro des Direktors gedacht werden würde. Schüler, die die Schule erst Jahre später besuchten, würden das Bild sehen und sich fragen, wer wohl dieses traurige, zornige Mädchen war. Und dann würde jemand sagen, ach, das war diese komische Tussi, die vor vielen Jahren verschwunden ist und nie gefunden wurde. Die Vorstellung, so in Erinnerung zu bleiben, bedrückte mich mehr als alles andere.

Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zu bewegen. Deshalb zog ich die Trekkingschuhe an und lief in die Stadt. Nur um ein wenig Schulluft zu schnuppern, nahm ich den Weg an der örtlichen Highschool vorbei. Ein riesiger zweigeschossiger Flachdachkomplex, der aus großen, braunen Betonquadern in Waschmaschinengröße gebaut war. Er sah aus wie eine Festung. Vielleicht rechneten Schulen heutzutage ständig mit Amokläufern.

Auf dem Fußballplatz waren zwei Mädchenmannschaften zu sehen. Sie spielten nicht schlecht, sahen aber aus, als wären sie nicht mit vollem Einsatz dabei. Sofort juckte es mich, aufs Spielfeld zu springen und ihnen zu zeigen, wie man den Ball ins Tor hämmert. Wie man eine Verteidigerin richtig umläuft.

Warum nicht?

Ich sprang über den Zaun und rannte auf den Platz. Zwar trug ich Jeans, aber was machte das schon? Bevor sie mich überhaupt wahrgenommen hatten, stoppte ich den nächsten nachlässig ausgeführten Pass und im nächsten Moment war ich mit dem Ball am Fuß unterwegs. Im Slalom bahnte ich mir einen Weg um die Mädchen herum. Ich flitzte an ihnen vorbei, als würden sie durch nassen Zement stapfen.

»He!«, rief eine von ihnen.

Ich kannte diesen Spielerinnentyp – groß und schlaksig und vermeintlich schläfrig. Doch wenn man ihnen zu nahe kommt, treffen sie dich am Kopf oder im Magen oder im schlimmsten Fall am Busen so hart, dass es eine Weile dauert, bevor der Schmerz überhaupt einsetzt.

Sie nahm die Verfolgung auf und rief den anderen zu, ihr zu folgen.

»Los, schnappt sie euch!«

Ziemlich schnell bedrängte mich die halbe Mannschaft von allen Seiten. Doch ich bewegte mich mit dem Ball auf eine geradezu übernatürliche Art, dribbelte in eine Richtung, um der Verteidigerin auszuweichen, und lief dann in großem Bogen an drei weiteren vorbei. Ich spielte geradezu mit ihnen. Bis ich schließlich die ganze Mannschaft und sogar die Trainer – gedrungene Typen mit Beinen wie Hydranten – gegen mich aufgebracht hatte und alle brüllend und fluchend auf mich zurannten.

Ich stürmte einfach zwischen ihnen hindurch, und sobald ich das Tor im Blick hatte, holte ich mit dem Bein aus und gab dem Ball einen solchen Drive, dass die Torhüterin bei dem Versuch, ihn zu halten, waagerecht durch die Luft flog. Zu spät. Er landete im Netz und ich sprang über den Zaun und war verschwunden.

Jeglicher Lebenswille war mir abhandengekommen. Im Ernst. Weil es vorbei war. Nichts würde dieses Gefühl für mich zurückbringen können. Selbst wenn ich Moreau umbrachte, nach Hause zurückkehrte und wieder zur Schule ginge – das, was ich am besten konnte, meine größte Leidenschaft, die mir alles bedeutete, würde für mich nicht mehr möglich sein. Nie mehr.

Als ich mir meiner besonderen Fähigkeiten zu Beginn bewusst geworden war, hatte ich mich für eine Göttin gehalten. Doch jetzt war ich schlauer. Ich hatte alles verloren und ich war keine Göttin, sondern ein Freak. Und wer wollte sich schon mit einem Freak abgeben, wenn nicht ein anderer Freak? Ich war isolierter als die soleils, denn ich hing zwischen zwei Welten, hatte einen Fuß in jeder von beiden, aber gehörte zu keiner ganz.

Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt.

