1934

Im Juni erhielt ich Befehl, mich mit meiner Abteilung nach S. zu begeben, um an einer Parade der SS-Reiter teilzunehmen. Der Aufmarsch durch die mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Straßen rollte planmäßig ab, in prachtvoller Ordnung und unter beispielhafter Begeisterung der Bevölkerung. Nachdem Himmler uns eingehend inspiziert hatte, hielt er eine Rede, die auf mich tiefen Eindruck machte. Um die Wahrheit zu sagen, die Gedanken, die er vortrug, waren mir wie jedem SS-Mann seit langem vertraut. Aber sie bei dieser feierlichen Veranstaltung aus dem Munde des Reichsführers selbst zu hören, erschien mir als eine schlagende Bestätigung ihrer Wahrheit. Der Reichsführer erinnerte zunächst an die für die SS und die Partei schweren Monate, die der Machtergreifung vorausgegangen waren, als uns die Leute den Rücken zukehrten und viele der Unseren im Gefängnis saßen. Aber Gott sei Dank hätten die Bewegung und die SS-Männer die Prüfung bestanden. Und jetzt hätte die Willensäußerung Deutschlands uns den Sieg geschenkt. Der Sieg, beteuerte feierlich der Reichsführer, würde und dürfe an der geistigen Haltung des Schwarzen Korps nichts ändern. Die SS-Männer würden in den sonnigen Tagen bleiben, was sie im Sturm gewesen wären: Soldaten, die nur die Ehre begeistere. Jederzeit, fügte er hinzu, und schon in der weit zurückliegenden Epoche der Deutschritter, wäre die Ehre als das höchste Ideal des Soldaten angesehen worden. Aber damals wußte man schlecht, was Ehre war. Und in der Praxis wäre es für die Soldaten oft schwierig, zwischen mehreren Wegen den zu wählen, der ihnen als der ehrenhafteste erschien. Diese Schwierigkeiten, sei der Reichsführer glücklich, sagen zu können, beständen für die SS-Männer nicht mehr. Unser Führer Adolf Hitler hätte ein für allemal die Ehre der SS definiert. Er hätte aus dieser Definition den Wahlspruch seiner Elitetruppe gemacht: Deine Ehre, habe er gesagt, heißt Treue. Infolgedessen sei von nun an alles ganz einfach und klar. Man brauche sich keine Gewissensfragen mehr vorzulegen. Es genüge, einfach treu zu sein, das heiße: zu gehorchen. Unsere Pflicht, unsere Pflicht, unsere einzige Pflicht sei es, zu gehorchen. Und dank diesem unbedingten Gehorsam, der dem wahren Geist des Schwarzen Korps entspreche, wären wir sicher, uns nie mehr zu täuschen, stets auf dem rechten Wege zu sein und unerschütterlich in guten und in schlechten Tagen dem ewigen Grundsatz zu folgen: Deutschland, Deutschland über alles.

Nach seiner Rede empfing Himmler die Führer der Partei und der 55. Bei meinem bescheidenen Dienstgrad war ich überrascht, als er mich rufen ließ. Er stand in einem Empfangsraum des Rathauses hinter einem großen leeren Tisch. "Oberscharführer Lang. Sie haben an der Hinrichtung Kadows teilgenommen ? "
"Jawohl, Reichsführer."
"Sie haben fünf Jahre im Gefängnis Dachau zugebracht?"
"Jawohl, Reichsführer."
"Und vorher waren Sie in der Türkei?"
"Jawohl, Reichsführer."
"Als Unteroffizier?"
"Jawohl, Reichsführer."
"Sie sind Waise?"
"Jawohl, Reichsführer."
Ich war enttäuscht und höchst erstaunt. Himmler erinnerte sich genau meiner Karteikarte, aber er erinnerte sich nicht mehr, daß er sich ihrer schon einmal bedient hatte. Es entstand ein Schweigen, er sah mich prüfend an und fuhr dann fort: "Ich habe Sie vor zwei Jahren bei Oberst Baron von Jeseritz getroffen?"
"Jawohl, Reichsführer."
"Oberst Baron von Jeseritz beschäftigt Sie als Pächter?"
"Jawohl, Reichsführer."
Plötzlich blitzte sein Kneifer auf, und er fragte mit harter Stimme: "Und ich habe Ihnen schon einmal alle diese Fragen gestellt?"
Ich stammelte: "Jawohl, Reichsführer."
Sein Blick durchbohrte mich. Und Sie denken, daß ich mich nicht mehr daran erinnere?"
Ich brachte mit Anstrengung heraus: .Jawohl, Reichsführer."
"Sie haben unrecht."
Mein Herz klopfte, ich straffte mich so, daß mir alle Muskeln weh taten, und ich sagte betont und laut: .Ich hatte unrecht, Reichsführer."
Er sagte leise: .Ein Soldat darf an seinem Führer nicht zweifeln."
Danach entstand ein langes Schweigen. Ich fühlte, wie ich vor Scham erstarrte. Es besagte wenig, daß der Gegenstand meines Zweifels unbedeutend war. Ich hatte gezweifelt. Der jüdische Geist der Kritik und Verleumdung hatte sich in meine Adern ergossen. Ich hatte gewagt, über meinen Führer zu urteilen. Der Reichsführer sah mich prüfend an und fuhr dann fort: .Das wird nicht wieder vorkommen."
.Nein, Reichsführer."
Es entstand abermals ein Schweigen, dann sagte er leise und schlicht: "Also wollen wir nicht mehr davon sprechen."

Und ich begriff erschauernd, daß er mir wieder Vertrauen schenkte. Ich sah den Reichsführer an. Ich betrachtete seine ernsten, unbeweglichen Züge, und ein Gefühl der Sicherheit überkam mich. Der Reichsführer heftete seinen teilnahmslosen Blick über meinen Kopf hinweg auf einen Punkt im Raum, und er begann wieder, als ob er vorläse: "Oberscharführer, ich habe Gelegenheit gehabt, mir über Sie in bezug auf Ihre SS-Arbeit ein Urteil zu bilden. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß dieses Urteil günstig ist. Sie sind ruhig, bescheiden, positiv. Sie drängen sich nicht vor, sondern lassen die Ergebnisse für Sie sprechen. Sie gehorchen prompt, und in dem Ihnen überlassenen Bereich zeigen Sie Initiative und Organisationsgabe. Ich habe in dieser Hinsicht besonders die Akten zu schätzen gewußt, die Sie mir über Ihre Leute eingeschickt haben. Sie zeugen von wahrhaft deutscher Genauigkeit."
Und mit Nachdruck sagte er: "Ihre besondere Stärke ist die Praxis."
Er blickte auf mich nieder und setzte hinzu: "Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre Kenntnis des Gefängnislebens der SS von Nutzen sein kann."
Sein Blick ging wieder über meinen Kopf hinweg, und ohne zu zögern oder zu stocken, ohne je nach einem einzigen Wort zu suchen, sprach er weiter: .Die Partei ist dabei, in verschiedenen Teilen Deutschlands Konzentrationslager einzurichten, die den Zweck haben, Verbrecher durch Arbeit zu bessern. In diesen Lagern werden wir in gleicher Weise die Feinde des nationalsozialistischen Staates einschließen müssen, um sie vor der Empörung ihrer Mitbürger zu schützen. Auch da wird der Zweck vor allem ein erzieherischer sein. Es handelt sich darum, aufgrund eines einfachen, tätigen und disziplinierten Lebens Charaktere umzuerziehen und auszurichten. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen zuerst einmal einen Posten in der Verwaltung des Konzentrationslagers Dachau anzuvertrauen. Sie werden die Besoldung erhalten, die Ihrem Dienstgrad entspricht, sowie verschiedene Nebenbezüge. Außerdem werden Sie freie Wohnung, Heizung und Verpflegung haben. Ihre Familie wird Sie begleiten."
Er machte eine Pause. "Ein echt deutsches Familienleben scheint mir eine kostbare Grundlage der moralischen Festigkeit für jeden SS-Mann zu sein, der in einem KZ einen Verwaltungsposten einnimmt."
Er sah mich an. "Indessen sollen Sie das nicht als einen Befehl betrachten, sondern nur als einen Vorschlag. Es steht bei Ihnen, ihn anzunehmen oder abzulehnen. Ich persönlich glaube, daß auf einem Posten dieser Art Ihre Gefängniserfahrung und Ihre besonderen Eigenschaften der Partei am nützlichsten sein werden. Jedenfalls überlasse ich es Ihnen, in Anbetracht Ihrer geleisteten Dienste, andere Wünsche vorzubringen."

Ich zögerte ein wenig und sagte: "Reichsführer, ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich mich dem Oberst Baron von Jeseritz gegenüber für eine Zeit von zehn Jahren schriftlich verpflichtet habe."
"Ist die Verpflichtung wechselseitig?"
"Nein, Reichsführer."
"Sie haben also Ihrerseits keine Garantie, daß Sie Ihre Stellung behalten?"
"Nein, Reichsführer."
"In diesem Falle, scheint mir, verlieren Sie nichts, wenn Sie ihn verlassen."
"Nein, Reichsführer. Wenn es nur Herr von Jeseritz erlaubt!"
Er lächelte leicht. "Er wird es Ihnen erlauben, dessen können Sie sicher sein."
Er fuhr fort: "Überlegen Sie es sich, und schreiben Sie mir Ihre Antwort innerhalb acht Tagen!"
Er klopfte mit den Fingerspitzen leicht auf den Tisch. "Das wäre alles."
Ich grüßte, er erwiderte meinen Gruß, und ich ging weg. Ich kam erst am nächsten Abend in den Bruch zurück. Ich aß mit Elsie das Abendbrot, dann stopfte ich mir eine Pfeife, zündete sie an und setzte mich auf die Hofbank. Es war mild und die Nacht außergewöhnlich klar . Nach einer Weile kam Elsie zu mir, und ich setzte sie von dem Vorschlag Himmlers in Kenntnis. Als ich geendet hatte, sah ich sie an. Sie hatte die Hände auf die Knie gelegt, und ihr Gesicht war unbewegt. Nach einem Weilchen fing ich wieder an: "Am Anfang werden die materiellen Bedingungen nicht sehr viel besser sein als hier -außer daß du weniger Arbeit haben wirst."
Sie sagte, ohne den Kopf zu drehen: "Auf mich kommt es nicht an."
Ich fuhr fort: "Verbessern wird sich die Lage, wenn ich erst Offizier bin."
"Kannst du denn Offizier werden?"
"Ja. Ich bin jetzt ein alter Kämpfer, und mein Kriegsdienst zählt auch mit."
Elsie wandte mir den Kopf zu, und ich sah, daß sie erstaunt zu sein schien. "Du hast doch immer Offizier werden wollen, nicht wahr?"
"Ja."
"Warum zögerst du dann?"
Ich setzte meine Pfeife wieder in Brand und sagte: "Es gefällt mir nicht recht."
"Was gefällt dir denn nicht?"
"Ein Gefängnis ist immer ein Gefängnis. Sogar für den Aufseher ."
Sie legte die Hände übereinander. "Dann freilich ist es klar, daß du ablehnen mußt."
Ich antwortete nicht, und nach einer Weile fing Elsie wieder an: "
Wird es dir der Reichsführer nicht übelnehmen, wenn du nein sagst?"

"Sicher nicht. Wenn ein Vorgesetzter einem Soldaten die Wahl läßt, kann er ihm seinen Entschluß nicht übelnehmen."
Ich fühlte, daß Elsie mich ansah, und fragte: "
Und gefällt es dir?"
Sie antwortete, ohne zu zögern: "Nein. Es gefällt mir nicht. Es gefällt mir gar nicht."
Sie setzte sofort hinzu: "Aber du brauchst keine Rücksicht darauf zu nehmen, was ich denke."
Ich tat ein paar Züge aus meiner Pfeife, dann bückte ich mich, nahm eine Handvoll Kieselsteine auf und ließ sie in der hohlen Hand springen. "Der Reichsführer meint, in einem KZ wäre ich der Partei am nützlichsten."
"Einem KZ?"
"Einem Konzentrationslager."
"Warum meint er das?"
"
Weil ich fünf Jahre lang Gefangener war. "
Elsie lehnte sich zurück und blickte vor sich hin. "Hier bist du auch nützlich."
Ich sagte langsam: "Gewiß. Hier bin ich auch nützlich."
"Und es ist eine Arbeit, die du gern tust."
Ich dachte einen Augenblick nach und sagte: "Darauf kommt es nicht an. Wenn ich der Partei in einem KZ nützlicher bin, muß ich in ein KZ gehen."
"Aber vielleicht bist du hier nützlicher?"
Ich stand auf. "Der Reichsführer denkt es nicht."
Ich warf meine Steinchen eins nach dem andern an den Brunnenrand, klopfte meine Pfeife am Stiefel aus und ging ins Haus. Ich fing ,an, mich auszuziehen, und nach einem Weilchen kam auch Elsie. Es war spät, ich war sehr müde, aber ich konnte nicht schlafen. Am nächsten Tage nach dem Mittagessen brachte Elsie die Kinder zu Bett, ehe sie das Geschirr aufwusch. Ich setzte mich auf meinen Stuhl dem halboffenen Fenster gegenüber und brannte mir eine Pfeife an. Elsie drehte mir den Rücken zu, und ich hörte die Teller in der Schüssel leise klappern. Mir gerade gegenüber glänzten die zwei Pappeln rechts und links des Schlagbaums in der Sonne. Ich hörte Elsies Stimme: "Wie entscheidest du dich?"
Ich wandte den Kopf nach ihr hin. Ich sah nur ihren Rücken. Sie stand über den Ausguß gebeugt. "Ich weiß noch nicht."
Ich bemerkte, daß ihr Rücken die Neigung zeigte, krumm zu werden. Die Teller klirrten leise, und ich dachte: ,Sie arbeitet zuviel. Sie übernimmt sich.' Ich drehte den Kopf weg und blickte wieder auf die Pappeln. Elsie begann von neuern: "
Warum trittst du nicht ins Heer ein?"
"Ein SS-Mann tritt nicht ins Heer ein."
"Kannst du in der SS einen anderen Posten bekommen?"

"Ich weiß nicht. Der Reichsführer hat nicht davon gesprochen."
Danach herrschte Schweigen, bis ich sagte: "Im Heer legt man bei der Beförderung großen Wert auf Bildung."
"Und in der SS?"
"Da zählt besonders die Gesinnung. Und die Praxis."
Ich drehte mich halb zu ihr um und setzte hinzu: "Meine besondere Stärke ist die Praxis."
Elsie nahm ein Tuch vom Haken und begann das Geschirr abzutrocknen. Sie fing immer mit den Tellern an und räumte sie gleich in den Küchenschrank ein. "Warum gefällt es dir denn nicht, in ein KZ zu gehen?"
Ich hörte sie hinter mir hin und her gehen. Sie hatte ihre Holzschuhe ausgezogen und glitt leicht über den Fußboden. Ich sagte, ohne mich umzudrehen: "Es ist das Amt eines Kerkermeisters."
Nach einem Weilchen setzte ich hinzu: "
Und dann wird es dort keine Pferde geben."
"Ach, deine Pferde!"
sagte Elsie. Ein Teller klirrte, als er auf den Stoß gesetzt wurde, die Socken Elsies glitten über den Fußboden. Sie blieb stehen. "Man hat freie Wohnung?"
"Ja, und Heizung. Und Verpflegung. Wenigstens ich. Außerdem gibt es Prämien. Und du könntest zu Hause bleiben."
"Ach, darum!"
sagte Elsie. Ich drehte mich um. Sie stand vor dem Küchenschrank. Sie kehrte mir den Rücken zu. "Ich finde, du siehst müde aus, Elsie."
Sie drehte sich zu mir um und richtete den Oberkörper auf. "Ich fühle mich ganz wohl."
Ich nahm meine alte Stellung wieder ein. Der Fensterpfosten verdeckte zur Hälfte die rechte Pappel, und ich bemerkte, daß der Schlagbaum es nötig hatte, frisch gestrichen zu werden. Elsie begann wieder: "
Werden im KZ die Häftlinge mißhandelt?"
Ich sagte barsch: "Bestimmt nicht. im nationalsozialistischen Staat sind solche Sachen unmöglich."
Ich setzte hinzu: "Die KZs haben einen erzieherischen Zweck."
Eine Elster ließ sich schwerfällig auf dem Wipfel der rechten Pappel nieder. Ich stieß das Fenster auf, um sie besser zu sehen. An der Fensterscheibe hinterließ meine Hand eine Spur, und ich war verärgert. Ich sagte ganz laut: "Vater wollte Offizier werden, aber man hat ihn nicht gewollt. Er hatte etwas an den Bronchien."
Und plötzlich war es, als ob ich wieder zwölf Jahre alt wäre. Ich putzte die großen Fenster im Salon, und von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf die Offiziersbilder. Sie hingen genau der Rangordnung nach von links nach rechts. Onkel Franz war nicht unter ihnen. Auch Onkel Franz hatte Offizier werden wollen, aber er war nicht gebildet genug. "Rudolf", sagte Elsies Stimme. Und ich hörte die beiden Türen des Wandschranks zusammenklappen. "Offizier zu sein ist dein Traum, nicht wahr?"
Ich sagte ungeduldig: "Aber nicht so. Nicht in einem Lager."
"Also gut, dann lehne ab."
Elsie legte ihr Wischtuch über die Lehne meines Stuhles. Ich drehte mich zur Hälfte um. Sie sah mich an, und da ich nichts sagte, wiederholte sie: "Dann lehne ab."
Ich stand auf. "Der Reichsführer meint, daß ich in einem KZ am nützlichsten sein werde."
Elsie zog den Tischkasten heraus und ordnete die Gabeln ein. Sie legte sie seitlich auf die Kante, damit sie ineinanderliegen konnten. Ich sah ihr einen Augenblick schweigend zu, dann nahm ich das Wischtuch von der Stuhllehne und wischte die Spur weg, die meine Hand an der Fensterscheibe hinterlassen hatte. Es vergingen noch drei Tage, dann schrieb ich, es war nach dem Mittagessen, dem Reichsführer, daß ich seinen Vorschlag annähme. Ich ließ Elsie den Brief lesen, bevor ich ihn zuklebte. Sie las ihn langsam durch, steckte ihn dann wieder in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch. Wenig später erinnerte sie mich daran, daß ich nach Marienthal müsse, um die Stute beschlagen zu lassen. In Dachau verging die Zeit rasch und friedlich. Das Lager war musterhaft organisiert, die Häftlinge waren einer strengen Disziplin unterworfen, und ich fand mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit und Beruhigung die unerschütterliche Routine des Kasernenlebens wieder. Am 18. September 1936, kaum zwei Jahre nach meiner Ankunft im KZ, hatte ich die Freude, zum Untersturmführer ernannt zu werden. Von da an folgten meine Beförderungen rasch hintereinander. Im Oktober 1938 wurde ich zum Obersturmführer befördert und im Januar 1939 zum Hauptsturmführer. Für mich und die Meinigen konnte ich von nun an vertrauensvoll in die Zukunft blicken. Im Jahre 1937 hatte mir Elsie einen Sohn geschenkt, den ich Franz nannte, zur Erinnerung an meinen Onkel. Er war mein viertes Kind. Karl, der Älteste, war sieben Jahre alt. Katharina fünf und Hertha vier. Als ich zum Offizier ernannt wurde, erhielten wir statt der Hälfte einer Villa, wo wir sehr beengt waren, eine ganze Villa, die viel bequemer war und günstiger lag. Die Offiziersbesoldung erlaubte mir auch ein großzügigeres Leben, und nach all den langen Jahren der Entbehrung war es eine große Erleichterung, nicht mehr jeden Pfennig umdrehen zu müssen. Einige Monate nach meiner Ernennung zum Hauptsturmführer drangen unsere Truppen in Polen ein. Am gleichen Tag bat ich darum, an die Front gehen zu dürfen. Die Antwort kam acht Tage später in Gestalt eines Rundschreibens des Reichsführers. Er dankte den zahlreichen SS-Offizieren der KZs, die sich aus dem wahren Geist des Schwarzen Korps heraus freiwillig für den polnischen Feldzug gemeldet hätten. Doch sie müßten verstehen, daß der Reichsführer, ohne die Lager in Unordnung zu bringen, nicht allen diesbezüglichen Wünschen gerecht werden könne. Er bitte also, künftig davon abzusehen, sie erneut vorzubringen, und ihm die Sorge zu überlassen, für die Waffen-SS diejenigen, welche die Lagerverwaltung notfalls entbehren könnte, selbst zu bestimmen. Soweit es mich betraf, ließ dies mir wenig Hoffnung für die Zukunft. Denn ich war schon seit fünf Jahren in der Lagerverwaltung, hatte alle ihre Sprossen bereits erklommen, kannte den ganzen Betrieb, und es bestand wenig Aussicht, daß die Wahl des Reichsführers auf mich fallen würde. Ich fand mich nur schwer mit dem Leben eines Funktionärs ab, das jetzt das meine war, wenn ich an die Kameraden dachte, die an der Front kämpften. Polen wurde, wie zu erwarten gewesen war, rasch erledigt, dann schlief der Krieg ein, der Frühling 194O kam heran, man sprach immer mehr von einer Blitzoffensive, und der Führer hielt Anfang Mai im Reichstag eine wichtige Rede. Er erklärte, daß jetzt, da Polen aufgehört habe zu bestehen und Danzig ins Reich heimgekehrt sei, die Demokraten keinen Grund mehr hätten, mit dem Reich keine friedliche Regelung der europäischen Probleme zu suchen. Wenn sie es nicht täten, so darum, weil sich ihre jüdischen Herren dem widersetzten. Die Schlußfolgerung sei klar: Das Weltjudentum hätte den Zeitpunkt für günstig gehalten, gegen das Reich eine Koalition zusammenzubringen und mit dem Nationalsozialismus endgültig abzurechnen. In diesem Kampf wäre Deutschland wieder einmal gezwungen, sein Geschick aufs Spiel zu setzen. Aber die Demokratien und das Weltjudentum täuschten sich schwer, wenn sie glaubten, daß sich die Schande von 1918 wiederholen würde. Das Dritte Reich führe diesen Kampf mit einem unbeugsamen Willen, und der Führer erklärte feierlich, daß die Feinde des nationalsozialistischen Staates schnell und hart gezüchtigt werden würden. Was die Juden angehe, so würden sie überall, wo es möglich wäre, und überall, wo wir sie auf unserm Wege antreffen würden, ausgerottet werden. Drei Tage nach dieser Rede empfing ich vom Reichsführer SS den Befehl, mich nach Polen zu begeben und eine ehemalige polnische Artilleriekaserne in ein Konzentrationslager zu verwandeln. Dieses neue KZ sollte nach dem Namen des nächstgelegenen Ortes Auschwitz heißen.

Ich entschied, daß Elsie und die Kinder vorläufig in Dachau bleiben sollten, und fuhr mit dem Obersturmführer Setzler, dem Hauptscharführer Benz und einem Chauffeur ab. Mitten in der Nacht kam ich in Auschwitz an, übernachtete in einem requirierten Hause und besuchte am nächsten Tag das alte Lager. Es lag ungefähr drei Kilometer vom Ort entfernt. Aber das KZ sollte weit über die Kasernen der polnischen Artilleristen ausgedehnt werden und dazu noch ein anderes Lager einbegreifen, das bei der Ortschaft Birkenau in einer getrennten Umzäunung lag. Um die zwei Lager herum war ein weites Gebiet von achttausend Hektar enteignet worden, um einer intensiven Bodenkultur unterzogen zu werden oder industrielle Anlagen aufzunehmen. Ich fuhr von einem Ende zum anderen. Das Land war vollkommen flach, von Sümpfen und Wäldern durchzogen. Die Wege waren in schlechtem Zustand, kaum gekennzeichnet, und verloren sich in Brachfeld. Häuser waren selten und erschienen in dieser grenzenlosen Ebene klein und verloren. Die ganze Zeit über, die meine Rundfahrt dauerte, begegnete ich keiner lebenden Seele. Ich ließ den Wagen halten und ging allein ein paar hundert Meter zu Fuß, um mir die Beine zu vertreten. Die Luft war lau, von einem fauligen Sumpfgeruch erfüllt. Es herrschte vollkommene Stille. Der Horizont war sozusagen auf gleicher Höhe mit dem Erdboden. Er bildete eine schwarze Linie, die kaum hier und da von einigen Baumgruppen unterbrochen wurde. Trotz der Jahreszeit hing der Himmel niedrig und regenschwer herab, und über dem Horizont zog sich ein grauer Wolkenstreif hin. Soweit der Blick reichte, gab es keine einzige Bodenwelle. Alles war flach, öde, maßlos. Ich ging zurück und war froh, als ich wieder ins Auto steigen konnte. Die polnischen Kasernen waren von Ungeziefer verseucht, und meine erste Sorge war, sie reinigen zu lassen. Die Insektenpulverfabrik Weerle & Frischler in Hamburg sandte mir eine ziemlich beträchtliche Menge Giftgas in Kristallform. Da die Handhabung der Kristalle sehr gefährlich war, schickte sie mir zwei technische Gehilfen mit, die selbst die Desinfektion vornahmen, wobei sie sich durch alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln schützten. Ein Kommando polnischer Kriegsgefangener wurde mir zur Verfügung gestellt, um die Stacheldrahtzäune und die Wachtürme der beiden Lager herzurichten, die, wie ich schon sagte, getrennt bleiben sollten. Auschwitz sollte die jüdischen Häftlinge aufnehmen und Birkenau Kriegsgefangene. Kurz darauf kamen die SS-Truppen an und bezogen die Kasernen, die ersten Offiziersvillen begannen zu entstehen, und gerade an dem Tage, als der glorreiche Frankreichfeldzug zu Ende ging, traf der erste Transport von jüdischen Häftlingen ein. Sie erhielten sofort die Aufgabe, ihr eigenes Lager zu errichten. Im August konnte ich Elsie und die Kinder nachkommen lassen. Die Offiziersvillen drehten dem Lager den Rücken zu und blickten auf den Ort Auschwitz, aus dem sich die Kirche mit ihren zwei eleganten Glockentürmen heraushob. In dieser so flachen Landschaft erfreuten die beiden Türme das Auge, und darum hatte ich die Häuser nach dieser Seite hin orientiert. Es waren große, bequem eingerichtete Holzhäuser, auf Grundmauern aus Werkstein errichtet, mit nach Süden gelegenen Terrassen und Gärten. Elsie war sehr glücklich über ihre neue Wohnung und schätzte besonders die modernen Zentralheizungs-und Warmwasseranlagen, womit ich sie hatte ausstatten lassen. In Ausschwitz fand sie mühelos ein Dienstmädchen, und für die schwersten Arbeiten stellte ich ihr zwei Häftlinge zur Verfügung. Nach den Befehlen des Reichsführers sollte ich außer dem Bau des Lagers für die Austrocknung der Sümpfe und überschwemmten Flächen, die sich zu beiden Seiten der Weichsel hinzogen, Sorge tragen, um sie für den Ackerbau nutzbar zu machen. Ich erkannte schnell, daß man in viel größerem Maßstab das tun müßte, was ich schon auf dem Gelände des Herrn von Jeseritz gemacht hatte, und daß keine Dränage wirksam wäre, wenn die Wasser der Weichsel nicht durch Eindämmung in Schranken gehalten würden. Ich ließ Pläne entwerfen, rechnete sie aufs genaueste in bezug auf die verfügbaren Arbeitskräfte durch und teilte dem Reichsführer mit, daß ich drei Jahre brauchen würde, um das Werk zu vollbringen. Vier Tage darauf kam die Antwort des Reichsführers: Er gab mir ein Jahr Zeit. Der Reichsführer bestrafte SS-Männer für so geringe Vergehen oder ließ sie sogar erschießen, daß ich mich keinerlei Täuschung darüber hingab, welches Schicksal mich erwartete, wenn die Eindämmung nicht am befohlenen Tage beendet sein würde. Dieser Gedanke gab mir übermenschliche Kräfte. Ich richtete mich auf der Baustelle häuslich ein, ich ließ meinem Stab keine Minute Ruhe, ich ließ die Häftlinge Tag und Nacht arbeiten. Die Sterblichkeit unter ihnen stieg zu erschreckender Höhe an, aber das hatte für uns glücklicherweise keine nachteiligen Folgen, weil automatisch neue Transporte die Lücken auffüllten. Schließlich wurde das Werk vierundzwanzig Stunden vor dem vorgeschriebenen Tage beendet, der Reichsführer kam persönlich zur Einweihung und hielt in Gegenwart der Meister und Lageroffiziere eine Rede. Er sagte, wir dürften uns als "Pioniere des Ostraums"
ansehen, beglückwünschte uns zu der beispielhaften Schnelligkeit dieser "großartigen Verwirklichung"
und erklärte, der nationalsozialistische Staat werde den Krieg gewinnen, weil er es verstanden habe, beim Verlauf der Operationen wie bei den wirtschaftlichen Anstrengungen die überragende Wichtigkeit des "Faktors Zeit"
klar zu erkennen. Zehn Tage nach dem Besuch des Reichsführers erhielt ich die Nachricht von meiner Ernennung zum Sturmbannführer. Der Damm rächte sich leider in der Folge etwas für die Hast, mit der man ihn gebaut hatte. Zwei Wochen nach der Einweihung durch Himmler fiel in der ganzen Gegend ausgiebig Regen, die Weichsel führte plötzlich Hochwasser, und ein Teil des prächtigen Kunstbaues wurde buchstäblich weggefegt. Wir mußten neue Kredite anfordern und neue Arbeiten ausführen, mit der Begründung, ihn zu befestigen, tatsächlich, um ihn teilweise neu zu bauen. Und das Ergebnis war immer noch nur sehr mittelmäßig, denn um wirklich fest zu sein, hätte die ganze Arbeit von Grund auf wiederholt werden müssen. Unter meinem Antrieb war das KZ Auschwitz-Birkenau eine riesige Stadt geworden. Aber so schnell auch das Lager wuchs, war es noch viel zu klein, um den immer mehr anschwellenden Zustrom von Häftlingen aufzunehmen. Ich sandte der Hauptverwaltung der SS Brief um Brief, daß man den Rhythmus der Transporte mäßigen solle. Ich stellte dar, daß ich weder genug Baracken noch Nahrungsmittel hätte, um so viele Menschen unterzubringen und zu ernähren. Alle diese Briefe blieben ohne Antwort, und die Transporte strömten immer weiter. Infolgedessen wurde die Lage im KZ entsetzlich, Epidemien wüteten, es gab keine Mittel, sie zu bekämpfen, und die Sterblichkeitskurve stieg steil an. Ich fühlte mich immer ohnmächtiger angesichts der unglaublichen Lage, die durch die fast tägliche Ankunft von Transporten geschaffen wurde. Alles, was ich tun konnte war, unter der Masse der Häftlinge jeder Herkunft, die das Lager bevölkerten, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber auch das war schwierig, denn in dem Maße, wie sich der Krieg in die Länge zog, waren die prächtigen jungen Freiwilligen der Totenkopfeinheiten an die Front gerufen worden, und ich hatte als Ersatz ältere Leute der Allgemeinen SS erhalten. Unter diesen waren leider recht zweifelhafte Elemente, und Übergriffe sowie Bestechlichkeit, wozu sie sich rasch verleiten ließen, erschwerten meine Aufgabe ganz erheblich. Einige Monate vergingen so, dann setzte am 22. Juni der Führer die Wehrmacht gegen Rußland ein; am 24. erhielt ich ein Rundschreiben des Reichsführers, das mich davon in Kenntnis setzte, daß er künftig den KZ-Offizieren erlaube, um ihre Abstellung zur Front nachzusuchen; noch am selben Abend meldete ich mich, und sechs Tage später wurde ich von Himmler nach Berlin befohlen. Ich fuhr mit der Eisenbahn, gemäß den jüngsten Vorschriften, streng mit Treibstoff zu sparen. Die Hauptstadt fieberte, die Straßen waren voller Uniformen, die Züge mit Truppen überfüllt. Man verkündete die ersten deutschen Siege über die Bolschewisten. Der Reichsführer empfing mit am Abend. Sein Ordonnanzoffizier führte mich in das Arbeitszimmer und schloß beim Hinausgehen sorgfältig die Doppeltür. Ich grüßte. und als der Reichsführer meinen Gruß erwidert hatte, trat ich auf ihn zu. Das Zimmer wurde nur durch eine bronzene Stehlampe auf dem Schreibtisch erhellt. Der Reichsführer stand unbeweglich da, und sein Gesicht lag im Schatten. Er machte mit der rechten Hand eine kleine Geste und sagte höflich: "Nehmen Sie bitte Platz."
Ich setzte mich, geriet in den Lichtkreis der Lampe und hatte das Gefühl, als wäre mein Gesicht nackt. Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Himmler hob den Hörer ab und bedeutete mir mit der andern Hand, zu bleiben, wo ich war. Ich hörte den Reichsführer von einem gewissen Wulfslang und vom KZ Auschwitz sprechen; es war mir peinlich, dies aufgeschnappt zu haben, und ich hörte sofort auf, hinzuhören. Ich senkte die Augen und ging dazu über, die berühmte Schreibtischgarnitur aus grünem Marmor zu betrachten, die seinen Tisch schmückte. Sie war ein Geschenk des KZ Buchenwald zum Julfest. In Buchenwald hatten sie wirklich erstaunliche Künstler. Ich merkte mir vor, nachzuforschen, ob es unter meinen Juden nicht auch Künstler gäbe. Der Hörer fiel auf den Sockel zurück, und ich hob die Augen. ..Sturmbannführer", sagte Himmler sofort, ..ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß der Inspekteur der Lager, Gruppenführer Görtz, mir einen ausgezeichneten Bericht über Ihre Tätigkeit als Lagerkommandant des KZ Auschwitz eingereicht hat. Andererseits erfahre ich", fuhr er fort, ..daß Sie mir ein Gesuch eingereicht haben, an die Front gehen zu dürfen."
..Das ist richtig, Reichsführer."
..Soll ich das so verstehen, daß Sie einem patriotischen Gefühl gehorchen oder daß Ihnen Ihre Funktionen im KZ Auschwitz mißfallen?"
..Ich gehorche einem patriotischen Gefühl, Reichsführer. "
..Das freut mich. Es kann keine Rede davon sein, Ihre Verwendung zu ändern. Im Hinblick auf gewisse Projekte betrachte ich Ihre Anwesenheit in Auschwitz als unerläßlich."
Nach einem Schweigen sagte er: "Was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, ist geheim. Ich bitte Sie, bei Ihrer Ehre zu schwören, daß Sie darüber unbedingtes Stillschweigen bewahren werden."
Ich blickte ihn an. So viele Dinge waren in der SS vertraulich, Geheimes machte einen so großen Teil unserer Alltagsarbeit aus, daß es nicht jedesmal einen Eid zu erfordern schien. "Sie müssen verstehen", begann Himmler wieder, "daß es sich nicht um ein einfaches Dienstgeheimnis handelt, sondern"
(er dehnte die Worte) "um ein wirkliches Staatsgeheimnis."

