13
Steinhaus
Zurück in meinem Turm wusste ich, dass ich nicht würde schlafen können. Heute nicht. Nicht mit dem Geschmack seines Mundes auf meinen Lippen. Dem Gefühl, von seinen Armen umschlungen zu sein.
Sagan. Ich brauchte nur seinen Namen auszusprechen, dann spürte ich schon ein Prickeln im ganzen Körper und begann schneller zu atmen.
Die fortschreitende Dunkelheit machte mir zu schaffen.
Ich glaubte, in der Falle zu sitzen. Ich musste fort. Ich musste rennen. So schnell ich konnte. Einfach abheben.
Ich rannte ungefähr zehn Kilometer, mindestens die Hälfte davon bergauf. Ich lief mitten auf der Straße, weil es der einzige Weg war, den ich dorthin kannte. Mit gesenktem Kopf flog ich dahin und blickte nur vor Kurven auf, um dann gleich wieder auf die an meinen Augen vorbeisausenden weißen Streifen auf dem Asphalt zu schauen. Zwei Autos sah ich erst im letzten Moment und konnte ihnen gerade noch ausweichen.
Ich rannte den Monte Sano hinauf, zum Lieblingsort meines Großvaters, dem Steinhaus-Hotel oder dem maison de pierres, wie mein Großvater es nannte. Er hatte es in den 1960er-Jahren mit gebaut. Einst war es ein beeindruckendes Hotel gewesen, mit Ballsaal und zwei riesigen, mannshohen Kaminen.
Doch es hatte ein Feuer gegeben. Nur zehn Jahre nach der Eröffnung war es bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ein Mann wurde festgenommen, der versucht hatte, seine Geliebte zu verbrennen. Nur Reste der Steinmauern waren geblieben.
Ich kannte den Weg hierher gut genug, um nicht auf die Schilder schauen zu müssen. Den Picknickpavillon am Ende der Sackgasse konnte ich so deutlich wie am Tag sehen. Um die Ruine in den Blick zu bekommen, musste man einen langen Kamm überqueren. Mein Großvater war mit mir unzählige Male zum Spielen hergekommen.
Ich hatte es geliebt, in dem maison de pierres herumzuklettern. Die Steine boten unzählige Griffe und Trittmöglichkeiten. Als Kind hatte ich mich gern auf die höchste verbliebene Mauer gesetzt, um über das weite Tal zu schauen. Mein Großvater hatte mir einen Stein gezeigt, von dem er wusste, dass er ihn eigenhändig gelegt hatte.
»Diesen haben wir l’ours genannt – der Bär«, hatte er gesagt und auf einen dicken runden Stein geklopft, der aus der Mauer hervorstand. »Keiner der Jungs wollte ihn anfassen, weil er so riesig war. Außer mir.«
Auf dem Kamm blieb ich stehen. Unter mir lag das maison de pierres, nicht ein Stein hatte sich verändert. Und ich sah mein Ziel vor mir: Als Kind hatte ich immer davon geträumt, den Schornstein hinaufzuklettern, der größer war als die umstehenden Eichen. Jetzt würde mich niemand mehr aufhalten können.
Im ehemaligen Ballsaal wuchsen längst hohe Bäume.
Ich strich mit der Hand über die glatte, kalte Oberfläche des Bären, stellte einen Fuß auf die Rundung, sprang ab – und landete auf halber Höhe des Schornsteins. Mit einem weiteren Sprung war ich oben. Am liebsten hätte ich geschrien – vor Freude? Ich war mir nicht sicher. Freude war sicher dabei, aber das Gefühl war zu ungestüm, um reine Freude zu sein. In meiner Kehle schwang noch etwas Dunkleres mit, eine Art Kriegsruf.
Dies hätte die beste Nacht meines Lebens sein sollen. Doch mir war so viel genommen worden. Nun auch noch Sagan. Während er älter wurde und starb, würde ich mich unverändert durch die Jahrhunderte bewegen. Allein.
