1934
Im Juni erhielt
ich Befehl, mich mit meiner Abteilung nach S. zu begeben, um an
einer Parade der SS-Reiter teilzunehmen. Der Aufmarsch durch die
mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Straßen rollte planmäßig ab, in
prachtvoller Ordnung und unter beispielhafter Begeisterung der
Bevölkerung. Nachdem Himmler uns eingehend inspiziert hatte, hielt
er eine Rede, die auf mich tiefen Eindruck machte. Um die Wahrheit
zu sagen, die Gedanken, die er vortrug, waren mir wie jedem SS-Mann
seit langem vertraut. Aber sie bei dieser feierlichen Veranstaltung
aus dem Munde des Reichsführers selbst zu hören, erschien mir als
eine schlagende Bestätigung ihrer Wahrheit. Der Reichsführer
erinnerte zunächst an die für die SS und die Partei schweren
Monate, die der Machtergreifung vorausgegangen waren, als uns die
Leute den Rücken zukehrten und viele der Unseren im Gefängnis
saßen. Aber Gott sei Dank hätten die Bewegung und die SS-Männer die
Prüfung bestanden. Und jetzt hätte die Willensäußerung Deutschlands
uns den Sieg geschenkt. Der Sieg, beteuerte feierlich der
Reichsführer, würde und dürfe an der geistigen Haltung des
Schwarzen Korps nichts ändern. Die SS-Männer würden in den sonnigen
Tagen bleiben, was sie im Sturm gewesen wären: Soldaten, die nur
die Ehre begeistere. Jederzeit, fügte er hinzu, und schon in der
weit zurückliegenden Epoche der Deutschritter, wäre die Ehre als
das höchste Ideal des Soldaten angesehen worden. Aber damals wußte
man schlecht, was Ehre war. Und in der Praxis wäre es für die
Soldaten oft schwierig, zwischen mehreren Wegen den zu wählen, der
ihnen als der ehrenhafteste erschien. Diese Schwierigkeiten, sei
der Reichsführer glücklich, sagen zu können, beständen für die
SS-Männer nicht mehr. Unser Führer Adolf Hitler hätte ein für
allemal die Ehre der SS definiert. Er hätte aus dieser Definition
den Wahlspruch seiner Elitetruppe gemacht: Deine Ehre, habe er
gesagt, heißt Treue. Infolgedessen sei von nun an alles ganz
einfach und klar. Man brauche sich keine Gewissensfragen mehr
vorzulegen. Es genüge, einfach treu zu sein, das heiße: zu
gehorchen. Unsere Pflicht, unsere Pflicht, unsere einzige Pflicht
sei es, zu gehorchen. Und dank diesem unbedingten Gehorsam, der dem
wahren Geist des Schwarzen Korps entspreche, wären wir sicher, uns
nie mehr zu täuschen, stets auf dem rechten Wege zu sein und
unerschütterlich in guten und in schlechten Tagen dem ewigen
Grundsatz zu folgen: Deutschland, Deutschland über
alles.
Nach seiner Rede empfing Himmler die Führer der
Partei und der 55. Bei meinem bescheidenen Dienstgrad war ich
überrascht, als er mich rufen ließ. Er stand in einem Empfangsraum
des Rathauses hinter einem großen leeren Tisch. "Oberscharführer
Lang. Sie haben an der Hinrichtung Kadows teilgenommen ? "
"Jawohl,
Reichsführer."
"Sie haben fünf Jahre im
Gefängnis Dachau zugebracht?"
"Jawohl,
Reichsführer."
"Und vorher waren Sie in der
Türkei?"
"Jawohl,
Reichsführer."
"Als
Unteroffizier?"
"Jawohl,
Reichsführer."
"Sie sind
Waise?"
"Jawohl,
Reichsführer."
Ich war enttäuscht und
höchst erstaunt. Himmler erinnerte sich genau meiner Karteikarte,
aber er erinnerte sich nicht mehr, daß er sich ihrer schon einmal
bedient hatte. Es entstand ein Schweigen, er sah mich prüfend an
und fuhr dann fort: "Ich habe Sie vor zwei Jahren bei Oberst Baron
von Jeseritz getroffen?"
"Jawohl,
Reichsführer."
"Oberst Baron von Jeseritz
beschäftigt Sie als Pächter?"
"Jawohl,
Reichsführer."
Plötzlich blitzte sein
Kneifer auf, und er fragte mit harter Stimme: "Und ich habe Ihnen
schon einmal alle diese Fragen gestellt?"
Ich stammelte: "Jawohl,
Reichsführer."
Sein Blick durchbohrte mich.
Und Sie denken, daß ich mich nicht mehr daran
erinnere?"
Ich brachte mit Anstrengung
heraus: .Jawohl, Reichsführer."
"Sie haben
unrecht."
Mein Herz klopfte, ich
straffte mich so, daß mir alle Muskeln weh taten, und ich sagte
betont und laut: .Ich hatte unrecht, Reichsführer."
Er sagte leise: .Ein Soldat
darf an seinem Führer nicht zweifeln."
Danach entstand ein langes
Schweigen. Ich fühlte, wie ich vor Scham erstarrte. Es besagte
wenig, daß der Gegenstand meines Zweifels unbedeutend war. Ich
hatte gezweifelt. Der jüdische Geist der Kritik und Verleumdung
hatte sich in meine Adern ergossen. Ich hatte gewagt, über meinen
Führer zu urteilen. Der Reichsführer sah mich prüfend an und fuhr
dann fort: .Das wird nicht wieder vorkommen."
.Nein,
Reichsführer."
Es entstand abermals ein
Schweigen, dann sagte er leise und schlicht: "Also wollen wir nicht
mehr davon sprechen."
Und ich begriff erschauernd, daß er mir wieder
Vertrauen schenkte. Ich sah den Reichsführer an. Ich betrachtete
seine ernsten, unbeweglichen Züge, und ein Gefühl der Sicherheit
überkam mich. Der Reichsführer heftete seinen teilnahmslosen Blick
über meinen Kopf hinweg auf einen Punkt im Raum, und er begann
wieder, als ob er vorläse: "Oberscharführer, ich habe Gelegenheit
gehabt, mir über Sie in bezug auf Ihre SS-Arbeit ein Urteil zu
bilden. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß dieses Urteil
günstig ist. Sie sind ruhig, bescheiden, positiv. Sie drängen sich
nicht vor, sondern lassen die Ergebnisse für Sie sprechen. Sie
gehorchen prompt, und in dem Ihnen überlassenen Bereich zeigen Sie
Initiative und Organisationsgabe. Ich habe in dieser Hinsicht
besonders die Akten zu schätzen gewußt, die Sie mir über Ihre Leute
eingeschickt haben. Sie zeugen von wahrhaft deutscher
Genauigkeit."
Und mit Nachdruck sagte er:
"Ihre besondere Stärke ist die Praxis."
Er blickte auf mich nieder
und setzte hinzu: "Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre
Kenntnis des Gefängnislebens der SS von Nutzen sein
kann."
