29
Alarm
Einen Moment stand ich wie gelähmt da und sah ihn an.
»Lauf! Lauf!«
Ich griff nach der Tür und riss sie Sagan dabei fast aus der Hand. Er stolperte auf den Gehsteig. Schnell riss ich ihn hoch und den Bruchteil einer Sekunde später sprintete ich mit ihm über den Schultern los.
Doch etwas Festes und Schweres riss mir die Beine weg. Sagan wurde zu Boden geschleudert und fiel in das mit Laub bedeckte Gras am Wegesrand.
Ich selbst rutschte über den Asphalt. Mein Gesicht brannte höllisch. Über mir stand ein gedrungener, muskulöser Typ, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich zog die Schultern zurück, drückte mich ab und rammte mit voller Wucht die Fäuste in seinen dicken Bauch.
Die Augen des Kerls traten hervor und er brüllte ein gewaltiges »Autsch!«, als er rückwärts gegen die Mauer des Gebäudes flog. Dabei schlug sein feister Ellbogen mit einem hellen Klirren ein Fenster der Cafeteria kaputt.
»Weg hier!«, rief ich.
Sagan hatte sich wieder aufgerappelt und taumelte auf mich zu. Wir rannten wieder los, als drei weitere perdus über uns herfielen und uns niederrangen. Mein Gesicht wurde so fest in die Seite des einen gedrückt, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich trat wild um mich und ruderte mit den Armen, bis sie mich zu viert an Armen und Beinen packten und hochhoben. Sie zerrten so fest an mir, dass ich einen Moment lang befürchtete, sie würden mich auseinanderreißen. Dann ließen sie los. Aber sofort hatte mich einer von ihnen an der Kehle und drückte mir mit seinem riesigen Arm die Luft ab. Ich war völlig wehrlos.
Unter höhnischen Bemerkungen wurde Sagan ins Observatorium gedrängt. Auch ich wurde dorthin geschleift. Zwei muskulöse perdus hatten mich jetzt unter den Armen gepackt. Derjenige, der mir die Kehle zudrückte, schob von hinten.
Sobald wir uns im Konferenzsaal befanden, stellten mich die drei Vampire an eine Wand mit Lamellentüren, in denen die Kabel für die Stromversorgung der Satelliten aufbewahrt wurden. Die anderen beiden Vampire schleuderten Sagan mit dem Rücken zuerst auf den Konferenztisch.
»Homme puant«, murmelte der gedrungene perdu, den ich gegen die Mauer geschleudert hatte, angewidert.
Was auch immer diese Worte bedeuteten, es war sicher nichts, was man gerne war.
Sagan wand und wehrte sich, wurde aber nach einer Weile sichtbar schwächer. Er wusste, was auch ich wusste. Ohne unsere Waffen hatten wir keine Chance.
Hinten in dem großen Raum stand eine große Gestalt und kam jetzt langsam näher. Zum ersten Mal, seit ich Moreau in den Bergen von Georgia begegnet war, sah ich ihn wieder als physische Person.
Seine Augen waren genauso schwarz, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Züge waren so kantig wie eh und je. Der Hautlappen über seinem rechten Auge wirkte feucht, als wäre er erst gestern von seinem Schädel gerissen worden. Dünne, rosafarbene Venenäste hoben sich in dem Fleisch ab.
Er kam näher, bis er zu nah war, und beugte sich über mich, sodass ich jeden Zentimeter seines abscheulichen Körpers spürte. Sein Mantel war fleckig und zerrissen und sein Hemd hatte Schweißränder. Seine Gesichtshaut hingegen war straff und unnatürlich trocken, wie gelbliches Papier.
Er leckte mir übers Gesicht.
Wie eine Schnecke, die sich jahrhundertelang durch Dreck bewegt hatte, kroch Moreaus heiße, fleischige Zunge über meine Wange. Ich versuchte mich wegzudrehen, doch die anderen hielten mich fest. Und als ich zu beißen versuchte, zog er den Kopf rechtzeitig zur Seite.