Ich schob die Hände in den Rauchfang und schmierte mir mit den rußigen Händen das Gesicht ein. Dann stellte ich mich breitbeinig über den Schornstein, riss die Arme hoch und brüllte in die Dunkelheit. Ich rief nach dem Monster.
Nachdem ich wieder hinuntergeklettert war, setzte ich mich auf den Bären und dachte nach. Ich blickte auf die Uhr, die Sagan mir geschenkt hatte. Schon nach zehn. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich bereits so lange unterwegs war. Schließlich stand ich auf und streckte mich, bereit »nach Hause«, auf meine Luftmatratze, zurückzukehren.
Ich schwang mich über die niedrige Mauer und lief an der Vorderseite der Hotelruine entlang in Richtung Wald. Ich fragte mich …
Jemand trat zwischen den Bäumen hervor und warf eine Decke über mich.
Moreau.
Ich schlug auf die Hände, die mich festhielten, doch jedes Mal, wenn ich mich befreit hatte, griffen neue Hände aus einer anderen Richtung zu. Der Vampir schien überall gleichzeitig zu sein, versuchte mich an sich zu pressen und zu ersticken. Ich wurde in der Decke auf den Boden geworfen und spürte sein Gewicht auf mir. Fluchend wehrte ich mich mit Händen und Füßen, während ich gleichzeitig versuchte, die Decke von mir zu reißen.
Einmal gelang es mir, eine Hand zu befreien, und ich erwischte ein Haarbüschel. Ich hörte den Vampir schreien, wurde dann aber in die Dunkelheit zurückgedrückt. Ich versuchte mit den Zähnen nach seinen Fingern zu schnappen, doch es gelang mir nicht, mich darin festzubeißen. Meine Arme wurden immer wieder zurückgezerrt, wenn ich mich zwischenzeitlich kurz aus seinem Griff lösen konnte. Er war so schnell, viel schneller, als ich gedacht hatte. Auf alles, was ich ausprobierte, schien er reagieren zu können.
Plötzlich wurde ich geschüttelt und rollte aus der Decke ins Gras und weiter den Hang hinab. Irgendwann bekam ich die Füße an die Erde und drückte mich ab. Ich landete wie eine Katze.
Der Vampir stand jetzt breitbeinig direkt vor mir. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt und … Brüste. Der Vampir hatte Brüste. Es war gar nicht Moreau, sondern ein großes, schlankes Mädchen, das ungefähr so alt war wie Sagan. Meine Gegnerin hatte dickes rotbraunes Haar, das in ihrem zierlichen Nacken zusammengebunden war, und trug ein altmodisches Kleid.
Neben ihr standen zwei weitere Gestalten, ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter. Sie sahen aus wie Geschwister. Der Junge war ein bisschen größer als das Mädchen. Beide waren mit schwarzen T-Shirts und blauen Jeans bekleidet und hatten schwarzes Haar – das des Mädchens war sogar ein wenig kürzer als das des Jungen. Sie schienen bereit, mich anzuspringen, wenn ich mich auch nur einen Zentimeter bewegte. Der Junge lachte …
Ich stürzte mich auf ihn. Mit voller Wucht schlug ich ihn in den Magen und hörte, wie ihm mit einem Uff die Luft aus der Kehle entwich, als sein schmächtiger Körper rücklings auf dem Boden aufschlug. Schon stand ich über ihm. Ich bewegte mich so schnell, dass er kaum etwas ausrichten konnte. Mit den Fäusten schlug ich ihm ins Gesicht und auf den Hals, aber vor allem auf die Hände, während er versuchte sich zu verteidigen.
Die Schwarzhaarige eilte ihm zu Hilfe. Sie schlug mir in die Seite und ich verlor prompt das Gleichgewicht. Doch ich war stärker als sie, sprang sofort wieder auf und hieb ihr den Unterarm gegen den Kopf. Jetzt lagen sie beide am Boden und ich kniete so auf ihnen, dass sie nicht mehr hochkamen, und schlug weiter auf sie ein.