Sein Blick ging wieder über
meinen Kopf hinweg, und ohne zu zögern oder zu stocken, ohne je
nach einem einzigen Wort zu suchen, sprach er weiter: .Die Partei
ist dabei, in verschiedenen Teilen Deutschlands Konzentrationslager
einzurichten, die den Zweck haben, Verbrecher durch Arbeit zu
bessern. In diesen Lagern werden wir in gleicher Weise die Feinde
des nationalsozialistischen Staates einschließen müssen, um sie vor
der Empörung ihrer Mitbürger zu schützen. Auch da wird der Zweck
vor allem ein erzieherischer sein. Es handelt sich darum, aufgrund
eines einfachen, tätigen und disziplinierten Lebens Charaktere
umzuerziehen und auszurichten. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen
zuerst einmal einen Posten in der Verwaltung des
Konzentrationslagers Dachau anzuvertrauen. Sie werden die Besoldung
erhalten, die Ihrem Dienstgrad entspricht, sowie verschiedene
Nebenbezüge. Außerdem werden Sie freie Wohnung, Heizung und
Verpflegung haben. Ihre Familie wird Sie begleiten."
Er machte eine Pause. "Ein
echt deutsches Familienleben scheint mir eine kostbare Grundlage
der moralischen Festigkeit für jeden SS-Mann zu sein, der in einem
KZ einen Verwaltungsposten einnimmt."
Er sah mich an. "Indessen
sollen Sie das nicht als einen Befehl betrachten, sondern nur als
einen Vorschlag. Es steht bei Ihnen, ihn anzunehmen oder
abzulehnen. Ich persönlich glaube, daß auf einem Posten dieser Art
Ihre Gefängniserfahrung und Ihre besonderen Eigenschaften der
Partei am nützlichsten sein werden. Jedenfalls überlasse ich es
Ihnen, in Anbetracht Ihrer geleisteten Dienste, andere Wünsche
vorzubringen."
Ich zögerte ein wenig und sagte: "Reichsführer,
ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich mich dem Oberst Baron von
Jeseritz gegenüber für eine Zeit von zehn Jahren schriftlich
verpflichtet habe."
"Ist die Verpflichtung
wechselseitig?"
"Nein,
Reichsführer."
"Sie haben also Ihrerseits
keine Garantie, daß Sie Ihre Stellung behalten?"
"Nein,
Reichsführer."
"In diesem Falle, scheint
mir, verlieren Sie nichts, wenn Sie ihn verlassen."
"Nein, Reichsführer. Wenn es
nur Herr von Jeseritz erlaubt!"
Er lächelte leicht. "Er wird
es Ihnen erlauben, dessen können Sie sicher sein."
Er fuhr fort: "Überlegen Sie
es sich, und schreiben Sie mir Ihre Antwort innerhalb acht
Tagen!"
Er klopfte mit den
Fingerspitzen leicht auf den Tisch. "Das wäre alles."
Ich grüßte, er erwiderte
meinen Gruß, und ich ging weg. Ich kam erst am nächsten Abend in
den Bruch zurück. Ich aß mit Elsie das Abendbrot, dann stopfte ich
mir eine Pfeife, zündete sie an und setzte mich auf die Hofbank. Es
war mild und die Nacht außergewöhnlich klar . Nach einer Weile kam
Elsie zu mir, und ich setzte sie von dem Vorschlag Himmlers in
Kenntnis. Als ich geendet hatte, sah ich sie an. Sie hatte die
Hände auf die Knie gelegt, und ihr Gesicht war unbewegt. Nach einem
Weilchen fing ich wieder an: "Am Anfang werden die materiellen
Bedingungen nicht sehr viel besser sein als hier -außer daß du
weniger Arbeit haben wirst."
Sie sagte, ohne den Kopf zu
drehen: "Auf mich kommt es nicht an."
Ich fuhr fort: "Verbessern
wird sich die Lage, wenn ich erst Offizier bin."
"Kannst du denn Offizier
werden?"
"Ja. Ich bin jetzt ein alter
Kämpfer, und mein Kriegsdienst zählt auch mit."
Elsie wandte mir den Kopf
zu, und ich sah, daß sie erstaunt zu sein schien. "Du hast doch
immer Offizier werden wollen, nicht wahr?"
"Ja."
"Warum zögerst du
dann?"
Ich setzte meine Pfeife
wieder in Brand und sagte: "Es gefällt mir nicht
recht."
"Was gefällt dir denn
nicht?"
"Ein Gefängnis ist immer ein
Gefängnis. Sogar für den Aufseher ."
Sie legte die Hände
übereinander. "Dann freilich ist es klar, daß du ablehnen
mußt."
Ich antwortete nicht, und
nach einer Weile fing Elsie wieder an: "
Wird es dir der Reichsführer
nicht übelnehmen, wenn du nein sagst?"
"Sicher nicht. Wenn ein Vorgesetzter einem
Soldaten die Wahl läßt, kann er ihm seinen Entschluß nicht
übelnehmen."
Ich fühlte, daß Elsie mich
ansah, und fragte: "
Und gefällt es
dir?"
Sie antwortete, ohne zu
zögern: "Nein. Es gefällt mir nicht. Es gefällt mir gar
nicht."
Sie setzte sofort hinzu:
"Aber du brauchst keine Rücksicht darauf zu nehmen, was ich
denke."
Ich tat ein paar Züge aus
meiner Pfeife, dann bückte ich mich, nahm eine Handvoll
Kieselsteine auf und ließ sie in der hohlen Hand springen. "Der
Reichsführer meint, in einem KZ wäre ich der Partei am
nützlichsten."
"Einem KZ?"
"Einem
Konzentrationslager."
"Warum meint er
das?"
"
Weil ich fünf Jahre lang
Gefangener war. "
Elsie lehnte sich zurück und
blickte vor sich hin. "Hier bist du auch nützlich."
Ich sagte langsam: "Gewiß.
Hier bin ich auch nützlich."
"Und es ist eine Arbeit, die
du gern tust."
Ich dachte einen Augenblick
nach und sagte: "Darauf kommt es nicht an. Wenn ich der Partei in
einem KZ nützlicher bin, muß ich in ein KZ gehen."
"Aber vielleicht bist du
hier nützlicher?"
Ich stand auf. "Der
Reichsführer denkt es nicht."
Ich warf meine Steinchen
eins nach dem andern an den Brunnenrand, klopfte meine Pfeife am
Stiefel aus und ging ins Haus. Ich fing ,an, mich auszuziehen, und
nach einem Weilchen kam auch Elsie. Es war spät, ich war sehr müde,
aber ich konnte nicht schlafen. Am nächsten Tage nach dem
Mittagessen brachte Elsie die Kinder zu Bett, ehe sie das Geschirr
aufwusch. Ich setzte mich auf meinen Stuhl dem halboffenen Fenster
gegenüber und brannte mir eine Pfeife an. Elsie drehte mir den
Rücken zu, und ich hörte die Teller in der Schüssel leise klappern.
Mir gerade gegenüber glänzten die zwei Pappeln rechts und links des
Schlagbaums in der Sonne. Ich hörte Elsies Stimme: "Wie
entscheidest du dich?"
Ich wandte den Kopf nach ihr
hin. Ich sah nur ihren Rücken. Sie stand über den Ausguß gebeugt.
"Ich weiß noch nicht."
Ich bemerkte, daß ihr Rücken
die Neigung zeigte, krumm zu werden. Die Teller klirrten leise, und
ich dachte: ,Sie arbeitet zuviel. Sie übernimmt sich.' Ich drehte
den Kopf weg und blickte wieder auf die Pappeln. Elsie begann von
neuern: "
Warum trittst du nicht ins
Heer ein?"