Er trat in den Schatten zurück und sagte in ernstem Ton: "Sturmbannführer, wollen Sie mir bei Ihrer Ehre als SS-Offizier schwören, niemandem dieses Geheimnis zu offenbaren."
Ich sagte, ohne zu zögern: "Ich schwöre es bei meiner Ehre als SS-Offizier. "
"Ich mache Sie darauf aufmerksam", fuhr er nach einer Weile fort, "daß Sie gehalten sind, es niemandem zu offenbaren, selbst nicht Ihrem Vorgesetzten, Gruppenführer Görtz."
Ich fühlte mich unbehaglich. Da die Lager unmittelbar dem Reichsführer unterstanden, war es nicht außergewöhnlich, daß er mir Weisungen gab, ohne daß sie über Görtz gingen. Aber es war dagegen höchst erstaunlich, daß er es ohne dessen Wissen tat. "Sie dürfen sich über diese Anordnung nicht wundern", fuhr Himmler fort, wie wenn er meine Gedanken gelesen hätte. "Sie stellt keinerlei Ausdruck des Mißtrauens gegen den Inspekteur der Lager, Gruppenführer Görtz dar. Dieser wird später davon in Kenntnis gesetzt, zu einem Zeitpunkt, den ich bestimmen werde."
Der Reichsführer bewegte den Kopf, und die untere Hälfte seines Gesichts trat ins Licht. Seine dünnen, bartlosen Lippen waren zusammengepreßt. "Der Führer", sagte er mit klarer Stimme, "hat die endgültige Lösung des Judenproblems in Europa befohlen."
Er machte eine Pause und setzte hinzu: "Sie sind dazu ausersehen, diese Aufgabe durchzuführen."
Ich sah ihn an. Er sagte schroff: "Sie sehen bestürzt aus. Der Gedanke, mit den Juden Schluß zu machen, ist doch nicht neu."
"Nein, Reichsführer. Ich bin nur überrascht, daß man mich dazu ausersehen hat."
Er schnitt mir das Wort ab: "Sie werden die Gründe dieser Wahl erfahren, Sie ehren Sie."
Er fuhr fort: "Der Führer ist der Meinung, daß, wenn wir die Juden nicht jetzt ausrotten, sie später das deutsche Volk ausrotten werden. Also stellt sich die Frage folgendermaßen: sie oder wir."
Er sagte mit Nachdruck: "Sturmbannführer, haben wir zu einer Zeit, in der die jungen deutschen Männer gegen den Bolschewismus kämpfen, das Recht, das deutsche Volk dieser Gefahr auszusetzen ?"
Ich antwortete ohne Zögern: "Nein, Reichsführer."
Er legte beide Hände flach an den Leibriemen und sagte mit dem Ausdruck tiefer Befriedigung: "Kein Deutscher könnte anders antworten."
Ein Schweigen entstand, dann richtete sich sein ausdrucksloser Blick auf einen Punkt über meinem Kopf, und er fuhr fort, als ob er vorläse: "Ich habe das KZ Auschwitz als Ort der Vollstreckung gewählt, weil es am Schnittpunkt von vier Eisenbahnlinien liegt und für die Transporte leicht erreichbar ist. Außerdem ist die Gegend einsam, wenig bevölkert und bietet folglich günstige Voraussetzungen für die Abwicklung eines geheimen Unternehmens."
Er senkte den Blick zu mir herunter . "Sie habe ich wegen Ihres Organisationstalents gewählt. .."
Er bewegte sich leicht im Schatten und sagte betont und deutlich: ". ..und wegen Ihrer seltenen Gewissenhaftigkeit. Sie müssen wissen", fuhr er gleich darauf fort, "daß in Polen bereits drei Vernichtungslager bestehen: Belzek, Wolzek und Treblinka. Diese Lager befriedigen nicht. Erstens: sie sind klein, und die Örtlichkeit erlaubt keine Ausdehnung. Zweitens: sie werden schlecht verwaltet. Drittens: die dort angewandten Methoden sind wahrscheinlich mangelhaft. Nach dem Bericht des Lagerkommandanten von Treblinka hat er in sechs Monaten nicht mehr als achtzigtausend Einheiten liquidieren können."
Der Reichsführer machte eine Pause und sagte mit ernster Miene: "Dieses Ergebnis ist lächerlich. In zwei Tagen", fuhr er fort, "wird der Obersturmbannführer Wulfslang Sie in Auschwitz aufsuchen und Ihnen das Tempo und den Umfang der Transporte für die künftigen Monate mitteilen. Nach seinem Besuch begeben Sie sich in das Lager Treblinka und liefern dann im Hinblick auf die mittelmäßigen Ergebnisse eine konstruktive Kritik der angewandten Methoden. In vier Wochen. .."
Er verbesserte sich: ". ..in genau vier Wochen liefern Sie mir einen genauen Plan im Maßstab der historischen Aufgabe, die Ihnen obliegt."
Er winkte mit der rechten Hand. Ich stand auf. "Haben Sie Einwendungen?"
"Nein, Reichsführer."
"Haben Sie noch irgendwelche Bemerkungen zu machen?"
"Nein, Reichsführer."
"Gut."
Er sagte mit betonter Entschiedenheit, aber ohne die Stimme zu heben: "Das ist ein Befehl des Führers!"
Er setzte hinzu: "Sie haben jetzt die schwere Mission, den Befehl auszuführen."
Ich stand stramm und sagte: "Jawohl, Reichsführer."
Meine Stimme erschien mir in der Stille des Zimmers schwach und heiser, Ich grüßte, er erwiderte meinen Gruß, ich machte kehrt und ging zur Tür. Sobald ich den Lichtkreis der Lampe verlassen hatte, schlug die Dunkelheit über mir zusammen, und ich empfand ein seltsames Gefühl von Kälte. In der Nacht fuhr ich wieder mit dem Zug zurück. Er war vollgestopft mit Truppen, die man an die russische Front warf. Ich fand ein Abteil erster Klasse, es war besetzt, aber ein Obersturmführer überließ mir sofort seinen Platz. Das Licht war wegen etwaiger Luftangriffe abgeblendet, und die Vorhänge waren sorgfältig zugezogen. Ich setzte mich, der Zug ruckte hart an und begann mit verzweifelter Langsamkeit dahinzurollen. Ich fühlte mich müde, aber es gelang mir nicht zu schlafen. Endlich kam die Morgendämmerung, und ich schlummerte ein bißchen. Die Fahrt zog sich hin, von zahlreichen Halts unterbrochen. Zuweilen stand der Zug zwei oder drei Stunden still, dann fuhr er langsam weiter. Gegen Mittag wurden Verpflegung und heißer Kaffee verteilt. Ich ging auf den Gang hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Ich sah den Obersturmführer, der mir seinen Platz abgetreten hatte. Er saß schlafend auf seinem Tornister. Ich weckte ihn und forderte ihn auf, ins Abteil zu gehen und sich wieder einmal zu setzen. Er stand auf, stellte sich vor, und wir unterhielten uns ein paar Minuten. Er war Lagerführer im KZ Buchenwald gewesen, und man hatte ihn auf seine Bitte hin zur Waffen-SS versetzt. Er ging zu seinem Regiment nach Rußland. Ich fragte ihn, ob er sich freue. Er sagte lächelnd: "Ja, sehr."
Er war groß, blond, schlank, sehr schmalhüftig. Er mochte zweiundzwanzig Jahre alt sein. Er hatte den Feldzug in Polen mitgemacht, war verwundet worden, und nach der Entlassung aus dem Lazarett hatte man ihn ins KZ Buchenwald versetzt, wo er "sich sehr gelangweilt"
hätte. Aber jetzt wäre alles gut, er werde "sich wieder regen und kämpfen"
können. Ich bot ihm eine Zigarette an und bestand darauf, daß er ins Abteil ging, um sich einen Augenblick auszuruhen Der Zug fuhr schneller und kam nach Schlesien. Der Anblick der mir so vertrauten Landschaft schnürte mir das Herz zusammen. Ich erinnerte mich an die Kämpfe der Freikorps unter Roßbach gegen die polnischen Sokols. Wie hatten wir damals gekämpft! Und was für eine prächtige Truppe war das! Auch ich wollte nur "mich regen und kämpfen". Ich war damals auch zwanzig. Es war sonderbar, sich sagen zu müssen, daß das alles schon solange her und vorbei war. Auf dem Bahnhof in Auschwitz telefonierte ich nach dem Lager, daß sie mir einen Wagen schickten. Es war neun Uhr abends. Seit Mittag hatte ich nichts gegessen, ich war hungrig. Das Auto kam nach fünf Minuten an und brachte mich nach Hause. Im Schlafzimmer der Jungen brannte das Nachtlicht, ich klingelte nicht, sondern öffnete die Tür mit meinem Hauptschlüssel. Ich legte meine Mütze auf das Tischchen in der Diele und ging ins Eßzimmer. Ich klingelte nach dem Mädchen, sie erschien auch gleich, und ich trug ihr auf, mir zu essen zu bringen, was sie da hätte. Ich merkte, daß ich die Handschuhe anbehalten hatte, zog sie aus und ging auf die Diele, um sie dort abzulegen. Wie ich vor dem Tischchen stand, hörte ich Schritte, ich hob den Kopf, Elsie kam die Treppe herunter. Als sie mich sah, blieb sie jäh stehen, sah mich an, erblaßte, taumelte und lehnte sich an die Wand. "Mußt du weg?"
sagte sie mit tonloser Stimme. Ich sah sie erstaunt an. "Ob ich weg muß?"
"An die Front?"
Ich blickte weg. "Nein."
"Ist das wahr? Ist das wahr?"
sagte sie stammelnd. "Du mußt also nicht weg?"

"Nein."
Ihr Gesicht strahlte vor Freude, sie sprang die Stufen herab und warf sich in meine Arme. "Na, na!"
sagte ich. Sie bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Sie lächelte, und in ihren Augen glänzten Tränen. "Du mußt also nicht weg?"
sagte sie. "Nein."
Sie hob den Kopf und sagte mit dem Ausdruck ruhiger, tiefer Freude: "Gott sei Dank."
Namenlose Wut packte mich, und ich schrie: "Schweig!"
Dann drehte ich mich schnell um, wandte ihr den Rücken zu und ging ins Eßzimmer . Das Dienstmädchen hatte den Tisch gedeckt und die Platten hingestellt. Ich setzte mich. Nach einer Weile kam Elsie herein, nahm neben mir Platz und sah mir beim Essen zu. Als das Mädchen hinausgegangen war, sagte sie leise zu mir: "Natürlich verstehe ich, daß es für einen Offizier sehr hart ist, nicht an die Front gehen zu dürfen."
Ich blickte sie an. "Es hat nichts zu sagen, Elsie. Das von vorhin tut mir leid. Ich bin bloß etwas müde.,, Ein Schweigen entstand, ich aß, ohne den Kopf zu heben. Ich sah, wie Elsie an einer Falte des Tischtuches zupfte und sie dann mit der flachen Hand glättete. Sie sagte zögernd: "Ach, diese zwei Tage, Rudolf. .."
Ich antwortete nicht, und sie fuhr fort: "Um dir zu sagen, daß du nicht weg darfst, hat dich der Reichsführer nach Berlin kommen lassen?"
"Nein."
"Was wollte er denn von dir?"
"Dienstfragen."
"War es wichtig?"
"Ziemlich."
Elsie zupfte von neuem am Tischtuch und sagte beruhigt: "Das Wesentliche ist, daß du dableibst."
Ich antwortete nichts, und sie fing nach einem Weilchen wieder an: "Aber du wärest lieber gegangen, nicht wahr?"
"Ich glaubte, es wäre meine Pflicht. Aber der Reichsführer meint, daß ich hier nützlicher bin."
"Warum meint er das?"
"Er sagt, ich besäße Organisationstalent und eine seltene Gewissenhaftigkeit."
"Das hat er gesagt?"
sagte Elsie mit einem glücklichen Gesicht. "Er hat gesagt 'seltene Gewissenhaftigkeit'?"
Ich nickte. Ich stand auf, legte sorgfältig meine Serviette zusammen und steckte sie in ihre Hülle. Wie mir der Reichsführer angekündigt hatte, erhielt ich nach zwei Tagen den Besuch des Obersturmbannführers Wulfslang. Er war ein

dicker, rothaariger Mann, geradezu und jovial, der dem Mittagessen, das Elsie ihm vorsetzte, alle Ehre antat. Nach dem Essen bot ich ihm eine Zigarre an, nahm ihn in die Kommandantur mit und schloß mich mit ihm in meinem Büro ein. Er legte seine Mütze auf meinen Tisch, setzte sich, streckte die Beine aus, und sein lachendes rundes Gesicht wurde ernst. "Sturmbannführer", sagte er in offiziellem Ton, "Sie müssen wissen, daß meine Rolle einzig und allein darin besteht, eine mündliche Verbindung zwischen dem Reichsführer und Ihnen herzustellen."
Er machte eine Pause. "Im jetzigen Stadium habe ich Ihnen nur wenig mitzuteilen. Der Reichsführer besteht besonders auf zwei Punkten. Erstens: für die ersten sechs Monate sollen Sie Ihre Dispositionen unter der Voraussetzung treffen, daß die ungefähre Gesamtsumme der Eingänge etwa fünfhunderttausend Einheiten beträgt."
Ich öffnete den Mund, er winkte mit seiner Zigarre ab und sagte energisch: "Einen Moment, bitte! Bei jedem Transport werden Sie unter den Ankömmlingen eine Auswahl treffen und die zur Arbeit tauglichen Personen den industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmen von Birkenau-Auschwitz zur Verfügung stellen."
Ich machte ein Zeichen, daß ich sprechen wollte, aber er schwang wiederum gebieterisch seine Zigarre und fuhr fort: "Zweitens: Sie werden mir für jeden Transport eine Meldung über die Zahl der Untauglichen zukommen lassen, die von Ihnen der Sonderbehandlung unterworfen werden. Doch Sie dürfen keine Zweitschrift dieser Meldungen zurückbehalten. Mit anderen Worten, die Gesamtsumme der Leute, die von Ihnen während der ganzen Zeit Ihres Kommandos behandelt werden, muß Ihnen unbekannt bleiben."
Ich sagte: "Ich sehe nicht ein, wie das möglich ist. Sie haben doch selbst von ünfhunderttausend Einheiten für die ersten sechs Monate gesprochen."
Er schwang ungeduldig seine Zigarre. "Bitte, bitte! Die von mir angeführte Zahl von fünfhunderttausend Einheiten umfaßt sowohl die zur Arbeit Tauglichen wie die Untauglichen. Sie werden sie bei jeder Lieferung trennen müssen. Sie sehen also, daß Sie im voraus die Gesamtzahl der Untauglichen nicht kennen können. Und von denen sprechen wir."
Ich überlegte und sagte: "
Wenn ich Sie recht verstehe, soll ich von jedem Transport die Zahl der Untauglichen, die der Sonderbehandlung unterworfen werden, Ihnen mitteilen, aber ich darf keine Unterlage über diese Zahl aufbewahren, und ich darf folglich die Gesamtsumme der Untauglichen aus sämtlichen Transporten, die von mir behandelt werden, nicht wissen."
Er gab mit seiner Zigarre ein Zeichen der Zustimmung. "Sie haben mich vollkommen richtig verstanden. Nachdem ausdrücklichen Befehl des Reichsführers darf die Gesamtzahl nur mir bekannt sein. Mit anderen Worten, mir, und mir allein, obliegt es, die von Ihnen gelieferten Teilziffern zu addieren und daraus für den Reichsführer eine vollständige Statistik aufzustellen."
Er fuhr fort: "Das ist alles, was ich Ihnen im Augenblick mitzuteilen habe."
Es trat ein Schweigen ein, und ich sagte: "Darf ich eine Bemerkung zu Ihrem ersten Punkt machen?"
Er steckte seine Zigarre in den Mund und sagte kurz: "Bitte!"
"
Wenn ich die runde Summe von fünfhunderttausend Einheiten für die ersten sechs Monate zugrunde lege, komme ich auf einen Monatsdurchschnitt von ungefähr vierundachtzigtausend Einheiten, das heißt etwa zweitausendachthundert Einheiten, die binnen vierundzwanzig Stunden der Sonderbehandlung zu unterwerfen wären. Das ist eine ungeheuere Zahl. "
Er nahm die Zigarre aus dem Mund und hielt sie hoch. "Irrtum. Sie vergessen, daß es unter den fünfhunderttausend Einheiten wahrscheinlich eine ziemlich hohe Zahl von Arbeitstauglichen geben wird, die Sie nicht zu behandeln haben werden."
Ich dachte darüber nach und sagte: "Meiner Meinung nach heißt das nur dem Problem ausweichen. Nach meiner Erfahrung als Lagerkommandant beträgt die durchschnittliche Dauer der Verwendungsmöglichkeit eines Häftlings zur Arbeit drei Monate. Danach wird er arbeitsunfähig. Folglich, angenommen, bei einem Transport von fünftausend Einheiten würden zweitausend für arbeitstauglich erklärt, ist es klar, daß diese zweitausend nach einem Vierteljahr zu mir zurückkommen werden und daß ich sie dann zu behandeln habe."
"Gewiß. Aber Sie haben wenigstens Zeit gewonnen. Und solange Ihre Einrichtung noch nicht ganz auf der Höhe ist, wird dieser Aufschub Ihnen zweifellos sehr wertvoll sein."
Er steckte die Zigarre wieder in den Mund und schlug ein Bein über das andere. "Sie müssen wissen, daß nach den ersten sechs Monaten das Tempo der Transporte beträchtlich gesteigert werden wird."
Ich sah ihn ungläubig an. Er lächelte, und sein Gesicht wurde wieder entspannt und heiter . Ich sagte: "Aber das ist schlechterdings unmöglich."
Sein Lächeln verstärkte sich. Er stand auf und begann seine Handschuhe anzuziehen. "Mein Lieber", sagte er mit leutseliger und wichtigtuender Miene, "Napoleon hat gesagt, 'unmöglich' sei kein französisches Wort. Seit 1934 versuchen wir der Welt zu beweisen, daß es kein deutsches Wort ist."
Er sah auf die Uhr. "Ich glaube, es ist Zeit, daß Sie mich zum Bahnhof bringen."
Er nahm seine Mütze. Ich stand auf. "Bitte, Obersturmbannführer. .."
Er sah mich an. "Ja?"

"Ich wollte sagen, daß es technisch unmöglich ist."
Sein Gesicht erstarrte. "Erlauben Sie", sagte er eisig. "Das ist Ihre Angelegenheit, und Ihnen allein obliegt die technische Seite der Aufgabe. Ich darf diese Seite der Frage nicht kennen."
Er hob wieder den Kopf, senkte die Augenlider etwas und sah mich mit stolzer Ablehnung von oben bis unten an. "Sie müssen begreifen, daß ich mit der technischen Seite der Sache nichts zu tun habe. Ich bitte Sie also, in Zukunft mit mir nicht davon zu sprechen, auch nicht andeutungsweise. Nur die Zahlen gehören zu meinem Ressort."
Er machte kehrt, legte die Hand auf die Türklinke, drehte sich halb um und setzte mit hochmütiger Miene hinzu: "Meine Aufgabe ist rein statistisch."

Am nächsten Tage fuhr ich mit Obersturmführer Setzler zum Lager Treblinka. Es lag nordöstlich von Warschau, nicht weit vom Bug entfernt. Kommandant war Hauptsturmführer Schmolde. Da er von den Plänen, die für Auschwitz bestanden, nichts erfahren durfte, hatte ihm Wulfslang meinen Besuch als einen Inspektions- und Informationsauftrag hingestellt. Er holte mich im Auto vom Bahnhof ab. Er war ein Mann unbestimmbaren Alters, grauhaarig und mager. Sein Blick war merkwürdig leer. Er ließ uns in der Offizierskantine, in einem Nebenzimmer, ein Frühstück auftragen, wobei er sich entschuldigte, uns nicht bei sich empfangen zu können, da seine Frau leidend wäre. Das Essen war ausgezeichnet, aber Schmolde tat den Mund nur hin und wieder einmal auf, und nur, wie mir schien, aus Ehrerbietung mir gegenüber. Seine Stimme war müde und tonlos, und man hatte den Eindruck, daß es ihn Mühe kostete, einen Laut hervorzubringen. Wenn er sprach, befeuchtete er fortwährend seine Lippen mit der Zunge. Nach dem Essen servierte man Kaffee. Nach einer Weile sah Schmolde auf die Uhr, wandte mir seinen leeren Blick zu und sagte: "Es wären lange Erklärungen nötig, um Ihnen die Sonderbehandlung zu beschreiben. Deshalb will ich Ihnen lieber zeigen, wie wir verfahren. Ich glaube, daß Sie sich auf diese Weise besser ein Bild machen können."
Setzler zog ein abweisendes Gesicht und drehte den Kopf ruckartig zu mir herum. Ich sagte: "Gewiß. Das ist ein sehr guter Gedanke."
Schmolde leckte sich die Lippen und fuhr fort: "Um zwei Uhr geht es los."
Wir sprachen noch ein paar Minuten. Dann sah Schmolde auf die Uhr und ich auf meine. Ich stand auf. Schmolde gleichfalls, langsam, wie mit Bedauern. Setzler erhob sich halb von seinem Stuhl und sagte:

"Entschuldigen Sie mich, ich habe meinen Kaffee noch nicht ausgetrunken."
Ich blickte auf seine Tasse. Er hatte sie noch gar nicht angerührt. Ich sagte schroff: "Kommen Sie nach, wenn Sie fertig sind."
Setzler nickte und setzte sich. Sein kahler Schädel wurde langsam rot, und er mied meinen Blick. Schmolde trat beiseite, um mich vorbeizulassen. "Es ist Ihnen wohl nicht unangenehm, wenn wir zu Fuß gehen? Es ist nicht weit."
"Durchaus nicht."
Die Sonne schien sehr warm. Mitten auf dem Weg, den wir entlanggingen, lief ein Zementstreifen, auf dem zwei Mann nebeneinander gehen konnten. Das Lager war vollkommen verlassen, aber im Vorübergehen hörte ich Stimmengewirr im Innern der Baracken. Ich bemerkte einige Gesichter hinter den Fensterscheiben und begriff, daß die Häftlinge nicht heraus durften. Ich bemerkte auch, daß es zweimal soviel Wachtürme gab als in Auschwitz, obwohl das Lager kleiner war, und stellte fest, daß der Stacheldrahtzaun elektrisch geladen war. Die Drähte wurden von schweren Betonpfosten gehalten, die oben nach innen gebogen waren. Auf diese Weise ragten die obersten Drähte um mindestens sechzig Zentimeter über das senkrechte Netz zwischen den Pfosten hinaus. Es war offensichtlich unmöglich, selbst für einen Akrobaten, dieses Hindernis zu überspringen, ohne es zu berühren. Ich wandte mich an Schmolde: "Ist ständig Strom darin?"
"Nachts. Aber wir geben manchmal auch tags Strom, wenn die Häftlinge nervös sind."
"Sie haben manchmal Ärger?"
"Oft."
Schmolde leckte sich die Lippen und fuhr mit langsamer, apathischer Stimme fort: "
Verständlicherweise, sie wissen, was sie erwartet."
Ich dachte darüber nach und sagte: "Ich sehe nicht ein, wie sie es erfahren können."
Schmolde zog ein Gesicht. "Grundsätzlich ist es streng geheim. Aber alle Häftlinge des Lagers sind im Bilde. Und mitunter wissen es sogar die, die ankommen."
"Von wo kommen sie?"
"Aus dem Warschauer Getto."
"Alle?"
Schmolde senkte den Kopf. "Alle. Meiner Meinung nach gibt es sogar im Getto Leute, die es wissen. Das Lager ist zu nahe bei Warschau."
Hinter der letzten Baracke war eine große freie Fläche, dann öffnete uns ein bewaffneter Posten eine hölzerne Schranke, und wir betraten einen geschotterten Weg, der rechts und links von einem doppelten

Stacheldrahtzaun flankiert war. Dann kam ein anderes Tor, das von etwa zehn SS-Männern bewacht wurde. Dahinter stand eine Wand aus Büschen. Man ging um sie herum, und eine tiefer liegende lange Baracke wurde sichtbar. Ihre Fensterläden waren hermetisch verschlossen. Etwa dreißig SS-Männer, mit Maschinenpistolen bewaffnet und von Hunden begleitet, waren rings darum aufgestellt. Jemand rief: "Achtung!"
Die SS-Männer erstarrten, und ein Untersturmführer meldete. Er war blond, hatte ein viereckiges Gesicht und Säuferaugen. Ich sah mich um. Eine doppelte Reihe elektrisch geladener Stacheldrähte umgab die Baracke vollständig und bildete einen zweiten Zaun innerhalb des Lagerzaunes. Auf der anderen Seite des Stacheldrahts versperrten Büsche und Tannen die Sicht. "Wollen Sie einen Blick hineinwerfen?"
fragte Schmolde. Die SS-Männer entfernten sich, und wir lenkten unsere Schritte zur Baracke. Die Tür war aus massiver Eiche, mit Eisen beschlagen und mit einem schweren Metallriegel verschlossen. Im oberen Teil war ein kleines Guckfenster aus sehr dickem Glas. Schmolde drehte einen in die Mauer eingelassenen Schalter und versuchte den Sperriegel zu heben. Es gelang ihm nicht, und der Untersturmführer stürzte herbei, um ihm zu helfen. Die Tür ging auf. Beim Eintreten hatte ich den Eindruck, daß mir die Decke auf den Kopf fiele. Ich hätte sie mit der Hand erreichen können. Drei mächtige vergitterte Lampen erhellten den Raum. Er war vollkommen leer. Der Fußboden war zementiert. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich noch eine Tür, die hinter das Gebäude führte, aber diese hatte kein Guckfenster . "Die Fenster", sagte Schmolde, "haben natürlich keine Scheiben. Wie Sie sehen, sind sie vollständig. .."
-er leckte sich die Lippen ". ..dicht und schließen von außen."
Neben einer der vergitterten Lampen bemerkte ich eine kleine runde Öffnung von etwa fünf Zentimeter Durchmesser. Ich hörte Rennen, schrille Schreie und rauhe Befehle. Die Hunde bellten. "Das sind sie", sagte Schmolde. Er ging mir voraus. Obgleich seine Mütze noch ein paar Zentimeter von der Decke entfernt war, senkte er den Kopf, während er durch den Raum schritt. Als ich hinaustrat, kam die Kolonne der Häftlinge im Laufschritt vom Gebüsch her, SS-Männer und Hunde begleiteten sie. Geheul, gemischt mit Hundegebell, zerriß die Luft. Ein Staubwirbel erhob sich, und die SS-Männer traten in Tätigkeit. Als die Ordnung wiederhergestellt war und der Staub sich gelegt hatte, konnte ich die Häftlinge besser sehen. Unter ihnen waren einige kräftige Männer, aber die Mehrzahl der Kolonne setzte sich aus Frauen und Kindern zusammen. Mehrere Jüdinnen trugen Babys auf dem Arm. Alle Häftlinge waren in Zivil, und keinem war das Haar abgeschnitten. "Eigentlich sollte man", sagte Schmolde leise, "mit diesen da keinen Ärger haben. Sie sind gerade erst angekommen."
Die SS-Männer ordneten die Häftlinge zu fünfen. Schmolde machte eine leichte Bewegung mit der Hand und sagte: "Bitte, Sturmbannführer."
Wir gingen wieder zu dem Gebüsch. Wir standen so etwas weiter weg, und das abschüssige Gelände erlaubte uns, die ganze Kolonne mit einem Blick zu überschauen. Zwei Hauptscharführer und ein Scharführer fingen an, die Häftlinge zu zählen. Der blonde Untersturmführer stand unbeweglich vor uns. Ein jüdischer Häftling in gestreifter Uniform und mit kahlrasiertem Schädel stand rechts von ihm etwas zurück. Am linken Arm trug er eine Armbinde. Einer der beiden Hauptscharführer kam herangelaufen, stand vor dem Untersturmführer stramm und rief: "Zweihundertvier."
Der Untersturmführer sagte: "Lassen Sie die vier letzten heraustreten und führen Sie sie in die Baracken zurück!"
Ich wandte mich an Schmolde: "Warum macht er das?"
. Schmolde befeuchtete seine Lippen und sagte: "Um den anderen Vertrauen einzuflößen."
"Dolmetscher", sagte der Untersturmführer. Der Häftling mit der Armbinde trat einen Schritt vor, stand stramm, und mit dem Gesicht der Kolonne zugewandt, rief er etwas auf polnisch. Die drei letzten Häftlinge (zwei Frauen und ein Mann mit einem verbeulten schwarzen Hut) trennten sich ohne Schwierigkeit aus der Kolonne. Der vierte war ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren. Ein Scharführer faßte sie beim Arm. Sofort stürzte eine Frau vor, riß sie ihm aus den Händen, preßte sie wild an sich und fing an zu schreien. Zwei SS-Männer gingen auf sie zu, und die ganze Kolonne fing an zu murren. Der Untersturmführer zögerte. "Laßt ihr das Kind!"
rief Schmolde. Die beiden SS-Männer traten wieder ins Glied. Die Jüdin sah sie sich entfernen, ohne es zu verstehen. Sie hielt ihre Tochter noch immer umschlungen. "Dolmetscher", sagte Schmolde, "sagen Sie ihr, daß ihr der Kommandant erlaubt, ihre Tochter bei sich zu behalten. Der Häftling mit der Armbinde rief ihr einen langen polnischen Satz zu. Die Jüdin setzte ihr Kind zu Boden, sah mich an und sah Schmolde an. Dann erhellte ein Licht ihr düsteres Gesicht, und sie rief etwas zu uns herüber. "Was erzählt sie?"
sagte Schmolde ungeduldig.