Schließlich spuckte ich ihm ins Gesicht.
Ich hatte erwartet, dass es ihn wütend machen würde. Stattdessen legte der Vampir den Finger in meine Spucke und steckte ihn sich anschließend in den Mund. Beim Schlucken bewegte sich sein Adamsapfel auf und ab. Plötzlich beugte er sich vor, als wäre ihm schlecht. Er schloss die Augen und holte durch seine spitze Nase tief Luft.
»Es ist also wahr«, sagte er dann mit tiefer Stimme. »Du hast … nourriture zu dir genommen.«
»Ich habe keine Ahnung, was das ist.«
»Nahrung«, übersetzte der perdu, der mich festhielt. »Du hast menschliches Essen in dir.«
Moreau hob den Arm, um Ruhe anzuordnen.
»Und das sang? Trinkst du es?«
»Wie hast du uns gefunden?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
Moreau nahm mein Gesicht in eine Hand und quetschte es zusammen. Seine Finger rochen nach schimmeliger Erde und Baumrinde. Er drückte immer fester.
»Ich habe dich etwas gefragt.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Ich kann an dem Zeug nichts finden.«
Moreau ließ von mir ab und wandte sich nachdenklich ab.
Ich musterte die anderen Vampire. Sie wirkten jünger als Moreau. Die beiden, die mich festhielten, mussten Brüder sein. Sie hatten dunkle Haut und trugen das Haar sehr kurz. Bei durchschnittlicher Größe waren sie ziemlich muskulös. Sie waren mit Jeans und T-Shirt bekleidet, und wenn ich nicht gewusst hätte, dass es sich bei ihnen um Vampire handelte, hätte ich sie für ganz normale junge Männer um die zwanzig gehalten.
Der dritte Kerl, der mich bewachte, war älter als sie, vielleicht Ende zwanzig. Er war ein Riese – größer und viel schwerer als Moreau. Er hatte lockiges, blondes Haar und weiche Gesichtszüge, dazu einen stabilen Körperbau mit kräftigen Beinen und einer breiten Brust. Monsterstark sah er aus. Er trug einen schäbigen Blaumann, der allerdings nicht mehr blau war, sondern vor lauter Flecken verschiedene Braunschattierungen aufwies.
Der gedrungene perdu, der Sagan festhielt, sah aus wie Mitte dreißig und trug einen dunklen, ausgeblichenen Anzug mit Löchern auf den Knien. Darunter schaute ein speckiges, cremefarbenes Hemd hervor, das an einigen Stellen aufgerissen war, sodass seine olivenfarbene Haut zum Vorschein kam. Auf seiner schiefen Nase prangte eine glänzende Narbe.
Die Letzte im Bunde war eine Vampirin. Sie war schlank, bewegte sich geschmeidig und hatte feine Züge, dazu eine Kurzhaarfrisur. Bekleidet war sie mit einem dunklen, eng anliegenden Overall aus Stretchmaterial. Man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wenn nicht der reglose Gesichtsausdruck mit dem kalten Blick gewesen wäre.
»Bist du mit diesem … humain … befreundet?«, wollte Moreau wissen und nickte in Richtung Sagan, der nach wie vor auf dem Tisch lag und dessen ganzer Körper förmlich vor Qualen schrie. Er war der Einzige von uns, der im Dunkeln nichts sehen konnte.
Ich reagierte nicht.
»Menschlich. Er ist … ein Mensch.« Moreau sprach das Wort aus, als würde er über eine schleimige Kloake reden und nicht über eine Person.
Abermals versuchte Sagan sich zu erheben, doch die perdu-Frau drückte ihn mit einer Hand wieder hinunter. Ihr fehlt ein Daumen, fiel mir auf.
»Sie werden bald hier sein«, krächzte Sagan mit heiserer Stimme.
»Wer?«, fragte die Frau und lehnte sich übertrieben dicht an sein Ohr. Ich bringe sie um.