"Ein SS-Mann tritt nicht ins
Heer ein."
"Kannst du in der SS einen
anderen Posten bekommen?"
"Ich weiß nicht. Der Reichsführer hat nicht
davon gesprochen."
Danach herrschte Schweigen,
bis ich sagte: "Im Heer legt man bei der Beförderung großen Wert
auf Bildung."
"Und in der
SS?"
"Da zählt besonders die
Gesinnung. Und die Praxis."
Ich drehte mich halb zu ihr
um und setzte hinzu: "Meine besondere Stärke ist die
Praxis."
Elsie nahm ein Tuch vom
Haken und begann das Geschirr abzutrocknen. Sie fing immer mit den
Tellern an und räumte sie gleich in den Küchenschrank ein. "Warum
gefällt es dir denn nicht, in ein KZ zu gehen?"
Ich hörte sie hinter mir hin
und her gehen. Sie hatte ihre Holzschuhe ausgezogen und glitt
leicht über den Fußboden. Ich sagte, ohne mich umzudrehen: "Es ist
das Amt eines Kerkermeisters."
Nach einem Weilchen setzte
ich hinzu: "
Und dann wird es dort keine
Pferde geben."
"Ach, deine
Pferde!"
sagte Elsie. Ein Teller
klirrte, als er auf den Stoß gesetzt wurde, die Socken Elsies
glitten über den Fußboden. Sie blieb stehen. "Man hat freie
Wohnung?"
"Ja, und Heizung. Und
Verpflegung. Wenigstens ich. Außerdem gibt es Prämien. Und du
könntest zu Hause bleiben."
"Ach, darum!"
sagte Elsie. Ich drehte mich
um. Sie stand vor dem Küchenschrank. Sie kehrte mir den Rücken zu.
"Ich finde, du siehst müde aus, Elsie."
Sie drehte sich zu mir um
und richtete den Oberkörper auf. "Ich fühle mich ganz
wohl."
Ich nahm meine alte Stellung
wieder ein. Der Fensterpfosten verdeckte zur Hälfte die rechte
Pappel, und ich bemerkte, daß der Schlagbaum es nötig hatte, frisch
gestrichen zu werden. Elsie begann wieder: "
Werden im KZ die Häftlinge
mißhandelt?"
Ich sagte barsch: "Bestimmt
nicht. im nationalsozialistischen Staat sind solche Sachen
unmöglich."
Ich setzte hinzu: "Die KZs
haben einen erzieherischen Zweck."
Eine Elster ließ sich
schwerfällig auf dem Wipfel der rechten Pappel nieder. Ich stieß
das Fenster auf, um sie besser zu sehen. An der Fensterscheibe
hinterließ meine Hand eine Spur, und ich war verärgert. Ich sagte
ganz laut: "Vater wollte Offizier werden, aber man hat ihn nicht
gewollt. Er hatte etwas an den Bronchien."
Und plötzlich war es, als ob
ich wieder zwölf Jahre alt wäre. Ich putzte die großen Fenster im
Salon, und von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf die
Offiziersbilder. Sie hingen genau der Rangordnung nach von links
nach rechts. Onkel Franz war nicht unter ihnen. Auch Onkel Franz
hatte Offizier werden wollen, aber er war nicht gebildet genug.
"Rudolf", sagte Elsies Stimme. Und ich hörte die beiden Türen des
Wandschranks zusammenklappen. "Offizier zu sein ist dein Traum,
nicht wahr?"
Ich sagte ungeduldig: "Aber
nicht so. Nicht in einem Lager."
"Also gut, dann lehne
ab."
Elsie legte ihr Wischtuch
über die Lehne meines Stuhles. Ich drehte mich zur Hälfte um. Sie
sah mich an, und da ich nichts sagte, wiederholte sie: "Dann lehne
ab."
Ich stand auf. "Der
Reichsführer meint, daß ich in einem KZ am nützlichsten sein
werde."
Elsie zog den Tischkasten
heraus und ordnete die Gabeln ein. Sie legte sie seitlich auf die
Kante, damit sie ineinanderliegen konnten. Ich sah ihr einen
Augenblick schweigend zu, dann nahm ich das Wischtuch von der
Stuhllehne und wischte die Spur weg, die meine Hand an der
Fensterscheibe hinterlassen hatte. Es vergingen noch drei Tage,
dann schrieb ich, es war nach dem Mittagessen, dem Reichsführer,
daß ich seinen Vorschlag annähme. Ich ließ Elsie den Brief lesen,
bevor ich ihn zuklebte. Sie las ihn langsam durch, steckte ihn dann
wieder in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch. Wenig später
erinnerte sie mich daran, daß ich nach Marienthal müsse, um die
Stute beschlagen zu lassen. In Dachau verging die Zeit rasch und
friedlich. Das Lager war musterhaft organisiert, die Häftlinge
waren einer strengen Disziplin unterworfen, und ich fand mit einem
tiefen Gefühl der Zufriedenheit und Beruhigung die
unerschütterliche Routine des Kasernenlebens wieder. Am 18.
September 1936, kaum zwei Jahre nach meiner Ankunft im KZ, hatte
ich die Freude, zum Untersturmführer ernannt zu werden. Von da an
folgten meine Beförderungen rasch hintereinander. Im Oktober 1938
wurde ich zum Obersturmführer befördert und im Januar 1939 zum
Hauptsturmführer. Für mich und die Meinigen konnte ich von nun an
vertrauensvoll in die Zukunft blicken. Im Jahre 1937 hatte mir
Elsie einen Sohn geschenkt, den ich Franz nannte, zur Erinnerung an
meinen Onkel. Er war mein viertes Kind. Karl, der Älteste, war
sieben Jahre alt. Katharina fünf und Hertha vier. Als ich zum
Offizier ernannt wurde, erhielten wir statt der Hälfte einer Villa,
wo wir sehr beengt waren, eine ganze Villa, die viel bequemer war
und günstiger lag. Die Offiziersbesoldung erlaubte mir auch ein
großzügigeres Leben, und nach all den langen Jahren der Entbehrung
war es eine große Erleichterung, nicht mehr jeden Pfennig umdrehen
zu müssen. Einige Monate nach meiner Ernennung zum Hauptsturmführer
drangen unsere Truppen in Polen ein. Am gleichen Tag bat ich darum,
an die Front gehen zu dürfen. Die Antwort kam acht Tage später in
Gestalt eines Rundschreibens des Reichsführers. Er dankte den
zahlreichen SS-Offizieren der KZs, die sich aus dem wahren Geist
des Schwarzen Korps heraus freiwillig für den polnischen Feldzug
gemeldet hätten. Doch sie müßten verstehen, daß der Reichsführer,
ohne die Lager in Unordnung zu bringen, nicht allen diesbezüglichen
Wünschen gerecht werden könne. Er bitte also, künftig davon
abzusehen, sie erneut vorzubringen, und ihm die Sorge zu
überlassen, für die Waffen-SS diejenigen, welche die
Lagerverwaltung notfalls entbehren könnte, selbst zu bestimmen.