Der Dolmetscher machte vorschriftsmäßig kehrt, zu uns her, und sagte in vollendetem Deutsch: "Sie sagt, daß Sie gut seien und daß sie Ihnen dankt."
Schmolde zuckte die Achseln. Die drei Häftlinge, die in die Baracken zurückgeschickt wurden, kamen an uns vorbei, gefolgt von einem Scharführer. Die zwei Frauen gönnten uns keinen Blick. Der Mann sah uns an, zögerte, dann nahm er mit einer weit ausladenden, eindrucksvollen Geste den zerbeulten, schwarzen Hut ab. Zwei oder drei unter den Häftlingen lachten, und die SS-Männer stimmten ein. Schmolde beugte sich zu mir herüber . "Ich denke, alles wird gut gehen."
Der Untersturmführer wandte sich mit gelangweilter Miene an den Dolmetscher: "Wie gewöhnlich."
Der Dolmetscher trat einen Schritt vor, stand vor uns stramm und hielt eine lange Rede auf polnisch. Schmolde beugte sich zu mir herüber . "Er sagt ihnen, daß sie sich ausziehen und aus ihren Sachen ein Bündel machen sollen. Die Bündel würden zur Desinfektion geschickt und, bis sie ihnen wiedergegeben werden, die Häftlinge in der Baracke eingeschlossen."
Sobald der Dolmetscher zu sprechen aufhörte, brach in der ganzen Kolonne Geschrei und Gemurr aus. Ich drehte mich zu Schmolde um und sah ihn an. Er schüttelte den Kopf. "Die normale Reaktion. Wenn sie nichts sagen, muß man vorsichtig sein."
Der Untersturmführer gab dem Dolmetscher ein Zeichen. Er fing wieder an zu sprechen. Nach einer Weile begannen einige Frauen sich auszuziehen. Dann machten sich allmählich alle daran. Eine oder zwei Minuten verflossen, bis die Männer es ihnen gleichtaten, langsam und verschämt. Ein paar SS-Männer traten aus dem Glied und halfen die Kinder ausziehen. Ich blickte auf die Uhr. Es war halb drei. Ich wandte mich zu Schmolde: "Würden Sie jemanden schicken, der den Obersturmführer Setzler holt?"
Ich fügte hinzu: "Er muß sich verlaufen haben."
Schmolde winkte einen Scharführer heran und beschrieb ihm Setzler. Der Scharführer rannte los. Geruch von Menschenfleisch, schwer und unangenehm, zog über den Hof. Die Häftlinge standen regungslos in der Sonne, unbeholfen und verlegen. Einige junge Mädchen waren innerhalb ihrer rassischen Eigenart recht hübsch. Der Untersturmführer gab ihnen den Befehl, in die Halle einzutreten, und versprach ihnen, die Fenster zu öffnen, wenn sie alle darin wären. Die Bewegung wurde langsam und in Ordnung ausgeführt.

Als der letzte Häftling hineingegangen war, schloß der Untersturmführer selbst die Eichentür und legte den Sperriegel vor. Sofort sah man mehrere Gesichter hinter dem Guckfenster. Setzler kam an, rot und schwitzend. Er stand stramm. "Zur Stelle, Sturmbannführer."
Ich sagte barsch: "Warum kommen Sie so spät?"
Schmoldes wegen setzte ich hinzu: "Haben Sie sich verlaufen?"
"Ich habe mich verlaufen, Sturmbannführer."
Ich winkte ab, und Setzler stellte sich links neben mich. Der Untersturmführer zog ein Pfeifchen aus der Tasche und pfiff zweimal. Es wurde still, dann lief irgendwo ein Automotor an. Die SS-Männer warfen nachlässig den Riemen ihrer Maschinenpistolen über die Schulter . "Bitte, Sturmbannführer", sagte Schmolde. Er ging voran, die SS-Männer entfernten sich, und wir gingen um das Gebäude herum. Setzler marschierte hinter mir her . Ein großer Lastwagen stand mit dem hinteren Teil ganz dicht an der Baracke. Ein Rohr, das am Auspuff befestigt war, stieg senkrecht hoch, machte dann einen Knick und führte in Höhe der Barackendecke ins Innere. Der Motor lief. "Das Auspuffgas", sagte Schmolde, "dringt durch die kleine Öffnung neben der mittleren Lampe in die Halle."
Er horchte einen Augenblick auf den Motor, runzelte die Stirn und ging zum Führerhaus. Ich folgte ihm. Ein SS-Mann saß am Lenkrad, eine Zigarette zwischen den Lippen. Als er Schmolde sah, nahm er die Zigarette aus dem Mund und beugte sich durch das Türfenster heraus. "Treten Sie doch nicht so sehr auf den Gashebel!"
sagte Schmolde. Die Umdrehungen des Motors verminderten sich. Schmolde wandte sich zu mir. "Sie treten immer ganz durch, um schneller fertig zu werden. Die Folge ist, daß sie die Patienten ersticken, statt sie einzuschläfern."
Ein unangenehmer fader Geruch schwebte in der Luft. Ich blickte mich um. Ich sah nichts als etwa zwanzig Häftlinge in gestreifter Uniform, in zwei Reihen aufgestellt, einige Meter vom Wagen entfernt. Sie waren jung, gut rasiert und schienen kräftig zu sein. "Das Sonderkommando", sagte Schmolde. "Es hat den Auftrag, die Toten zu beerdigen."
Einige waren blond und athletisch gebaut. Sie standen tadellos stramm. "Das sind Juden?"
"Gewiß."
Setzler beugte sich vor. "Und sie helfen Ihnen beim... Das erscheint kaum glaublich!"
Schmolde zuckte mit müdem Gesicht die Achseln. "Hier ist alles

möglich."
Und er wandte sich wieder an mich: "Bitte, Sturmbannführer. .."
Ich folgte ihm. Wir entfernten uns von dem Gebäude. Je weiter wir gingen, um so stärker wurde der Gestank. Nach etwa hundert Metern tat sich ein breiter und sehr tiefer Graben vor uns auf. Hunderte von Leichen waren in drei parallelen Reihen darin aufgeschichtet. Setzler schreckte zurück und drehte der eichengrube den Rücken zu. "Das schwerste Problem", sagte Schmolde in seinem gleichgültigen Ton, "ist das Leichenproblem. Wir werden bald keinen Platz mehr für Gräben haben. Deshalb müssen wir die Gräben sehr tief ausheben und mit dem Schließen warten, bis sie voll sind. Doch sogar so werde ich bald kein Gelände mehr dafür haben."
Er ließ seinen leeren Blick umherschweifen, verzog das Gesicht und fuhr entmutigt fort: "Die Leichen nehmen zuviel Platz weg."
Darauf entstand ein Schweigen, bis er sagte; "Bitte, Sturmbannführer. .."
Ich machte kehrt, ließ Schmolde einen kleinen Vorsprung und näherte mich Setzler. Sein Gesicht sah grau aus. Ich sagte scharf, aber leise: "Nehmen Sie sich bitte zusammen!"
Ich holte Schmolde wieder ein. Der Motor des Lastwagens summte leise. Als wir nahe an der Baracke waren, trat Schmolde ans Führerhaus, und der SS-Mann beugte sich zur Tür heraus. "Treten Sie jetzt durch!"
sagte Schmolde. Die Tourenzahl des Motors schwoll gewaltig an, und die Motorhaube fing an zu zittern. Wir gingen um das Gebäude herum. Es waren nur noch ein Dutzend SS-Männer auf dem Hof. Schmolde sagte: "Wollen Sie einen Blick hineinwerfen?"
"Gewiß."
Wir gingen zur Tür hin, und ich blickte durch das Guckfenster . Die Häftlinge lagen in Trauben auf dem Zement. Ihre Gesichter waren friedlich, und abgesehen davon, daß die Augen weit geöffnet waren, schienen sie nur zu schlafen. Ich sah auf die Uhr, es war drei Uhr zehn. Ich drehte mich zu Schmolde um. "Wann öffnen Sie die Türen?"
"Das ist sehr verschieden. Alles hängt von der Temperatur ab. Wenn trockenes Wetter ist wie heute, geht es ziemlich schnell."
Schmolde blickte seinerseits durch das Guckfenster . "Es ist vorüber."
"Woran sehen Sie das?"
"An der Färbung der Haut. Sie ist blaß mit einem Anflug von Rot auf den Backenknochen."
"Haben Sie sich schon einmal geirrt?"
"Am Anfang ja. Die Leute wurden wieder lebendig, als die Fenster geöffnet wurden. Wir mußten von neuem anfangen."
"Warum öffnen Sie die Fenster?"

"Um zu lüften und um es dem Sonderkommando zu ermöglichen, den Raum zu betreten."
Ich brannte mir eine Zigarette an und sagte: "
Was geschieht dann?"
"Das Sonderkommando schafft die Leichen hinaus hinter das Gebäude. Eine Gruppe lädt sie auf den LKW. Der fährt sie zum Graben und kippt sie dort aus. Eine andere Gruppe ordnet die Leichen auf dem Grunde des Grabens. Man muß sie sehr sorgfältig schichten, damit sie sowenig Platz wie möglich wegnehmen."
Mit müder Stimme setzte er hinzu: "Ich werde bald keinen Platz mehr haben."
Er wandte sich an Setzler. "Wollen Sie hineinsehen?"
Setzler zögerte, sein Blick glitt schnell zu mir herüber, und er sagte mit schwacher Stimme: "Gewiß."
Er warf einen Blick durch das Guckfenster und rief aus: "Sie sind ja nackt!"
Schmolde sagte in seinem gleichgültigen Ton: "Wir haben Befehl, ihnen die Kleidungsstücke abzunehmen."
Er setzte hinzu: "Es würde viel Zeit beanspruchen, sie auszuziehen, wenn man sie in Kleidern tötete."
Setzler blickte durch das Guckfenster. Er beschattete seine Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. "Außerdem", sagte Schmolde, "wenn die Chauffeure sehr stark auf den Gashebel treten, sterben sie durch Ersticken, sie leiden sehr und lassen Kot fahren. Die Kleider würden beschmutzt werden."
"Sie haben so friedliche Gesichter", sagte Setzler, die Stirn an das Guckfenster gedrückt. Schmolde wandte sich zu mir . "Wollen Sie die Fortsetzung sehen?"
"Das ist überflüssig. Sie haben es ja beschrieben."
Ich machte kehrt, und Schmolde schloß sich mir an. Nach ein paar Metern drehte ich mich um und sagte: "Kommen Sie, Setzler!"
Setzler riß sich vom Guckfenster los und folgte uns. Schmolde sah auf die Uhr . Ihr Zug geht in einer Stunde. Vielleicht haben wir noch Zeit für eine Erfrischung."
Ich nickte, und wir legten den Rest des Weges schweigend zurück. In dem kleinen Zimmer der Kantine erwarteten uns eine Flasche Rheinwein und trockener Kuchen. Ich hatte keinen Hunger, aber der Wein war sehr willkommen. Nach einer Weile sagte ich: Warum erschießt man sie nicht?"
Das ist zu kostspielig", sagte Schmolde, und braucht Zeit und viele Leute."
Er setzte hinzu: "Doch wir machen es, wenn unsere LKWs eine Panne haben."
"Kommt das vor?"

"Oft. Es sind alte, den Russen abgenommene Lastwagen. Sie sind stark mitgenommen, und wir haben keine Ersatzteile. Und mitunter fehlt es an Sprit. Oder der Sprit ist schlecht und das Gas nicht giftig genug."
Ich drehte mein Glas in den Händen und sagte: "Nach Ihrer Meinung ist das Verfahren also nicht sicher?"
Nein", sagte Schmolde, "es ist nicht sicher."
Ein Schweigen entstand, bis Setzler sagte: "Auf jeden Fall ist es human. Die Leute schlafen ein, das ist alles. Sie gleiten sacht in den Tod. Sie haben doch bemerkt, daß sie friedlich aussehen."
Schmolde zuckte die Achseln. "Wenn ich dabei bin."
Setzler sah ihn neugierig an, und Schmolde fuhr fort: "Wenn ich dabei bin, tritt der Chauffeur den Gashebel nicht durch."
Ich sagte: "Könnte man zum Vergasen nicht zwei LKWs ansetzen statt einem? Die Sache würde schneller gehen."
Nein", sagte Schmolde, ich habe zehn Gaskammern zu zweihundert Personen, aber habe nie mehr als vier Wagen fahrbereit. Wenn ich einen Wagen an einer Kammer ansetze, vergase ich achthundert Personen in einer halben Stunde. Wenn ich zwei Wagen ansetze, würde ich vielleicht -vielleicht! -vierhundert Personen in einer Viertelstundevergasen. Abertatsächlich würde ich keine Zeit gewinnen, denn nachher blieben mir immer noch vierhundert zu vergasen."
Er setzte hinzu: "Selbstverständlich wird man mir niemals neue Wagen liefern."
Ich erwiderte nach einer Weile: "Man müßte ein sichereres Mittel haben, zum Beispiel ein erstickendes Gas wie 1917."
"Ich weiß nicht, ob da noch welches hergestellt wird", sagte Schmolde. "In diesem Krieg hat man noch keins angewendet."
Er leerte sein Glas in einem Zug und ging zum Tisch, um es von neuem zu füllen. "Tatsächlich ist das größte Problem nicht das Vergasen, sondern das Beerdigen. Ich kann nicht schneller vergasen, als ich beerdige. Und beerdigen nimmt Zeit in Anspruch."
Er trank einen Schluck und fuhr fort: "Meine Leistung in vierundzwanzig Stunden hat nie fünfhundert Einheiten erreicht."
Er schüttelte den Kopf. "Wohlgemerkt, der Reichsführer hat allen Grund, dieses Ergebnis mittelmäßig zu finden. Andererseits ist es eine Tatsache, daß ich nie neue Wagen habe erhalten können."
Er blickte im Zimmer umher und sagte gleichgültig: "Es gibt auch Revolten. Sie verstehen, die wissen, was sie erwartet. Manchmal weigern sie sich ganz einfach, die Halle zu betreten. Manchmal stürzen sie sich sogar auf unsere Männer. Selbstverständlich werden wir damit fertig. Aber das kostet wieder Zeit."

Ein Schweigen entstand, und dann sagte ich: "
Wenn sie revoltieren, ist meiner Meinung nach die psychologische Vorbereitung nicht gut. Sie sagen ihnen: 'Eure Kleider werden entlaust, und während dieser Zeit wartet ihr in dieser Halle.' Aber in Wirklichkeit wissen sie sehr wohl, daß dies nirgends so vor sich geht. Normalerweise gibt man jemandem, wenn man seine Sachen entlaust, eine Dusche. Man muß sich an ihre Stelle versetzen. Sie wissen sehr gut, daß man sie entlauste Kleidungsstücke nicht wieder anziehen lassen wird, wenn sie selbst noch voller Läuse sind. Das ist sinnlos. Sogar ein zehnjähriges Kind würde verstehen, daß die Sache verdächtig ist."
"Gewiß, Sturmbannführer", sagte Schmolde, "das ist ein interessanter Punkt. Aber das Hauptproblem. .."
Er leerte sein Glas in einem Zug, stellte es auf den Tisch zurück und sagte: "Aber das Hauptproblem ist das der Leichen."
Er warf mir einen bezeichnenden Blick zu und sagte: "Sie werden es sehen."
Ich sagte trocken: "Ich verstehe den Sinn Ihrer Bemerkung nicht. Ich bin nur zur Information hier."
Schmolde wandte den Blick weg und sagte in neutralem Ton: "Gewiß, Sturmbannführer. So verstehe ich es auch. Ich habe mich schlecht ausgedrückt."
Darauf entstand ein langes Schweigen, und plötzlich sagte Setzler: "Könnte man nicht wenigstens die Frauen verschonen?"
Schmolde schüttelte den Kopf. "Es ist selbstverständlich, daß man besonders sie vernichten muß. Wie kann man eine Tierart unterdrücken, wenn man die Weibchen erhält?"
"Richtig, richtig!"
sagte Setzler. Dann setzte er leise und kaum verständlich hinzu: "Trotzdem ist es entsetzlich."
Ich blickte ihn an. Sein großer gekrümmter Körper war wie zerbrochen. Seine Zigarette verzehrte sich von selbst in seiner Rechten. Schmolde trat mit steifen Schritten an den Tisch und goß sich ein Glas Wein ein.

Ich verbrachte die folgende Woche in schrecklicher Angst. Die Leistung von Treblinka betrug fünfhundert Einheiten in vierundzwanzig Stunden, die von Auschwitz sollte dem Programm nach dreitausend Einheiten betragen; in knapp vier Wochen sollte ich dem Reichsführer einen Gesamtplan in dieser Frage vorlegen, und ich hatte noch keine Vorstellung davon. Ich betrachtete das Problem vergeblich von allen Seiten, es gelang mir nicht einmal, die Lösung auch nur von ferne zu sehen. Zwanzigmal am Tage war mir die Kehle angesichts der Gewißheit eines

Mißerfolgs wie zugeschnürt, und ich wiederholte mit Entsetzen, daß ich gleich zu Anfang in der Erfüllung meiner Pflicht kläglich scheitern würde. In der Tat sah ich sehr gut ein, daß ich eine sechsmal höhere Leistung erreichen müßte als in Treblinka, aber ich sah keinerlei Möglichkeit, sie zu erreichen. Es war leicht, sechsmal soviel Räume zu errichten wie in Treblinka, aber das hätte nichts genützt. Man hätte auch sechsmal soviel LKWs haben müssen, und in dieser Beziehung gab ich mich keiner Täuschung hin. Wenn Schmolde trotz all seiner Bitten keine zusätzliche Lieferung erhalten hatte, verstand es sich von selbst, daß ich sie ebensowenig erhalten würde. Ich schloß mich in mein Büro ein und verbrachte ganze Nachmittage über dem Versuch, mich zu konzentrieren. Es gelang mir nicht; eine unwiderstehliche Lust überkam mich, aufzustehen und aus dem Büro hinauszulaufen, dessen vier Wände mich erstickten; ich zwang mich, mich wieder hinzusetzen; mein Geist war ein völlig unbeschriebenes Blatt, und ich empfand ein tiefes Gefühl der Scham und Impotenz bei dem Gedanken, daß ich der Aufgabe nicht gewachsen war, die der Reichsführer mir gestellt hatte. Endlich kam mir eines Nachmittags der Gedanke, daß ich nie zu etwas käme, wenn ich fortführe, mich im luftleeren Raum zu bewegen, ohne daß meine Gedanken zu einem greifbaren Resultat führten, und ich entschloß mich, in meinem eigenen Lager die Einrichtung von Treblinka nachzuahmen, als eine Art Versuchsstation, die mir erlauben würde, die neuen Methoden, die ich suchte, auszubilden. Sobald das Wort Versuchsstation in meinem Geiste aufsprang, war es mit einem Schlage, als ob ein Schleier zerriß, sich die Furcht vor dem Mißerfolg zerteilte und ein Gefühl der Kraft, der Wichtigkeit und Nützlichkeit mich wie ein Pfeil durchdrang. Ich stand auf, nahm meine Mütze, verließ mein Büro, stürmte in das Setzlers und sagte rasch: "Kommen Sie, Setzler, ich brauche Sie."
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging ich hinaus, sprang die Stufen der Terrasse hinunter, stieg ins Auto, der Chauffeur setzte sich schnell ans Lenkrad, ich sagte: "
Warten Sie!"
Setzler erschien, er setzte sich neben mich, und ich sagte: "Nach Birkenau, zu den enteigneten Gehöften."
-"Sturmbannführer", sagte der Chauffeur, "dort ist ein richtiger Sumpf."
Ich erwiderte schroff: "Tun Sie, was man Ihnen sagt."
Er fuhr los, ich beugte mich zu ihm vor und rief: "Schneller!"
und das Auto raste. Ich hatte das Gefühl, mit der Schnelligkeit und Wirkungskraft einer Maschine zu handeln. Zweihundert Meter vor den Gehöften versank mitten im Walde das Auto im Schlamm. Ich schrieb einen Zettel für den diensthabenden Lagerführer und befahl dem Chauffeur, ihn ins Lager zu bringen. Er eilte im Laufschritt davon, ich versuchte, die Gehöfte, deren Schieferdächer ich andeutungsweise zwischen den Bäumen erkennen konnte, zu Fuß zu erreichen. Nach ein paar Metern mußte ich es aufgeben. Meine Stiefel sanken bis an die Waden ein. Zwanzig Minuten später trafen zwei LKWs mit Häftlingen und SS-Männern ein, Kommandorufe ertönten, die Häftlinge sprangen ab und fingen an, Zweige abzuschneiden und einen Faschinenweg zu den Gehöften hin zu bauen. Mein Wagen wurde frei gemacht, und der Chauffeur kehrte ins Lager zurück, um zwei weitere Wagen zu holen. Ich gab Setzler den Befehl, die Arbeit zu beschleunigen. Die SS-Männer traten in Tätigkeit, man hörte dumpfe Schläge, und die Häftlinge begannen wie die Verrückten zu arbeiten. Die Nacht brach herein, als der Faschinenweg bis an die Gehöfte herangeführt war. Setzler beschäftigte sich damit, Scheinwerfer zu installieren, die an den nächsten Mast der elektrischen Leitung angeschlossen wurden. Ich durchsuchte sorgfältig die Gehöfte. Als ich herauskam, ließ ich Setzler rufen; ein Scharführer rannte los, und nach zwei Minuten erschien Setzler. Ich zeigte ihm die Gehöfte und erklärte ihm die Arbeit. Als ich damit fertig war, blickte ich ihn an und sagte: "Binnen drei Tagen."
Er starrte mich an, öffnete den Mund, aber ich wiederholte betont: "Binnen drei Tagen!"
Ich verließ die Baustelle nur zum Essen und Schlafen, Setzler löste mich dabei ab, wir trieben die Arbeit mit unerhörter Hast voran, und am Abend des dritten Tages waren zwei kleine Hallen für je zweihundert Personen fertig. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte noch nichts Bestimmtes beschlossen. Aber die Durchführung meiner Aufgabe hatte einen Anfang genommen, und ich verfügte jetzt über eine Versuchsstation, dank der ich täglich meine Gedanken auf die Probe stellen konnte. Ich brachte unverzüglich eine beachtliche Verbesserung gegenüber dem System von Treblinka an. Ich ließ an beiden Gebäuden die Inschrift "Desinfektionsraum"
und im Innern zum Schein Brausen und Rohrleitungen anbringen, um bei den Häftlingen den Eindruck zu erwecken, man führe sie zum Waschen dahin. Immer in demselben Sinne gab ich dem diensttuenden Untersturmführer die Anweisung, er solle den Häftlingen ankündigen, daß sie nach der Dusche heißen Kaffee erhielten. Außerdem solle er mit ihnen in den "Desinfektionsraum"
und unter Scherzen (indem er sich entschuldigte, ihnen keine Seife liefern zu können) von Gruppe zu Gruppe gehen, bis alle darin wären. Ich setzte unverzüglich die Einrichtung in Betrieb, und die Erfahrung bewies die Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Die Häftlinge zeigten kein Widerstreben, die Halle zu betreten, und ich konnte infolgedessen die Verzögerungen und Verdrießlichkeiten, die durch Revolten verursacht werden, als ausgeschaltet betrachten. Es blieb noch das Problem der Vergasung. Von Anfang an hatte ich die Verwendung der LKWs als Notbehelf angesehen, und während der zwei folgenden Wochen suchte ich fieberhaft nach einem schnelleren und sichereren Verfahren. Ich nahm einen Gedanken wieder auf, den ich Schmolde vorgeschlagen hatte, und ließ durch Vermittlung von Wulfslang beim Reichsführer anfragen, ob es nicht möglich wäre, mir eine gewisse Menge erstickenden Gases zu bewilligen. Man antwortete mir, die Wehrmacht bewahre Vorräte davon auf (um mit Repressalien vorgehen zu können, im Fall, daß der Feind zuerst davon Gebrauch mache), daß aber die SS keine Belieferung dieser Art verlangen könne, ohne die stets vorhandene, mehr oder weniger böswillige Neugier der Wehrmacht gegenüber der Tätigkeit der SS zu wecken. Ich verzweifelte fast, eine Lösung dieser beträchtlichen Schwierigkeit zu finden, als ein von der Vorsehung gewollter Zufall sie mir lieferte. Eine Woche vor dem vom Reichsführer für die Einreichung des Plans festgesetzten Termin wurde ich offiziell vom Besuch des Inspekteurs der Lager, Gruppenführer Görtz, benachrichtigt. Daher ließ ich eine große Reinigung aller Räumlichkeiten des KZ vornehmen, und am Vortage der Inspektion besichtigte ich sie selbst mit peinlichster Genauigkeit. Dabei geriet ich in einen kleinen Raum, wo ein Haufen kleiner zylindrischer Büchsen aufgestapelt war, auf denen "Giftgas"
stand, und darunter Cyclon B". Es war der Überrest des Materials,das die Firma Weerle & Frischler ein Jahr vorher geliefert hatte, um die Kasernen der polnischen Artilleristen von Ungeziefer zu befreien. Diese Behälter wogen ein Kilo, sie waren hermetisch verschlossen, und wenn man sie öffnete, zeigten sie, wie ich mich erinnerte, grüne Kristalle, die beim Zusammentreffen mit dem Sauerstoff der Luft Gas entwickelten. Ich erinnerte mich auch, daß Weerle & Frischler uns zwei Techniker gesandt, daß diese Gasmasken angelegt und alle möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen hatten, ehe sie die Behälter öffneten, und ich schloß daraus, daß dieses Gas für den Menschen ebenso gefährlich sei wie für Ungeziefer . Ich verfügte unverzüglich, seine Eigenschaften auszuprobieren. Ich ließ in die Mauer der zwei provisorischen Anlagen von Birkenau ein Loch von entsprechendem Durchmesser machen und außen mit einer Klappe versehen. Untaugliche, an Zahl zweihundert, wurden in dem Raum versammelt, und ich ließ den Inhalt einer Büchse Cyclon B durch diese Öffnung hineinschütten. Sofort ging darin ein Geheul los, und die Tür wie die Mauern ertönten von heftigen Schlägen. Dann wurden die Schreie schwächer, und nach fünf Minuten herrschte völlige Stille. Ich ließ an die SS-Männer Gasmasken verteilen und gab Befehl, alle Öffnungen aufzumachen, um Durchzug zu schaffen. Ich wartete noch einige Minuten und betrat als erster die Halle. Der Tod hatte sein Werk getan. Das Ergebnis meines Versuchs überstieg meine Hoffnung. Eine Kilodose Cyclon B hatte genügt, um in zehn Minuten zweihundert Untaugliche zu liquidieren. Der Zeitgewinn war beträchtlich, da man mit dem System von Treblinka eine halbe Stunde brauchte, wenn nicht mehr, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Außerdem wurde man nicht durch die Zahl der LKWs, durch Pannen oder Mangel an Treibstoff eingeschränkt. Endlich war das Verfahren sparsam, da das Kilo Giftgas -wie ich sofort feststellte -nur drei Mark fünfzig kostete. Mir wurde klar, daß ich die Lösung des Problems gefunden hatte. Gleichzeitig erkannte ich die wichtige Folge, die sich daraus ergab. In der Tat, es verstand sich von selbst, daß das System der kleinen Räume zu je zweihundert Personen aufgegeben werden mußte, das ich Treblinka entlehnt hatte. Das verhältnismäßig geringe Fassungsvermögen dieser Kammern rechtfertigte sich nur durch die geringe Menge Gas, die ein Kraftwagenmotor erzeugen konnte, denn es stellten sich tatsächlich bloß Nachteile heraus, wenn man eine Anlieferung von zweitausend Untauglichen in kleinen Gruppen zu zweihundert Einheiten aufteilen und zu den verschiedenen Hallen in Marsch setzen mußte. Das Verfahren nahm Zeit in Anspruch, erforderte einen komplizierten Ordnungsdienst und stellte in Fällen gleichzeitiger Meutereien sogar ernste Probleme. Diesen Unannehmlichkeiten half die Verwendung von Cyclon B offensichtlich ab. Da man nicht mehr durch die geringe Leistungsfähigkeit eines LKWs, der das Gas erzeugte, beschränkt wurde, war es in der Tat klar, daß, wenn man die erforderliche Zahl von Büchsen Cyclon B verwandte, man in einer einzigen Halle die ganze Anlieferung vergasen konnte. Indem ich den Bau einer Halle von so großartigen Dimensionen ins Auge faßte, wurde mir bewußt, daß ich zum ersten Male Mittel ersann, die der historischen Aufgabe, die mir oblag, entsprachen. Es mußte nicht bloß schnell gehen, es mußte großzügig geschehen, und zwar gleich von Anfang an. Indem ich darüber nachdachte, kam ich zu der Überzeugung, daß die Halle unterirdisch und aus Beton sein müsse, sowohl um dem verzweifelten Ansturm einer so beträchtlichen Masse von Opfern standzuhalten, wie um die Schreie zu ersticken. Daraus folgte ferner, daß, wenn man keine Fenster mehr einbaute, durch die nach der Vergasung der Raum gelüftet werden konnte, man für ein künstliches Lüftungssystem sorgen mußte. Bei weiterem Nachdenken erschien es gleichfalls wünschenswert, vor diesem Raum einen Auskleideraum anzuordnen (mit Bänken, Kleiderhaken oder Kleiderbügeln ausgestattet), der einen geeigneten Anblick bieten würde, um die Patienten zu beruhigen. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Personalfrage, und hier schien es mir, als hätte Schmolde einen schweren Irrtum begangen, indem er nicht vorausgesehen hatte, daß das Sonderkommando der SS und das Sonderkommando der Häftlinge beide an Ort und Stelle wohnen und vom übrigen Lager streng isoliert sein mußten. Es war doch selbstverständlich, daß diese Einrichtung Zeitgewinn bedeutete und die unbedingte Geheimhaltung der Vorgänge gewährleistete, die sie verlangten. Mir ging auch auf, daß man die Gaskammern mit dem Bahnhof verbinden und eine Eisenbahnstrecke bauen müsse, welche die Transporte bis vor die Tür brächten, sowohl um Zeitverluste zu vermeiden, als auch um den Inhalt der Züge vor der Zivilbevölkerung von Auschwitz zu verbergen. So nahm allmählich in meinem Geiste der Gedanke einer riesigen industriellen Anlage mit berauschender Deutlichkeit Gestalt an, einer Anlage, die direkt von der Eisenbahn beliefert wurde und deren Oberbauten, die sich über ungeheuren unterirdischen Hallen erhoben, Kantinen für das Personal, Küchen, Schlafräume, Beutekammern sowie Sezier- und Arbeitssäle für die nationalsozialistischen Wissenschaftler umfassen würden.