»Die … Polizei«, stieß Sagan hervor. »Wir … wir haben die … Polizei gerufen.«
»Wie praktisch«, erwiderte Moreau. »Ich habe Durst.«
Sagan wollte noch etwas sagen, doch auf eine Handbewegung Moreaus hin hielt die Frau ihm den Mund zu. Moreau trat wieder zu mir. Ich schloss den Mund und atmete möglichst flach, um seinen Geruch nicht wahrnehmen zu müssen.
»Du hast gefragt, wie wir dich gefunden haben«, begann der Vampir. »Ich habe das große Schild, auf dem NASA steht, gesehen, während du und ich … verbunden waren. Danach war es nur eine Sache der Zeit.«
Der Turm, fuhr es mir durch den Kopf. Er hat das Logo auf dem Turm gesehen.
»Das ist wirklich alles zu blöd«, fuhr Moreau fort und sah zu dem gedrungenen Kerl hinüber. »Findest du nicht auch, Bastien? Sie hätte eine schöne guerrière abgeben können.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Kennst du das Wort? Eine … Kriegerin. Wenn du nur meinen Ruf erhört hättest. Aber jetzt …«
Einen Moment lang starrten wir uns an und ich fragte mich, ob es stimmte, dass ein Vampir jemand anderen mit dem Blick kontrollieren konnte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, in ein bodenloses, schwarzes Loch zu fallen. Blinzelnd schüttelte ich den Kopf und im nächsten Moment war der Bann gebrochen. Moreau setzte sich auf einen der Stühle am Konferenztisch und schlug die Beine übereinander.
»Du glaubst also, das ist das fin, Mademoiselle?«, fragte er und sah mich an. »Habe ich Recht? Darauf wartest du. Aber nein, dies ist erst der Anfang. Wir sind gekommen, um dir deine Geheimnisse zu entlocken.«
»Ich habe keine Geheimnisse.«
Der Vampir blickte auf seine Hand, als würde er seine unansehnlichen Finger bewundern.
»Wie machst du es? Dich tagsüber draußen aufhalten? Und wie kannst du ohne Blut leben?«
Ich starrte ihn an und wartete ab.
Moreau machte eine Handbewegung in Richtung der Frau. »Lilli.«
Mit Kraft presste die weibliche perdu Sagans Kopf auf den Tisch, als wollte sie ihm den Hals brechen.
»Stopp!«, rief ich wütend. »Du solltest es eigentlich wissen! Du hast es getan! Als du mich angegriffen hast. Irgendwie ist etwas durcheinandergeraten. Ich habe nichts dafür getan. Es ist einfach passiert.«
»Soll ich dir das glauben?«
»Das ist mir egal, aber es ist die Wahrheit.«
»Egal ist es dir nicht, ganz und gar nicht«, sagte er mit einem Blick in Richtung Sagan. »Das werde ich dir gleich zeigen. Aber zuerst … keine Lügen mehr. Sag mir die Wahrheit. Es geht um dignité. Würde.«
»Ich sage die Wahrheit. Es war ein Versehen.«
Er stand wieder auf, legte einen Finger auf meine Schläfe und fuhr dann an meinem Haaransatz entlang in Richtung Ohr. Ich zog den Kopf weg.
»Wir wissen, dass deine Familie ganz in der Nähe lebt«, sagte Moreau. »Eine Schwester. Die ich nur zu gern einmal … küssen würde.«
Oh wie sehr ich ihn verfluchte.
»Schon in Ordnung«, sagte der Vampir. »Ich verstehe dich sehr gut. Ab und zu machst du dir noch Gedanken, wird dir alles bewusst. Doch dein Geist war nie offener als jetzt. Sie ist in dir, die Offenheit. Ich bin der Meinung, dass man so viel in den letzten Momenten lernen kann, bevor der Tod eintritt. Wenn es keinen Grund mehr gibt, über unnütze Dinge nachzudenken, ist alles auf einmal glasklar.«
Ich blickte zu Sagan hinüber.