Am Nachmittag aß ich ein Stück Pizza, das jemand auf einem Tisch in einem kleinen Einkaufszentrum liegen gelassen hatte. Käse aß ich in jenen Tagen auf jeden Fall genug. Eine Frau, die dort sauber machte, beobachtete mich misstrauisch, sagte aber nichts. Kauend versuchte ich mir ein Leben nach Moreau vorzustellen, ein Leben, in dem ich mich nicht mehr verstecken musste. Vielleicht würde ich Sagan davon überzeugen können, mit mir zu kommen. Wir würden irgendwo hingehen, wovon ich schon immer geträumt hatte. Europa. Südamerika. Irgendeine Insel. Ich würde meinen Zustand so lange wie möglich geheim halten müssen. Würde ich jemals irgendwo sicher sein, wenn andere Vampire – die perdus – je von meinen besonderen Fähigkeiten erführen?

Ich träumte von einem Ort, an dem ich mit Sagan leben könnte, einem kühlen, waldigen und nahezu menschenleeren Ort … so wie Prince Edward Island vor der Ostküste Kanadas. Spielte dort nicht Anne auf Green Gables? Vielleicht waren dort heutzutage aber auch viel zu viele Touristen. Wie wäre es mit einer eigenen Insel vor der Küste von Maine? Ein großes Haus würden wir nicht brauchen, eine kleine Hütte würde vollends genügen. Ich wette, ein Vampir kann so etwas in null Komma nichts zusammenzimmern. In dem Fall würde ich allerdings Sagan aufklären müssen, was ohnehin früher oder später anstand. Natürlich würde er sich wundern, warum ich nicht älter wurde.

Ich versuchte mir auch ein Leben vorzustellen, wie die soleils es seit Jahrhunderten führten: verstecken, stehlen und schlückchenweise Blut von Fremden trinken. Zu gern wollte ich ihnen helfen. Ich wollte, dass Sagan half. Aber wie sollte ich ihm sagen, wer ich war?

Vielleicht könnten uns die soleils dort oben am Meer besuchen. Sicher, und dann würden wir alle gemeinsam Holz hacken, Kaninchen das Fell abziehen und auf die Heilung warten. Stopp, das reicht.

Später an diesem Nachmittag summte mein Funkgerät und riss mich aus der trüben Stimmung. Für Sagan war es eigentlich noch zu früh, dennoch drückte ich erfreut auf den Knopf.

»Heute schwänze ich die Arbeit«, teilte er mir mit. »Treffen wir uns um 18 Uhr am Observatorium? Ich habe etwas mit dir vor.«

Ich verbrachte einige Zeit damit, mich fertig zu machen, doch danach schienen die Minuten bis zu unserer Verabredung zu kriechen. Sosehr es mir in den Füßen juckte, ich zwang mich gemächlich zum Observatorium zu gehen, damit ich so sauber und ordentlich wie möglich dort ankam. Keine Ahnung zu haben, was er wohl mit mir vorhaben mochte, empfand ich als aufregend und beunruhigend zugleich.

Als ich die Scheinwerfer des Jeeps die lange Auffahrt heraufkommen sah, schlug mir das Herz bis zum Hals.

»Steig ein«, sagte Sagan, küsste mich auf die Wange und hielt mir die Tür auf.

Wir fuhren auf der Hauptstraße nach links in Richtung Norden. Ich wünschte, der Abstand zwischen den Sitzen wäre kleiner.

»Sind wir nicht schon wieder auf dem Weg zu einem der Tore?«, erkundigte ich mich misstrauisch.

»Ja.«

»Sagan … ich verstehe es nicht. Wohin fährst du mit mir?«

»Überraschung.«

Sofort wurde ich nervös. »Warte mal … aber nicht schon wieder deine Familie? Sehe ich vernünftig aus?«

Er lachte. »Wann siehst du jemals nicht vernünftig aus? Du bist unglaublich hübsch. Nein, keine Sorge, nichts mit Familie oder dergleichen.«

»Was denn?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass es eine Überraschung ist.«

Wir verließen die Autobahn und bogen danach mehrfach ab. Nach einer Weile brachte Sagan den Jeep auf einem großen Parkplatz zum Stehen und zog die Handbremse an.

Das Erste, was ich sah, war eine Straßenschlucht mit Kopfsteinpflaster, an der sich links und rechts schicke Läden und Restaurants aneinanderreihten. Direkt vor uns sah ich eine riesige Filiale der größten Buchhandelskette des Landes.

Viele Menschen waren hier unterwegs, einige in Shorts und Freizeitkleidung, andere in Anzug und Kostüm. Nach meiner Zeit in der Abgeschiedenheit des NASA-Geländes war es ein seltsames, fast klaustrophobisches Gefühl, von so vielen Leuten umgeben zu sein.

»Wo sind wir …«, begann ich.