»Genug!«, brüllte jemand, und im nächsten Moment wurde ich am Hemdkragen durch die Luft geschleudert – und zwar von der größeren Vampirin, die ich für Moreau gehalten hatte.
Ich drehte mich in ihrem Griff um und wollte ihr gerade mit der flachen Hand ins Gesicht schlagen, als sie im letzten Moment von mir abließ. Ich richtete mich auf und funkelte sie wütend an.
»Willst du auch?«, brüllte ich und hechtete vor.
Das Mädchen wich mir aus und schlug mir mit so viel Wucht die Handkante in den Nacken, dass ich das Gefühl hatte, von einer Holzlatte getroffen worden zu sein. Ich fiel auf die Knie und meine Gegnerin stellte ihren Fuß auf mich. Ich wand mich unter ihr, umfasste mit den Händen ihre Knöchel und zog. Mit Schwung landete sie auf dem Hintern. Dabei flog ihr langes Kleid hoch und blähte sich kurz auf.
Wir starrten uns an. Ich schnaufte und Speichel sammelte sich in meinen Mundwinkeln. Abgesehen von dem Taser-Angriff war es das erste Mal, dass ich als Vampir den Kürzeren zog.
Die beiden, die ich zusammengeschlagen hatte, rappelten sich wieder hoch und kamen zu uns herüber. Das Mädchen stützte den Jungen, der sich eine Hand vors Auge hielt, am Arm. Mit hochrotem Kopf fuhr ich herum und spannte die Muskeln an …
»Ich muss mich entschuldigen, dass wir dich erschreckt haben«, sagte das größere Mädchen, das ebenfalls außer Atem war. »Wir … wir haben selbst ein wenig Angst gehabt, als wir dich brüllen gehört haben. Wir wussten nicht, was du hier machst. Ich heiße Lena.«
Der Stimme nach hätte ich Lena älter geschätzt, als sie aussah. Ihr Kleid hatte lange Ärmel, obwohl es ziemlich warm war, und reichte ihr bis weit über die Knie. Der Stoff warf Falten wie altmodische Vorhänge. An mehreren Stellen hing der schmutzige Saum herab und zog Fäden.
Lena hatte große, grüne, mandelförmige Augen, einen schlanken, glatten Hals und einen kleinen Mund mit vollen Lippen. Sie sah aus wie aus einem Film entsprungen und war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte.
»Lena, sie ist stark und sie ist eine Kämpferin«, sagte der schmächtige Junge.
Noch immer hielt er sich die Hand vors Auge, wo ich ihn getroffen hatte, lächelte aber. Er hatte glattes, schwarzes Haar und die dunkelsten Augenbrauen, die ich je gesehen hatte. Alles an ihm war zart, besonders die Schultern. Er trat vor, nahm die Hand vom Auge und streckte sie mir hin.
»Ich bin Anton«, stellte er sich vor und versuchte nach meiner Hand zu greifen. Ich blickte nur darauf. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte er einen leichten ausländischen Akzent, den ich aber nicht zuordnen konnte. Seine großen, dunklen Augen wirkten neugierig. Er nickte in Richtung des jüngeren Mädchens. »Und das ist Donne.«
Das Mädchen namens Donne starrte mich noch immer an. Sie stand dicht bei Anton und hielt seinen Arm, als wollte sie ihn beschützen. Sie hatte dickes, dunkles Haar mit einem kurzen Pony und eine kleine, spitze Nase. Auch sie war recht zierlich. Die Jeans der beiden waren alt und löchrig, die T-Shirts fleckig. Sie hätten für Oberstufenschüler durchgehen können, abgesehen davon, dass sie nicht von blauem Dunst umgeben waren.
Alle drei leuchteten lavendelfarben.
»Wer seid ihr?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte meine Angst mit Zorn zu überdecken.