Achtundvierzig Stunden vor dem von Himmler festgesetzten Termin meldete ich dem Obersturmbannführer Wulfslang telefonisch, der für den Reichsführer bestimmte Plan würde am festgesetzten Tage fertig sein, und ich klapperte ihn von Anfang bis zu Ende auf der Schreibmaschine selbst herunter. Dazu brauchte ich viel Zeit. Um acht Uhr abends telefonierte ich Elsie, sie solle nicht auf mich warten, und telefonierte auch in die Kantine, mir eine kalte Mahlzeit ins Büro zu schicken. Ich aß hastig und setzte dann meine Arbeit fort. Um elf las ich die Blätter noch einmal sorgfältig durch, setzte meine Unterschrift darunter und steckte sie in einen Umschlag, den ich mit fünf Wachssiegeln verschloß. Ich steckte den Umschlag in die linke Innentasche meiner Bluse und bestellte meinen Wagen. Ich nahm auf dem hinteren Sitz Platz, der Chauffeur fuhr los, ich ließ meinen Kopf auf das Aktenstück sinken und schloß die Augen. Es wurde scharf gebremst, ich wachte auf, eine elektrische Lampe war auf mich gerichtet und das Auto von SS umringt. Wir befanden uns unter dem Eingangsturm des Lager . "Entschuldigen Sie, Sturmbannführer", sagte eine Stimme, "aber gewöhnlich schalten Sie die Deckenlampe ein."
"Macht nichts, Hauptscharführer."
"Das Innere des Wagens war dunkel, und ich habe sehen wollen, wer es war. Entschuldigen Sie nochmals, Sturmbannführer."
"Schon gut. Man hat immer Grund, mißtrauisch zu sein."
Ich winkte ab, der Hauptscharführer knallte die Hacken zusammen, das zweiflügelige Tor aus Stacheldraht öffnete sich knarrend, und das Auto fuhr los. Ich wußte, daß irgendwo auf der Landstraße noch eine SS-Streife war, und schaltete die Deckenlampe ein. Ich ließ den Chauffeur fünfhundert Meter vor der Villa halten und schickte ihn ins Lager zurück. Ich fürchtete, das Geräusch des Motors würde die Kinder wecken. Beim Gehen merkte ich, daß auf der Straße Löcher waren, und nahm mir vor, am nächsten Tag eine Mannschaft von Häftlingen herzuschicken, um sie auszubessern. Ich war sehr müde, aber die paar Schritte machten mir Vergnügen. Es war eine schöne, laue, helle Julinacht. Ich öffnete die Tür mit meinem Hauptschlüssel, schloß sie wieder behutsam, legte Mütze und Handschuhe auf das Tischchen in der Diele und ging in mein Arbeitszimmer. So nannte ich einen kleinen Raum, der dem Eßzimmer gegenüberlag und wo ich schlief, wenn ich spät aus dem Lager heimkam. Er enthielt einen Tisch, einen Rohrstuhl, einen kleinen Waschtisch, ein Feldbett und über dem Tisch ein Regal aus Weichholz mit ein paar gebundenen Büchern. Elsie sagte, es wäre eine richtige Mönchszelle, aber es gefiel mir eben so. Ich setzte mich, tastete mechanisch die linke Seite meiner Bluse ab, um mich zu vergewissern, daß der Bericht noch da war, zog die Stiefel aus und begann in Hausschuhen geräuschlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich war sehr müde, aber ich war noch nicht schläfrig. Es klopfte zweimalleicht an die Tür, ich sagte: "Herein!"
und Elsie erschien. Sie trug den hübscheren ihrer zwei Morgenröcke, und ich bemerkte mit Verwunderung, daß sie sogar parfümiert war. "Störe ich dich auch nicht?"
"Nicht doch, komm nur herein!"
Sie schloß die Tür hinter sich, und ich küßte sie auf die Wange. Ich fühlte mich gehemmt, weil ich die Stiefel nicht anhatte und ich so kleiner war als sie. Ich sagte barsch: "Setz dich doch, Elsie!"
Sie nahm auf dem Feldbett Platz und sagte verlegen: "Ich habe dich kommen hören."
"Ich war doch leise."
,Ja", sagte sie, "du bist immer sehr leise."
Ein Schweigen trat ein, und sie fuhr fort: "Ich wollte mit dir sprechen."
"Jetzt?"
Sie sagte zögernd: "Wenn es dir recht ist."

Sie fügte hinzu: "Du mußt es doch verstehen, ich sehe dich in der letzten Zeit nicht mehr viel."
"Ich kann nicht tun und lassen, was ich will."
Sie sah mich an und begann wieder: "Du siehst sehr müde aus, Rudolf. Du arbeitest zuviel."
"Ja, ja."
Ich fuhr fort: "Du hast mit mir zu sprechen, Elsie?"
Sie wurde langsam rot und sagte mit gepreßter Stimme: "Es handelt sich um die Kinder."
"Ja?"
"Es ist wegen ihres Unterrichts. Wenn wir wieder nach Deutschland kommen, werden sie weit zurück sein."
Ich nickte, und sie fuhr fort: "Ich habe darüber mit Frau Bethmann und Frau Pick gesprochen. Ihre Kinder sind in derselben Lage, und sie machen sich auch deswegen Sorgen. .."
"Ja?"
"Da habe ich gedacht. .."
"Ja?"
"
...daß wir vielleicht für die Kinder der Offiziere eine deutsche Lehrerin kommen lassen könnten."
Ich blickte sie an. "Das ist ein sehr guter Gedanke, Elsie. Laß sie unverzüglich kommen. Ich hätte schon eher daran denken sollen."
"Es ist nur", sagte Elsie zögernd, "daß ich nicht weiß, wo man sie unterbringen soll. .."
"Aber bei uns natürlich."
Ich tastete mechanisch die linke Seite meiner Bluse ab und sagte: "Da wäre wieder eine Angelegenheit geregelt."
Elsie blieb sitzen. Sie hatte die Augen niedergeschlagen und beide Hände auf den Knien liegen. Ein Schweigen entstand, dann hob sie den Kopf und sagte mit Anstrengung: "
Willst du dich nicht zu mir setzen, Rudolf?"
Ich sah sie an. "Aber gewiß."
Ich setzte mich neben sie und roch wieder ihr Parfüm. Es sah Elsie so wenig ähnlich, sich zu parfümieren. "Hast du mir noch etwas zu sagen, Elsie?"
"Nein", sagte sie zögernd. "Ich möchte nur ein bißchen schwatzen."
Sie faßte mich bei der Hand, ich wandte ihr leicht den Kopf zu. "Ich sehe dich in der letzten Zeit nicht mehr viel, Rudolf."
"Ich habe viel Arbeit."
"Ja", sagte sie traurig. "aber auch im Bruch hast du viel gearbeitet, und ich habe auch viel gearbeitet, aber es war nicht dasselbe."
Ein Schweigen trat ein, dann fuhr sie fort: "Im Bruch hatten wir kein Geld, keine Bequemlichkeit, kein Dienstmädchen, kein Auto, und trotzdem. .."
"Komm doch nicht immer darauf zurück, Elsie!"

Ich stand jäh auf und sagte heftig: "Glaubst du etwa nicht, daß auch ich. .."
Ich unterbrach mich, tat ein paar Schritte durchs Zimmer und fuhr mit ruhigerer Stimme fort: "Ich bin hier, weil ich hier am nützlichsten bin."
Nach einer Weile begann Elsie wieder: "
Willst du dich nicht wieder setzen, Rudolf?"
Ich setzte mich auf das Feldbett, sie rückte etwas näher an mich heran und ergriff wieder meine Hand. "Rudolf", sagte sie, ohne mich anzusehen, "ist es wirklich notwendig, daß du jeden Abend hier schläfst?"
Ich blickte weg. "Aber du weißt doch, daß ich zu unmöglichen Zeiten nach Hause komme. Ich will die Kinder nicht aufwecken."
Sie sagte leise: "Du machst so wenig Lärm. Und ich könnte dir die Hausschuhe auf die Diele stellen."
Ich sagte, ohne sie direkt anzusehen: "Es ist doch nicht nur das. Ich schlafe in der letzten Zeit sehr schlecht. Ich wälze mich im Bett hin und her. Und manchmal stehe ich auf, um eine Zigarette zu rauchen oder um ein Glas Wasser zu trinken. Ich will dich nicht stören."
Ich roch ihr Parfüm stärker und begriff, daß sie sich zu mir beugte. "Du würdest mich nicht stören."
Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. "Rudolf", sagte sie leise, "du bist noch nie so lange weggeblieben. .."
Ich sagte schroff: "Sprich doch nicht von solchen Dingen, Elsie. Du weißt doch, daß mir das peinlich ist. .."
Es entstand ein langes Stillschweigen, ich blickte ins Leere und sagte dann: "Du weißt doch, daß ich nicht sinnlich veranlagt bin."
Ihre Hand legte sich auf die meine. "Das ist es nicht. Ich finde nur, daß du verändert bist. Seit deiner Reise nach Berlin bist du verändert."
Ich sagte unwirsch: "Du bist verrückt, Elsie."
Ich stand auf, ging zum Tisch und brannte mir eine Zigarette an. Hinter mir hörte ich ihre besorgte Stimme: "Du rauchst zuviel."
"Ja, ja."
Ich führte die Zigarette an meine Lippen und strich mit der Hand über meine Bücher. "Was hast du denn, Rudolf?"
"Nichts. Gar nichts."
Ich drehte mich zu ihr um. "Mußt auch du mich quälen, Elsie?"
Sie stand auf, die Augen voller Tränen, und warf sich in meine Arme. "Ich will dich doch nicht quälen, Rudolf. Es ist nur, daß ich glaube, du hast mich nicht mehr lieb."

Ich streichelte ihr Haar und sagte mit Anstrengung: "Natürlich habe ich dich lieb."
Nach einer Weile sagte sie: "Im Bruch waren wir zuletzt wirklich glücklich. Erinnerst du dich? Wir legten Geld für das Gut beiseite, es war eine schöne Zeit. .."
Sie drückte sich stärker an mich, ich entzog mich ihr und küßte sie auf die Wange. "Geh jetzt schlafen, Elsie!"
Sie sagte nach einer Weile: "Willst du nicht heute nacht oben schlafen?"
Ich sagte ungeduldig: "Nicht heute abend. Nicht jetzt."
Sie sah mich eine volle Sekunde lang an, errötete, ihre Lippen bewegten sich, aber sie sprach kein Wort. Sie küßte mich auf die Wange und ging hinaus. Ich schloß die Tür, dann hörte ich die Stufen der Treppe unter ihren Schritten knarren. Als ich nichts mehr hörte, schob ich behutsam den Riegel vor. Ich zog meine Bluse aus, hängte sie über die Stuhllehne und fuhr mit der Hand in die Innentasche, um zu kontrollieren, ob der Umschlag immer noch da war. Dann nahm ich meine Stiefel, musterte sie sorgfältig und stellte fest, daß das Eisen des rechten Absatzes abgewetzt war. Ich nahm mir vor, es gleich am nächsten Tage erneuern zu lassen. Ich strich mit der Hand über den Schaft. Das Leder war glatt und geschmeidig. Ich hatte es nie jemand anderem überlassen, sie zu putzen. Ich holte meinen Putzbeutel aus der Schublade des Tisches, trug etwas Creme auf, verrieb sie sorgfältig und fing dann an zu polieren. Ich polierte lange und leicht, die Stiefel fingen an zu glänzen, meine Hand ging her und hin in einer langsamen mechanischen Bewegung, und so verflossen einige Minuten. Eine heiße Welle der Befriedigung durchflutete mich.

Am übernächsten Tag -einem Donnerstag -kam Obersturmbannführer Wulfslang im Auto an, ich übergab ihm meinen Bericht, er lehnte meine Einladung zum Frühstück ziemlich schroff ab und fuhr sofort wieder weg. Zu Beginn des Nachmittags wollte Setzler mich sprechen. Ich gab der Ordonnanz Befehl, ihn hereinzuführen. Er trat ein, schlug die Hacken zusammen und grüßte. Ich erwiderte seinen Gruß untadelig und bat ihn, Platz zu nehmen. Er setzte seine Mütze ab, legte sie auf einen Stuhl neben sich und strich sich mit seiner langen, mageren Hand über den kahlen Schädel. Er sah bekümmert und müde aus. "Sturmbannführer, es ist wegen der Versuchsstation. Es sind da einige Punkte, die mich quälen. Einer besonders."
"Ja?"

"Darf ich Ihnen einen zusammenhängenden Bericht über den Betrieb geben?"
"Gewiß."
Er strich sich wieder mit seiner langen Hand über den Schädel. "Was die psychologische Vorbereitung betrifft, so ist nur wenig darüber zu sagen. Doch da man ihnen heißen Kaffee nach der Dusche verspricht, habe ich es auf mich genommen, eine alte Feldküche herbeischaffen zu lassen. .."
Er lächelte ein wenig. "
...um die Ausstattung zu vervollständigen, sozusagen."
Ich nickte, und er fuhr fort: "Was die Vergasung angeht, erlaube ich mir, Ihnen mitzuteilen, daß sie manchmal mehr als zehn Minuten beansprucht. Aus zwei Gründen: wegen der Luftfeuchtigkeit und der Feuchtigkeit der Halle."
"Feuchtigkeit der Halle?"
"Ich habe dem Sonderkommando Befehl gegeben, nach der Vergasung die Leichen mit Wasser abzusprengen. Sie sind mit Kot bedeckt. Wohlverstanden, das Wasser wird dann nach außen gespült, aber etwas bleibt immer zurück."
Ich nahm ein Stück Papier, schraubte meinen Füllhalter auf und sagte: "
Was schlagen Sie vor?"
"Den Zementboden abschüssig zu machen und Abflußrinnen anzubringen."
Ich überlegte einen Augenblick und sagte dann: "Ja, aber das genügt nicht. Man muß eine Heizung vorsehen und dazu einen kräftigen Ventilator. Der Ventilator wird gleichzeitig dazu dienen, das Gas zu vertreiben. Wie lange lüften Sie die Halle nach der Vergasung?"
"Gerade darüber, Sturmbannführer, wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie haben zehn Minuten Lüftung vorgesehen. Aber das ist etwas knapp. Die Männer des Sonderkommandos, die die Halle betreten, um die Leichen herauszuholen, klagen über Kopfschmerzen und Übelkeit, und dadurch verringert sich die Leistung."
"Geben Sie ihnen vorläufig die nötige Zeit. Die Ventilatoren werden uns erlauben, sie abzukürzen."
Setzler hustete. "Noch ein anderer Punkt, Sturmbannführer. Die Kristalle werden direkt auf den Boden der Halle geworfen, und wenn die Patienten hinstürzen, fallen sie darauf, und da sie sehr zahlreich sind, hindern sie einen Teil des Gases daran, sich zu entwickeln."
Ich stand auf, ließ die Asche meiner Zigarette in den Aschenbecher fallen und sah zum Fenster hinaus. "Was schlagen Sie vor?"
"Im Augenblick nichts, Sturmbannführer."
Ich nahm es zur Kenntnis, ohne mich wieder zu setzen, dann winkte ich Setzler fortzufahren.

"Die Leute vom Sonderkommando finden es auch beschwerlich, die Leichen herauszuschaffen. Die sind infolge der Besprengung feucht, und die Männer können sie schlecht fassen."
Ich nahm es zur Kenntnis und sah Setzler an. Ich hatte den Eindruck, daß er mir noch etwas Wichtigeres zu berichten hatte und daß er diese Mitteilung hinausschob. Ich sagte ungeduldig: "Weiter!"
Setzler hustete und wandte seine Augen weg. "
Noch eine kleine Einzelheit. ..Sturmbannführer. Auf die Anzeige eines Kameraden hin habe ich einen Mann des Sonderkommandos durchsuchen lassen. Man hat bei ihm etwa zwanzig Trauringe gefunden, die er den Leichen abgestreift hatte."
"Was wollte er denn damit machen?"
"Er hat gesagt, er könnte diese Arbeit nicht ohne Alkohol verrichten. Er wollte die Ringe gegen Schnaps eintauschen."
"Bei wem?"
"Bei SS-Männern. Ich habe die SS-Männer durchsuchen lassen, habe aber nichts gefunden. Was den Juden angeht, so ist er selbstverständlich erschossen worden."
Ich dachte darüber nach und sagte: "Künftig lassen Sie alle Trauringe nach der Vergasung einsammeln. Es versteht sich von selbst, daß die Wertsachen der Patienten Eigentum des Reiches sind."
Es entstand ein Schweigen, und ich sah Setzler an. Sein kahler Schädel wurde langsam rot, und er blickte weg. Ich begann hin und her zu gehen und sagte: "Ist das alles?"
"Nein“ Sturmbannführer", sagte Setzler. Er hustete. Ich setzte meinen Spaziergang fort, ohne ihn anzusehen. Ein paar Sekunden verstrichen, sein Stuhl knarrte, er hustete von neuern, und ich sagte: "Nun?"
Und plötzlich packte mich eine Unruhe. Ich hatte Setzler nie scharf angefaßt. vor mir konnte er also keine Angst haben. Ich sah ihn von der Seite an. Er streckte den Hals vor und sagte in einem Atemzug: "Was die Gesamtleistung angeht, Sturmbannführer, bedaure ich sagen zu müssen, daß sie nicht höher ist als die von Treblinka."
Ich blieb jäh stehen und starrte ihn an. Er strich sich mit seiner langen mageren Hand über den Schädel und fuhr fort: "
Wohlgemerkt, wir haben große Fortschritte gegenüber Treblinka gemacht. Wir haben praktisch die Revolten ausgeschlossen, die Vergasung ist sicher und schnell, und mit unsern beiden kleinen Hallen können wir von jetzt an in vierundzwanzig Stunden fünftausend Einheiten vergasen."
Ich sagte barsch: "Na also?"
"Aber wir können nicht mehr als fünfhundert begraben."
"
Tatsächlich", fuhr er fort, "Töten ist weiter nichts. Begraben braucht Zeit."

Ich spürte, daß meine Hände zitterten. Ich verbarg sie hinter dem Rücken und sagte: "Verdoppeln Sie das Sonderkommando!"
"Entschuldigen Sie, Sturmbannführer, das würde nichts nützen. Man kann gleichzeitig nicht mehr als zwei oder drei Leichen durch die Türen hinausbringen. Und die Zahl der Männer, die in den Gräben sind, um die Leichen in Empfang zu nehmen, kann man auch nicht überschreiten. Sonst behindern sie sich gegenseitig. "Warum haben Sie Leute in den Gräben?"
"Man muß die Körper sehr sorgfältig schichten, um Platz zu gewinnen. Wie Untersturmführer Pick sagt: Sie müssen wie Ölsardinen in der Büchse liegen."
"Graben Sie die Gräben tiefer!"
"Ich habe es versucht, Sturmbannführer, aber das Graben nimmt dann noch viel mehr Zeit in Anspruch, und der Platzgewinn steht in keinem Verhältnis zu der aufgewandten Zeit. Meiner Meinung nach ist die beste Tiefe drei Meter."
Setzler wandte den Kopf etwas zur Seite und fuhr fort: "Noch ein Punkt. Die Gräben beanspruchen ein ungeheuer weites Gelände."
Ich sagte schroff: "Wir sind nicht in Treblinka, an Gelände fehlt es uns hier nicht."
"Nein, Sturmbannführer, aber ich sehe vor allem etwas anderes voraus. Indem Maße, wie wir neue Gräben ausheben, entfernen wir uns notwendigerweise von den Gaskammern, und der Transport der Leichen wird schließlich ein Problem werden und die Leistung noch mehr verlangsamen."
Ein langes Schweigen folgte. Ich riß mich zusammen und sagte, die Silben sorgfältig betonend: "Haben Sie Vorschläge zu machen?"
"Leider keine, Sturmbannführer."
Ich sagte schnell und ohne ihn anzusehen: "Es ist gut, Setzler, Sie können so weitermachen."
Meine Stimme hatte trotzdem gebebt. Er nahm seine Mütze, stand auf und sagte zögernd: "Natürlich, Sturmbannführer, werde ich weiter darüber nachdenken. Tatsächlich plage ich mich seit drei Tagen mit diesen verteufelten Gräben herum. Wenn ich zu Ihnen davon gesprochen habe, so darum, weil ich keine Lösung sehe."
"Wir werden sie finden, Setzler. Es ist nicht Ihre Schuld."
Ich überwand mich und setzte hinzu: "Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß ich in allem Ihren Eifer zu würdigen weiß."
Er grüßte, ich erwiderte seinen Gruß, und er ging. Ich setzte mich, schaute auf das Blatt, auf dem ich mir Notizen gemacht hatte, nahm den Kopf in beide Hände und versuchte sie zu lesen. Nach einer Weile war mir die Kehle wie zugeschnürt, ich stand auf und stellte mich ans Fenster. Der großartige Plan, den ich dem Reichsführer eingesandt hatte, war hinfällig. Das Problem war noch vorhanden. Ich hatte es nicht gelöst. Ich war an meiner Aufgabe vollständig gescheitert.