»Ich möchte heute mit dir ausgehen«, sagte Sagan. »Ist das so ungewöhnlich?«

Wir gingen über das Kopfsteinpflaster, und als Sagan mich schließlich durch eine große Glastür zog, fühlte ich mich bereits wie benommen.

Dort reduzierte sich die Geräuschkulisse sofort auf sanfte Zimmerlautstärke. Der Geruch von köstlichem Essen strömte mir in die Nase.

»Fleisch!«, stellte ich fest und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Irgendwo wurde ein Steak gegrillt. Ich hörte das Fett brutzeln, wie ich es noch nie wahrgenommen hatte … ein Wasserfall hätte nicht schöner klingen können.

»Das hier ist das Lieblingsrestaurant meiner Familie«, verkündete Sagan, entfaltete seine Stoffserviette und legte sie sich auf den Schoß.

»O’Connors!«, rief ich und blickte auf die mit Troddeln versehene Speisekarte, die vor mir lag.

»Kennst du es?«

Ich nickte begeistert. »Die Werbung habe ich unzählige Male gesehen.«

»Aber du warst noch nie hier essen?«

»So ist das, wenn man eine alleinerziehende Mutter hat.«

»Als sechsköpfige Familie kommen wir auch nur selten her, aber wir alle lieben es.«

»Das Holz um uns herum war dunkel, schwer und edel, und in dem großen Kamin brannte ein Feuer. Nachdem ich so viel draußen gewesen war, fühlte ich mich vollkommen fehl am Platze, doch das war mir egal. Ich blätterte die Speisekarte durch und staunte über die Auswahl.

»Warum beginnen wir nicht mit einer kleinen Vorspeise?«, schlug Sagan vor. »Magst du Lobster Dip?«

Ja. Dem Lobster Dip ließen wir einen Salat aus jungem Spinat und Erdbeeren folgen. Anschließend gab es etwas, was sich »Krabbenbisque« nannte. Dahinter verbarg sich eine cremige Suppe, die mir fast die Schuhe auszog. Eine Stunde später schob ich mir den letzten Bissen des Hochrippensteaks mit Blauschimmel-Knoblauchkruste in den Mund und stöhnte förmlich vor Genuss. Mir fehlten die Worte, um das Menü angemessen zu beschreiben. Deshalb begnügte ich mich damit, zufrieden zu seufzen und mich in meinem Stuhl zurückzulehnen.

»War es gut?«, erkundigte sich Sagan lächelnd.

»Gut ist stark untertrieben. Vielen Dank.« Ich drückte seine Hand.

»Und zum Nachtisch …«

»Nachtisch? Ich bin total satt.«

Er prüfte auf seinem Handy, wie spät es war. »Gut, ich hatte auch eher an ein Eis nach dem Kino gedacht.«

»Kino?«

In einem Kino zu sein, war ein noch größerer Schock. Diese vielen Köpfe, so viele lachende, schwatzende Menschen. So normal. Ich hatte das Gefühl, mindestens sechs weitere Augen zu benötigen. Der Film lief bereits seit mindestens zwanzig Minuten, als ich langsam begann ruhiger zu werden. Mir wurde bewusst, wie misstrauisch ich geworden war.

Was wir sahen, hieß Karma Chameleon und handelte von einem Mädchen, das der Meinung war, ihr Karma sei für ihr verkorkstes Liebesleben verantwortlich. Ich fand es süß, dass Sagan einen Mädchenfilm für mich ausgesucht hatte. Deshalb habe ich ihm auch nie gesagt, dass ich den Science-Fiction-Thriller, in dem Zombies in der ersten Stadt auf dem Mond einfielen, vorgezogen hätte.

Das Kino war nur zu einem Drittel gefüllt – alle anderen schauten sich die Zombies auf dem Mond an. Die meisten Zuschauerinnen bei diesem Film waren so alt wie meine Mutter. Ich fragte mich, was sie wohl dachten, als Sagan mich über das Popcorn hinweg küsste. Dann tat er es noch einmal.

Danach dachte ich an niemand anderen mehr. Nicht einmal mehr an Vampire. Es gab nur noch uns: ein Junge und ein Mädchen in einem dunklen Raum.

Als wir das Kino verließen, waren nicht mehr so viele Leute unterwegs. Ein zottelig aussehender Mann mit Gitarre und einem kleinen Verstärker spielte vor einem Springbrunnen Popklassiker. Wir suchten uns eine Stelle, von der aus man ihn hören, sich aber noch gut unterhalten konnte. Ich hätte ihn natürlich auch vom Parkplatz aus noch gut hören können.

»Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt«, sagte ich und leckte an meinem Eis.

Sagan lächelte und küsste mich auf die Schläfe. Seine Lippen waren kalt vom Schokoladeneis. Sanft schob ich ihn weg und sah ihm tief in die Augen. Er blinzelte als Erster.

»Für verrückt halte ich dich nicht«, antwortete er. »Du bist anders. Und anders ist gut.«

»Aber vielleicht bin ich gar nicht anders«, führte ich den Gedanken fort. »Vielleicht bin ich wie alle anderen auch … nur dass etwas mit mir geschehen ist. Etwas, worauf ich keinen Einfluss hatte und das mich verändert hat. So sehr verändert, dass es niemand glaubt.«

»Okay«, sagte Sagan. »Darf ich raten, worin diese Veränderung besteht?«

»Wenn du willst. Aber du errätst es nie.«

»Hmmmm … du hast eine rätselhafte neue Krankheit, von der noch niemand gehört hat und die in einem staatlichen Labor entstanden ist.« Er blickte auf die zusammengeknüllte Serviette in meiner Hand. »Wahrscheinlich habe ich mich gerade angesteckt, ohne es zu wissen.«

Ich lachte. »Nächster Versuch.«

»Lass mich überlegen. Ein genetisches Experiment zur Verbesserung des Menschen. Sie haben versucht diese perfekte Spezies zu züchten …«

»Perfekt? Ich bitte dich.«

»Weibliche DNA gemischt mit … Mir fällt kein passendes Tier ein. Gepard vielleicht, aber wo sind deine Flecken? Nein, mit den Flecken, das ist der Leopard, oder?«

Ich kicherte. »Oder ein Dalmatiner. Nein, nicht einmal lauwarm.«

»Du machst mich fertig.«

»Das wäre nicht das erste Mal«, sagte ich und legte den Kopf auf seine Schulter. »Wie wäre es mit folgendem Deal: Wenn du mich damit nicht zu Tode löcherst, verspreche ich dir, dass ich es dir sagen werde. Bald.«

»Wie bald?«

»Das weiß ich nicht. Es hängt … von vielen Dingen ab.« Ob ich am Leben bleibe beispielsweise.

»Warum hast du gerade so ernst geschaut?«, wollte er wissen.

Ich wandte mich ab. »Tut mir leid.«

Er legte einen Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf an. »He, ist schon okay. Alles wird gut. Ich weiß etwas. Verrat mir ein Geheimnis, von dem niemand sonst weiß. Nicht das Geheimnis.«

Ich blickte in die Ferne. Bis vor Kurzem war ich immer gegen Geheimnisse gewesen.

»Okay. Solange ich denken kann, ist mir der Gedanke immer unglaublich wichtig gewesen, dass das Leben eigentlich interessanter sein könnte, als mein Leben es war. Weißt du, was ich meine?«

Sagan nickte.

»Deshalb habe ich Geschichte immer so gemocht. Für mich ist Geschichte eine Art Beweis, wie das Leben wirklich sein kann. Findest du das albern?«

»Nein.«

Jemand hörte dem zotteligen Gitarristen inzwischen tatsächlich bewusst zu. Ein kleiner, kräftig gebauter Mann mit einem kleinen Hut, der kaum auf seinen massiven Kopf passte.

»Wenn man genauer darüber nachdenkt, haben wir mehr gemeinsam, als du glaubst«, stellte Sagan fest. Er hielt meine Hand. »Sterne … einige von ihnen sind bereits abgestorben, wenn wir sie zu sehen bekommen. Wir wollen beide an Orten sein, die es nicht mehr gibt.«

»Außer dass es bei mir Menschen gibt.«

»Jetzt verdirb nicht die Stimmung.« Er deutete in den Himmel. »Auf dem Stern dort – vielleicht hat es dort einmal Leben gegeben? Vielleicht waren sie wie wir. Nur eine Billion Kilometer entfernt und vor einer Million Jahren.«

»Du denkst zu viel«, sagte ich. »Aber das gefällt mir.«

»Wir beide wollen sein, wo wir nicht hinkönnen, weil es unmöglich ist«, sagte er. »Warum, glaubst du, ist das so? Warum wollen wir nicht hier sein?«

Ich schmiegte mich an ihn. »Ich weiß es nicht. Im Moment jedenfalls glaube ich nicht, dass es überhaupt einen anderen Ort gibt.«