»Ist das nicht eine Frage, die wir dir stellen sollten?«, erwiderte Donne, die jüngere Vampirin, die sich zum ersten Mal zu Wort meldete. An ihrer Stimme war nichts Außergewöhnliches. »Weißt du nicht, dass man den trajet eines anderen nicht durchkreuzt?«
Das Wort klang französisch, aber ich wusste nicht, was es bedeutete. Mein Großvater schalt mich immer wieder dafür, dass ich mich für die schöne Sprache seiner Vorfahren nicht interessierte.
»Wovon sprichst du?«, fragte ich. »Ihr habt mich einfach überfallen …«
»Vom trajet«, wiederholte das Mädchen. »Von unserem Revier. Du bist in unser Revier eingedrungen.«
»Euer Revier? Dies ist ein öffentlich zugängliches Waldgebiet.«
»Wie Menschen die Gebiete bei Tageslicht aufteilen, interessiert uns nicht«, erklärte Donne.
»Was hast du im Gesicht?«, fragte Anton unvermittelt dazwischen, schüttelte Donnes Arm ab und trat ein wenig näher.
»Im … Gesicht?« Als ich die Hand an die Wange hob, fiel mir der Ruß wieder ein.
»Du siehst aus, als hättest du dich für einen Kampf gerüstet«, stellte der Junge fest. »Wir haben dich klettern sehen. Als wir dich hier oben gehört haben, glaubten wir, der Krieg wäre wieder ausgebrochen.«
»Krieg? Welcher Krieg?«, erkundigte ich mich verwirrt. »Ich habe mich nur ein wenig … amüsiert. Als ich Lust hatte zu brüllen, habe ich eben gebrüllt.«
»Der Krieg zwischen …«
»Anton!« Lena hob mahnend die Hand. Er verstummte sofort. Offensichtlich war Lena die Anführerin.
Sie versuchten es unauffällig zu machen, doch mir entging nicht, dass sie sich aufteilten und mich langsam einkreisten.
»Wir wollen nur wissen, was du hier tust«, sagte Lena.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich komme schon viele Jahre hierher. Aber was macht ihr hier?
»Du bist keine perdu?«
»Nie von ihr gehört.« Ich blieb auf der Hut, um jederzeit losspurten zu können. »Und ihr hört besser auf mich zu umzingeln, sonst kann sich einer von euch warm anziehen.« Wahrscheinlich würde ich mir Anton aussuchen und ihn mir noch einmal vorknöpfen, bevor ich die Fliege machte.
»Perdu ist keine Person«, entgegnete Lena. Sie stand jetzt kerzengerade und hob eine Hand. Die beiden anderen Vampire hielten inne. »Perdu ist eine Denkweise. Man könnte es auch ein Nichtvorhandensein nennen. Ein Nichtvorhandensein des Glaubens.«
»Aha … gut … meinetwegen.« Ich schaute von einem zum anderen. Ich musste Zeit gewinnen, um herauszufinden, was ich als Nächstes tun sollte.
»Lena, sie versteht uns nicht«, sagte Donne. »Ich glaube, sie ist ein Frischling. Guck dir ihre Farbe an.«
»Meine was?« Habe ich etwa auch eine Farbe?
»Stimmt«, meinte auch Anton und musterte mich. »Ziemlich bläulich. Sehr wahrscheinlich eine sang nouveau.«
»Neues Blut«, übersetzte Lena. »Wir sagen sang nouveau zu jemandem, der erst kürzlich verwandelt wurde.«
»Ihr seid also wirklich … Vampire«, sagte ich.
Lenas Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Ja, auch wenn wir das Wort nicht gern benutzen.«
»Damit ist zu viel Negatives verbunden«, erläuterte Anton lächelnd.
»Du hast uns noch immer nicht gesagt, was du in unserem Revier zu suchen hast«, mahnte Donne.
Lena sah die beiden jüngeren Vampire an und winkte ab. Sie setzten sich auf eine niedrige Steinmauer. Ein wenig entspannte ich mich … aber nur ein wenig.