Soweit es mich betraf, ließ dies mir wenig Hoffnung für die
Zukunft. Denn ich war schon seit fünf Jahren in der
Lagerverwaltung, hatte alle ihre Sprossen bereits erklommen, kannte
den ganzen Betrieb, und es bestand wenig Aussicht, daß die Wahl des
Reichsführers auf mich fallen würde. Ich fand mich nur schwer mit
dem Leben eines Funktionärs ab, das jetzt das meine war, wenn ich
an die Kameraden dachte, die an der Front kämpften. Polen wurde,
wie zu erwarten gewesen war, rasch erledigt, dann schlief der Krieg
ein, der Frühling 194O kam heran, man sprach immer mehr von einer
Blitzoffensive, und der Führer hielt Anfang Mai im Reichstag eine
wichtige Rede. Er erklärte, daß jetzt, da Polen aufgehört habe zu
bestehen und Danzig ins Reich heimgekehrt sei, die Demokraten
keinen Grund mehr hätten, mit dem Reich keine friedliche Regelung
der europäischen Probleme zu suchen. Wenn sie es nicht täten, so
darum, weil sich ihre jüdischen Herren dem widersetzten. Die
Schlußfolgerung sei klar: Das Weltjudentum hätte den Zeitpunkt für
günstig gehalten, gegen das Reich eine Koalition zusammenzubringen
und mit dem Nationalsozialismus endgültig abzurechnen. In diesem
Kampf wäre Deutschland wieder einmal gezwungen, sein Geschick aufs
Spiel zu setzen. Aber die Demokratien und das Weltjudentum
täuschten sich schwer, wenn sie glaubten, daß sich die Schande von
1918 wiederholen würde. Das Dritte Reich führe diesen Kampf mit
einem unbeugsamen Willen, und der Führer erklärte feierlich, daß
die Feinde des nationalsozialistischen Staates schnell und hart
gezüchtigt werden würden. Was die Juden angehe, so würden sie
überall, wo es möglich wäre, und überall, wo wir sie auf unserm
Wege antreffen würden, ausgerottet werden. Drei Tage nach dieser
Rede empfing ich vom Reichsführer SS den Befehl, mich nach Polen zu
begeben und eine ehemalige polnische Artilleriekaserne in ein
Konzentrationslager zu verwandeln. Dieses neue KZ sollte nach dem
Namen des nächstgelegenen Ortes Auschwitz heißen.
Ich entschied, daß Elsie und die Kinder
vorläufig in Dachau bleiben sollten, und fuhr mit dem
Obersturmführer Setzler, dem Hauptscharführer Benz und einem
Chauffeur ab. Mitten in der Nacht kam ich in Auschwitz an,
übernachtete in einem requirierten Hause und besuchte am nächsten
Tag das alte Lager. Es lag ungefähr drei Kilometer vom Ort
entfernt. Aber das KZ sollte weit über die Kasernen der polnischen
Artilleristen ausgedehnt werden und dazu noch ein anderes Lager
einbegreifen, das bei der Ortschaft Birkenau in einer getrennten
Umzäunung lag. Um die zwei Lager herum war ein weites Gebiet von
achttausend Hektar enteignet worden, um einer intensiven
Bodenkultur unterzogen zu werden oder industrielle Anlagen
aufzunehmen. Ich fuhr von einem Ende zum anderen. Das Land war
vollkommen flach, von Sümpfen und Wäldern durchzogen. Die Wege
waren in schlechtem Zustand, kaum gekennzeichnet, und verloren sich
in Brachfeld. Häuser waren selten und erschienen in dieser
grenzenlosen Ebene klein und verloren. Die ganze Zeit über, die
meine Rundfahrt dauerte, begegnete ich keiner lebenden Seele. Ich
ließ den Wagen halten und ging allein ein paar hundert Meter zu
Fuß, um mir die Beine zu vertreten. Die Luft war lau, von einem
fauligen Sumpfgeruch erfüllt. Es herrschte vollkommene Stille. Der
Horizont war sozusagen auf gleicher Höhe mit dem Erdboden. Er
bildete eine schwarze Linie, die kaum hier und da von einigen
Baumgruppen unterbrochen wurde. Trotz der Jahreszeit hing der
Himmel niedrig und regenschwer herab, und über dem Horizont zog
sich ein grauer Wolkenstreif hin. Soweit der Blick reichte, gab es
keine einzige Bodenwelle. Alles war flach, öde, maßlos. Ich ging
zurück und war froh, als ich wieder ins Auto steigen konnte. Die
polnischen Kasernen waren von Ungeziefer verseucht, und meine erste
Sorge war, sie reinigen zu lassen. Die Insektenpulverfabrik Weerle
& Frischler in Hamburg sandte mir eine ziemlich beträchtliche
Menge Giftgas in Kristallform. Da die Handhabung der Kristalle sehr
gefährlich war, schickte sie mir zwei technische Gehilfen mit, die
selbst die Desinfektion vornahmen, wobei sie sich durch alle
erdenklichen Vorsichtsmaßregeln schützten. Ein Kommando polnischer
Kriegsgefangener wurde mir zur Verfügung gestellt, um die
Stacheldrahtzäune und die Wachtürme der beiden Lager herzurichten,
die, wie ich schon sagte, getrennt bleiben sollten. Auschwitz
sollte die jüdischen Häftlinge aufnehmen und Birkenau
Kriegsgefangene. Kurz darauf kamen die SS-Truppen an und bezogen
die Kasernen, die ersten Offiziersvillen begannen zu entstehen, und
gerade an dem Tage, als der glorreiche Frankreichfeldzug zu Ende
ging, traf der erste Transport von jüdischen Häftlingen ein. Sie
erhielten sofort die Aufgabe, ihr eigenes Lager zu errichten. Im
August konnte ich Elsie und die Kinder nachkommen lassen. Die
Offiziersvillen drehten dem Lager den Rücken zu und blickten auf
den Ort Auschwitz, aus dem sich die Kirche mit ihren zwei eleganten
Glockentürmen heraushob. In dieser so flachen Landschaft erfreuten
die beiden Türme das Auge, und darum hatte ich die Häuser nach
dieser Seite hin orientiert. Es waren große, bequem eingerichtete
Holzhäuser, auf Grundmauern aus Werkstein errichtet, mit nach Süden
gelegenen Terrassen und Gärten. Elsie war sehr glücklich über ihre
neue Wohnung und schätzte besonders die modernen
Zentralheizungs-und Warmwasseranlagen, womit ich sie hatte
ausstatten lassen. In Ausschwitz fand sie mühelos ein
Dienstmädchen, und für die schwersten Arbeiten stellte ich ihr zwei
Häftlinge zur Verfügung. Nach den Befehlen des Reichsführers sollte
ich außer dem Bau des Lagers für die Austrocknung der Sümpfe und
überschwemmten Flächen, die sich zu beiden Seiten der Weichsel
hinzogen, Sorge tragen, um sie für den Ackerbau nutzbar zu machen.