»Und? Wirst du es mir sagen?« Moreau ließ nicht locker.
Ich habe keine Geheimnisse, dachte ich. Ich habe nur Hass in mir. Das ist alles, womit du mich zurücklässt, deshalb will ich tot sein. Ich muss sterben. Na los, bringen wir es hinter uns.
»Lasst ihn gehen«, bat ich und nickte in Richtung Sagan. »Lasst ihn gehen und ich erzähle euch alles, was ihr hören wollt. Ich schwöre es.«
Sagan wand sich heftig und versuchte etwas zu sagen.
Moreau lächelte. »Du machst dir Sorgen um deinen kleinen humain? Warum sollte ich etwas abgeben, was ich bereits habe? Jeder Teil seines Lebens hat immer mir gehört. Ich denke, du kennst dich ein wenig mit dem champ aus, oder? Sein ganzes Leben führte auf diesen Punkt zu. Sich mir zu … opfern.«
Noch einmal versuchte ich mich aus dem Griff der drei Vampire zu befreien, die mich bewachten. »Mit mir könnt ihr machen, was ihr wollt! Aber lasst ihn gehen. Lasst ihn in Ruhe!«
Moreau blickte auf. »Ist dir der humain wichtiger als … dein eigenes Leben?«
»Ja«, antwortete ich unter Tränen. »Ja, das ist er.«
»Dann erzähl mir, was ich wissen will. Wie ist es möglich, dass du dich bei Tageslicht draußen aufhalten kannst und menschliche nourriture isst?«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich weiß es wirklich nicht! Aber ich habe die Vermutung, dass es mit meiner Epilepsie zusammenhängt.«
Wieder einmal versuchte Sagan sich zu äußern. Der gedrungene perdu, Bastien, drückte kräftiger zu, bis Sagan winselnd aufschrie.
Moreau sah zu Lilli hinüber. »Epilepsie?«
»Crises«, übersetzte sie.
»Ah! Das war es also«, sagte Moreau. »Als ich getrunken habe … das helle Licht, das Nichts! Du hast einen Anfall erlitten, und weil unsere champs étaient unis … miteinander verbunden waren, bekam auch ich den Anfall. Stimmt’s?«
»Wahrscheinlich. Ich weiß nachher nie, was während eines Anfalls geschehen ist, aber ich glaube, er hat etwas bewirkt. Meine Umwandlung ist durcheinandergeraten. Ich kann so etwas nicht herbeiführen. Es ist zufällig so geschehen. Das wird dir nicht helfen können.«
»Ach, glaubst du, ich würde Hilfe erwarten?«
»Nicht?«
Wieder kam Moreau dicht an mich heran. »Du bist noch sehr … inexpérimenté. Jung und unerfahren. Einige Dinge wirst du mit der Zeit lernen. Niemand wird dir helfen, Mademoiselle. Niemand … Gutes … wird dich erhören, wenn du auch noch so innig darum bittest. Sobald du das verinnerlicht hast … was soll man dann mit diesem vie, diesem Leben anfangen? Ich sag dir nur so viel. Die Jahre gehen vorbei. Bis nichts mehr bleibt als Neugier.«
»Du bist wahnsinnig.«
Moreau seufzte tief. »Ach, das ist dir erst jetzt aufgegangen? Lass mich dir eine Frage stellen. Wer ist das nicht? Wenn wir geboren werden …« Er streckte den Arm aus und ging langsam im Kreis. »… sind wir wahnsinnig. Dieses … vie … ist ein einziger Albtraum. Wir alle schlafen und können niemals daraus erwachen. Nichts zählt. Eine Nacht folgt auf die andere. Entweder du machst das mit oder du stirbst. Aber das kannst du nicht alleine tun. So ein Tod hat keine Würde. Jemand anders muss dir den Mut dafür geben. Und das habe ich für dich getan.«
Der Vampir drehte sich und sprang über den Konferenztisch hinweg auf die andere Seite, wo Lilli und der gedrungene Bastien Sagan festhielten. Er stieß die weibliche perdu zur Seite, griff Sagan ins Haar und drückte ihm den Kopf zurück, bis sein blasser Hals frei lag.