Die folgenden zwei Tage waren fürchterlich. Der Sonntag kam heran, Hauptsturmführer Hagemann hatte mich zu einem musikalischen Tee eingeladen, ich mußte mich aus Höflichkeit hinbegeben, die Hälfte der Lageroffiziere war mit ihren Frauen da, aber glücklicherweise brauchte ich nicht viel zu reden. Frau Hagemann setzte sich sofort ans Klavier, und abgesehen von einer kurzen Zwischenpause, in der Erfrischungen gereicht wurden, spielten die Musiker Stück um Stück. Die Zeit verging, ich merkte, daß ich wirklich auf die Musik achtgab und sogar daran Vergnügen fand. Setzler spielte ein Violinsolo. Sein großer gekrümmter Körper beugte sich über den Notenständer, sein Kranz grauen Haars leuchtete unter der Lampe, und ich wußte stets im voraus, welche Stellen ihn besonders bewegten, weil sein kahler Schädel ein paar Sekunden vorher rot anlief. Nach dem Solo brachte Hagemann eine große Karte der russischen Front herbei und legte sie auf den Tisch, man versammelte sich darum und stellte das Radio an. Die Nachrichten waren großartig, die Panzer rückten überall vor, Hagemann steckte unaufhörlich auf der Karte die kleinen Hakenkreuzfähnchen weiter, und als der Heeresbericht zu Ende war, entstand ein andächtiges und freudiges Schweigen. Ich schickte meinen Wagen zurück und legte den Weg mit Elsie zu Fuß zurück. Im Ort brannte kein einziges Licht, die beiden spitzen Türme der Auschwitzer Kirche standen schwarz gegen den Himmel, und ich empfand aufs neue Niedergeschlagenheit ob meines Versagens. Am nächsten Tage rief Berlin an, um mir den Besuch des Obersturmbannführers Wulfslang anzukündigen. Er kam gegen Mittag an, lehnte wiederum die Einladung zum Essen ab und blieb nur einige Minuten. Es war offensichtlich, daß er es darauf anlegte, sich hinter seiner Rolle als Kurier zu verschanzen. Als Wulfslang weg war, verschloß ich die Tür meines Büros, drehte den Schlüssel zweimal herum, setzte mich und öffnete mit zitternder Hand den Brief des Reichsführers. Er war in so vorsichtigen Ausdrücken abgefaßt, daß kein anderer als ich oder Setzler hätten verstehen können, um was es sich handelte. Der Reichsführer billigte mit warmen Worten meinen Gedanken eines weiträumigen Gebäudes, in dem "alle für das besondere Unternehmen nötigen Dienststellen vereinigt sein würden", und beglückwünschte mich zu dem Scharfsinn, den ich bei der Einrichtung "gewisser praktischer Einzelheiten"
entfaltet hätte. Doch teilte er mir mit, daß ich noch nicht großzügig genug gewesen sei und daß man mindestens vier Gebäude dieser Art vorsehen müsse, "da die Spitzenleistung im Jahre 1942 zehntausend Einheiten täglich erreichen soll". Was den Abschnitt V meines Berichts betraf, verwarf er die vorgeschlagene Lösung vollständig und befahl mir, mich unverzüglich zur Versuchszentrale nach Culmhof zu begeben, wo Standartenführer Kellner mir die nötigen Richtlinien geben würde. Ich las den letzten Satz mit freudiger Bewegung. Der Abschnitt V meines Berichts bezog sich auf das Verscharren der Leichen. Es war klar, daß der Reichsführer mit seinem genialen Verstand die Hauptschwierigkeit, mit der ich mich herumschlug, ohne weiteres erfaßt hatte und mich nach Culmhof schickte, um mir eine Lösung zugute kommen zu lassen, die ein anderer seiner Forscher gefunden hatte. Befehlsgemäß verbrannte ich den Brief des Reichsführers, telefonierte dann mit Culmhof und verabredete eine Zusammenkunft für den folgenden Tag. Ich fuhr mit Setzler im Auto hin. Den Chauffeur hatte ich nicht mitnehmen wollen, und Setzler fuhr selbst. Der Morgen war schön, und nach ein paar Minuten beschlossen wir zu halten, um das Verdeck herunterzuschlagen. Es war eine Lust, sich in der schönen Augustsonne das Gesicht vom Fahrtwind peitschen zu lassen. Nach all den Wochen der Qual und Überbürdung war ich glücklich, einmal dem Lager entfliehen zu können und die reine Luft außerhalb zu atmen, während ich schon fast die Gewißheit hatte, endlich am Ende meiner Qualen zu sein. Ich teilte Setzler das Nötigste aus dem Brief des Reichsführers mit, setzte ihm den Zweck unserer Fahrt auseinander, sein Gesicht hellte sich auf, und er fing an, so schnell zu fahren, daß ich ihn beim Durchfahren von Städten zurückhalten mußte. Zum Mittagessen hielten wir in einer ziemlich unbedeutenden Ortschaft, und da gab es einen recht komischen Zwischenfall. Sobald wir aus dem Auto stiegen und die Bauern unsere Uniform sahen, rissen sie vor uns aus und schlossen eiligst ihre Fensterläden. Wir waren doch nur zwei, aber augenscheinlich hatten die Dorfbewohner schon mit SS-Männern ein Hühnchen zu rupfen gehabt. Als wir in der Versuchszentrale ankamen, wurde ich durch den ekelhaften Geruch, der dort herrschte, unangenehm überrascht. Er überfiel uns, bevor wir noch am Wachtturm angekommen waren, er wurde immer schlimmer, je weiter wir ins Lager hineinfuhren, und verließ uns nicht einmal, als sich die Tür der Kommandantur hinter uns geschlossen hatte. Man hätte meinen können, daß er Wände und Möbel sowie unsere Kleider durchtränkt hätte. Es war ein scharfer Fettgeruch, der ihm noch nirgends begegnet war und der nichts mit dem faden, fauligen Geruch eines toten Pferdes oder eines menschlichen Leichenhaufens zu tun hatte. Nach einigen Minuten führte uns ein Hauptscharführer in das Büro des Kommandanten. Das Fenster stand weit offen, und beim Eintreten drehte mir eine Wolke desselben Fettgeruchs fast den Magen um. Ich stand stramm und grüßte. Der Standartenführer saß hinter seinem Schreibtisch. Er erwiderte nachlässig meinen Gruß und deutete auf einen Sessel. Ich stellte mich vor, dann Setzler, und setzte mich. Setzler nahm rechts von mir, etwas zurück, auf einem Stuhl Platz. "Sturmbannführer", sagte Kellner höflich, "ich freue mich, Sie hier zu sehen."
Er drehte den Kopf zum Fenster und saß einen Augenblick unbeweglich da. Er war blond, hatte das Profil einer Medaille und trug ein Monokel. Für einen Standartenführer erschien er ungewöhnlich jung. "Ich muß Ihnen", fuhr er fort, das Gesicht immer noch dem Fenster zugewandt, "einige Worte über meine eigene Aufgabe sagen."
Er blickte mich an, nahm ein goldenes Etui von seinem Schreibtisch, öffnete es und hielt es mir hin. Ich nahm eine Zigarette, er knipste sein Feuerzeug an und reichte mir die Flamme. Ich beugte mich vor. Seine Hände waren weiß und gepflegt. "Der Reichsführer", fuhr Kellner in verbindlichem Ton fort, "hat mir den Befehl erteilt, alle Beerdigungsstätten im gesamten Ostraum ausfindig zu machen. Es handelt sich um zivile, wohlverstanden. .."
Er unterbrach sich. "Ich bitte um Verzeihung", sagte er, sich an Setzler wendend, "daß ich Ihnen keine Zigarette angeboten habe."
Er öffnete abermals sein Etui, beugte sich über den Schreibtisch und hielt Setzler das Etui hin. Setzler dankte, und Kellner brannte ihm die Zigarette an. "Ich soll also", fuhr Kellner fort, wobei er wieder zum Fenster hinsah, "alle Beerdigungsstätten des Ostraums ausfindig machen, das heißt nicht nur die aus dem Polenfeldzug. ..", er machte mit der Hand eine kleine Geste, ". ..und was darauf folgte. .., sondern auch diejenigen, die bei dem Vorrücken unserer Truppen in Rußland hinterlassen worden sind. ..Sie verstehen: von Juden, Zivilisten, Partisanen, Sonderaktionen. ..", er machte abermals eine lässige Geste, ". ..und all dergleichen."
Er machte eine Pause, das Gesicht immer noch dem Fenster zugewandte. "Ich soll also die Beerdigungstätten ausfindig machen, sie öffnen. .. und die Leichen verschwinden lassen."
Er blickte mich an und hob leicht die rechte Hand". ..Und zwar sie so vollständig verschwinden lassen -nach dem Ausdruck des Reichsführers -, daß später niemand die Zahl der Menschen, die wir liquidiert haben, feststellen kann. .."
Er lächelte verbindlich. "Es war. ..wie soll ich sagen? ...ein etwas schwieriger Befehl. Zum Glück erhielt ich vom Reichsführer eine Frist. .., um die Frage zu

studieren. Daher. ..", wieder eine leichte Handbewegung". ..die Versuchszentrale."
Er sah zum Fenster hinaus, und von neuem trat sein vollendet schönes Profil hervor. "Sie begreifen, das hat nichts gemein mit Treblinka ...oder den scheußlichen kleinen Lagern dieser Art. ..Wohlgemerkt, ich vergase die Leute auch, aber nur, um die Leichen zu bekommen."
Er machte eine Pause. "Ich bin zu verschiedenen Experimenten übergegangen. Zum Beispiel habe ich Sprengstoffe versucht."
Er sah zum Fenster hinaus und runzelte leicht die Stirn. "Du lieber Himmel!"
sagte er halblaut. "Was für ein Geruch!"
Er stand auf, tat ein paar rasche Schritte zum Fenster hin und schloß es. "Entschuldigen Sie bitte", sagte er in verbindlichem Ton. Er setzte sich wieder. Der Geruch war immer noch da, scharffettig, ekelerregend. Er begann wieder: "Die Sprengstoffe, Sturmbannführer, waren eine Enttäuschung. Die Körper waren zerfetzt, und das war alles. Und wie sollte man die Überreste verschwinden lassen ? Es war nicht das vollständige Verschwinden, das der Reichsführer verlangte."
Er hob leicht die rechte Hand. "Kurz, die einzige Lösung war, die Leichen zu verbrennen."
Öfen! Wie hatte ich nur nicht an Öfen denken können? Ich sagte ganz laut: "In Öfen, Standartenführer?"
"Sehr richtig. Aber merken Sie sich, Sturmbannführer, diese Methode ist nicht überall angebracht. Wenn ich eine Beerdigungstätte fünfzig Kilometer von hier in einem Wald entdecke, kann ich meine Öfen selbstverständlich nicht dorthin transportieren. Man mußte also etwas anderes finden. .."
Er stand auf und lächelte mich verbindlich an. "Ich habe es gefunden."
Er steckte sein goldenes Etui in die Tasche, nahm seine Mütze und sagte: "Bitte."
Ich erhob mich und Setzler gleichfalls. Kellner öffnete die Tür, ließ uns vorangehen und schloß sie. Dann sagte er noch einmal: "Bitte!", ging voraus und bedeutete einem Hauptscharführer, uns zu folgen. Als wir draußen waren, rümpfte Kellner die Nase, schnüffelte leicht und warf mir einen Blick zu. "Offenbar ist das hier kein Luftkurort", sagte er leicht lächelnd. Erzuckte die Achseln und setzte auf französisch hinzu: "Que voulez vous?"

Ich ging rechts neben ihm. Die Sonne schien ihm voll ins Gesicht. Es war von einem Netz von Fältchen überzogen, Kellner war mindestens fünfzig Jahre alt. Er blieb vor einer Garage stehen und ließ sie durch den Hauptscharführer öffnen. "Der Vergaser-Lastwagen", sagte er und legte seine Linke auf den hinteren Kotflügel. "Sie sehen", fuhr er fort, "das Auspuffgas wird von dem Rohr aufgefangen und ins Innere geführt. Nehmen wir jetzt an, die Gestapo verhaftet etwa dreißig Partisanen und stellt sie mir liebenswürdigerweise zur Verfügung, so holt sie der Lastwagen, und wenn er hier ankommt, sind sie tot."
Er lächelte. "Sie verstehen, man schlägt sozusagen zwei Fliegen mit einem Schlag. Der Sprit dient zum Transport und zur Vergasung. Das heißt. .."
er machte eine kleine Geste mit der Hand, ". ..Sparsamkeit."
Er winkte, der Hauptscharführer schloß die Garage zu, und wir gingen weiter . "Merken Sie sich aber", begann er wieder, "es ist ein Verfahren, das ich niemandem empfehle. Es ist nicht sicher. Im Anfang öffnet man die Türen des Wagens, man glaubte Leichen vorzufinden, aber die Leute waren nur ohnmächtig, und als man sie in die Flammen warf, stießen sie Schreie aus."
Setzler machte eine Bewegung, und ich sagte: "Standartenführer, an der Färbung der Haut erkennt man, ob es vorbei ist. Sie sehen dann blaß aus und haben einen rosigen Anflug auf den Backenknochen."
"Die Vergasung", erwiderte Kellner mit einem kaum wahrnehmbaren verächtlichen Gesichtsausdruck, "interessiert mich nicht. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, vergase ich die Leute nur, um die Leichen zu bekommen. Allein die Leichen interessieren mich."
Ein langes Gebäude aus Stein tauchte auf, mit einem hohen Fabrikschornstein aus roten Ziegeln daneben. "Das ist es", sagte Kellner. An der Tür trat er höflich zur Seite. Das Gebäude war leer. "Die Öfen sind gekoppelt", fuhr er fort. Er betätigte selbst die schwere Metalltür des einen Ofens und zeigte uns das Innere. "Er faßt drei Leichen, und die Heizung erfolgt mit Koks. Mächtige Ventilatoren bringen in kurzer Zeit das Feuer auf die gewünschte Temperatur."
Er schloß die Tür wieder, und ich sagte: "Bitte, Standartenführer, wieviel Öfen würde man brauchen, um in vierundzwanzig Stunden zweitausend Einheiten zu verbrennen?"
Er fing an zu lachen. "Zweitausend! Mein lieber Mann, Sie sind aber großzügig."

Er zog sein Notizbuch und einen goldenen Drehbleistift aus der Tasche und warf rasch einige Ziffern aufs Papier . "Acht gekoppelte Öfen."
Ich warf Setzler einen Blick zu. Kellner fuhr fort: "Ich habe nur zwei gekoppelte Öfen."
Er zog seine rechte Braue hoch, sein Monokel fiel herab, er fing es in der hohlen Hand auf wie ein Taschenspieler und fügte hinzu: "Aber ich betrachte sie nur als Behelfsmittel."
"Bitte!"
sagte er. Er setzte sein Monokel wieder ein und ging uns voraus. Ich ließ Setzler vor mir her gehen und gab ihm einen kleinen Klaps auf die Schulter. Der Wagen des Standartenführers erwartete uns vor dem Tor. Setzler stieg zu dem Chauffeur, und ich setzte mich links neben Kellner auf den Rücksitz. Der scharfe Fettgeruch wurde stärker. Das Auto fuhr auf ein Gehölz zu, aus dem Wolken schwarzen Rauches aufstiegen. Kellner ließ den Wagen halten. Eine freundliche Lichtung tat sich vor uns auf. Im Hintergrund stieg vom Boden in etwa fünfzig Meter Breite dichter Rauch auf. In dem Rauch bewegten sich verschwommene Silhouetten von SS-Männern und Häftlingen. Zuweilen züngelten Flammen aus dem Boden, und die Silhouetten erschienen rot. Der Geruch war unerträglich. Wir kamen näher. Der Rauch und die Flammen kamen aus einem breiten Graben, in dem nackte Leichen beiderlei Geschlechts aufgeschichtet waren. Unter der Einwirkung der Flammen krümmten sich die Leichen und streckten sich wieder mit jähen Bewegungen, als ob sie lebendig wären. Ein Knistern von Gebratenem prasselte fortwährend mit unerhörter Stärke. Die hohen schwarzen Flammen ließen für Augenblicke ein helles, lebhaftes, unwirkliches rotes Licht auf flackern, das wie bengalisches Feuer aussah. In regelmäßigen Abständen hoben sich Klumpen nackter Leichen über den Rand des Grabens, und die Häftlinge des Sonderkommandos waren geschäftig um diese Klumpen bemüht. Der Rauch verbarg zum Teil ihre Bewegungen, aber von Zeit zu Zeit wurden von beiden Seiten und in der ganzen Länge des Grabens nackte Körper in die Luft geschleudert, leuchteten plötzlich auf und fielen ins Feuer zurück. In zehn Meter Entfernung von mir sah ich, wie ein Kapo den Kopf drehte und den Mund weit aufmachte, er schien einen Befehl zu brüllen, aber ich verstand nichts, das Knistern übertönte alles. Kellners Gesicht war vom Flammenschein rot beleuchtet. Er hielt sein Taschentuch vor die Nase.

"Kommen Sie!"
brüllte er, den Mund fast an meinem Ohr. ich folgte ihm. Er führte mich an das äußerste Ende des Grabens. Ungefähr drei Meter unter mir brodelte in einem Behälter, der zwischen den Grabenwänden eingebaut war, eine dicke Flüssigkeit. Seine Oberfläche warf ständig Blasen, und ein übelriechender Geruch stieg daraus empor. Ein Häftling ließ an einem Strick einen Eimer hinunter, schöpfte aus der Flüssigkeit und zog den Eimer wieder hoch. "Fett!"
schrie mir Kellner ins Ohr. Von da aus, wo wir standen, konnte ich mit einem Blick den Graben in seiner ganzen Ausdehnung übersehen. Die Häftlinge um uns herum bewegten sich wie Wahnsinnige. Ein Taschentuch, das unterhalb der Augen zusammengeknotet war, bedeckte Nase und Mund, so daß sie überhaupt kein Gesicht zu haben schienen. Etwas weiter hinten verschwanden sie in dicken Rauchschwaden, und die nackten Körper, die sie in den Graben warfen, schienen aus dem Nichts zu kommen. Sie flogen unaufhörlich von rechts und links heran, schlugen in der Luft Purzelbäume wie Hampelmänner, starkes Licht beleuchtete sie kurz von unten her, sie fielen nieder und verschwanden wie von den Flammen verschluckt. Ein Häftling näherte sich mit einem Eimer, die Leine lief ab, und der Eimer tauchte von neuem in die Flüssigkeit. Das Knistern war betäubend. "Kommen Sie!"
schrie mir Kellner ins Ohr. Wir gingen wieder zum Auto. Setzler erwartete uns, er lehnte an der Wagentür. Als er mich sah, verbesserte er seine Haltung. "Entschuldigen Sie", sagte er, "ich habe Sie in dem Rauch verloren."
Wir nahmen im Wagen Platz. Kein Wort wurde gewechselt. Kellner saß unbeweglich da. Er hielt sich kerzengerade, und sein scharfes Profil zeichnete sich gegen die Glasscheibe des Autos ab. "Sehen Sie", sagte er, als er sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzte, "das Verfahren ist einfach. ..aber es war viel Herumprobieren nötig, um es hinzukriegen. ..Erstens muß der Graben. ..wie soll ich sagen. ..optimale Ausmaße haben."
Er zog seine rechte Braue hoch, sein Monokel fiel herab, er fing es wieder im Fluge und begann, es zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her pendeln zu lassen. "Ich fand heraus, daß ein guter Graben fünfzig Meter lang, sechs Meter breit und drei Meter tief sein muß."
Er hob die Hand, die das Monokel hielt. "Der zweite Punkt, der mir viel Mühe gemacht hat, ist die Anordnung des Holzes und der Leichen. Sie begreifen, man darf sich nicht auf den Zufall verlassen. Ich gehe so vor. Ich lege eine erste Schicht Holz auf den Boden. Auf diese Schicht lege ich etwa hundert Leichen, und das ist der wichtigste Punkt, Sturmbannführer! zwischen die Leichen lege ich wieder Holz. Ich brenne dann mit Petroleumlappen das Ganze an, und wenn das Feuer richtig brennt, aber erst dann, lege ich Holz nach und werfe neue Leichen darauf. ..", er machte eine Bewegung mit der Hand, "und so weiter. .."
Er hob sein Monokel. "Der dritte Punkt ist das Fett."
Er sah mich an. "Sie müssen wissen", fuhr er fort, "daß am Anfang die Verbrennung durch die ungeheure Menge Fett behindert wurde, die sich von den Leichen absonderte. Ich suchte eine Lösung. ..", er lächelte verbindlich, ,'. ..und ich fand sie. Ich mache den Graben abschüssig, lege Abflußrinnen an und sammle das Fett in einem Behälter."
Ich sagte: "Standartenführer, die Häftlinge, die das Fett mit Eimern schöpften..."
"Ganz richtig."
Er legte beide Hände flach auf den Tisch und sah mich pfiffig an. "Sie besprengen damit die Leichen. Das ist der ganze Trick. Ich besprenge die Leichen mit einem Teil des Fetts, das sie abgeben. .. Warum?"
Er hob die rechte Hand. "Viel Fett behindert die Verbrennung, aber ein wenig Fett regt sie an. Bei Regenwetter zum Beispiel ist das Besprengen wertvoll."
Er öffnete sein goldenes Etui, hielt es mir hin, hielt es Setzler hin und gab uns Feuer. Dann nahm er selbst eine Zigarette, löschte sein Feuerzeug, knipste es wieder an und hielt seine Zigarette in die Flamme. Ich sagte: "Standartenführer, wie hoch ist die Leistung eines derartigen Grabens in vierundzwanzig Stunden?"
Er lachte. "In vierundzwanzig Stunden? Aber Sie sind wirklich großzügig."
Er warf mir von der Seite einen Blick zu, sein Gesicht wurde wieder ernst, und er fuhr fort: "Sie verstehen, die Leistung innerhalb von vierundzwanzig Stunden ist keine Frage für mich. Ich habe niemals solche Mengen zu bewältigen. Doch ich kann Ihnen meine Stundenleistung sagen. Sie beläuft sich auf dreihundert bis vierhundert Einheiten; dreihundertvierzig bei trockenem Wetter und dreihundert bei Regenwetter. "
Ich rechnete und sagte: "Achttausend Leichen in vierundzwanzig Stunden."
"
Vermutlich."
"Natürlich", sagte ich nach einer Weile, "kann derselbe Graben unbegrenzt lange dienen?"
"Natürlich."
Es entstand ein Schweigen, und ich sah Setzler an. Die Zeit der tastenden Versuche und der Angst war abgeschlossen. Ich konnte mit Vertrauen in die Zukunft blicken. Ich war von nun an sicher, die im Plan vorgesehene Leistung zu erreichen und sogar zu übertreffen. Was mich betraf, so konnte ich mich beinahe mit Öfen begnügen. Indem ich insgesamt für die vier großen Anlagen, die ich bauen sollte, zweiunddreißig vorsah, konnte ich zu einer Gesamtleistung von achttausend Leichen in vierundzwanzig Stunden gelangen, eine Zahl, die nur um zweitausend Einheiten niedriger lag als die Spitzenleistung, die der Reichsführer vorsah. Folglich würde ein einziger Behelfsgraben genügen, um gegebenenfalls die übrigen zweitausend Einheiten zu verbrennen. Um die Wahrheit zu sagen, ich liebte die Gräben nicht sehr. Das Verfahren erschien mir zu plump, primitiv und eines großen Industrievolkes unwürdig. Ich war mir bewußt, indem ich mich für die Öfen entschied, eine modernere Lösung zu wählen. Die Öfen hatten obendrein den Vorteil, besser die Geheimhaltung zu wahren, da die Verbrennung nicht im Freien, wie in den Gräben, sondern gegen Sicht geschützt vollzogen wurde. Außerdem war es mir von Anfang an wünschenswert erschienen, alle für die Sonderaktion notwendigen Dienststellen in demselben Gebäude zusammenzufassen. Ich legte auf diesen Gedanken viel Wert und hatte aus der Antwort des Reichsführers ersehen können, daß er ihn gleichfalls gereizt hatte. Es lag in der Tat etwas den Geist Befriedigendes in dem Gedanken, daß von dem Augenblick an, in dem sich die Türen des Auskleideraums hinter einer Sendung von zweitausend Juden schließen würden, bis zu dem Augenblick, da die Juden zu Asche zerfallen würden, der ganze Vorgang ohne Anstoß an demselben Ort abrollen würde. Als ich diesen Gedanken weiter durchdachte, kam ich darauf, daß man wie in einer Fabrik ein laufendes Band herstellen müßte, das die zu behandelnden Personen in einem Minimum von Zeit aus dem Auskleideraum in die Gaskammer und aus der Gaskammer in die Öfen führte. Da die Gaskammer unterirdisch war und die Ofenkammer im oberen Stockwerk sein mußte, folgerte ich, daß der Transport der Leichen von der einen zur andern nur mit mechanischen Hilfsmitteln möglich war. Man konnte sich in der Tat schlecht vorstellen, daß die Männer des Sonderkommandos mehrere hundert Leichen über eine Treppe oder selbst über eine schiefe Ebene schleppten. Der Zeitverlust würde ungeheuer sein. Ich arbeitete also meinen anfänglichen Plan noch einmal durch und entschloß mich, darin den notwendigen Raum für vier mächtige Aufzüge auszusparen, jeden mit einem Fassungsvermögen von etwa fünfundzwanzig Leichen. Ich berechnete, daß man auf diese Weise nur zwanzig Fahrten machen müßte, um die zweitausend Leichen aus der Gaskammer herauszuschaffen. Diese Einrichtung mußte im oberen Stockwerk durch Karren ergänzt werden, welche die Leichen an den Ausgängen der Aufzüge übernehmen und in die Öfen bringen würden. Als ich meinen Plan in dieser Weise abgeändert hatte, verfaßte ich für den Reichsführer einen neuen Bericht. Obersturmbannführer Wulfslang diente noch einmal als Vermittler, und achtundvierzig Stunden später brachte er mir Himmlers Antwort. Mein Plan war ohne Änderungen angenommen, erhebliche Geldmittel waren mir eröffnet, und ich konnte mich als bevorrechtigt für den Bezug aller Baustoffe betrachten. Das Schreiben des Reichsführers fügte hinzu, daß zwei der vier Anlagen spätestens am 15. Juli 1942 betriebsfähig sein müßten, die beiden anderen am 31. Dezember desselben Jahres. Ich hatte also etwas weniger als ein Jahr, um den ersten Bauabschnitt durchzuführen. Ich begann unverzüglich mit den Bauarbeiten. Gleichzeitig waren die beiden provisorischen Anlagen von Birkenau unter Setzlers Leitung in Betrieb, und ich überließ ihm auch die Sorge, die alten Gräben wieder zu öffnen und die Darinliegenden zu verbrennen. Der ekelerregende Geruch, den wir in Culmhof eingeatmet hatten, verbreitete sich sogleich über das ganze Lager, und ich bemerkte, daß er sogar wahr-nehmbar war, wenn der Wind von Westen wehte. Kam der Wind aus Osten, verbreitete er sich noch weiter, bis zum Ort Auschwitz und darüber hinaus bis Bobitz. Ich ließ das Gerücht verbreiten, in unserm Bezirk wäre eine Gerberei errichtet worden, und von ihr kämen diese Ausdünstungen her. Aber ich brauchte mich keiner Täuschung über die Wirksamkeit dieser Legende hinzugeben. Der Geruch in Verwesung übergehender Häute hatte wirklich nichts gemein mit dem Gestank brenzligen Fettes, verbrannten Fleisches und versengter Haare, der aus den Gräben aufstieg. Ich dachte mit Besorgnis daran, daß es noch schlimmer sein würde, wenn die Hochöfen meiner vier riesigen Krematorien alle vierundzwanzig Stunden lang ihren pestilenzialischen Qualm über die Gegend ausspeien würden. Doch ich hatte keine Zeit über solchen Erwägungen zu verlieren. Ich war ständig auf den Baustellen, und Elsie fing wieder an, sich zu beklagen, daß sie mich nicht mehr zu Hause sähe. In der Tat, ich ging früh um sieben weg und kam erst um zehn oder elf Uhr abends nach Hause, um mich dann in meinem Arbeitszimmer sofort aufs Feldbett zu werfen und einzuschlafen. Diese Anstrengungen trugen Früchte. Weihnachten '41 kam heran, und zwei Gebäude des großen Werkes waren schon genügend vorgeschritten, um mich hoffen zu lassen, sie rechtzeitig vollenden zu können. Doch ich ließ in meinen Anstrengungen nicht nach, und mitten in all den Sorgen, die mir die ständige Erweiterung der beiden Lager, die beinahe tägliche Ankunft neuer Transporte und die Disziplin der Allgemeinen SS machten (die mich mit immer mehr Bedauern an meine prächtigen Totenkopfkerle von einst denken ließ), fand ich doch jeden TagZeit, mehrmals auf den Baustellen zu erscheinen. Anfang Dezember wünschte mich einer meiner Lagerführer aus Birkenau, Hauptsturmführer Hagemann, zu sprechen. Ich ließ ihn sofort eintreten. Er grüßte, und ich ließ ihn Platz nehmen. Sein rotes Vollmondgesicht drückte Verlegenheit aus. "Sturmbannführer", sagte er mit keuchender Stimme, "ich habe. .. Ihnen. ..etwas zu sagen. ..Setzler betreffend. .."
Ich wiederholte: "Setzler?"
Ich hatte Überraschung gezeigt, und Hagemann sah gleich noch gedrückter aus. "Ganz richtig, Sturmbannführer. ..Da ich weiß. ..daß Obersturmführer Setzler nicht mir untersteht. ..sondern direkt Ihnen. .. wäre es. ..vielleicht in der Tat. ..richtiger. .."
Er machte Miene, aufzustehen. "Ist es eine dienstliche Angelegenheit?"
"Gewiß, Sturmbannführer."
"In diesem Falle brauchen Sie keine Bedenken zu haben."
'.Gewiß, Sturmbannführer, das habe ich mir schließlich auch gesagt. Andererseits ist es ziemlich heikel. ..Setzler"
( er schnaufte stärker) "ist mein persönlicher Freund. ..Ich schätze ihn wegen seiner künstlerischen Qualitäten. .."
Ich sagte schroff: "Das spielt hier keine Rolle. Wenn Setzler einen Fehler begangen hat, ist es Ihre Pflicht, es mich wissen zu lassen."
"Das habe ich mir auch gesagt, Sturmbannführer", sagte Hagemann. Er sah etwas erleichtert aus. "Natürlich", fuhr er fort, "tadele ich Setzler nicht persönlich. ..Er hat einen sehr schweren Dienst, und ich kann mir vorstellen, daß er Aufheiterung braucht. ..Aber trotzdem ist es ein Fehler. ..Gegenüber den Männern ist es bestimmt. ..wie soll ich sagen. ..ein ernster Mangel an Würde. .. Wohlverstanden, von seiten eines einfachen Scharführers wäre es nicht so von Bedeutung. ..aber bei einem Offizier. .."
Er hob beide Hände, sein Vollmondgesicht nahm einen gewichtigen und beleidigten Ausdruck an, und er sagte fließend: "Darum habe ich gedacht, daß es richtig wäre, endlich. .."
"Nun?"
sagte ich ungeduldig. Hagemann steckte seine dicken Würstchenfinger zwischen Hals und Kragen und schaute nach dem Fenster hin. "Ich habe sagen hören. ..Natürlich, Sturmbannführer, habe ich mir nicht erlaubt. ..mich ohne Ihre Erlaubnis auf eine Untersuchung einzulassen. ..Setzler untersteht mir nicht. ..Indessen, Sie werden verstehen, ich habe keinerlei Zweifel. ..meinerseits. ..Kurz", keuchte er, "folgendes sind die Tatsachen. Wenn ein Transport sich vor der provisorischen Anlage auskleidet. ..läßt Setzler. ..natürlich ist er aus dienstlichen Gründen da. ..dagegen ist nichts zu sagen. .. kurz, er läßt ...ein jüdisches junges Mädchen beiseite treten. ..im allgemeinen die hübscheste. ..und wenn der ganze Transport drin ist. ..nimmt er das junge Mädchen mit. ..das Mädchen ist nackt, bedenken Sie. ..was die Sache noch weniger korrekt macht. ..er nimmt sie in einen Nebenraum mit. ..und da. .."
Er steckte von neuem seinen Finger in den Kragen. ". ..da bindet er. ..ihre Handgelenke an zwei Stricke, die er an der Decke hat anbringen lassen. ..Ich habe die Stricke gesehen, Sturmbannführer. ..Kurz, das Mädchen ist nackt, es hängt mit den Handgelenken an Stricken. ..und Setzler schießt mit der Pistole auf das Mädchen. ..Wohlgemerkt, alle SS-Männer wissen Bescheid darüber.. ."
Er keuchte und sah beleidigt und ganz unglücklich aus. ". ..sie hören die Schreie des Mädchens und die Schüsse. ..Und Setzler nimmt sich Zeit, sozusagen. .."
Hagemann keuchte. "Notfalls, Sie verstehen, bei einem Scharführer. .."
Ich drückte auf einen der Knöpfe meines Tischapparates, nahm den Hörer ab und sagte: "Sind Sie es, Setzler? Ich habe mit Ihnen zu sprechen."
Hagemann sprang auf, auf seinem Vollmondgesicht malte sich Bestürzung. "Sturmbannführer, soll ich wirklich. ..in seiner Gegenwart ..."
Ich sagte freundlich: "Sie können sich zurückziehen, Hagemann."
Er grüßte hastig und ging hinaus. Eine Minute verstrich, und es klopfte. Ich rief: "Herein!"
Setzler erschien, schloß die Tür und grüßte. Ich sah ihn fest an, und sein kahler Schädel fing an, rot zu werden. Ich sagte schroff: "Hören Sie zu, Setzler, ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, und ich verlange von Ihnen keine Erklärungen. Aber wenn Sie bei der provisorischen Anlage im Dienst sind, ersuche ich Sie, außer im Fall einer Revolte, von Ihrer Pistole keinen Gebrauch zu machen."
Er verfärbte sich. "Sturmbannführer. .."
"Ich verlange von Ihnen keine Erklärungen, Setzler. Ich sehe einfach die fragliche Praxis als unvereinbar mit Ihrer Würde als Offizier an und befehle Ihnen, damit Schluß zu machen, das ist alles."
Setzler strich sich mit seiner langen mageren Hand über den Schädel und sagte mit leiser, tonloser Stimme: "Ich tue das, um die Schreie der andern nicht zu hören."
Er streckte den Kopf vor und setzte beschämt hinzu: "Ich kann nicht mehr."
Ich stand auf. Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Setzler fuhr fort: "Es ist vor allem dieser abscheuliche Geruch von verbranntem Fleisch. Ich habe ihn ständig um mich. Sogar nachts. Wenn ich

aufwache, scheint mir, mein Kopfkissen sei verpestet. Selbstverständlich ist das nur eine Täuschung. .."
Er hob wieder den Kopf und sagte, plötzlich aufbrausend: "Und die Schreie! Sobald man die Kristalle hineinwirft. ..Und die Schläge gegen die Wände! ...Ich konnte es nicht ertragen. Ich mußte irgend etwas tun."
Ich sah Setzler an. Ich verstand ihn nicht. Meiner Meinung nach war sein Verhalten nur ein Gewebe von Widersprüchen. Ich sagte nachsichtig: "Hören Sie zu, Setzler, wenn Sie bloß Scharführer wären. ..Aber so begreifen Sie doch, Sie sind Offizier, das ist unmöglich, sicherlich sprechen die Männer unter sich darüber. .."
Ich wandte den Kopf ab und setzte verlegen hinzu: ". ..Und wenn das Mädchen noch bekleidet gewesen wäre. .."
Seine Stimme stieg plötzlich wieder an: "Aber Sie verstehen mich nicht, Sturmbannführer. ..Ich kann einfach nicht dort bleiben und sie heulen hören. .."
Ich sagte schroff: "Da ist nichts zu verstehen. Sie dürfen das nicht tun."
Setzler verbesserte seine Haltung, richtete sich auf und sagte mit fester Stimme: "Ist das ein Befehl, Sturmbannführer?"
"Jawohl."
Ein Schweigen entstand. Setzler stand unbeweglich stramm mit starrem Gesicht. "Sturmbannführer", sagte er mit neutraler, offizieller Stimme, "ich möchte Sie bitten, dem Reichsführer mein Gesuch um Versetzung zu einer Fronteinheit zu übermitteln."
Ich war verblüfft. Ich blickte rasch weg und setzte mich. Ich nahm meinen Füllhalter und malte einige Kreuze auf meinen Notizblock. Nach einer Weile hob ich den Kopf und sah Setzler an. "Besteht eine Beziehung zwischen dem Befehl, den ich Ihnen eben erteilt habe, und dem Gesuch um Versetzung, das Sie mir zu überreichen gedenken?"
Sein Blick glitt über mich hinweg, blieb auf der Schreibtischlampe haften, und leise sagte er: "Jawohl."
Ich legte meinen Füller hin. "Selbstverständlich halte ich meinen Befehl aufrecht."
Ich sah ihn fest an. "Was Ihr Gesuch um Versetzung angeht, so ist es meine Pflicht, es weiterzugeben, aber ich verhehle Ihnen nicht, daß ich es mit einer gegenteiligen Stellungnahme weitergeben werde."
Setzler machte eine Bewegung, aber ich hob die Hand. "Setzler, Sie haben von Anfang an bei dieser ganzen Sache mit mir zusammengearbeitet. Sie allein haben außer mir die notwendige