Ich erkannte schnell, daß man in viel größerem Maßstab das tun
müßte, was ich schon auf dem Gelände des Herrn von Jeseritz gemacht
hatte, und daß keine Dränage wirksam wäre, wenn die Wasser der
Weichsel nicht durch Eindämmung in Schranken gehalten würden. Ich
ließ Pläne entwerfen, rechnete sie aufs genaueste in bezug auf die
verfügbaren Arbeitskräfte durch und teilte dem Reichsführer mit,
daß ich drei Jahre brauchen würde, um das Werk zu vollbringen. Vier
Tage darauf kam die Antwort des Reichsführers: Er gab mir ein Jahr
Zeit. Der Reichsführer bestrafte SS-Männer für so geringe Vergehen
oder ließ sie sogar erschießen, daß ich mich keinerlei Täuschung
darüber hingab, welches Schicksal mich erwartete, wenn die
Eindämmung nicht am befohlenen Tage beendet sein würde. Dieser
Gedanke gab mir übermenschliche Kräfte. Ich richtete mich auf der
Baustelle häuslich ein, ich ließ meinem Stab keine Minute Ruhe, ich
ließ die Häftlinge Tag und Nacht arbeiten. Die Sterblichkeit unter
ihnen stieg zu erschreckender Höhe an, aber das hatte für uns
glücklicherweise keine nachteiligen Folgen, weil automatisch neue
Transporte die Lücken auffüllten. Schließlich wurde das Werk
vierundzwanzig Stunden vor dem vorgeschriebenen Tage beendet, der
Reichsführer kam persönlich zur Einweihung und hielt in Gegenwart
der Meister und Lageroffiziere eine Rede. Er sagte, wir dürften uns
als "Pioniere des Ostraums"
ansehen, beglückwünschte uns
zu der beispielhaften Schnelligkeit dieser "großartigen
Verwirklichung"
und erklärte, der
nationalsozialistische Staat werde den Krieg gewinnen, weil er es
verstanden habe, beim Verlauf der Operationen wie bei den
wirtschaftlichen Anstrengungen die überragende Wichtigkeit des
"Faktors Zeit"
klar zu erkennen. Zehn Tage
nach dem Besuch des Reichsführers erhielt ich die Nachricht von
meiner Ernennung zum Sturmbannführer. Der Damm rächte sich leider
in der Folge etwas für die Hast, mit der man ihn gebaut hatte. Zwei
Wochen nach der Einweihung durch Himmler fiel in der ganzen Gegend
ausgiebig Regen, die Weichsel führte plötzlich Hochwasser, und ein
Teil des prächtigen Kunstbaues wurde buchstäblich weggefegt. Wir
mußten neue Kredite anfordern und neue Arbeiten ausführen, mit der
Begründung, ihn zu befestigen, tatsächlich, um ihn teilweise neu zu
bauen. Und das Ergebnis war immer noch nur sehr mittelmäßig, denn
um wirklich fest zu sein, hätte die ganze Arbeit von Grund auf
wiederholt werden müssen. Unter meinem Antrieb war das KZ
Auschwitz-Birkenau eine riesige Stadt geworden. Aber so schnell
auch das Lager wuchs, war es noch viel zu klein, um den immer mehr
anschwellenden Zustrom von Häftlingen aufzunehmen. Ich sandte der
Hauptverwaltung der SS Brief um Brief, daß man den Rhythmus der
Transporte mäßigen solle. Ich stellte dar, daß ich weder genug
Baracken noch Nahrungsmittel hätte, um so viele Menschen
unterzubringen und zu ernähren. Alle diese Briefe blieben ohne
Antwort, und die Transporte strömten immer weiter. Infolgedessen
wurde die Lage im KZ entsetzlich, Epidemien wüteten, es gab keine
Mittel, sie zu bekämpfen, und die Sterblichkeitskurve stieg steil
an. Ich fühlte mich immer ohnmächtiger angesichts der unglaublichen
Lage, die durch die fast tägliche Ankunft von Transporten
geschaffen wurde. Alles, was ich tun konnte war, unter der Masse
der Häftlinge jeder Herkunft, die das Lager bevölkerten, die
Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber auch das war schwierig, denn in
dem Maße, wie sich der Krieg in die Länge zog, waren die prächtigen
jungen Freiwilligen der Totenkopfeinheiten an die Front gerufen
worden, und ich hatte als Ersatz ältere Leute der Allgemeinen SS
erhalten. Unter diesen waren leider recht zweifelhafte Elemente,
und Übergriffe sowie Bestechlichkeit, wozu sie sich rasch verleiten
ließen, erschwerten meine Aufgabe ganz erheblich. Einige Monate
vergingen so, dann setzte am 22. Juni der Führer die Wehrmacht
gegen Rußland ein; am 24. erhielt ich ein Rundschreiben des
Reichsführers, das mich davon in Kenntnis setzte, daß er künftig
den KZ-Offizieren erlaube, um ihre Abstellung zur Front
nachzusuchen; noch am selben Abend meldete ich mich, und sechs Tage
später wurde ich von Himmler nach Berlin befohlen. Ich fuhr mit der
Eisenbahn, gemäß den jüngsten Vorschriften, streng mit Treibstoff
zu sparen. Die Hauptstadt fieberte, die Straßen waren voller
Uniformen, die Züge mit Truppen überfüllt. Man verkündete die
ersten deutschen Siege über die Bolschewisten. Der Reichsführer
empfing mit am Abend. Sein Ordonnanzoffizier führte mich in das
Arbeitszimmer und schloß beim Hinausgehen sorgfältig die Doppeltür.
Ich grüßte. und als der Reichsführer meinen Gruß erwidert hatte,
trat ich auf ihn zu. Das Zimmer wurde nur durch eine bronzene
Stehlampe auf dem Schreibtisch erhellt. Der Reichsführer stand
unbeweglich da, und sein Gesicht lag im Schatten. Er machte mit der
rechten Hand eine kleine Geste und sagte höflich: "Nehmen Sie bitte
Platz."
Ich setzte mich, geriet in
den Lichtkreis der Lampe und hatte das Gefühl, als wäre mein
Gesicht nackt. Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Himmler
hob den Hörer ab und bedeutete mir mit der andern Hand, zu bleiben,
wo ich war. Ich hörte den Reichsführer von einem gewissen Wulfslang
und vom KZ Auschwitz sprechen; es war mir peinlich, dies
aufgeschnappt zu haben, und ich hörte sofort auf, hinzuhören. Ich
senkte die Augen und ging dazu über, die berühmte
Schreibtischgarnitur aus grünem Marmor zu betrachten, die seinen
Tisch schmückte. Sie war ein Geschenk des KZ Buchenwald zum
Julfest. In Buchenwald hatten sie wirklich erstaunliche Künstler.
Ich merkte mir vor, nachzuforschen, ob es unter meinen Juden nicht
auch Künstler gäbe. Der Hörer fiel auf den Sockel zurück, und ich
hob die Augen. ..Sturmbannführer", sagte Himmler sofort, ..ich
freue mich, Ihnen sagen zu können, daß der Inspekteur der Lager,
Gruppenführer Görtz, mir einen ausgezeichneten Bericht über Ihre
Tätigkeit als Lagerkommandant des KZ Auschwitz eingereicht hat.
Andererseits erfahre ich", fuhr er fort, ..daß Sie mir ein Gesuch
eingereicht haben, an die Front gehen zu dürfen."
..Das ist richtig,
Reichsführer."
..Soll ich das so verstehen,
daß Sie einem patriotischen Gefühl gehorchen oder daß Ihnen Ihre
Funktionen im KZ Auschwitz mißfallen?"
..Ich gehorche einem
patriotischen Gefühl, Reichsführer. "
..Das freut mich. Es kann
keine Rede davon sein, Ihre Verwendung zu ändern. Im Hinblick auf
gewisse Projekte betrachte ich Ihre Anwesenheit in Auschwitz als
unerläßlich."