»Lass ihn los!«, brüllte ich. »Ich habe dir gesagt, was du hören wolltest! Jetzt brauchst du ihn doch nicht mehr!«
»Oh, da liegst du ganz falsch«, erwiderte Moreau.
»Was willst du jetzt noch?«
»Etwas, was du mir und nicht ihm schuldest. Und deshalb nehme ich es mir. Und zwar so. Ich will, dass du zuschaust, während ich es tue.«
Tief hieb er die Zähne in Sagans Fleisch.
Sagan ächzte vor Schmerzen und krümmte ruckartig den Rücken; noch nie hatte ich einen ähnlichen Gesichtsausdruck bei ihm gesehen – die Bewusstwerdung, dass es vorbei war, dass es zu Ende ging. Verzweifelt sank ich in mich zusammen.
Moreau hing an seinem Hals und trank in großen Schlucken.
Lilli leckte sich beim Zuschauen die Lippen. Wahrscheinlich konnte sie es kaum erwarten, bis sie an der Reihe war. Sie würden ihn aussaugen. Sie würden alles Leben aus ihm heraussaugen. Und ich konnte nichts tun, um sie aufzuhalten.
Mit aller Kraft wehrte ich mich erneut gegen die drei Vampire, die mich festhielten.
Schließlich ließ Moreau von Sagan ab und sah mich breit grinsend an. Sein Gesicht war mit Sagans Blut verschmiert. Selbst auf der Nasenspitze war ein kleiner Tropfen.
Dann saugte er sich mit den Worten »Tu vas mourir comme un cochon« abermals in Sagans Hals fest.
In dem Moment bemerkte ich, dass Sagan dabei war aufzugeben. Er kämpfte nicht mehr. Sein Körper hatte jegliche Spannkraft verloren und der Vampir hätte weitermachen können, ohne dass Sagan hätte festgehalten werden müssen.
»Sagan«, schrie ich und riss mich wieder los.
Tatsächlich gelang es mir, mich zu befreien und meine Finger ins Gesicht eines der dunkelhäutigen Brüder zu bohren. Dem anderen schleuderte ich den Unterarm an den Kiefer. Den dritten perdu, den Riesen, konnte ich jedoch nicht dauerhaft abschütteln. Kaum hatte ich einen Schritt auf den Konferenztisch zugemacht, als er mich auch schon wieder mit seinem gewaltigen Arm eingefangen hatte.
Sagans Hand begann zu zucken. Es war der einzige Körperteil, der sich überhaupt noch bewegte. Als hätte seine Hand einen eigenen Verstand und realisierte gerade, dass sie auch sterben müsste.
All das geschah unglaublich schnell. Sagan war so lebendig gewesen und war noch so frisch in meinem Gedächtnis – und jetzt wurde er ein Traumwesen, das ich nicht einmal mehr erkannte. Selbst seine zuckende Hand hing inzwischen schlaff hinunter.
Ich schloss die Augen.
Was hatte Lena gesagt? Über den Ruf?
Man sprach ihn nicht laut aus, sondern tief in die Kehle.
Hilf uns, sagte ich und spürte die Schwingungen, während ich die Worte in mich hineinsprach. Der riesenhafte Vampir grinste mich dämlich an. Das Geräusch, das ich von mir gegeben hatte, klang offenbar wie ein Stöhnen.
Bitte, Lena. Bitte, kommt her und helft uns. Wir brauchen euch, Lena, Donne und Anton. Bitte, kommt und helft uns, sonst sind wir tot!
Ich öffnete die Augen.
Noch immer lag Sagan auf dem Tisch im Sterben.
Bitte, bitte, bitte!
Mir kam in den Sinn, was Sagan einmal gesagt hatte, auch wenn ich damals gar nicht richtig zugehört hatte.