»Wenn … ihr drei also Vampire seid … muss ich davon ausgehen, dass … die Welt voll davon ist«, sagte ich.
»Ja. Aber wir versuchen uns unauffällig zu verhalten. Die meisten von uns jedenfalls«, antwortete Lena und blickte zu Anton hinüber, der grinste.
»Wie viele gibt es?«, erkundigte ich mich.
»Wer weiß das schon? Bei Weitem nicht so viele wie Tageslichtmenschen. Nur einen Bruchteil davon. Vielleicht nur einen kleinen Bruchteil. Ich kenne niemanden, der darüber Buch führt. Wenn wir uns versammeln würden, würden wir allzu leicht auffallen.«
»Und das würde von den perdus als Provokation empfunden werden«, fügte Donne hinzu und beugte sich dann zu Lena hinüber. »Ich glaube nicht, dass wir noch länger mit ihr reden sollten. Wir wissen doch gar nicht, wer sie ist. Was sie ist …«
»Was meinst du damit?«, fragte ich. »Ich bin wie du.«
»Du bist nicht … wie wir.« Donne stand auf und kam mit ausgestrecktem Arm auf mich zu, als wollte sie mich berühren. Stattdessen machte sie eine Handbewegung, als würde sie etwas aus der Luft fischen. Meine Farbe. »Wir haben es dir ja schon gesagt. Du bist blau. Fast wie ein Mensch.«
Ich hielt meinen eigenen Arm vor mich, konnte aber nicht sehen, dass ich leuchtete. Eigenartig.
»Seine eigene Farbe kann niemand sehen«, erklärte Anton und begann zu lachen. »Was glaubst du denn?« Er erhob sich ebenfalls und musterte mich von oben bis unten. »Warte mal … du bist doch nicht etwa eine innocente?«
»Was ist nun wieder eine innocente?«
»Oh Mann«, stöhnte Donne.
»Das ist jemand, der noch nie gejagt hat«, erklärte Lena.
»Noch nie getötet hat, meinst du«, schaltete sich Anton ein.
Lena warf Anton einen finsteren Blick zu. »Das ist kein schönes Wort. Aber es ist lange her, seit wir mit … jemand anderem gesprochen haben. Bitte setz dich doch.« Mit der Hand deutete sie auf die Mauer.
Okay, jetzt saß ich also mit drei Vampiren zusammen, als wären wir alte Schulfreunde. Bei dem Gedanken bekam ich Gänsehaut. Außerdem fiel mir auf, dass ich, egal, wo ich war, immer wenigstens einen von ihnen an meiner Seite hatte.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Anton und griff nach meinem Arm. Ich zog ihn weg.
»He!«
»Wie hast du überlebt? Du siehst so gesund aus. Wie lange ist es her, seit du verwandelt worden bist? Du musst inzwischen ja vollkommen assoiffé sein.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und rieb mir den Arm an der Stelle, an der er mich berührt hatte … seine Hand war so … weich, fast wie etwas Synthetisches.
»Es … es ist noch nicht lange her«, antwortete ich.
»Und wie heißt du?«, fragte er und fasste mich abermals am Arm. Er wirkte ein wenig verstimmt.
»Lass das«, erwiderte ich. »Ich … ich weiß nicht …«
»Merkst du nicht, dass sie es dir nicht sagen will, Anton?«, mischte sich Donne ein. »Mein Gott, ich weiß, du würdest deine Lebensgeschichte liebend gern jedem dahergelaufenen Fremden erzählen.«
»Oh nein, da verwechselst du mich mit Lena. Wenn man ihr die Gelegenheit dazu gibt, ist sie nicht mehr aufzuhalten!«, behauptete Anton und sein Gesicht hellte sich wieder auf.
»Ich sollte wirklich gehen«, sagte ich und erhob mich. »Tut mir leid, dass ich auf euren … euren trajet geraten bin. Ich werde im Dunkeln nicht wieder herkommen.« Im Dunkeln … Vorsicht! Pass auf, dass du dein Geheimnis nicht verrätst.