Nach einem Schweigen sagte
er: "Was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, ist geheim. Ich bitte
Sie, bei Ihrer Ehre zu schwören, daß Sie darüber unbedingtes
Stillschweigen bewahren werden."
Ich blickte ihn an. So viele
Dinge waren in der SS vertraulich, Geheimes machte einen so großen
Teil unserer Alltagsarbeit aus, daß es nicht jedesmal einen Eid zu
erfordern schien. "Sie müssen verstehen", begann Himmler wieder,
"daß es sich nicht um ein einfaches Dienstgeheimnis handelt,
sondern"
(er dehnte die Worte) "um
ein wirkliches Staatsgeheimnis."
Er trat in den Schatten zurück und sagte in
ernstem Ton: "Sturmbannführer, wollen Sie mir bei Ihrer Ehre als
SS-Offizier schwören, niemandem dieses Geheimnis zu
offenbaren."
Ich sagte, ohne zu zögern:
"Ich schwöre es bei meiner Ehre als SS-Offizier. "
"Ich mache Sie darauf
aufmerksam", fuhr er nach einer Weile fort, "daß Sie gehalten sind,
es niemandem zu offenbaren, selbst nicht Ihrem Vorgesetzten,
Gruppenführer Görtz."
Ich fühlte mich unbehaglich.
Da die Lager unmittelbar dem Reichsführer unterstanden, war es
nicht außergewöhnlich, daß er mir Weisungen gab, ohne daß sie über
Görtz gingen. Aber es war dagegen höchst erstaunlich, daß er es
ohne dessen Wissen tat. "Sie dürfen sich über diese Anordnung nicht
wundern", fuhr Himmler fort, wie wenn er meine Gedanken gelesen
hätte. "Sie stellt keinerlei Ausdruck des Mißtrauens gegen den
Inspekteur der Lager, Gruppenführer Görtz dar. Dieser wird später
davon in Kenntnis gesetzt, zu einem Zeitpunkt, den ich bestimmen
werde."
Der Reichsführer bewegte den
Kopf, und die untere Hälfte seines Gesichts trat ins Licht. Seine
dünnen, bartlosen Lippen waren zusammengepreßt. "Der Führer", sagte
er mit klarer Stimme, "hat die endgültige Lösung des Judenproblems
in Europa befohlen."
Er machte eine Pause und
setzte hinzu: "Sie sind dazu ausersehen, diese Aufgabe
durchzuführen."
Ich sah ihn an. Er sagte
schroff: "Sie sehen bestürzt aus. Der Gedanke, mit den Juden Schluß
zu machen, ist doch nicht neu."
"Nein, Reichsführer. Ich bin
nur überrascht, daß man mich dazu ausersehen hat."
Er schnitt mir das Wort ab:
"Sie werden die Gründe dieser Wahl erfahren, Sie ehren
Sie."
Er fuhr fort: "Der Führer
ist der Meinung, daß, wenn wir die Juden nicht jetzt ausrotten, sie
später das deutsche Volk ausrotten werden. Also stellt sich die
Frage folgendermaßen: sie oder wir."
Er sagte mit Nachdruck:
"Sturmbannführer, haben wir zu einer Zeit, in der die jungen
deutschen Männer gegen den Bolschewismus kämpfen, das Recht, das
deutsche Volk dieser Gefahr auszusetzen ?"
Ich antwortete ohne Zögern:
"Nein, Reichsführer."
Er legte beide Hände flach
an den Leibriemen und sagte mit dem Ausdruck tiefer Befriedigung:
"Kein Deutscher könnte anders antworten."
Ein Schweigen entstand, dann
richtete sich sein ausdrucksloser Blick auf einen Punkt über meinem
Kopf, und er fuhr fort, als ob er vorläse: "Ich habe das KZ
Auschwitz als Ort der Vollstreckung gewählt, weil es am
Schnittpunkt von vier Eisenbahnlinien liegt und für die Transporte
leicht erreichbar ist. Außerdem ist die Gegend einsam, wenig
bevölkert und bietet folglich günstige Voraussetzungen für die
Abwicklung eines geheimen Unternehmens."
Er senkte den Blick zu mir
herunter . "Sie habe ich wegen Ihres Organisationstalents gewählt.
.."
Er bewegte sich leicht im
Schatten und sagte betont und deutlich: ". ..und wegen Ihrer
seltenen Gewissenhaftigkeit. Sie müssen wissen", fuhr er gleich
darauf fort, "daß in Polen bereits drei Vernichtungslager bestehen:
Belzek, Wolzek und Treblinka. Diese Lager befriedigen nicht.
Erstens: sie sind klein, und die Örtlichkeit erlaubt keine
Ausdehnung. Zweitens: sie werden schlecht verwaltet. Drittens: die
dort angewandten Methoden sind wahrscheinlich mangelhaft. Nach dem
Bericht des Lagerkommandanten von Treblinka hat er in sechs Monaten
nicht mehr als achtzigtausend Einheiten liquidieren
können."
Der Reichsführer machte eine
Pause und sagte mit ernster Miene: "Dieses Ergebnis ist lächerlich.
In zwei Tagen", fuhr er fort, "wird der Obersturmbannführer
Wulfslang Sie in Auschwitz aufsuchen und Ihnen das Tempo und den
Umfang der Transporte für die künftigen Monate mitteilen. Nach
seinem Besuch begeben Sie sich in das Lager Treblinka und liefern
dann im Hinblick auf die mittelmäßigen Ergebnisse eine konstruktive
Kritik der angewandten Methoden. In vier Wochen. .."
Er verbesserte sich: ". ..in
genau vier Wochen liefern Sie mir einen genauen Plan im Maßstab der
historischen Aufgabe, die Ihnen obliegt."
Er winkte mit der rechten
Hand. Ich stand auf. "Haben Sie Einwendungen?"
"Nein,
Reichsführer."
"Haben Sie noch irgendwelche
Bemerkungen zu machen?"
"Nein,
Reichsführer."
"Gut."
Er sagte mit betonter
Entschiedenheit, aber ohne die Stimme zu heben: "Das ist ein Befehl
des Führers!"
Er setzte hinzu: "Sie haben
jetzt die schwere Mission, den Befehl auszuführen."
Ich stand stramm und sagte:
"Jawohl, Reichsführer."
Meine Stimme erschien mir in
der Stille des Zimmers schwach und heiser, Ich grüßte, er erwiderte
meinen Gruß, ich machte kehrt und ging zur Tür. Sobald ich den
Lichtkreis der Lampe verlassen hatte, schlug die Dunkelheit über
mir zusammen, und ich empfand ein seltsames Gefühl von Kälte. In
der Nacht fuhr ich wieder mit dem Zug zurück. Er war vollgestopft
mit Truppen, die man an die russische Front warf. Ich fand ein
Abteil erster Klasse, es war besetzt, aber ein Obersturmführer
überließ mir sofort seinen Platz. Das Licht war wegen etwaiger
Luftangriffe abgeblendet, und die Vorhänge waren sorgfältig
zugezogen. Ich setzte mich, der Zug ruckte hart an und begann mit
verzweifelter Langsamkeit dahinzurollen. Ich fühlte mich müde, aber
es gelang mir nicht zu schlafen. Endlich kam die Morgendämmerung,
und ich schlummerte ein bißchen. Die Fahrt zog sich hin, von
zahlreichen Halts unterbrochen. Zuweilen stand der Zug zwei oder
drei Stunden still, dann fuhr er langsam weiter. Gegen Mittag
wurden Verpflegung und heißer Kaffee verteilt. Ich ging auf den
Gang hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Ich sah den
Obersturmführer, der mir seinen Platz abgetreten hatte. Er saß
schlafend auf seinem Tornister. Ich weckte ihn und forderte ihn
auf, ins Abteil zu gehen und sich wieder einmal zu setzen. Er stand
auf, stellte sich vor, und wir unterhielten uns ein paar Minuten.