Sterne … einige von ihnen sind bereits abgestorben, wenn wir sie zu sehen bekommen.
Mein Blick trübte sich. Schnell blinzelte ich, um wieder klar sehen zu können … Sterne sehen.
»Sagan!«, brüllte ich. »Sagan, kannst du mich hören? Bitte, Sagan!«
Für einen Moment hörte die Hand auf zu zucken, seine Finger streckten sich und rührten sich nicht mehr. Moreau hob den Kopf von der Wunde in Sagans Hals und lächelte mich zuckersüß an – so sehr genoss er, was er tat.
»Josey Wales!« Ich rief den Namen, so laut ich konnte. »Sagan, denk an … denk an Josey Wales! Was hat er gesagt? Erinnere dich! Was hat er gesagt? Josey Wales! Entweder ihr zieht jetzt die Pistolen oder ihr pfeift den Dixie!«
Tief in der Kehle begann Sagan plötzlich zu knurren und richtete sich auf. Moreau hatte sich von meinem Schreien ablenken lassen und Sagan bekam die Computermaus zu fassen und klickte. Ich schloss die Augen.
Schlagartig wurde es in dem Raum taghell.
Selbst durch meine geschlossenen Augenlider strahlte der gewaltige, gigantische, brennende 3-D-Sonnenball unerträglich intensiv. Soleil.
Es war dasselbe Bild, das Sagan mir beim ersten Mal gezeigt hatte, nur dass es dieses Mal in voller Farbe erstrahlte. Ein erdrückender, superstarker, vulkanischer Ausbruch blendenden Lichts.
Die Vampire schrien, so qualvoll, dass es fast außerirdisch klang. Ich merkte, wie der Arm des riesigen perdus, der mich bis dahin fest im Griff gehabt hatte, heruntersank und im nächsten Moment sackte der ganze Vampir kreischend unter der Macht der digitalisierten Sonnenstrahlen in sich zusammen. Das Licht war so grell, dass selbst ich Angst hatte, die Augen zu öffnen. Deshalb stolperte ich zu dem Konferenztisch und warf mich blind mit dem Bauch darauf. In der Hoffnung, dass die Richtung stimmte, zog ich mich hinüber.
Ich rammte in eine nahezu reglose Masse und merkte sofort, dass es der gekrümmte Körper des gedrungenen Vampirs mit der Narbe auf der Nase war. Derjenige, den Moreau mit Bastien angesprochen hatte. Ich schob ihn aus dem Weg und wagte es, meine Augen ein Stück weit zu öffnen; Sonnenlicht brannte mir ins Hirn und zwang mich, die Lider sofort wieder zu schließen. Doch ich hatte genug gesehen: Moreau entfernte sich kriechend vom Tisch. Wie sehr er litt, war offensichtlich. Nur die Vampirin schien noch einigermaßen bei Sinnen zu sein und griff in die Richtung, in der sie Sagan vermutete.
Doch ich war schneller und zog seinen langen Körper unter ihren Klauen weg. Lilli kreischte vor Zorn. Ich wollte Sagan gerade schultern, als er sagte: »Nein, ich kann sehen, ich führe.«
Noch einmal wagte ich einen kurzen Blick, dann griff ich nach der Tischkante, drückte mich ab und versetzte der Vampirin einen Tritt in den Nacken. Sie flog in mehrere nebeneinanderstehende Computerbildschirme. Sagan griff nach meiner Hand und lenkte mich durch die sich windenden perdus hindurch in den Gang hinaus, wo ich die Augen wieder öffnen konnte.
Er stolperte vor mir den langen Korridor entlang. Blut lief ihm über den Hals bis in sein Hemd. Sein Kragen war rot gesprenkelt.
»Ich stütze dich!«, rief ich und legte einen Arm um seine Hüfte. Alle drei Meter stieß er sich mit einem Bein ab. Auf diese Weise kamen wir recht gut voran.