Fähigkeit, die provisorische Anlage zu leiten. Wenn Sie weggingen, müßte ich persönlich einen anderen Offizier anlernen und unterweisen."
Ich fuhr lauter fort: "Ich habe dazu keine Zeit. Ich muß mich bis Juli ganz den Baustellen widmen."
Ich stand auf. "Bis dahin sind Sie mir unentbehrlich."
Es entstand ein Schweigen, dann setzte ich hinzu: "Zu diesem Zeitpunkt, wenn der Krieg noch andauert -was ich übrigens für unwahrscheinlich halte -, können Sie ein Gesuch einreichen. Ich werde es unterstützen."
Ich schwieg. Setzler stand unbeweglich da, sein Gesicht war starr und eisig. Nach einer Weile sagte ich: "Das wäre alles."
Er grüßte steif, machte vorschriftsmäßig kehrt und ging. Ein paar Minuten später erschien Hagemann mit seinem roten Mondgesicht, ganz außer Atem. Er legte mir einige Schriftstücke zur Unterzeichnung vor. Die Schriftstücke waren nicht dringend. Ich nahm meinen Füllhalter und sagte: "Er hat nicht geleugnet."
Hagemann sah mich an, und sein Gesicht heiterte sich auf. "Natürlich. ..er ist ein so offener Mensch. ..so treu. .."
"Aber er hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen."
"Ach! Wirklich?"
sagte er mit erstaunter Miene. "Wirklich? ...Er ist eben ein Künstler, nicht wahr? Vielleicht erklärt das sogar. .."
Er sah mich an und keuchte. "
Wenn ich eine Vermutung äußern darf ...Sturmbannführer. .. bestimmt ist er ein Künstler, das erklärt alles. .."
Er machte ein andächtiges und zugleich beleidigtes Gesicht. "Wenn man bedenkt! ...Ein Offizier, Sturmbannführer! Was für eine unglaubliche Phantasie! Er ist ein Künstler, das ist der Grund. .. Und wohlgemerkt, Sturmbannführer", fuhr er fort, während er seine fetten Hände mit triumphierender Miene erhob, "er hat sich die Sache zu Herzen genommen, wie Sie sehr richtig bemerkten. ..Er ist eben Künstler. .."
Ich schraubte meinen Füllhalter zu. "Hagemann, ich rechne auf Sie, daß sich die Sache nicht herumspricht."
"Selbstverständlich."
Ich stand auf, nahm meine Mütze und ging die Baustellen inspizieren. Obersturmführer Pick kam mir entgegen. Er war ein kleiner braunhaariger, ruhiger und kühler Mann. Ich erwiderte seinen Gruß. "Haben Sie mit dem Sondieren der Häftlinge Fortschritte gemacht?"

"Jawohl, Sturmbannführer. Es ist ganz so, wie Sie glaubten, Sie haben keine Ahnung von der Bestimmung des Werkes."
"Und die SS-Männer?"
"Sie denken, es handele sich um Luftschutzräume. Sie nennen die beiden Anlagen ,Bunker' oder auch, da sie gleichmäßig sind, die 'Zwillingsbunker'."
"Das ist ein sehr guter Gedanke. Wir werden sie künftig so nennen."
Pick fuhr nach einer Weile fort: "Noch eine dumme Kleinigkeit, Sturmbannführer. Auf dem Plan enden die vier großen Aufzüge, welche die Leute aus dem ,Duschraum' heraufbringen, in einem großen Raum -dem künftigen Ofenraum. Und dieser Raum hat offensichtlich keinen Ausgang. Einer der Architekten hat sich darüber gewundert. Wohlgemerkt, er weiß nicht, daß dieser Raum Öfen erhalten soll und daß durch sie. ..", Pick lächelte leicht, ". ..die Leute herauskommen werden."
Ich sagte nach einer Weile zu ihm: "Was haben Sie ihm geantwortet?"
"Daß ich es auch nicht verstehe, aber es wäre Befehl."
Ich nickte, warf Pick einen bedeutsamen Blick zu und sagte: "
Wenn dieser Architekt noch einmal Fragen stellt, dann vergessen Sie nicht, es mir mitzuteilen."
Pick erwiderte meinen Blick, und ich ging zu den Baustellen. Man war dabei, die Abzugskanäle zu betonieren, welche die unterirdischen Gaskammern mit der freien Luft verbanden. Diese Kanäle sollten in den inneren Hof der Anlage münden und hermetisch schließende Hauben erhalten. Ich malte mir aus, wie die Dinge vor sich gehen würden. Nachdem einmal die Häftlinge in die Gaskammer eingeschlossen wären, begäben sich die dazu eingesetzten SS-Männer mit den Giftgasbüchsen auf den Hof, legten ihre Gasmasken an, öffneten die Büchsen, schraubten die Hauben der Kamine ab, schütteten die Kristalle ins Innere und schraubten die Hauben wieder zu. Danach brauchten sie nur noch ihre Masken abzulegen und könnten, wenn sie wollten, eine Zigarette rauchen. "Das Dumme ist", sagte Pick, "daß die Kristalle direkt auf den Boden geworfen werden. Sie erinnern sich gewiß, Sturmbannführer, daß Obersturmführer Setzler sich darüber bei der provisorischen Anlage beklagt hat."
"Ich erinnere mich."
"Die Folge ist, daß die von den Dämpfen Erreichten auf die Kristalle drauf fallen und das Gas sich weniger gut entwickelt."
"Das ist richtig."
Es entstand ein Schweigen. Pick straffte sich und sagte: "Sturmbannführer, darf ich einen Vorschlag machen?"
"Gewiß."
"Man könnte die Kanäle durch Säulen aus durchlöchertem Blech verlängern, die auf dem Boden der Gaskammern aufsitzen. Auf diese Weisewürden die Kristalle, die in die Abzugskanäle geworfen werden, in das Innere der Säulen fallen und die Gasdämpfe durch die Löcher des Blechs austreten. Sie würden nicht mehr durch die darüber lagernden Körper beeinträchtigt werden. Ich sehe bei dieser Anordnung zwei Vorteile. Erstens eine Beschleunigung der Vergasung und zweitens eine Ersparnis an Kristallen."
Ich überlegte und erwiderte: "Ihr Gedanke erscheint mir ausgezeichnet. Sagen Sie Setzler, er solle in einem der beiden Räume der provisorischen Anlage diese Anordnung ausprobieren, während der andere unverändert bleibt. Das wird uns erlauben, durch Vergleich die Ersparnis an Kristallen und den Zeitgewinn ziffernmäßig zu bestimmen."
"Jawohl, Sturmbannführer."
"Selbstverständlich werden wir, wenn die Ersparnis nennenswert ist, Ihre Vorrichtung für die Bunker übernehmen."
Ich sah Pick an. Er war etwas kleiner als ich. Er sprach nur, wenn man das Wort an ihn richtete. Er war ruhig, korrekt, positiv. Vielleicht hatte ich Pick bisher nicht ganz nach seinem Wert eingeschätzt. Nach einer Weile sagte ich: "Was machen Sie zu Weihnachten, Pick?"
"Nichts Besonderes, Sturmbannführer."
"Meine Frau und ich geben eine kleine Abendgesellschaft. Wir würden uns freuen, Sie und Ihre Frau bei uns zu sehen."
Es war das erste Mal, daß ich ihn zu mir einlud. Sein blasses Gesicht rötete sich leicht, und er antwortete: "Gewiß, Sturmbannführer, wir werden sehr gern ..."
Ich sah, daß er nicht wußte, wie er den Satz beenden sollte, und setzte freundlich hinzu: "
Wir rechnen also auf Sie."
Am Heiligen Abend, am frühen Nachmittag, wollte Setzler mich sprechen. Seit unserer letzten Zusammenkunft waren unsere Beziehungen anscheinend normal gewesen. Aber tatsächlich hatte ich ihn sehr wenig zu sehen gekriegt, und nur aus dienstlichen Gründen. Er grüßte, ich erwiderte seinen Gruß und bat ihn, Platz zu nehmen. Er machte eine ablehnende Handbewegung "
Wenn Sie gestatten, Sturmbannführer, ich habe Ihnen nur sehr wenig mitzuteilen."
Ich sah ihn an. Er hatte sich sehr verändert. Sein Rücken hatte sich noch mehr gekrümmt, und seine Backen waren hohl. Der Ausdruck seiner Augen befremdete mich. Ich sagte freundlich: "Nun, Setzler?"
Ich sah, wie seine Brust sich hob, er öffnete den Mund, als ob er keine Luft kriegte, sagte aber nichts. Er sah ungewöhnlich blaß aus. Ich sagte: "Wollen Sie nicht Platz nehmen, Setzler."

Er schüttelte den Kopf und setzte leise hinzu: "Danke, Sturmbannführer."
Einige Sekunden verstrichen. Er stand vollkommen unbeweglich da, groß und gebeugt, seine fiebrigen Augen waren starr auf mich gerichtet. Er sah wie ein Gespenst aus. Ich sagte: "Nun?"
Seine Brust hob sich, seine Kiefer zogen sich zusammen, und er sagte mit farbloser Stimme: "Sturmbannführer, ich beehre mich, Sie zu bitten, dem Reichsführer SS mein Gesuch um Versetzung in eine Fronteinheit weiterreichen zu wollen."
Er zog ein Schreiben aus der Tasche, faltete es auseinander, tat zwei Schritt vorwärts wie ein Automat, legte das Schreiben auf meinen Schreibtisch, tat zwei Schritt zurück und stand stramm. Ich rührte das Schriftstück nicht an. Einige Sekunden verstrichen, dann sagte ich: "Ich werde Ihr Gesuch mit einer gegenteiligen Stellungnahme weitergeben."
Er zwinkerte mehrere Male mit den Augen, und in seinem mageren Halse stieg der Adamsapfel hoch; das war alles. Er schlug die Hacken zusammen, grüßte, machte eine vorschriftsmäßige Kehrtwendung und wandte sich der Tür zu. "Setzler!"
Er drehte sich um. "Bis heute abend, Setzler"
Er sah mich mit einem verstörten Blick an. "Heute abend?"
"Meine Frau hat Sie doch zu uns eingeladen. nicht wahr? Sie und Ihre Frau. Sie wissen doch. zur Weihnachtsfeier."
Er lächelte. "Gewiß. Sturmbannführer, ich erinnere mich."
"Wir rechnen auf Sie. sobald Ihr Nachtdienst beendet ist."
Er verbeugte sich. grüßte nochmals und ging. Ich besuchte dann die Baustellen. Der Wind wehte von Osten. und der Rauch aus den Gräben von Birkenau durchzog das Lager. Ich nahm Pick beiseite. . "Was sagen sie zu dem Geruch?"
Pick schnitt ein Gesicht. "Sie beklagen sich darüber, Sturmbannführer."
"Danach frage ich Sie nicht."
"Nun", antwortete Pick verlegen. "unsere SS-Männer sagen ja immer, daß es eine Gerberei sei, aber ich weiß nicht, ob sie es glauben."
"Und die Häftlinge?"
"Sturmbannführer, ich wage die Dolmetscher nicht allzuviel darüber auszufragen. Das könnte sie stutzig machen."
"Gewiß, aber Sie können sich mit ihnen unterhalten."
"Ganz richtig, Sturmbannführer, aber sobald ich auf den Geruch anspiele, werden sie stumm wie die Karpfen."
"Ein schlimmes Zeichen."

"Das glaube ich auch, Sturmbannführer."
Ich verließ ihn. Ich war unruhig und unzufrieden. Es war offensichtlich, daß die Sonderaktion, wenigstens innerhalb des Lagers, nicht lange geheim bleiben konnte. Ich ging zum Appellplatz. Ich hatte Befehl gegeben, dort zu Weihnachten einen Tannenbaum für die Häftlinge aufzustellen. Hagemann kam mir entgegen, dick, groß, gewichtig. Sein Unterkinn lag auf dem Kragen auf. "Ich habe die größte Tanne genommen, die ich gefunden habt: ... entsprechend den Ausmaßen des Appellplatzes, ..", er keuchte, ". ..eine kleine Tanne hätte vielleicht lächerlich ausgesehen, nicht wahr?"
Ich nickte und trat näher. Der Baum lag am Boden. Zwei Häftlinge gruben unter Anleitung eines Kapo ein Loch. Der Rapportführer und zwei Scharführer sahen zu. Sobald der Rapportführer mich sah, rief er "Achtung!", die beiden Scharführer standen stramm, der Kapo und die Häftlinge rissen ihre Kopfbedeckungen herunter und erstarrten. "Weitermachen!"
Der Rapportführer schrie: "Los! Los!", und die Häftlinge fingen an, wie die Verrückten zu arbeiten. Ihre Züge erschienen mir nicht sonderlich semitisch. Aber vielleicht rührte dieser Eindruck von ihrer außerordentlichen Magerkeit her Ich betrachtete den Baum, überschlug annäherungsweise seine Länge und sein Gewicht und wandte mich an Hagemann: "
Wie tief lassen Sie das Loch machen?"
"Einen Meter, Sturmbannführer."
"Der größeren Sicherheit wegen machen Sie es doch einen Meter dreißig tief. Heute abend kann Wind aufkommen."
"Jawohl, Sturmbannführer."
Ich sah den Häftlingen ein paar Minuten beim Arbeiten zu, dann machte ich kehrt, Hagemann gab meinen Befehl an den Rapportführer weiter und holte mich ein. Er keuchte, um mit mir auf gleicher Höhe zu bleiben. "Wir werden Schnee bekommen, glaube ich. .."
"Ja?"
"Ich fühle es. ..in meinen Gelenken", sagte er mit einem leichten diskreten Lachen. Dann hustete er. Wir gingen noch ein paar Minuten, und er begann wieder: "Wenn ich mir erlauben darf. ..eine Vermutung zu äußern, Sturmbannführer..."
"Ja?"
"Die Häftlinge hätten vielleicht. ..heute abend. ..eine doppelte Ration Suppe. "vorgezogen."
Ich sagte schroff: "Wem vorgezogen?"

Hagemann wurde rot und fing an zu keuchen. Ich fuhr fort: "Wo nehmen Sie die doppelte Ration her? Können Sie mir das sagen?"
"Sturmbannführer", sagte Hagemann überstürzt, "es war nur ein Einfall. ..Ich habe mich wohl schlecht ausgedrückt. ..Tatsächlich habe ich durchaus nichts vorgeschlagen. ..Es war eine einfache Vermutung ...eine Vermutung psychologischer Art, sozusagen. .. Die Tanne ist sicherlich eine schöne Geste. ..selbst wenn die Häftlinge sie nicht würdigen. .."
Ich sagte ungeduldig: "Deren Meinung interessiert mich nicht. Wir haben getan, was angemessen ist, das ist das Wesentliche."
"Gewiß, Sturmbannführer", sagte Hagemann, "wir haben getan, was angemessen ist."
Mein Büro roch etwas dumpfig. Ich zog meinen Mantel aus, hängte ihn samt der Mütze an den Kleiderhaken und machte das Fenster weit auf. Der Himmel war grau und flockig. Ich brannte mir eine Zigarette an und setzte mich. Setzlers Gesuch lag noch da, wo er es hingelegt hatte. Ich zog es zu mir heran, las es, schraubte meinen Füllhalter auf und schrieb rechts darunter: "Gegenteilige Stellungnahme."
Es fing an zu schneien, und etliche Flocken flogen ins Zimmer herein. Sie schwebten auf den Fußboden nieder und schmolzen sofort. Nach einer Weile fühlte ich, daß mir kalt wurde. Ich las das Gesuch Setzlers noch einmal durch, unterstrich die Worte "Gegenteilige Stellungnahme", schrieb darunter: "Unentbehrlicher Spezialist (Provisorische Anlage)", und unterschrieb. Ein Windstoß trieb Schneeflocken auf den Tisch, und als ich den Kopf hob, sah ich vor dem Fenster eine kleine Pfütze. Ich steckte das Gesuch Setzlers in einen Umschlag und den Umschlag in meine Tasche. Dann zog ich einen Stoß Papiere heran. Meine Hände waren blau vor Kälte. Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus und fing an zu arbeiten. Nach einer Weile hob ich die Augen. Als ob es dieses Zeichens bedurft hätte, hörte es auf zu schneien. Ich stand auf, ging ans Fenster, faßte den Riegel, fügte die beiden Fensterflügel ineinander und drückte sie zu. Im selben Augenblick sah ich Vater, schwarz und steif, mit glänzenden Augen, vor mir: Der Regen hatte aufgehört, er konnte also das Fenster schließen. Die rechte Hand tat mir weh. Ich merkte, daß ich den Fensterriegel mit aller Kraft in der falschen Richtung drehte. Ich drückte leicht in entgegengesetzter Richtung, und es gab ein leichtes, dumpfes, gleitendes Geräusch. Ich ging um den Schreibtisch herum, schaltete wütend den elektrischen Ofen ein und fing an, hin und her zu laufen. Nach einer Weile setzte ich mich wieder, zog ein Blatt Papier heran und schrieb: "Mein lieber Setzler! Würden Sie mir Ihre Pistole leihen?"
Ich klingelte der Ordonnanz, übergab ihm das Billett, und zwei Minuten später kam er mit der Pistole und einem Zettel zurück: "Mit besten Empfehlungen von Obersturmführer Setzler."
Setzlers Waffe schoß bemerkenswert genau, und die Offiziere des KZ liehen sie oft bei ihm aus, um damit zu üben. Ich bestellte meinen Wagen und ließ mich zum Schießstand fahren. Ich schoß ungefähr eine Viertelstunde lang auf verschiedene Entfernungen, auf feste und bewegliche Ziele. Ich steckte die Pistole wieder in die Pistolentasche, ließ mir die Schachtel bringen, in der man meine Schießkarten verwahrte, und verglich die neue mit den früheren Serien: Ich hatte mich verschlechtert. Ich ging, blieb aber vor dem Schießstand stehen. Es hatte wieder zu schneien angefangen, und ich fragte mich, ob ich nicht in mein Büro zurückkehren sollte. Ich sah auf die Uhr. Es war halb acht. Ich bestieg den Wagen und sagte Dietz, er solle mich nach Hause fahren. Das Haus war hell erleuchtet. Ich betrat mein Arbeitszimmer, legte das Koppel auf den Tisch und hängte den Mantel und die Mütze an den Kleiderhaken. Dann wusch ich mir die Hände und ging ins Eßzimmer . Elsie, Frau Müller und die Kinder saßen bei Tisch. Nur die Kinder aßen, Frau Müller war die Lehrerin, die wir aus Deutschland hatten kommen lassen. Es war eine Frau mittleren Alters, grauhaarig und ganz annehmbar . Ich blieb auf der Schwelle stehen und sagte: "Ich bringe euch Schnee mit."
Der kleine Franz blickte auf meine Hände und sagte mit seiner hellen, niedlichen Stimme: "
Wo ist er?"
Karl und die beiden Mädchen fingen an zu lachen. "Papa hat ihn vor der Tür gelassen", sagte Elsie, "er war zu kalt, Papa konnte ihn nicht mit hereinbringen."
Karl lachte wieder. Ich setzte mich neben Franz und sah ihm beim Essen zu. "Ach", sagte Frau Müller, "ein Weihnachten ohne Schnee. .."
Sie unterbrach sich und warf verlegene Blicke um sich, als ob sie aus der Rolle gefallen wäre. "Aber gibt es denn Weihnachten ohne Schnee?"
fragte Hertha. "Sicher!"
sagte Karl. "In Afrika gibt es überhaupt keinen Schnee."
Frau Müller hustete. "Außer auf den Bergen natürlich."
Karl wiederholte keck: "Natürlich."
"Ich kann den Schnee nicht leiden", sagte Katharina. Sobald Franz mit dem Essen fertig war, nahm er mich bei der Hand, um mir den schönen Tannenbaum im Salon zu zeigen. Elsie schaltete den Kronleuchter aus, betätigte den Schalter, und im Baum leuchteten kleine Sterne auf. Die Kinder betrachteten ihn eine ganze Weile.

Dann erinnerte sich Franz an den Schnee und wollte ihn sehen. Ich warf Elsie einen Blick zu, und sie sagte bewegt: "Sein erster Schnee."
Ich schaltete die Ampel auf der Terrasse ein und öffnete die Läden der Glastür. Die Flocken tanzten weiß und flimmernd um die Lampe. Nachher wollte Franz die Vorbereitungen für den Empfang sehen, und ich ließ sie alle einen Augenblick in die Küche gehen. Der große Tisch war über und über mit Bergen von belegten Broten und Kuchen bedeckt. Jeder bekam ein Stück Kuchen, und sie gingen zum Schlafen nach oben. Es war ausgemacht, daß man sie um Mitternacht wecken würde und daß sie ihren Anteil am Nachtisch bekommen und mit den großen Leuten ,,O Tannenbaum"
singen sollten. Ich ging auch hinauf und wechselte die Uniform. Dann ging ich wieder hinunter in mein Arbeitszimmer, schloß mich dort ein und blätterte in einem Buch über Pferdezucht, das Hagemann mir geliehen hatte. Nach einer Weile dachte ich an den Bruch und fühlte, wie mich Trauer überkam. Ich klappte das Buch zu und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Wenig später holte mich Elsie, und wir nahmen an einer Ecke des Eßzimmertisches einen kleinen Imbiß ein. Elsie war im Abendkleid, und ihre Schultern waren nackt. Als wir fertig waren, gingen wir in den Salon hinüber, sie zündete überall Kerzen an, löschte den Kronleuchter und setzte sich ans Klavier. Ich hörte Elsie zu. Elsie hatte in Dachau angefangen, Klavierstunden zu nehmen, als ich zum Offizier ernannt worden war . Zehn Minuten vor zehn schickte ich meinen Wagen zu Hagemanns, und pünktlich um zehn Uhr kamen Hagemanns und Picks an. Dann fuhr der Wagen wieder weg, um Bethmanns, Schmidts und Frau Setzler zu holen. Als alle da waren, ließ ich Dietz durch das Dienstmädchen sagen, er solle in die Küche kommen und sich wärmen. Elsie führte die Damen in ihr Zimmer, und die Herren legten ihre Mäntel in meinem Arbeitszimmer ab. Dann führte ich sie in den Salon, und während wir auf die Damen warteten, tranken wir einen Schluck. Man sprach von den Ereignissen in Rußland, und Hagemann sagte: "Ist es nicht merkwürdig? ...In Rußland hat der Winter sehr früh begonnen. ..und hier überhaupt nicht. .."
Daraufhin sprachen wir etwas über den russischen Winter und die Kriegsvorgänge und kamen übereinstimmend zu der Meinung, daß man im nächsten Frühjahr fertig sein würde. "Wenn Sie gestatten", sagte Hagemann, "ich sehe die Dinge so. .. für Polen ein Frühjahr. ..Für Frankreich ein Frühjahr. ..Und für Rußland, da es größer ist, zwei. .."

Dann sprachen alle durcheinander. "Richtig!"
sagte Schmidt mir seiner scharfen Stimme. "Die Ausdehnung ist es! Der wirkliche Gegner ist die Ausdehnung!"
Pick sagte: "Der Russe ist sehr primitiv."
Bethmann drückte den Zwicker auf seiner mageren Nase zurecht. "Darum unterliegt der Ausgang des Kampfes keinem Zweifel. Rassisch gesehen, ist ein Deutscher zehn Russen wert ...Von der Kultur gar nicht zu reden."
"Sicherlich", keuchte Hagemann, "indessen. ..wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf ...", er lächelte, hob seine fetten Hände und wartete, bis das Dienstmädchen hinausgegangen war, ". ..man hat mir gesagt, daß in den besetzten Gebieten unsere Soldaten. ..die größten Schwierigkeiten haben. ..mit den russischen Frauen in geschlechtlichen Verkehr zu treten. Sie wollen absolut nichts davon wissen. ..Begreifen Sie das ? ...Oder aber es gehört eine lange Freundschaft dazu. ..Aber. ..", er machte eine Handbewegung und sagte leise: "
..eine flüchtige Liebschaft. ..Sie verstehen? ...Nichts zu machen. .."
"Das ist stark", sagte Bethmann mit einem kehligen Lachen, "sie sollten sich geehrt fühlen."
Die Damen traten ein, wir erhoben uns, und alle nahmen Platz, Hagemann neben Frau Setzler . "
Wenn Sie gestatten. ..ich will es ausnutzen, daß Sie heute abend Strohwitwe sind. ..und Ihnen ein bißchen den Hof machen. .. sozusagen. .."
"Es ist die Schuld des Kommandanten, wenn ich Strohwitwe bin", sagte Frau Setzler . Und sie drohte mir neckisch mit dem Finger. Ich sagte: "Aber durchaus nicht, gnädige Frau, ich bin daran unschuldig. Er ist nur mit dem Dienst an der Reihe."
"Er wird sicherlich vor Mitternacht da sein", sagte Hagemann. Elsie und Frau Müller reichten die belegten Brote und Erfrischungen herum, dann, als die Unterhaltung zu erlahmen begann, setzte sich Frau Hagemann ans Klavier, die Herren holten ihre Instrumente, die sie in der Diele gelassen hatten, und fingen an zu musizieren. Nach einer Stunde wurde eine Pause gemacht, der Kuchen wurde aufgetragen, man sprach über Musik, und Hagemann erzählte Anekdoten von großen Musikern. Um halb zwölf ließ ich Frau Müller die Kinder wecken, und gleich darauf sah man sie durch die große Glastür, die den Salon vom Eßzimmer trennte. Sie saßen um den Tisch herum. Sie sahen feierlich und verschlafen aus. Wir beobachteten sie eine Zeitlang durch die Türbespannung, und Frau Setzler, die keine Kinder hatte, sagte mit bewegter Stimme: "Ach, wie niedlich sie sind!"

Zehn Minuten vor zwölf holte ich sie herein. Sie machten im Salon die Runde und begrüßten die Gäste sehr korrekt. Dann erschienen das Mädchen und Frau Müller mit einem großen Tablett, Gläsern und zwei Flaschen Sekt. Ich sagte: "Den Sekt verdanken wir Hagemann", es gab ein lustiges Durcheinander der Stimmen, und Hagemann lächelte allen zu. Als wir die Gläser in der Hand hatten, erhoben wir uns, Elsie löschte den Kronleuchter aus, steckte den Weihnachtsbaum an, und wir stellten uns im Halbkreis um ihn auf, um die Mitternacht zu erwarten. Stille trat ein, alle Augen waren auf die kleinen Sterne des Baumes gerichtet, als ich fühlte, wie eine kleine Hand sich in meine linke stahl. Es war Franz. Ich beugte mich zu ihm hinunter und sagte ihm, es würde viel Lärm geben, weil alle zu gleicher Zeit zu singen anfangen würden. Jemand berührte mich leicht am Arm. Ich drehte mich um. Es war Frau Müller. Sie sagte ganz leise: "Man verlangt Sie am Telefon, Herr Kommandant."
Ich sagte Franz, er solle wieder zu seiner Mutter gehen, und zog mich aus der Gruppe zurück Frau Müller öffnete mir die Salontür und verschwand in der Küche. Ich schloß mich in meinem Arbeitszimmer ein, stellte mein Glas auf den Tisch und ergriff den Hörer. "Sturmbannführer", sagte eine Stimme, "hier ist Untersturmführer Lück."
Die Stimme klang sehr entfernt, aber deutlich. "Nun?"
"Sturmbannführer, ich erlaube mir, Sie aus einem ernsten Anlaß zu stören."
Ich wiederholte ungeduldig: "Nun?"
Es dauerte einige Zeit, dann fuhr die Stimme fort: "Obersturmführer Setzler ist tot."
"Wie?"
Die Stimme wiederholte: "Obersturmführer Setzler ist tot."
"
Was sagen Sie? Er ist tot?"
"
Jawohl, Sturmbannführer. "
"Haben Sie den Lagerarzt benachrichtigt?"
"Jawohl, Sturmbannführer, es ist recht sonderbar ...Ich weiß nicht, ob ich. .."
"Ich komme, Lück. Erwarten Sie mich am Eingangsturm!"
Ich legte auf, ging in die Diele und stieß die Tür zur Küche auf. Dietz stand auf. Das Mädchen und Frau Müller sahen mich erstaunt an. "Wir fahren, Dietz."
Dietz zog seinen Mantel an. Ich sagte: "Frau Müller!"
Ich winkte ihr, mir zu folgen. Sie kam in mein Arbeitszimmer mit. "Frau Müller, ich muß ins Lager. Wenn ich weg bin, benachrichtigen Sie meine Frau!"
"Ja, Herr Kommandant."