Er war Lagerführer im KZ Buchenwald gewesen, und man hatte ihn auf
seine Bitte hin zur Waffen-SS versetzt. Er ging zu seinem Regiment
nach Rußland. Ich fragte ihn, ob er sich freue. Er sagte lächelnd:
"Ja, sehr."
Er war groß, blond, schlank,
sehr schmalhüftig. Er mochte zweiundzwanzig Jahre alt sein. Er
hatte den Feldzug in Polen mitgemacht, war verwundet worden, und
nach der Entlassung aus dem Lazarett hatte man ihn ins KZ
Buchenwald versetzt, wo er "sich sehr gelangweilt"
hätte. Aber jetzt wäre alles
gut, er werde "sich wieder regen und kämpfen"
können. Ich bot ihm eine
Zigarette an und bestand darauf, daß er ins Abteil ging, um sich
einen Augenblick auszuruhen Der Zug fuhr schneller und kam nach
Schlesien. Der Anblick der mir so vertrauten Landschaft schnürte
mir das Herz zusammen. Ich erinnerte mich an die Kämpfe der
Freikorps unter Roßbach gegen die polnischen Sokols. Wie hatten wir
damals gekämpft! Und was für eine prächtige Truppe war das! Auch
ich wollte nur "mich regen und kämpfen". Ich war damals auch
zwanzig. Es war sonderbar, sich sagen zu müssen, daß das alles
schon solange her und vorbei war. Auf dem Bahnhof in Auschwitz
telefonierte ich nach dem Lager, daß sie mir einen Wagen schickten.
Es war neun Uhr abends. Seit Mittag hatte ich nichts gegessen, ich
war hungrig. Das Auto kam nach fünf Minuten an und brachte mich
nach Hause. Im Schlafzimmer der Jungen brannte das Nachtlicht, ich
klingelte nicht, sondern öffnete die Tür mit meinem Hauptschlüssel.
Ich legte meine Mütze auf das Tischchen in der Diele und ging ins
Eßzimmer. Ich klingelte nach dem Mädchen, sie erschien auch gleich,
und ich trug ihr auf, mir zu essen zu bringen, was sie da hätte.
Ich merkte, daß ich die Handschuhe anbehalten hatte, zog sie aus
und ging auf die Diele, um sie dort abzulegen. Wie ich vor dem
Tischchen stand, hörte ich Schritte, ich hob den Kopf, Elsie kam
die Treppe herunter. Als sie mich sah, blieb sie jäh stehen, sah
mich an, erblaßte, taumelte und lehnte sich an die Wand. "Mußt du
weg?"
sagte sie mit tonloser
Stimme. Ich sah sie erstaunt an. "Ob ich weg muß?"
"An die Front?"
Ich blickte weg.
"Nein."
"Ist das wahr? Ist das
wahr?"
sagte sie stammelnd. "Du
mußt also nicht weg?"
"Nein."
Ihr Gesicht strahlte vor
Freude, sie sprang die Stufen herab und warf sich in meine Arme.
"Na, na!"
sagte ich. Sie bedeckte mein
Gesicht mit Küssen. Sie lächelte, und in ihren Augen glänzten
Tränen. "Du mußt also nicht weg?"
sagte sie.
"Nein."
Sie hob den Kopf und sagte
mit dem Ausdruck ruhiger, tiefer Freude: "Gott sei
Dank."
Namenlose Wut packte mich,
und ich schrie: "Schweig!"
Dann drehte ich mich schnell
um, wandte ihr den Rücken zu und ging ins Eßzimmer . Das
Dienstmädchen hatte den Tisch gedeckt und die Platten hingestellt.
Ich setzte mich. Nach einer Weile kam Elsie herein, nahm neben mir
Platz und sah mir beim Essen zu. Als das Mädchen hinausgegangen
war, sagte sie leise zu mir: "Natürlich verstehe ich, daß es für
einen Offizier sehr hart ist, nicht an die Front gehen zu
dürfen."
Ich blickte sie an. "Es hat
nichts zu sagen, Elsie. Das von vorhin tut mir leid. Ich bin bloß
etwas müde.,, Ein Schweigen entstand, ich aß, ohne den Kopf zu
heben. Ich sah, wie Elsie an einer Falte des Tischtuches zupfte und
sie dann mit der flachen Hand glättete. Sie sagte zögernd: "Ach,
diese zwei Tage, Rudolf. .."
Ich antwortete nicht, und
sie fuhr fort: "Um dir zu sagen, daß du nicht weg darfst, hat dich
der Reichsführer nach Berlin kommen lassen?"
"Nein."
"Was wollte er denn von
dir?"
"Dienstfragen."
"War es
wichtig?"
"Ziemlich."
Elsie zupfte von neuem am
Tischtuch und sagte beruhigt: "Das Wesentliche ist, daß du
dableibst."
Ich antwortete nichts, und
sie fing nach einem Weilchen wieder an: "Aber du wärest lieber
gegangen, nicht wahr?"
"Ich glaubte, es wäre meine
Pflicht. Aber der Reichsführer meint, daß ich hier nützlicher
bin."
"Warum meint er
das?"
"Er sagt, ich besäße
Organisationstalent und eine seltene
Gewissenhaftigkeit."
"Das hat er
gesagt?"
sagte Elsie mit einem
glücklichen Gesicht. "Er hat gesagt 'seltene
Gewissenhaftigkeit'?"
Ich nickte. Ich stand auf,
legte sorgfältig meine Serviette zusammen und steckte sie in ihre
Hülle. Wie mir der Reichsführer angekündigt hatte, erhielt ich nach
zwei Tagen den Besuch des Obersturmbannführers Wulfslang. Er war
ein
dicker, rothaariger Mann, geradezu und jovial,
der dem Mittagessen, das Elsie ihm vorsetzte, alle Ehre antat. Nach
dem Essen bot ich ihm eine Zigarre an, nahm ihn in die Kommandantur
mit und schloß mich mit ihm in meinem Büro ein. Er legte seine
Mütze auf meinen Tisch, setzte sich, streckte die Beine aus, und
sein lachendes rundes Gesicht wurde ernst. "Sturmbannführer", sagte
er in offiziellem Ton, "Sie müssen wissen, daß meine Rolle einzig
und allein darin besteht, eine mündliche Verbindung zwischen dem
Reichsführer und Ihnen herzustellen."
Er machte eine Pause. "Im
jetzigen Stadium habe ich Ihnen nur wenig mitzuteilen. Der
Reichsführer besteht besonders auf zwei Punkten. Erstens: für die
ersten sechs Monate sollen Sie Ihre Dispositionen unter der
Voraussetzung treffen, daß die ungefähre Gesamtsumme der Eingänge
etwa fünfhunderttausend Einheiten beträgt."