»Warte«, rief Lena. »Bleib noch ein bisschen. Das würde uns viel bedeuten.«
War das eine Falle? Arbeiteten sie mit Moreau zusammen? Sie wirkten nicht gefährlich, aber …
»Warum, damit ihr noch mal eine Decke über mich werfen könnt?«, fragte ich.
»Wir haben dir doch schon gesagt, dass du uns erschreckt hast«, verteidigte sich Lena. »Man weiß nie, wer vielleicht ein perdu ist. Deine Farbe ist blau, deshalb bist du eindeutig eine sang nouveau, ein neues Blut, vielleicht sogar eine innocente, wie Anton es so unhöflich formuliert hat. Das Problem ist nur, dass wir schon so lange immer nur zu dritt waren. Wir werden dir nichts antun, wenn du versprichst, uns nichts anzutun. Wir sind … von allem abgeschieden. Wir können die Welt der … Leute … dort unten beobachten, aber das bringt dich auch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Könntest du nicht wenigstens noch ein bisschen bleiben? Und uns etwas von dir erzählen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, erwiderte ich. »Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass ihr in Ordnung seid. Aber es gibt jemand anderen, der mich sucht.«
»Wer?«
Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. »Ich würde nicht so gern darüber sprechen. Ich habe ohnehin schon zu viel gesagt.«
»Lass sie doch einfach, Lena«, sagte Donne, die bislang nicht einmal gelächelt hatte. »Mir ist es egal, dass wir abgeschieden leben. Ich traue ihr nicht. Sie ist so frisch … man muss befürchten, dass sie in die Stadt geht und dem Nächstbesten verrät, dass wir hier sind.«
»Was sollte sie sagen?«, widersprach Lena. »Dort oben an der Ruine im Wald leben drei Vampire? Da würde bestimmt sofort die Polizei kommen.«
»Du weißt genau, was ich meine. Vielleicht will sie diesen Platz für sich selbst beanspruchen?«
»Ich habe meinen eigenen«, entgegnete ich und sah Donne kühl an. »Hierher bin ich wegen meines Großvaters gekommen.«
»Lebt er hier?«, wollte Anton wissen.
»Nein, aber das war unser liebstes Ausflugsziel. Mein Großvater hat geholfen, dieses Gebäude zu errichten.« Ich deutete auf die Steine. »Dieser Ort hat uns immer viel bedeutet … und ich habe mich allein gefühlt. Deshalb bin ich hierhergekommen. Spontan.«
Ich konnte kaum glauben, dass ich mich vor Papis geliebtem maison de pierres mit drei Vampiren unterhielt. Doch gleichzeitig war ich neugierig, suchte so verzweifelt nach Antworten auf meine Fragen.
»Gut … vielleicht bleibe ich noch ein bisschen«, stimmte ich schließlich zu. »Versprecht ihr mir, dass ihr mich gehen lasst, wenn ich es möchte?«
Lena lächelte herzlich. »Ja, mein Wort hast du, aber ich überlasse es ihnen. Anton?«
»Klar, ich würde gern noch mit ihr reden.«
Donne schüttelte den Kopf. »Ich will kein Risiko eingehen. Aber ihr beide habt ja bereits beschlossen ihr zu vertrauen. Wie immer bin ich überstimmt. Soll sie bleiben.«
»Danke, das ist aber sehr gnädig von dir.« Die sarkastische Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
Wortlos sah Lena die jüngere Vampirin an.
»Es tut … tut mir leid«, stammelte Donne. »Aber wir müssen vorsichtig sein, wenn wir dieses Revier nicht verlieren wollen.«
Gern hätte ich sie gehasst, doch letzten Endes war mir Donne nicht unähnlich. »Eh, ich mag deinen Namen«, sagte ich und zwang mich sie anzulächeln. »Woher hast du den?«
»Von meiner Mutter«, antwortete Donne. »Sie war … wie würdest du es formulieren … du bist so frisch … ein Fan. Meine Mutter war ein großer Fan des Lyrikers John Donne.«
»Ah, der von Das verlorene Paradies?«, fragte ich.