Ich hörte Dietz' Schritte in der Diele. Ich schnallte mein Koppel um, zog den Mantel darüber und griff nach meiner Mütze. Frau Müller sah mich an. "Schlechte Nachrichten, Herr Kommandant?"
"Ja."
Ich öffnete die Tür und drehte mich noch einmal um: "Benachrichtigen Sie meine Frau unauffällig."
"Ja, Herr Kommandant."
Ich lauschte. Im Salon war es vollkommen still. "
Warum singen sie denn nicht?"
"Sie warten wahrscheinlich auf Sie, Herr Kommandant."
"Sagen Sie meiner Frau, man soll nicht auf mich warten."
Ich schritt schnell durch die Diele, sprang die Stufen vor der Haustür hinunter und stieg ins Auto. Es schneite nicht mehr, aber die Luft war eisig. "Nach Birkenau."
Dietz fuhr los. Kurz bevor wir am Eingangsturm ankamen, schaltete ich die Deckenbeleuchtung an. Der Posten öffnete das Tor aus Stacheldraht, während er nervös den Kopf zum Wachlokal hin drehte. Gelächter und Gesangsfetzen drangen zu mir herüber . Die athletische Silhouette Lücks trat aus dem Schatten hervor. Ich ließ ihn in den Wagen steigen. "Er ist auf der Kommandantur, Sturmbannführer. Ich habe. .."
Ich legte meine Hand auf seinen Arm, und er schwieg. "Nach der Kommandantur, Dietz."
"Wegen der Wache", sagte Lück, "bitte ich um Entschuldigung, aber ich glaubte, ich müßte nicht. ..Natürlich haben sie sich gehenlassen."
"Ja, ja."
An der Kommandantur stieg ich aus und sagte Dietz, er solle mich am Eingangsturm erwarten. Er fuhr los, und ich wandte mich an Lück. "Wo ist er?"
"Ich habe ihn in sein Büro geschafft."
Ich stieg die Stufen hinauf und eilte durch den Korridor. Die Tür Setzlers war verschlossen. "Erlauben Sie, Sturmbannführer", sagte Lück, "ich hielt es für richtig, die Tür abzusperren."
Er öffnete, und ich machte Licht, Setzler lag auf dem Boden. Seine Lider waren zur Hälfte über die Augen gefallen, sein Gesicht war friedlich, er schien zu schlafen. Ich brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er tot war. Ich verschloß die Tür, ließ den Fenstervorhang herunter und sagte: "Berichten Sie!"
Lück straffte sich. "Einen Augenblick, Lück."

Ich setzte mich an Setzlers Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und spannte es in die Schreibmaschine. Lück sagte: "Als ich um elf Uhr die Kommandantur verließ, hörte ich in der Garage Nr. 2 einen Automotor laufen. .."
"Nicht so schnell."
Er wartete ein paar Sekunden und fuhr dann fort: ". ..Der eiserne Rolladen war heruntergelassen. ..Ich beachtete es nicht weiter. .. Ich ging in die Kantine und trank ein Glas. .."
Ich gab Lück ein Zeichen, innezuhalten, ich radierte das Wort "Glas"
weg und tippte an seiner Stelle "Erfrischung". "Fahren Sie fort."
". ..während ich Schallplatten hörte ...Als ich in die Kommandantur zurückkam, lief der Motor immer noch. ..Ich sah auf die Uhr. ..Es war halb zwölf. Ich fand die Sache seltsam. .."
Ich hob die Hand, ich tippte "halb zwölf"
und sagte: "Warum?"
"Es erschien mir seltsam, daß der Chauffeur den Motor so lange laufen ließ."
Ich tippte: "Ich fand es seltsam, daß der Chauffeur den Motor so lange laufen ließ."
Ich winkte, und Lück fuhr fort: "Ich versuchte, den eisernen Rolladen hochzuheben. Er war von innen verriegelt ... Ich ging durch den Korridor der Kommandantur und öffnete die Tür, die in die Garage führt ...Obersturmführer Setzler saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad. ..ich stellte den Motor ab. .. Dann zog ich den Körper aus dem Wagen. ..und schaffte ihn hierher. .."
Ich hob den Kopf. "Allein?"
Lück reckte seine breiten Schultern. "Allein, Sturmbannführer."
"Fahren Sie fort!"
". ..Ich wandte dann künstliche Beatmung an ..."
"Warum?"
"Es war klar, daß Obersturmführer Setzler einer Vergiftung durch das Auspuffgas erlegen war. .."
Ich tippte einen Satz, stand auf, tat ein paar Schritte durch das Zimmer und betrachtete Setzler. Er lag der Länge lang auf dem Rücken, die Beine ein wenig gespreizt. Ich blickte auf. "
Was halten Sie davon, Lück?"
"Es ist eine Vergiftung, wie ich sagte, Sturm. .."
Ich sagte schroff: "Das meine ich nicht."
Ich sah ihn an, seine hellblauen Augen trübten sich, und er sagte: "Ich weiß nicht, Sturmbannführer."
"Sie haben doch eine Ansicht darüber?"
Es entstand ein Schweigen, dann sagte Lück langsam: "Nun, es gibt zwei Annahmen: Es ist Selbstmord oder ein Unfall."
Noch langsamer fuhr er fort: "Was mich angeht, so glaube ich. .."
Er stockte, und ich sagte: ". ..daß es ein Unfall ist."

Er sagte hastig: "Das glaube ich tatsächlich, Sturmbannführer."
Ich setzte mich wieder, tippte: "Meiner Meinung nach ist es ein Unfall", und sagte: "
Wollen Sie Ihren Bericht unterschreiben?"
Lück kam um den Schreibtisch herum, ich reichte ihm meinen Füllhalter, und er unterzeichnete, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, den Bericht zu lesen. Ich hob den Hörer ab. "Hier der Kommandant. Sagen Sie meinem Chauffeur, er soll hierherkommen."
Ich hängte ein, und Lück gab mir meinen Füllhalter zurück. "Sie nehmen das Auto und holen Hauptsturmführer Hagemann und den Lagerarzt. Hauptsturmführer Hagemann ist in meiner Wohnung. Sprechen Sie im Auto nicht über die Angelegenheit."
"Jawohl, Sturmbannführer."
Er war schon an der Tür, als ich ihn zurückrief. "Haben Sie die Leiche durchsucht?"
"Das hätte ich mir nicht erlaubt, Sturmbannführer."
Ich winkte, und er ging. Ich stand auf, um die Tür hinter ihm abzuriegeln. Dann bückte ich mich und durchsuchte Setzler. In der linken Tasche seiner Uniformjacke fand ich einen an mich adressierten Umschlag. Ich öffnete ihn. Der Brief war mit der Maschine geschrieben und vorschriftsmäßig abgefaßt.

"SS-Obersturmführer Setzler, KZ Auschwitz an SS-Sturmbannführer Lang, Kommandant des KZ Auschwitz

Ich nehme mir das Leben, weil ich den abscheulichen Geruch verbrannten Fleisches nicht mehr ertragen kann.

R. Setzler, SS-Ostuf."

Ich leerte den Aschenbecher in den Papierkorb, legte den Brief samt Umschlag auf den Aschenbecher und hielt ein Streichholz daran. Als alles verbrannt war, zog ich den Vorhang auf, öffnete das Fenster und verstreute die Asche. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch, es verging eine Weile, da dachte ich an Setzlers Pistole, ich zog sie aus der Tasche und legte sie in eine der Schubladen. Dann durchsuchte ich alle Schubladen eine nach der anderen und fand schließlich, wonach ich suchte: eine Flasche Schnaps. Sie war kaum angebrochen. Ich stand auf und goß zwei Drittel davon in die Waschtoilette, dann besprengte ich die Bluse Setzlers vorn und unterhalb des Halses. Ich ließ etwas Wasser in die Waschtoilette fließen, schloß dann die Flasche wieder und stellte sie auf den Schreibtisch. Sie enthielt noch zwei Fingerbreit Schnaps.

Ich entriegelte die Tür, zündete mir eine Zigarette an, setzte mich an den Schreibtisch und wartete. Von da, wo ich saß, konnte ich die Leiche Setzlers nicht sehen. Mein Blick fiel auf seinen Mantel. Er hing über einem Kleiderbügel und der Bügel am Kleiderhaken rechts von der Tür. Zwischen den Schultern war der Stoff ausgebeult, weil Setzler einen gekrümmten Rücken hatte. Ich hörte Schritte auf dem Korridor. Als erster trat Hagemann ein, mit bleichem, fassungslosem "Gesicht. Ihm folgte der Lagerarzt, Hauptsturmführer Benz. Lück stand hinter ihm, ihn um einen ganzen Kopf überragend. Hagemann stammelte: "Aber wieso? ...Wieso? ...Ich kann nicht begreifen. .."
Benz bückte sich, hob die Augenlider des Toten hoch und schüttelte den Kopf. Dann richtete er sich wieder auf, nahm die Brille ab, wischte sie ab, setzte sie wieder auf, strich mit der Hand über sein glänzendes weißes Haar und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sagte: "Sie können gehen, Lück. Ich werde Sie rufen, wenn es nötig sein sollte."
Lück ging. Hagemann stand unbeweglich da. Er blickte auf die Leiche. Ich sagte: "Natürlich ist es ein entsetzlicher Unglücksfall."
Ich fuhr fort: "Ich werde Ihnen Lücks Bericht vorlesen."
Ich bemerkte, daß ich die Zigarette noch in der Hand hatte, es war mir peinlich, ich wandte mich ab und zerdrückte sie rasch im Aschenbecher. Ich las Lücks Bericht vor und wandte mich dann an Benz. "
Wie sehen Sie die Dinge, Benz?"
Benz blickte mich an. Es war klar, daß er mich verstanden hatte. "Meiner Meinung nach", sagte er langsam, "ist es ein Unfall."
"Aber wieso? ...Wieso? ..."
sagte Hagemann mit verstörter Miene. Benz wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche. "Er hat ein bißchen zu sehr gefeiert. Er hat dann den Motor in Gang gesetzt. Die Kälte hat ihn überfallen, er hat eine plötzliche Ohnmacht gehabt und ist daraus nicht wieder aufgewacht."
"Aber ich verstehe nicht", sagte Hagemann keuchend, "für gewöhnlich trank er kaum etwas. .."
Benz zuckte die Achseln. "Sie brauchen ja bloß zu riechen."
"Aber wenn ich mir erlauben darf", sagte Hagemann keuchend, "da ist trotzdem noch etwas. ..etwas Sonderbares. ..Warum hat Setzler nicht einen Chauffeur gerufen, wie das sonst stets geschieht? Er hatte doch keinen Grund, den Motor selbst in Gang zu setzen. .."
Ich sagte schroff: "Sie wissen doch wohl, daß Setzler nichts wie andere Leute tat."
"Ja, ja", sagte Hagemann, "er war ein Künstler, sozusagen. .."

Er blickte mich an und sagte hastig: "Natürlich glaube ich auch, daß es ein Unfall ist."
Ich stand auf. "Ich beauftrage Sie, Frau Setzler nach Hause zu bringen und sie in Kenntnis zu setzen. Nehmen Sie das Auto! Benz, ich möchte Ihren Bericht gleich morgen früh haben, um ihn meinem beizufügen."
Benz stand auf und nickte. Sie gingen weg. Ich telefonierte ins Lazarett, sie sollten einen Krankenwagen schicken, setzte mich an den Schreibtisch und begann, meinen Bericht zu tippen. Sobald die Krankenträger die Leiche fortgebracht hatten, brannte ich mir eine Zigarette an, öffnete das Fenster ganz weit und fing wieder an zu tippen. Ein wenig später nahm ich den Hörer ab und rief Obersturmführer Pick in seiner Wohnung an. Eine Frauenstimme antwortete. Ich sagte: "Hier Sturmbannführer Lang. Könnten Sie Ihren Mann rufen, Frau Pick?"
Ich hörte das Geräusch, das der Hörer machte, als sie ihn auf den Tisch legte, dann das Geräusch von Schritten. Die Schritte verhallten, irgendwo klappte eine Tür, dann trat Stille ein; plötzlich sagte eine kalte, ruhige Stimme ganz nahe an meinem Ohr: "Obersturmführer Pick."

"Ich habe Sie doch nicht geweckt, Pick?"
"Keinesweg, Sturmbannführer. Wir sind eben nach Hause gekommen."
"Sie sind auf dem laufenden?"
"Ich bin auf dem laufenden, Sturmbannführer."
Ich fuhr fort: "Pick, ich erwarte Sie morgen früh um sieben in meinem Büro."
"Ich werde dort sein, Sturmbannführer."
Ich setzte noch hinzu: "Ich beabsichtige, Ihren Dienst zu ändern."
Es entstand ein Schweigen, und die Stimme erwiderte: "Zu Befehl, Sturmbannführer. "
Die zwei großen Zwillingskrematorien waren einige Tage vor der festgesetzten Frist fertig, und am 18. Juli 1942 kam der Reichsführer persönlich, um sie einzuweihen. Die Dienstwagen sollten um zwei Uhr nachmittags in Birkenau eintreffen. Um halb vier waren sie immer noch nicht da, und diese Verspätung hätte beinahe einen ernsten Zwischenfall entstehen lassen. Ich wünschte natürlich, daß die Sonderaktion in Gegenwart des Reichsführers ohne Anstoß abrollen sollte. Aus diesem Grunde hatte ich nicht die Untauglichen des Lagers als Patienten verwenden wollen. Sie waren in der Tat schwieriger zu behandeln als Lagerfremde, da die Bestimmung der Zwillingskrematorien ihnen jetzt wohl bekannt war. Ich hatte es mir also angelegen sein lassen, aus einem polnischen Getto einen Transport von zweitausend Juden kommen zu lassen. Dieser war kurz vor Mittag in ganz leidlichem Zustand angekommen, und ich hatte ihn unter Bewachung von SS-Männern mit Hunden im großen inneren Hof des Krematoriums I untergebracht. Zehn Minuten vor zwei Uhr hatte man den Juden angekündigt, daß sie ein Bad nehmen sollten, da aber der Reichsführer noch immer nicht kam und die Wartezeit sich hinauszog, wurden die Juden, denen die glühende Hitze im Hof sehr lästig war, nervös und unruhig, verlangten zu trinken und zu essen und fingen bald sogar an, sich zu erregen und zu schreien. Pick verlor seine Kaltblütigkeit nicht. Er rief mich an und hielt aus einem Fenster des Krematoriums mit Hilfe eines Dolmetschers eine Ansprache an die Menge. Er erklärte, daß der Kessel der Duschen entzwei sei und man dabei wäre, ihn zu reparieren. Mittlerweile kam ich dazu, ich ließ sofort Eimer voll Wasser bringen, damit die Juden trinken konnten, ich versprach ihnen, daß man nach der Dusche Brot verteilen würde, und rief Hagemann an, er solle sein Häftlingsorchester kommen lassen. Ein paar Minuten später war es da, die Musiker stellten sich in einer Ecke des Hofes auf und fingen an, Wiener und polnische Weisen zu spielen. Ich weiß nicht, ob es die Musik allein war, die sie beruhigte, oder ob auch die Tatsache, daß man ihnen vorspielte, sie über unsere Absichten in Sicherheit wiegte, aber allmählich verebbte der Tumult, die Juden hörten auf, sich zu erregen, und ich war überzeugt, daß, wenn Himmler ankäme, sie keine Schwierigkeiten machen würden, in den unterirdischen Auskleideraum hinabzusteigen. Weniger sicher war ich, soweit es das Hinüberwechseln vom Auskleideraum in den "Duschraum"
betraf. Seitdem die Krematorien fertiggestellt waren, hatte ich mehrmals die Sonderaktion vornehmen lassen, und drei-oder viermal hatte ich in dem Augenblick, in dem die Menge in den "Duschraum"
hineinströmte, eine lebhafte rückläufige Bewegung beobachtet, die man natürlich mit Kolbenstößen und indem man die Hunde losließ, zum Stillstand brachte. Das Ende der Herde hatte dann nach vorn gedrängt, Frauen und Kinder waren niedergetrampelt worden, und das Ganze war von Geschrei und Schlägen begleitet. Es wäre natürlich ärgerlich gewesen, wenn ein Zwischenfall dieser Art den Besuch des Reichsführers gestört hätte. Doch fühlte ich mich zunächst machtlos, ihm zu begegnen, denn ich sah nicht, worauf die rückläufige Bewegung zu schieben war, wenn nicht auf einen dunklen Instinkt, denn der "Duschraum"
mit seinem mächtigen vorgetäuschten Röhrenwerk, seinen Abflußrinnen und den zahlreichen Brausen hatte durchaus nichts an sich, was Verdacht hätte erwecken können. Schließlich bestimmte ich, daß am Tage des Besuchs Himmlers die Scharführer zusammen mit den Juden in den Duschraum gehen und kleine Seifenstückchen verteilen sollten. Zugleich befahl ich den Dolmetschern, die Nachricht davon im Auskleideraum zu verbreiten, während die Häftlinge sich auszogen. Ich wußte sehr gut, daß für die Häftlinge das kleinste Stück Seife ein köstlicher Schatz war, und ich rechnete darauf, sie damit zu locken. Diese List war ein voller Erfolg. Sobald Himmler angekommen war, gingen Scharführer mit großen Kartons durch die Menge, die Dolmetscher schrien die Ankündigung in die Lautsprecher, ein Gemurmel der Befriedigung erhob sich, das Auskleiden geschah in Rekordzeit, und alle Juden eilten mit fröhlicher Geschäftigkeit in die Gaskammer . Die Scharführer gingen einer nach dem anderen heraus, sie zählten ab, und Pick schloß die schwere Eichentür. Ich fragte den Reichsführer, ob er durch das Guckfenster blicken wollte. Er nickte, ich trat beiseite, und in demselben Augenblick begannen die Schreie und die dumpfen Schläge gegen die Wände. Himmler sah auf seine Uhr, beschattete das Uhrglas mit der Hand und sah eine ganze Weile zu. Sein Gesicht war völlig teilnahmslos. Nach einiger Zeit gab er den Offizieren seines Gefolges ein Zeichen, daß sie auch durchschauen könnten. Darauf führte ich ihn in den Hof des Krematoriums und zeigte ihm die Betonkanäle, durch die die Kristalle hineingeworfen worden waren. Das Gefolge Himmlers kam dazu, ich nahm die ganze Gruppe in die Heizungsanlage mit und setzte meine Erklärungen fort. Nach einer Weile ertönte ein schrilles Klingeln, und ich sagte: "Das ist Pick, der den Ventilator verlangt, Reichsführer. Die Vergasung ist beendet."
Der damit Beauftragte legte einen Hebel um, ein mächtiges dumpfes Brausen erschütterte die Luft, und Himmler sah von neuem auf die Uhr. Wir gingen wieder in die Gaskammer. Ich zeigte der Gruppe die Säulen aus durchlöchertem Blech, wobei ich nicht zu erwähnen vergaß, daß ich sie Pick verdankte. Häftlinge des Sonderkommandos in hohen Gummistiefeln leiteten mächtige Wassergüsse auf die Leichenhaufen. Ich erklärte Himmler den Grund dafür. Hinter meinem Rücken flüsterte ein Offizier des Gefolges spöttisch: "Na, da kriegen sie ja trotz allem noch eine Dusche."
Man hörte unterdrücktes Lachen, Himmler wandte sich nicht um, und sein Gesicht blieb teilnahmslos. Wir gingen wieder ins Erdgeschoß hinauf, in den Teil, in dem sich die Öfen befanden. Gerade in diesem Augenblick kam der Aufzug Nr.

2 an, und die Häftlinge des Sonderkommandos begannen, die Leichen auf die Wagen zu legen. Diese fuhren dann an einem Kommando vorbei, das die Ringe einsammelte, einem Kommando von Friseuren, die das Haar abschnitten, und einem Kommando von Zahnärzten, welche die Goldzähne ausrissen. Ein viertes Kommando warf die Leichen in die Öfen. Himmler beobachtete den ganzen Vorgang in jeder Phase, ohne ein Wort zu sagen. Er hielt sich etwas länger bei den Zahnärzten auf. Ihre Geschicklichkeit war bemerkenswert. Ich führte Himmler dann in die Sezier-und Forschungsräume des Krematoriums I. Das lebhafte Interesse des Reichsführers für die Wissenschaft war mir bekannt, ich hatte darauf die höchste Sorgfalt verwandt, und die Gesamtheit der Räume und Laboratorien hätte in der Tat der modernsten Universität Ehre gemacht. Der Reichsführer besichtigte alles sehr eingehend, hörte aufmerksam meine Erklärungen an, aber er machte keine Bemerkung, und sein Gesicht verriet nichts. Als wir das Krematorium verließen, beschleunigte der Reichsführer seinen Schritt, und ich verstand, daß er nicht die Absicht hatte, das Lager zu besichtigen. Er ging so schnell, daß sein Stab nicht mitkam, und ich hatte selbst einige Mühe, ihm zu folgen. An seinem Wagen angekommen, blieb er stehen, drehte sich zu mir um, seine Augen hefteten sich über meinen Kopf hinweg auf einen Punkt irgendwo im Raum, und er sagte langsam und wie automatisch: "Es ist eine harte Aufgabe, aber wir müssen sie erfüllen."
Ich straffte mich und sagte: "Jawohl, Reichsführer."
Ich grüßte, er erwiderte meinen Gruß und stieg in seinen Wagen. Nach zwölf Tagen, genau am 30. Juli, erhielt ich aus Berlin das folgende Schreiben:

"Nach Mitteilung des Chefs der Amtsgruppe D hat der Reichsführer SS im Nachgang seines Besuches vom 18. Juli 1942 im KZ Auschwitz den Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Rudolf Lang, mit Wirkung vom 18. Juli zum Obersturmbannführer befördert."

Ich begann unverzüglich die Bauarbeiten an den beiden anderen Krematorien. Dank den erworbenen Erfahrungen beim Bau ihrer Vorgänger war ich sicher, sie vor dem vorgeschriebenen Datum fertigzustellen. Das Bedürfnis dafür war übrigens spürbar, denn sofort nach dem Besuch des Reichsführers begann das RSHA, mir in einem so beschleunigten Tempo Transporte zu schicken, daß die Zwillingskrematorien ihrer Aufgabe kaum gewachsen waren. Da nur die Untauglichen vergast wurden, vergrößerte der Rest den schon zu hohen Bestand des Lagers, der Gesundheitszustand und die Ernähng wurden mit jedem Tag kläglicher, und Epidemien -besonders Scharlach, Diphtherie und Typhus -folgten einander unaufhörlich. Die Lage war hoffnungslos, weil die Fabriken, die im Bezirk wie Pilze aus der Erde zu schießen begannen -angelockt durch die reichlichen und billigen Arbeitskräfte, die für sie die Häftlinge darstellten -, damals im Vergleich zu der riesigen Bevölkerung der Lager nur einen geringen Teil des Bestands verbrauchten. Ich bat also von neuem und wiederholt das RSHA, man solle mir weniger Transporte schicken, aber alle meine Vorstellungen blieben erfolglos, und ich erfuhr durch Indiskretion eines Büros, daß nach dem förmlichen Befehl des Reichsführers jeder SS-Führer, der willentlich oder unwillentlich das Programm der Ausrottung verlangsame, sei es auch noch so geringfügig, erschossen werden würde. Tatsächlich mußten die Judentransporte überall als vorrangig behandelt werden und sogar den Waffen-und Truppentransporten an die russische Front vorangehen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Doch nicht ohne Mißbehagen sah ich die Lager, die ich zu Anfang musterhaft organisiert hatte, von Woche zu Woche mehr in ein unbeschreibliches Chaos geraten. Die Häftlinge starben wie die Fliegen, Epidemien töteten fast ebensoviel Menschen wie die Gaskammern, und vor den Baracken häuften sich die Leichen so schnell, daß die Sondermannschaften, die sie in die Krematorien schafften, überlastet waren. Am 16. August unterrichtete mich ein Telefonanruf aus Berlin, daß Standartenführer Kellner ermächtigt worden sei, informationshalber die Einrichtungen von Birkenau zu besichtigen, und am nächsten Tag kam Kellner tatsächlich ganz früh am Morgen im Auto an, ich machte ihm die Honneurs, er zeigte sich sehr interessiert für die Sonderaktion und die Einrichtung der Krematorien, und zu Mittag nahm ich ihn zum Essen mit nach Hause. Wir nahmen im Salon Platz und warteten darauf, daß das Mädchen uns ankündigte, das Essen sei aufgetragen. Nach einer Weile erschien Elsie. Kellner sprang auf, schlug die Hacken zusammen, ließ sein Monokel verschwinden, verbeugte sich tief und küßte ihr die Hand. Danach setzte er sich ebenso schnell wieder, wie er aufgestanden war, wandte sein Gesicht dem Fenster zu, so daß sein vollendetes Profil zu sehen war, und sagte: "Und wie finden Sie Auschwitz, gnädige Frau?"
Elsie öffnete den Mund. Er fuhr aber gleich fort: "Ja, ja. Natürlich dieser unangenehme Geruch. ..", er machte eine kleine Geste mit der Hand, ". ..und all das. Aber ich versichere Ihnen, wir haben in Culmhof dieselben kleinen Unannehmlichkeiten. .."
Er setzte sein Monokel wieder ein und blickte sich mit interessierter und freundlicher Miene um.

"Aber Sie sind schön eingerichtet. ..Sie sind bemerkenswert schön eingerichtet, gnädige Frau."
Er warf einen Blick durch die Glastür ins Eßzimmer. "Und ich stelle fest, daß Sie ein geschnitztes Büfett haben."
"Wollen Sie es sehen, Standartenführer?"
fragte Elsie. Wir gingen ins Eßzimmer, Kellner stellte sich vor das Büfett und betrachtete lange die Schnitzereien. "Ein religiöses Sujet. ..", sagte er und kniff die Augen zusammen, "
..Ausdruck von Angst. ..jüdisch-christliche Auffassung des Todes. ..", er machte eine kleine Handbewegung, "und all dieser alte Kram. ..Wohlgemerkt, der Tod hat nur Bedeutung, wenn man wie sie ein Jenseits annimmt. ..Aber welche Vollendung, mein Lieber! Was für eine Ausführung!"
Ich sagte: "Ein polnischer Jude hat es gemacht, Standartenführer."
"Ja, ja", sagte Kellner, "nichtsdestoweniger muß er eine kleine Dosis nordischen Blutes in seinen Adern haben. Sonst hätte er nie diese wundervolle Arbeit ausführen können. Die Juden sind hundertprozentig unfähig zu schöpferischen Leistungen, das wissen wir seit langem."
Er strich mit seinen gepflegten Händen leicht und zärtlich über die Schnitzereien. "Charakteristische Häftlingsarbeit", fuhr er dann fort. "Sie wissen nicht, ob sie ihr Werk um einen Tag überleben. ..Und für sie hat natürlich der Tod Bedeutung. ..Sie haben im Leben diese unedle Hoffnung. .."
Er schnitt ein Gesicht, und ich fragte verlegen: "Glauben Sie, Standartenführer, daß ich es dem Juden hätte verbieten sollen, ein religiöses Sujet zu behandeln?"
Er wandte sich zu mir und fing an zu lachen. "Haha! Lang", sagte er mit einer boshaften Miene, "ahnten Sie denn nicht, daß Ihr Büfett im Widerspruch zur Lehrmeinung steht. .."
Er betrachtete das Möbelstück noch einmal, indem er seinen Kopf zur Seite drehte, und seufzte: "Sie haben Glück mit Ihrem Lager, Lang. Unter der großen Zahl haben Sie zwangsläufig richtige Künstler."
Wir nahmen am Tisch Platz, und Elsie sagte: "Aber ich dachte, Sie hätten auch ein Lager unter sich, Standartenführer."
"Das ist etwas anderes", sagte Kellner, während er seine Serviette entfaltete, "ich habe keine ständigen Häftlinge wie Ihr Gatte. Meine sind alle. ..", er lachte leicht, ". ..Zugvögel."
Elsie sah ihn erstaunt an, und er fuhr sogleich fort: "Hoffentlich fehlt Ihnen das Vaterland nicht allzusehr, gnädige Frau? Polen ist ein trauriges Land, nicht wahr? Aber es wird nicht mehr allzulange dauern, glaube ich. Bei dem Tempo, in dem unsere Truppen

vorgehen, werden sie binnen kurzem im Kaukasus sein, und der Krieg wird sich nicht mehr lange hinziehen."
Ich sagte: "Diesmal werden wir vor dem Winter fertig sein. Das glaubt jeder hier, Standartenführer ."
"In zwei Monaten", sagte Kellner mit fester Stimme. "Noch etwas Fleisch, Standartenführer?"
sagte Elsie. "Nein, danke, gnädige Frau. In meinem Alter. ..", er lachte leicht, ". ..muß man anfangen, an seine Linie zu denken."
"Oh! Sie sind doch noch jung, Standartenführer", sagte Elsie mit liebenswürdiger Miene. Er wandte sein scharfes Profil dem Fenster zu. "Richtig", sagte er melancholisch, "ich bin noch jung. .."
Ein Schweigen entstand, und er fuhr dann fort: "Und Sie, Lang, was werden Sie nach dem Krieg machen? Es wird nicht immer Lager geben, wollen wir hoffen."
"Ich gedenke vom Reich ein Gut im Ostraum zu erbitten, Standartenführer ."
"Mein Mann", sagte Elsie, "war Pächter bei Oberst Baron von Jeseritz in Pommern. Wir bebauten etwas Land und züchteten Pferde."
"Ach, wirklich!"
sagte Kellner. Er spielte mit seinem Monokel und sah mich verständnisvoll an. "Ackerbau! Pferdezucht! Sie haben mehr als einen Pfeil im Köcher, Lang."
Er wandte sein Gesicht dem Fenster zu, und seine Züge wurden würdevoll und streng. "Sehr gut", sagte er in ernstem Ton, "sehr gut, Lang! Das Reich wird Kolonisten brauchen, wenn die Slawen. ..", er lachte leicht, ". ..verschwunden sein werden. ..Wie war gleich der Ausdruck des Reichsführers? ...der deutsche Musterpionier des Ostraums sein. Übrigens", setzte er hinzu, "glaube ich daß er das von Ihnen gesagt hat."
"Hat er das wirklich", sagte Elsie mit leuchtenden Augen, "von meinem Mann gesagt?"
"Aber ja, gnädige Frau", sagte Kellner höflich, "ich glaube wohl, daß es sich um Ihren Gatten handelte. Ich bin sogar sicher, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Der Reichsführer urteilt gerecht."
"Oh!"
sagte Elsie, "ich freue mich für Rudolf. Er arbeitet so viel. Er ist in allem so gewissenhaft. "
Ich sagte: "Aber Elsie!"
Kellner fing an zu lachen, sah uns nacheinander gerührt an und hob seine gepflegten Hände. "Es ist eine Freude, gnädige Frau, sich in einer echten deutschen Familie zu befinden ! Ich bin Junggeselle", fuhr er mit schwermütiger Miene fort. "Ich fühlte mich nicht berufen, gewissermaßen. Aber in Berlin habe ich Freunde, die sehr glücklich verheiratet sind."