»Was meinst du, wie lange sie lahmgelegt sind?«, fragte ich, während wir auf die Schleuse zueilten.
»Nicht lange«, antwortete Sagan. »Ist nicht dasselbe. Kein natürliches Licht.«
Ich hob ihn auf den Beifahrersitz des Jeeps.
»Nein, lass mich, du hast nicht einmal …«, begann er.
Ich hörte nicht auf ihn und sprang auf den Fahrersitz.
»Schlüssel!«
Sagan wühlte in der Hosentasche seiner Jeans, während ich die Tür des Observatoriums beobachtete und mir das Herz bis zum Hals klopfte. Beeil dich, nun mach schon! Noch war niemand zu sehen. Endlich hatte er den Schlüssel gefunden, ich griff danach, legte den ersten Gang ein und preschte aus der Einfahrt hinaus in den Wald.
»Was?«, fragte Sagan.
»Licht! Wo schaltet man die Scheinwerfer ein?«
Hektisch tastete ich das Armaturenbrett ab. Ich brauchte sie nicht, um zu sehen, aber um gesehen zu werden. Ich wollte, dass die perdus sie sahen.
»Hier.« Sagan nahm meine Hand und führte sie.
Die Scheinwerfer leuchteten auf, doch jetzt war der Wald zu hell; ich musste den Arm über die Augen legen, um nicht geblendet zu werden. Wir holperten und rumpelten über den unebenen Boden. Die Lichtkegel hüpften ebenfalls, immer wieder tauchten junge Bäumchen darin auf.
Auf dem Weg zum Turm begann Sagan zu husten und es klang, als würde er Flüssigkeit spucken. Plötzlich bekam ich Angst, dass er innere Blutungen erlitten und Moreau womöglich seine Halsschlagader verletzt haben könnte. Oh nein.
Ich zog an seinem Hemd, aber das Blut am Kragen schien nicht viel mehr geworden zu sein.
»Drück deine Hand darauf«, sagte ich und versuchte ruhig zu bleiben. »Wie einen Druckverband.«
Im Fahren schob ich seine Hand auf die Wunde am Hals. So schnell, wie ich mich traute, fuhren wir um die Lichtung mit der verminten Wiese herum. Zu beiden Seiten streiften Äste und Zweige am Wagen entlang.
»Halt durch.«
Auf dem langen Gefälle zum Bunker hinunter wurden wir hin und her geschleudert. Unten angekommen trat ich auf die Bremse und kam schlingernd auf dem Schotter zum Stehen. Ich sprang heraus und schleppte Sagan hinein.
»Mir geht es gut, mir geht es gut«, murmelte er unaufhörlich. »Sie werden herausfinden, wohin wir geflüchtet sind … bald sind sie hier.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Sagan öffnete das versteckte Vorhängeschloss an dem Metallgitter und ich schob es auf. Als Sagan versuchte sich selbständig wieder zu erheben, kippte er vornüber. Allerdings war ich mit meinen Vampirreflexen schnell genug, um ihn aufzufangen und ihn durch den schmalen Spalt zu zerren. Fluchend wühlte ich die Kisten und Kartons durch, die wir dort versteckt hatten.
»Warum haben wir den Erste-Hilfe-Kasten bloß nicht obenauf gelegt? Unglaublich!«
Ich riss sein Hemd auf. Die Blutung hatte fast aufgehört, aber jetzt sickerte eine klare Flüssigkeit aus der Wunde. Mit Wattebällchen wischte ich sie ab und tupfte Wasserstoffperoxid auf die offenen Stellen.
»Aua! He!«
»Still sitzen.«
Sagan verzog ein wenig das Gesicht. Die Spuren des Bisses sonderten einen weißlichen Schaum ab. Zum Schluss legte ich einen dicken Verband an.