»Das ist Milton«, verbesserte mich Donne. »Donne ist der Typ, von dem der Satz ›Kein Mensch ist eine Insel …‹ stammt.«
»Ach ja, stimmt«, antwortete ich ein wenig verlegen.
»Du hast uns noch immer nicht gesagt, wie du heißt«, mischte sich Anton ein. Fast alles, was er sagte, klang wie eine Frage.
»Ich weiß nicht …«, zögerte ich.
»Wir haben dir unsere Namen auch gesagt.«
»Gut. Ich heiße Emma.«
»Wie alt bist du, Emma?«, wollte Lena jetzt wissen.
»Siebzehn.«
Lena zupfte sich an der Lippe. »Als ich in deinem Alter war, schrieb man … lass mich nachdenken … das Jahr 1859.«
»Unglaublich.« Allein bei dem Gedanken wurde mir schwindelig.
Lenas Lachen war hoch und melodisch. »Na ja, ich bin noch nicht einmal zweihundert.«
Anton ergriff wieder das Wort: »Donne und ich stammen zumindest aus demselben Jahrhundert, wir sind nur ungefähr zwanzig Jahre auseinander«, sagte Anton. »Mein letztes Menschenalter hatte ich … 1918. Donne 1938. Sie ist die Jüngste. Was wir ihr immer wieder in Erinnerung rufen.« Er lachte und stieß Donne mit dem Ellbogen an. Sie runzelte die Stirn.
Plötzlich drängte sich mir der Eindruck auf, dass sie ein Paar waren.
»Kann ich … kann ich euch einige Fragen stellen?«, fragte ich und fühlte mich ein bisschen wohler in meiner Haut als zuvor. »Ich habe versucht, darüber zu lesen … in Büchern und im Internet.«
»Was willst du wissen?«, fragte Anton.
»Das meiste von dem, was ich gelesen habe, scheint nicht der Wirklichkeit zu entsprechen. Viele Leute spekulieren wild herum und wissen gar nicht, worüber sie reden. Ich weiß zum Beispiel, dass wir in Spiegeln nicht verschwinden. Ich habe mich selbst gesehen.«
»Wir sind physische Wesen«, sagte Anton. »Also ist es logisch. Und etwas Physisches reflektiert Licht, sonst würde man uns nicht sehen können. Hab ich Recht?«
»Es gibt noch so viele andere Dinge. So viele Widersprüche. Für mich ist das alles so neu und ich hatte niemanden … niemanden, der mir etwas darüber erzählen konnte.«
Sie tauschten Blicke, sagten aber nicht, was sie dachten.
»Was würdest du sonst noch gern wissen?«, fragte Lena schließlich. »Wir werden unser Bestes tun.«
»Ähm. Leben wir wirklich … für immer?«
»Das wäre mal etwas Neues«, antwortete Anton. »Natürlich nicht. Wir sind, wie gesagt, physische Wesen. Irgendwann geht es auch mit uns zu Ende.«
»Vampire sterben also an Altersschwäche?«
Lena drehte sich zu Anton um. »Hast du das je erlebt oder davon gehört?«, fragte sie. »Dass ein Vampir aus Altersschwäche stirbt?«
»Nein«, gestand Anton. »Das stimmt, aber logischerweise …«
»Wir wissen es nicht«, sprang Donne den beiden anderen zur Seite. »Das ist es, was sie dir zu sagen versuchen. Seit Generationen stellen wir uns selbst diese Frage. Offenbar altern wir nicht. Und wenn doch, dann nur sehr, sehr langsam.«
»Wir sind hoffnungsvoll«, ergänzte Lena.
»Hoffnungsvoll, dass ihr ewig leben werdet?«, hakte ich nach.
Sie schüttelte den Kopf. »Hoffnungsvoll, dass wir lange genug leben werden.«