Er dehnte den Schluß seines Satzes. Wir standen auf und gingen in den Salon, um den Kaffee dort zu trinken. Der Kaffee war richtiger Kaffee, den Hagemann aus Frankreich erhalten und von dem er Elsie ein Päckchen geschenkt hatte. "Großartig!"
sagte Kellner. "Sie leben in Auschwitz wirklich wie Gott in Frankreich. Das Lagerleben hat sein Gutes. ..Wenn nur nicht. ..", er zog ein angewidertes Gesicht, "
.all dieses Häßliche wäre."
Er rührte gedankenversunken mit dem Löffel in seiner Tasse. "Die größte Unannehmlichkeit der Lager ist die Häßlichkeit. Ich stellte diese Überlegung heute morgen an, Lang, als Sie mir die Sonderaktion zeigten. Alle diese Juden. .."
Ich sagte rasch: "Entschuldigen Sie, Standartenführer! Elsie, würdest du den Likör holen?"
Elsie sah mich erstaunt an, stand auf und ging ins Eßzimmer. Kellner hob den Kopf nicht. Er rührte immer noch mit seinem Kaffeelöffel. Elsie ließ die Glastür hinter sich halb offen stehen. "
Wie häßlich sie sind!"
fuhr Kellner fort, die Augen auf die Tasse geheftet. "Ich habe sie betrachtet, als sie in die Gaskammer gingen. Was für ein Anblick! Die nackten Gestalten! Besonders die Frauen. .."
Ich sah ihn verzweifelt an. Er blickte nicht auf. "Und die Kinder. ..so mager. ..mit ihren kleinen Affengesichtern ...so groß wie meine Faust. ..Diese Gerippe! Sie sahen wirklich scheußlich aus. ..Und als die Vergasung losging. .."
Ich sah Kellner an und blickte bestürzt zur Tür. Schweiß floß mir an der Hüfte herunter, ich konnte nicht sprechen. "Was für gemeine Stellungen!"
fuhr er fort, indem er langsam, mechanisch mit seinem Löffel den Kaffee umrührte. "
Wahrhaftig ein Gemälde von Breughel! Schon weil sie so häßlich sind, verdienen sie den Tod. Und wenn man daran denkt. ..", er lachte, ". ..wenn man daran denkt, daß sie nach dem Tod noch schlechter riechen als zu ihren Lebzeiten!"
Ich handelte mit unerhörter Kühnheit. Ich berührte sein Knie. Er fuhr zusammen, ich neigte mich hastig zu ihm hinüber, wies mit dem Kopf nach der halboffenen Tür und flüsterte rasch: "Sie weiß von nichts."
Er öffnete den Mund und hielt einen Augenblick verblüfft den Löffel mit den Fingerspitzen in der Schwebe. Ein Schweigen entstand, und dieses Schweigen war schlimmer als alles. "Breughel", fuhr er mit veränderter Stimme fort, "kennen Sie Breughel, Lang? Nicht Breughel den Älteren ...nein, auch nicht den anderen. ..sondern den Höllenbreughel, wie man ihn nannte. ..weil er die Hölle malte. .."

Ich blickte in meine Tasse. Ein Geräusch von Schritten erklang, die Glastür klappte, und ich machte eine verzweifelte Anstrengung, nicht aufzublicken. "Stellen Sie sich vor, er liebte es, die Hölle zu malen", fuhr er mit lauter Stimme fort. "Er hatte eine Art Begabung für das Makabre ..."
Elsie setzte das Tablett mit den Likören auf das niedrige Tischchen, und ich sagte mit übertriebener Höflichkeit: "Danke, Elsie."
Ein Schweigen trat ein, und Kellner warf mir einen Blick zu. "Oh! Oh!"
sagte er mit erzwungener Heiterkeit. "Noch mehr gute Sachen! Und sogar französische Liköre, wie ich sehe."
Mit Anstrengung sagte ich: "Hauptsturmführer Hagemann erhält sie, Standartenführer. Er hat Freunde in Frankreich."
Meine Stimme klang trotz allem verändert. Ich streifte Elsie mit einem Blick. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, und ihr Gesicht verriet nichts. Die Unterhaltung stockte wieder. Kellner sah Elsie an und meinte: "Ein wunderbares Land, Frankreich, gnädige Frau."
"Kognak, Standartenführer?"
sagte Elsie mit ruhiger Stimme. "Nur ein wenig, gnädige Frau, Kognak muß ...", er hob eine Hand, ". ..auf französische Weise genossen werden. Nur ein wenig auf einmal und langsam. Unsere Tölpel drüben müssen immer das ganze Glas auf einmal hinunterstürzen. .."
Er hatte dabei ein Lachen, das mir gezwungen vorkam, dann warf er mir einen Blick zu, und ich verstand, daß er Lust hatte zu gehen. Elsie bediente ihn, dann füllte sie mein Glas zur Hälfte. Ich sagte: "Danke, Elsie."
Sie blickte nicht auf. Von neuem entstand Schweigen. "Im ,Maxim", begann Kellner wieder, "trinken sie ihn aus dickbauchigen Gläsern ...so. .."
Er deutete die Form der Gläser in der Luft mit beiden Händen an. Wieder trat Schweigen ein, und er sagte mit verlegener Miene: "Paris ist wunderbar, gnädige Frau. Ich muß gestehen. ..", er lachte wieder, ". ..daß ich zuweilen Herrn Abetz sehr beneide."
Er sprach noch ein Weilchen vom "Maxim"
und von Paris, dann stand er auf und verabschiedete sich. Ich bemerkte, daß er sein Glas nicht einmal ausgetrunken hatte. Wir ließen Elsie im Salon zurück, ich ging mit Kellner die Freitreppe hinunter und brachte ihn zu seinem Wagen. Der Wagen fuhr los, ich bedauerte, daß ich nicht meine Mütze mitgenommen hatte. Ich wäre sonst sofort weggefahren. Ich stieg langsam die Treppe wieder hinauf, stieß die Haustür auf und schritt leise durch die Diele. Mit Erstaunen sah ich, daß meine Mütze nicht mehr auf dem Tischchen lag. Ich öffnete die Tür meines Arbeitszimmers und blieb betroffen stehen. Elsie stand da, aufrecht, blaß, mit der linken Hand auf eine

Stuhllehne gestützt. Ich schloß mechanisch die Tür hinter mir und wandte den Kopf ab. Die Mütze lag auf meinem Tisch. Eine volle Sekunde verstrich, ich ergriff meine Mütze und wollte gehen. Elsie sagte: "Rudolf!"
Ich drehte mich um. Ihr Blick erschreckte mich. "So", sagte sie, "das also tust du!"
Ich wandte den Kopf. "Ich weiß nicht, was du damit sagen willst."
Ich wollte kehrtmachen, hinausgehen, das Gespräch abbrechen. Aber ich stand da wie erstarrt, wie gelähmt. Ich konnte sie nicht einmal ansehen. "So", sagte sie mit leiser Stimme, "du vergast sie! ...Und dieser entsetzliche Geruch kommt von ihnen her!"
Ich öffnete den Mund, aber ich konnte nicht sprechen. "Die Schornsteine!"
fuhr sie fort. "Ich begreife jetzt alles."
Ich blickte zu Boden und sagte: "Selbstverständlich verbrennen wir die Toten. Man hat in Deutschland schon immer Leichen verbrannt, das weißt du doch. Das ist eine Frage der Hygiene. Dagegen ist nichts zu sagen. Besonders bei Epidemien."
Sie schrie: "Du lügst! Du vergast sie!"
Ich hob bestürzt den Kopf. "Ich lüge? Elsie! Wie kannst du wagen. .."
Sie fuhr fort, ohne auf mich zu hören: "Männer, Frauen, Kinder. ..alle durcheinander. ..nackt. ..und die Kinder sehen aus wie kleine Affen. .."
Ich richtete mich steif auf. "Ich weiß nicht, was du da redest."
Ich machte eine heftige Anstrengung, und es gelang mir, mich wieder zu bewegen. Ich drehte mich um und tat einen Schritt auf die Tür zu. Sogleich überholte sie mich mit verblüffender Schnelligkeit, stürzte an die Tür und lehnte sich dagegen. "Du!"
sagte sie. "Du!"
Sie zitterte am ganzen Leibe. Mit weit aufgerissenen, funkelnden Augen starrte sie mich an. Ich rief: "Wenn du glaubst, daß ich das gerne tue!"
Und sofort versank ich in einer Flut von Scham. Ich hatte den Reichsführer verraten. Ich hatte meiner Frau ein Staatsgeheimnis enthüllt. "Es ist also wahr", rief Elsie, "du tötest sie!"
Sie wiederholte weinend: "Du tötest sie!"
Blitzschnell ergriff ich sie bei den Schultern, legte ihr meine Hand auf den Mund und sagte: "Leiser, Elsie, ich bitte dich, leiser!"
Ihre Augen blitzten, sie machte sich los, ich zog meine Hand zurück, sie horchte, und wir lauschten einen Augenblick auf die Geräusche im Haus, regungslos, schweigend, schuldbewußt. Mit leiser, normaler Stimme sagte sie: "Frau Müller ist ausgegangen, glaube ich."

"Und das Dienstmädchen?"
"Sie wäscht im Kellergeschoß. Und die Kinder halten Mittagsruhe."
Wir horchten noch einen Augenblick schweigend, dann wandte sie den Kopf, sah mich an, und es war, als ob sie sich plötzlich darauf besann, wer ich war. Abscheu prägte sich von neuem auf ihren Zügen aus, und sie drückte sich wieder gegen die Tür. Ich sagte mit äußerster Anstrengung: "Hör zu, Elsie. Du mußt es verstehen. Es sind nur Arbeitsunfähige. Und es gibt nicht genug Nahrungsmittel für alle. Es ist für sie viel besser. .."
Ihre Augen waren hart und unversöhnlich auf mich gerichtet. Ich fuhr fort: ". ..auf diese Weise mit ihnen zu verfahren. ..als sie Hungers sterben zu lassen."
"Das also", sagte sie leise, "hast du dir ausgedacht!"
"Aber ich doch nicht! Ich bin daran unbeteiligt. Es ist Befehl!"
"Sie sagte verächtlich: "
Wer hätte einen solchen Befehl geben können?"
"Der Reichsführer."
Angst preßte mir das Herz zusammen. Noch einmal hatte ich den Reichsführer verraten. "Der Reichsführer!"
sagte Elsie. Ihre Lippen fingen an zu beben, und sie sagte mit tonloser Stimme: "Ein Mann, ..dem die Kinder so zutraulich entgegengingen!"
Sie stammelte: "Aber warum? Warum?"
Ich hob die Schultern. "Das kannst du nicht verstehen. Diese Fragen gehen über deinen Horizont. Die Juden sind unsere schlimmsten Feinde, das weißt du doch. Sie sind es, die den Krieg entfesselt haben. Wenn wir sie jetzt nicht liquidieren, werden sie später das deutsche Volk ausrotten."
"Aber das ist doch unsinnig!"
sagte sie mit unerhörter Heftigkeit. "
Wie könnten sie uns ausrotten, da wir doch den Krieg gewinnen werden?"
Ich sah sie mit offenem Mund an. Daran hatte ich noch nie gedacht. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Ich wandte den Kopf ab und sagte nach einer Weile: "Es ist Befehl."
"Aber du hättest um einen anderen Auftrag bitten können."
Ich sagte mit Nachdruck: "Ich habe es getan. Ich meldete mich an die Front. Der Reichsführer wollte nicht."
"Nun", sagte sie mit leiser Stimme und mit unglaublicher Heftigkeit, "dann mußt du dich weigern zu gehorchen."
Ich schrie fast: "Elsie!"
Und eine Sekunde lang war ich außerstande, die Sprache wiederzufinden.

"Aber", sagte ich, die Kehle war mir wie zugeschnürt, "aber Elsie! ...was du da sagst, das. ..ist wider die Ehre!"
"Und was du tust?"
"Ein Soldat, der sich weigert zu gehorchen! Und außerdem hätte das nichts geändert. Man hätte mich degradiert, gemartert, erschossen. ..Und was wäre aus dir geworden? Und aus den Kindern?"
"Ach!"
sagte Elsie, "einerlei. .."
Ich unterbrach sie. "Aber das hätte auch nichts genützt. Wenn ich mich geweigert hätte zu gehorchen, hätte es an meiner Stelle irgendein anderer getan."
Ihre Augen funkelten. "Ja, aber du", sagte sie, "du wenigstens hättest es nicht getan."
Ich sah sie bestürzt und stumpfsinnig an. In meinem Geist herrschte völlige Leere. "Aber Elsie ..."
sagte ich. Ich konnte nicht mehr denken. Ich straffte mich, bis mir sämtliche Muskeln weh taten, blickte starr vor mich hin, und ohne Elsie anzusehen, ohne sie überhaupt zu sehen, ohne irgend etwas zu sehen, brachte ich mit Mühe heraus: "Es ist Befehl."
"Befehl!"
sagte Elsie spöttisch. Und plötzlich barg sie den Kopf in ihren Händen. Nach einer Weile näherte ich mich ihr und faßte sie an den Schultern. Sie erbebte heftig, stieß mich mit aller Kraft zurück und sagte mit tonloser Stimme: "Rühr mich nicht an!"
Mir fingen die Beine an zu zittern, und ich rief: "Aber du hast kein Recht, mich so zu behandeln. Alles, was ich im Lager tue, tue ich auf Befehl. Ich bin nicht dafür verantwortlich."
"Du bist es, der es tut!"
Ich sah sie verzweifelt an. "Du verstehst das nicht, Elsie. Ich bin nur ein Stück des Räderwerks, nichts weiter. Wenn im Heer ein Vorgesetzter einen Befehl gibt, ist er dafür verantwortlich, und nur er allein. Wenn der Befehl schlecht ist, wird der Vorgesetzte bestraft, nie der, der ihn ausführt."
,,So", sagte sie mit vernichtender Langsamkeit, "das ist der Grund, weshalb du gehorchst. Du wußtest, daß, wenn die Sache schlecht ausgeht, du nicht bestraft werden würdest."
Ich schrie: "Daran habe ich nie gedacht. Nur, daß es mir unmöglich ist, einem Befehl nicht zu gehorchen. Begreife es doch! Es ist mir physisch unmöglich."
"Also", sagte sie mit erschreckender Ruhe, "wenn man dir den Befehl gäbe, den kleinen Franz zu erschießen, würdest du es tun."
Ich sah sie bestürzt an. "Aber das ist doch Wahnsinn! Niemals wird man mir einen solchen Befehl geben."

"Und warum nicht?"
sagte sie mit einem wilden Lachen. "Man hat dir befohlen, kleine jüdische Kinder zu töten. Warum nicht auch deine? Warum nicht Franz?"
"Hör doch auf! Der Reichsführer wird mir niemals einen solchen Befehl geben. Niemals. Es ist. .."
Ich wollte sagen: ,Es ist undenkbar!', aber plötzlich blieben mir die Worte im Halse stecken. Ich erinnerte mich mit Entsetzen, daß der Reichsführer den Befehl gegeben hatte, seinen eigenen Neffen zu erschießen. Ich senkte die Augen. Es war zu spät. "Du bist dir dessen nicht sicher", sagte Elsie mit entsetzlicher Geringschätzung, "siehst du, du bist dir dessen nicht sicher. Und wenn der Reichsführer dir sagte, du sollst Franz töten, würdest du es tun."
Sie entblößte zur Hälfte ihre Zähne, sie schien sich zu sammeln, und ihre Augen begannen in einem wilden, tierischen Glanz zu leuchten. Die so ruhige, sanfte Elsie ...Ich blickte sie an, von so viel Haß wie gelähmt, an den Boden genagelt. "Du würdest es tun!"
sagte sie heftig. "Du würdest es tun."
Ich weiß nicht, was dann geschah. Ich schwöre, daß ich antworten wollte: ,Natürlich nicht!', ich schwöre, daß ich die lautere und ausdrückliche Absicht dazu hatte, aber statt dessen blieben mir plötzlich die Worte in der Kehle stecken, und ich sagte: "Natürlich."
Ich glaubte, sie wollte sich auf mich stürzen. Eine endlose Zeit verging. Sie blickte mich an. Ich konnte nicht mehr sprechen. Ich wünschte verzweifelt, das Gesagte zurückzunehmen, mich zu erklären. ..Die Zunge klebte mir am Gaumen. Sie drehte sich um, öffnete die Tür, ging hinaus, und ich hörte sie schnell die Treppe hinauflaufen. Nach einer Weile zog ich langsam das Telefon heran, wählte die Nummer des Lagers, befahl den Wagen und ging hinaus. Meine Beine waren weich und kraftlos. Ich hatte Zeit, ein paar hundert Meter zu Fuß zu gehen, bevor mich das Auto traf. Ich war kaum einige Minuten in meinem Büro, als die Klingel des Telefons ertönte. Ich nahm den Hörer ab. "Obersturmbannführer?"
fragte eine kalte Stimme. "Ja?"
"Pick, im Krematorium II. Ich melde, Obersturmbannführer, die Juden des Transports 26 haben revoltiert."
"Was?"
"Die Juden des Transports 26 haben revoltiert. Sie haben sich auf die Scharführer gestürzt, die das Auskleiden überwachten, ihnen die Waffen abgenommen und die elektrischen Kabel herausgerissen. Die

Wachen draußen haben das Feuer eröffnet,und die Juden haben es erwidert."
"Und?"
"Es ist schwer, sie niederzuzwingen. Sie sind im Auskleideraum und schießen auf die Treppe, die zum Auskleideraum hinunterführt, sobald sie ein Paar Beine sehen."
"Es ist gut, Pick, ich komme."
Ich legte auf, ging sofort hinaus und warf mich in mein Auto. "Krematorium II."
Ich beugte mich vor. "Schneller, Dietz."
Dietz nickte, und der Wagen sprang vorwärts. Ich war niedergeschmettert. Nie bisher hatte ich eine Revolte gehabt. Die Bremsen kreischten auf dem Kies im Hof des Krematoriums. Ich sprang aus dem Auto. Pick war da, er trat an meine linke Seite, und ich schritt schnell mit ihm auf den Auskleideraum zu. "Wieviel Scharführer sind entwaffnet worden?"
"Fünf."
"Wie waren die Scharführer bewaffnet?"
"Mit Maschinenpistolen."
"Haben die Juden viel geschossen?"
"Nicht schlecht, aber sie müssen noch Munition übrig haben. .. Es ist mir gelungen, die Tore des Auskleideraums schließen zu lassen."
Er setzte hinzu: "Es hat zwei Tote und vier Verwundete gegeben. Die fünf Scharführer natürlich nicht mitgerechnet. Die. .."
Ich schnitt ihm das Wort ab: "Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?"
Es entstand ein Schweigen, dann sagte Pick: "Wir könnten die Juden aushungern."
Ich sagte schroff: "Davon kann keine Rede sein. Wir können die Krematorien nicht so lange stillegen. Es muß rund gehen."
Ich ließ meine Blicke über die starke Kette von SS-Männern schweifen, die den Auskleideraum umgaben. "Die Hunde?"
"Ich habe es versucht. Aber die Juden haben die elektrischen Kabel herausgerissen, der Auskleideraum liegt im Finstern, und die Hunde wollen nicht hinein."
Ich überlegte und sagte: "Lassen Sie einen Scheinwerfer holen!"
Pick rief einen Befehl. Zwei SS-Männer rannten los. Ich fuhr fort: "Das Angriffskommando wird sieben Mann umfassen. Zwei Mann öffnen rasch die Tür und lassen sie zurückschlagen. Die laufen keine Gefahr. In der Mitte hält ein Mann den Scheinwerfer. Rechts von ihm schießen zwei Scharfschützen die bewaffneten Juden ab. Links von ihm schießen zwei andere Schützen nach Gutdünken. Das Ziel ist, die bewaffneten Juden zu vernichten und die anderen daran zu hindern, die Waffen aufzuheben. Ihnen obliegt, schon jetzt ein zweites Kommando vorzusehen, um das erste zu ersetzen."

Ein Schweigen folgte. Dann sagte Pick mit seiner kalten Stimme: "Für die Haut des Mannes, der den Scheinwerfer tragen wird, gebe ich keinen Pfifferling."
Ich fuhr fort: "Suchen Sie Ihre Männer aus!"
Die beiden SS-Männer kamen im Laufschritt mit dem Scheinwerfer zurück. Pick schloß ihn selbst an die außen befindliche Steckdose an und entrollte das Kabel. Ich sagte: "Das Kabel muß ziemlich lang sein. Wenn der Angriff gelingt, muß man in den Auskleideraum vordringen können."
Pick nickte. Zwei Mann waren schon hinter der Tür postiert. Fünf andere standen in einer Reihe auf der ersten Treppenstufe. Der mittlere, ein Scharführer, hielt den Scheinwerfer vor der Brust. Die fünf Mann standen unbeweglich mit gespanntem Gesicht. Pick rief einen Befehl, sie gingen in vollendetem Gleichschritt die Treppe hinunter, und das elektrische Kabel rollte hinter ihnen her wie eine Schlange. Ungefähr anderthalb Meter vor der Tür machten sie halt. Fünf andere SS-Männer nahmen sofort ihren Platz auf der ersten Stufe ein. Stille lagerte über dem Hof. Pick beugte sich über die Treppe, sprach leise mit dem Scharführer, der den Scheinwerfer hielt, und hob die Hand. Ich sagte: "Moment, Pick."
Er sah mich an und ließ seine Hand wieder sinken. Ich wandte mich nach der Treppe, die Männer des zweiten Kommandos traten beiseite, und ich ging die Treppe hinab. "Geben Sie her!"
Der Scharführer blickte mich bestürzt an. Schweiß rann über sein Gesicht. Nach einer Sekunde faßte er sich und sagte: "Jawohl, Obersturmbannführer."
Er gab mir den Scheinwerfer, und ich sagte: "Sie können wegtreten."
Der Scharführer sah mich an, knallte die Hacken zusammen, machte kehrt und ging die Stufen hinauf. Ich wartete, bis er oben war, und sah die Männer des Kommandos einen nach dem anderen an. "Wenn ich sage ,Ja!, öffnet ihr die Türen, wir gehen zwei Schritte vor, ihr werft euch hin und fangt an zu schießen. Die Scharfschützen passen die günstigsten Augenblicke ab."
"Obersturmbannführer!"
sagte eine Stimme. Ich drehte mich um und hob den Kopf. Pick sah von oben herab. Sein Gesicht war verstört. "Obersturmbannführer, das ist doch. ..unmöglich! Das ist. .."
Ich blickte ihn fest an, und er schwieg. Ich drehte mich wieder um, sah gerade vor mich hin und sagte: "Ja!"
Die beiden Türflügel schlugen zurück. Ich preßte den Scheinwerfer gegen meine Brust, tat zwei Schritte vorwärts, die Männer warfen sich zu Boden, und die Kugeln begannen um mich herum zu pfeifen. Kleine Stücke Beton fielen zu meinen Füßen nieder, und die Maschinenpistolen meiner Männer traten in Tätigkeit. Ich schwenkte meinen Scheinwerfer langsam von links nach rechts, und die Scharfschützen zu meinen Füßen schossen zweimal. Ich schwenkte den Lichtkegel langsam wieder nach links, die Kugeln pfiffen wie wild, und ich dachte: ,Jetzt ist es vorbei.' Ich führte den Lichtkegel abermals nach rechts und hörte durch das ununterbrochene Knattern der Maschinenpistolen hindurch die dumpfen Abschüsse der Scharfschützen. Dann pfiffen keine Kugeln mehr. Ich rief "Vorwärts!", wir drangen in den Ankleideraum ein, und nach ein paar Schritten befahl ich, das Schießen einzustellen. Die halbausgekleideten Juden standen in einer Ecke des Raumes. Sie waren zu einer riesigen wirren Masse zusammengeballt. Der Scheinwerfer leuchtete in verstörte Augen. Pick tauchte neben mir auf. Ich fühlte mich mit einem Male sehr erschöpft. Ich übergab den Scheinwerfer einem Schützen und wandte mich zu Pick. "Übernehmen Sie das Kommando."
"Zu Befehl, Obersturmbannführer."
Er fuhr fort: "Sollen wir die Vergasung wieder aufnehmen?"
"Sie würden Schwierigkeiten haben. Lassen Sie einen nach dem anderen durch die kleine Tür hinausgehen, führen Sie sie in den Seziersaal und erschießen Sie sie. Einen nach dem anderen."
Ich stieg langsam die Stufen hinauf, die in den Hof führten. Als ich erschien, entstand Totenstille, und alle SS-Männer erstarrten. Ich winkte ihnen, zu rühren. Sie rührten, aber sie schwiegen weiter, und ihre Blicke ließen mich nicht los. Ich erkannte daran, daß sie das, was ich getan hatte, bewunderten. Ich stieg ins Auto und knallte wütend die Tür zu. Pick hatte recht. Ich hätte mich dieser Gefahr nicht aussetzen dürfen. Die vier Krematorien waren fertiggestellt, aber ihr gutes Funktionieren hing noch für gewisse Zeit von meiner Anwesenheit ab. Ich hatte meine Pflicht verraten. Ich kam wieder in mein Büro und versuchte zu arbeiten. Mein Geist war leer, und es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Um halb acht ließ ich mich nach Hause fahren. Elsie und Frau Müller überwachten die Kinder beim Essen. Ich küßte die Kinder und sagte: "Guten Abend, Elsie."
Es entstand eine kleine Pause, dann sagte sie mit ganz natürlicher Stimme: "Guten Abend, Rudolf."
Ich hörte einen Augenblick dem Geschwätz der Kinder zu, dann stand ich auf und ging in mein Arbeitszimmer . Etwas später klopfte es an meine Tür, und Elsies Stimme sagte: "Das Abendessen, Rudolf."
Ich hörte ihre Schritte schwächer werden, ich trat hinaus und ging ins Eßzimmer. Ich setzte mich, Elsie und Frau Müller taten das gleiche.

Ich fühlte mich sehr müde. Wie gewöhnlich füllte ich die Gläser, und Elsie sagte: "Danke, Rudolf."
Frau Müller fing an, von den Kindern zu sprechen, und Elsie diskutierte mit ihr über ihre Fähigkeiten. Nach einer Weile sagte Elsie: "Nicht wahr, Rudolf?"
Ich hob den Kopf. Ich hatte nicht zugehört und sagte aufs Geratewohl: "Ja, ja."
Ich sah Elsie an. In ihren Augen war nichts zu lesen. Sie blickte mit gleichgültiger Miene weg. "
Wenn Sie erlauben, Herr Kommandant", sagte Frau Müller, "auch Karl ist klug. Nur, er interessiert sich sehr für Dinge, aber gar nicht für Menschen."
Ich nickte bejahend und hörte nicht mehr zu. Nach dem Essen stand ich auf, verabschiedete mich von Elsie und Frau Müller und schloß mich in meinem Arbeitszimmer ein. Das Buch über Pferdezucht lag auf meinem Schreibtisch, ich schlug es auf gut Glück auf und fing an zu lesen. Nach einer Weile stellte ich das Buch ins Regal, zog meine Stiefel aus und begann hin und her zu gehen. Um zehn Uhr hörte ich, wie Frau Müller Elsie gute Nacht sagte und nach oben ging. Ein paar Minuten später erkannte ich Elsies Schritt auf der Treppe. Ich hörte das leichte Knacken des Schalters, den sie niederdrückte, und dann wurde alles wieder still. Ich brannte mir eine Zigarette an und öffnete das Fenster ganz weit. Es schien kein Mond, aber die Nacht war klar. Ich sah einen Augenblick zum Fenster hinaus, dann entschloß ich mich, zu Elsie zu gehen und mit ihr zu sprechen. Ich drückte meine Zigarette aus, ging durch die Diele und stieg leise die Treppe hinauf. Ich legte meine Hand auf die Türklinke, drückte sie nieder und gab der Tür einen leichten Stoß. Die Tür war verriegelt. Ich klopfte schwach, dann nach ein paar Sekunden zweimal kräftiger. Es erfolgte keine Antwort. Ich näherte mein Gesicht der Türfüllung und lauschte. Das Zimmer war so still wie das einer Toten.