»Du warst so tapfer«, sagte ich, während ich ihn befestigte, und versuchte die Tränen zu unterdrücken. »Unfassbar, wie viel du ausgehalten hast. Hast du die ganze Zeit daran gedacht? An das STEREO-Bild?«
»Zuerst nicht. Erst als ich das rote Licht unter der Maus blinken sah, kam ich auf die Idee. Nur mithilfe des kleinen roten Punkts konnte ich sie überhaupt finden. Aber ich wusste, dass er schneller wäre als ich, wenn ich die Hand danach ausstrecken würde. Deshalb habe ich mir gedacht, wenn ich total schlaff werde und mich tot stelle, würde er mich vielleicht loslassen. Dein Brüllen bot mir dann natürlich die ideale Vorlage.« Fluchend fasste er sich an den Hals.
Ich küsste ihn auf die Stirn. »Alles in Ordnung? Bitte sag mir, dass alles in Ordnung ist.«
Er holte tief Luft. »Ja, das meiste war, wie gesagt, gespielt. Aber sie kommen wieder«, fügte er leise hinzu.
»Darauf sind wir vorbereitet und sie nicht. Jetzt ist es zu Ende. Hast du dein Funkteil?« Ich zog mein eigenes Gerät heraus und setzte es auf.
Sagan klopfte auf seine Tasche. »Ja, aber ich weiß nicht …«
»Ich auch nicht. Ich vertraue deinem Plan. Ich vertraue dir.«
Er sah jetzt ein wenig besser aus, nicht mehr so blass. Ich besorgte ihm Wasser, aber nach einigen Schlucken schob er es weg und begann in einem Karton nach etwas zu suchen. Nach einer Weile zog er erst lange rote Handfackeln und dann eine Nachtsichtbrille hervor.
»Keine Taschenlampe?«, fragte ich.
»Zu gefährlich.« Sagan setzte sich die Nachtsichtbrille auf. »Sie funktioniert mit Infrarotlicht. Selbst wenn ich irgendwo bin, wo kein Umgebungslicht ist, kann ich damit immer noch sehen.«
Er schaltete seinen Laptop ein.
»Wie lange hält dein Akku?«, fragte ich.
»Höchstens vier Stunden, wenn man Bilder abspielt.« Sobald der Computer hochgefahren war, erschienen die Aufnahmen der fünf Kameras als grüne Quadrate auf dem Bildschirm. »Okay, wir sind bereit.« Er sah mich an und drückte mir die Hand. »Sei vorsichtig.«
Ich küsste ihn abermals.
»Du auch.«
Ich zog das Gitter hinter mir zu und verschloss es wie geplant. Dann verließ ich den Bunker, um auf den Turm zu klettern. Oben hielt ich in alle Richtungen Ausschau. Ich stellte mich an eine Stelle, die wir als Position eins bezeichneten. Der einzig höhere Punkt war die Stahlspitze mit der rot blinkenden Warnlampe für Flugzeuge, die sich ungefähr neun Meter über mir erhob.
Ich winkte in die Kamera.
»Kannst du mich sehen?«
»Ja«, Sagans Stimme war durch ein Rauschen verzerrt. »Siehst du etwas?«
»Noch nicht.«
Ich blickte in Richtung des Bunkers, konnte Sagan aber nicht erkennen … er war zu weit drinnen.
»In den Kamerabildern sehe ich bislang auch nur grünliches Metall und Bäume«, berichtete er.
»Wie fühlst du dich?«
»Ich habe gerade Ibuprofen genommen. Es geht. Denk dran, lass dich nicht an einer Stelle erwischen, wo sie alle auf einmal auf dich losgehen können. Versuch alles, um sie getrennt zu halten. Vergiss nicht, wenn sie von der …«
»Nein, vergess ich nicht.«
Ich startete den Generator. Den pochenden Rhythmus empfand ich irgendwie als beruhigend. Eigentlich brauchte ich ihn gar nicht mehr – alle Geräte waren aufgeladen, aber ich wollte die empfindlichen Ohren der Vampire reizen und ihnen eine Botschaft senden: Hier bin ich. Kommt und holt mich.