Ich öffnete den Mund, er
winkte mit seiner Zigarre ab und sagte energisch: "Einen Moment,
bitte! Bei jedem Transport werden Sie unter den Ankömmlingen eine
Auswahl treffen und die zur Arbeit tauglichen Personen den
industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmen von
Birkenau-Auschwitz zur Verfügung stellen."
Ich machte ein Zeichen, daß
ich sprechen wollte, aber er schwang wiederum gebieterisch seine
Zigarre und fuhr fort: "Zweitens: Sie werden mir für jeden
Transport eine Meldung über die Zahl der Untauglichen zukommen
lassen, die von Ihnen der Sonderbehandlung unterworfen werden. Doch
Sie dürfen keine Zweitschrift dieser Meldungen zurückbehalten. Mit
anderen Worten, die Gesamtsumme der Leute, die von Ihnen während
der ganzen Zeit Ihres Kommandos behandelt werden, muß Ihnen
unbekannt bleiben."
Ich sagte: "Ich sehe nicht
ein, wie das möglich ist. Sie haben doch selbst von
ünfhunderttausend Einheiten für die ersten sechs Monate
gesprochen."
Er schwang ungeduldig seine
Zigarre. "Bitte, bitte! Die von mir angeführte Zahl von
fünfhunderttausend Einheiten umfaßt sowohl die zur Arbeit
Tauglichen wie die Untauglichen. Sie werden sie bei jeder Lieferung
trennen müssen. Sie sehen also, daß Sie im voraus die Gesamtzahl
der Untauglichen nicht kennen können. Und von denen sprechen
wir."
Ich überlegte und sagte:
"
Wenn ich Sie recht verstehe,
soll ich von jedem Transport die Zahl der Untauglichen, die der
Sonderbehandlung unterworfen werden, Ihnen mitteilen, aber ich darf
keine Unterlage über diese Zahl aufbewahren, und ich darf folglich
die Gesamtsumme der Untauglichen aus sämtlichen Transporten, die
von mir behandelt werden, nicht wissen."
Er gab mit seiner Zigarre
ein Zeichen der Zustimmung. "Sie haben mich vollkommen richtig
verstanden. Nachdem ausdrücklichen Befehl des Reichsführers darf
die Gesamtzahl nur mir bekannt sein. Mit anderen Worten, mir, und
mir allein, obliegt es, die von Ihnen gelieferten Teilziffern zu
addieren und daraus für den Reichsführer eine vollständige
Statistik aufzustellen."
Er fuhr fort: "Das ist
alles, was ich Ihnen im Augenblick mitzuteilen habe."
Es trat ein Schweigen ein,
und ich sagte: "Darf ich eine Bemerkung zu Ihrem ersten Punkt
machen?"
Er steckte seine Zigarre in
den Mund und sagte kurz: "Bitte!"
"
Wenn ich die runde Summe von
fünfhunderttausend Einheiten für die ersten sechs Monate zugrunde
lege, komme ich auf einen Monatsdurchschnitt von ungefähr
vierundachtzigtausend Einheiten, das heißt etwa
zweitausendachthundert Einheiten, die binnen vierundzwanzig Stunden
der Sonderbehandlung zu unterwerfen wären. Das ist eine ungeheuere
Zahl. "
Er nahm die Zigarre aus dem
Mund und hielt sie hoch. "Irrtum. Sie vergessen, daß es unter den
fünfhunderttausend Einheiten wahrscheinlich eine ziemlich hohe Zahl
von Arbeitstauglichen geben wird, die Sie nicht zu behandeln haben
werden."
Ich dachte darüber nach und
sagte: "Meiner Meinung nach heißt das nur dem Problem ausweichen.
Nach meiner Erfahrung als Lagerkommandant beträgt die
durchschnittliche Dauer der Verwendungsmöglichkeit eines Häftlings
zur Arbeit drei Monate. Danach wird er arbeitsunfähig. Folglich,
angenommen, bei einem Transport von fünftausend Einheiten würden
zweitausend für arbeitstauglich erklärt, ist es klar, daß diese
zweitausend nach einem Vierteljahr zu mir zurückkommen werden und
daß ich sie dann zu behandeln habe."
"Gewiß. Aber Sie haben
wenigstens Zeit gewonnen. Und solange Ihre Einrichtung noch nicht
ganz auf der Höhe ist, wird dieser Aufschub Ihnen zweifellos sehr
wertvoll sein."
Er steckte die Zigarre
wieder in den Mund und schlug ein Bein über das andere. "Sie müssen
wissen, daß nach den ersten sechs Monaten das Tempo der Transporte
beträchtlich gesteigert werden wird."
Ich sah ihn ungläubig an. Er
lächelte, und sein Gesicht wurde wieder entspannt und heiter . Ich
sagte: "Aber das ist schlechterdings unmöglich."
Sein Lächeln verstärkte
sich. Er stand auf und begann seine Handschuhe anzuziehen. "Mein
Lieber", sagte er mit leutseliger und wichtigtuender Miene,
"Napoleon hat gesagt, 'unmöglich' sei kein französisches Wort. Seit
1934 versuchen wir der Welt zu beweisen, daß es kein deutsches Wort
ist."
Er sah auf die Uhr. "Ich
glaube, es ist Zeit, daß Sie mich zum Bahnhof
bringen."
Er nahm seine Mütze. Ich
stand auf. "Bitte, Obersturmbannführer. .."
Er sah mich an.
"Ja?"
"Ich wollte sagen, daß es technisch unmöglich
ist."
Sein Gesicht erstarrte.
"Erlauben Sie", sagte er eisig. "Das ist Ihre Angelegenheit, und
Ihnen allein obliegt die technische Seite der Aufgabe. Ich darf
diese Seite der Frage nicht kennen."
Er hob wieder den Kopf,
senkte die Augenlider etwas und sah mich mit stolzer Ablehnung von
oben bis unten an. "Sie müssen begreifen, daß ich mit der
technischen Seite der Sache nichts zu tun habe. Ich bitte Sie also,
in Zukunft mit mir nicht davon zu sprechen, auch nicht
andeutungsweise. Nur die Zahlen gehören zu meinem
Ressort."
Er machte kehrt, legte die
Hand auf die Türklinke, drehte sich halb um und setzte mit
hochmütiger Miene hinzu: "Meine Aufgabe ist rein
statistisch."
Am nächsten Tage fuhr ich mit Obersturmführer
Setzler zum Lager Treblinka. Es lag nordöstlich von Warschau, nicht
weit vom Bug entfernt. Kommandant war Hauptsturmführer Schmolde. Da
er von den Plänen, die für Auschwitz bestanden, nichts erfahren
durfte, hatte ihm Wulfslang meinen Besuch als einen Inspektions-
und Informationsauftrag hingestellt. Er holte mich im Auto vom
Bahnhof ab. Er war ein Mann unbestimmbaren Alters, grauhaarig und
mager. Sein Blick war merkwürdig leer. Er ließ uns in der
Offizierskantine, in einem Nebenzimmer, ein Frühstück auftragen,
wobei er sich entschuldigte, uns nicht bei sich empfangen zu
können, da seine Frau leidend wäre. Das Essen war ausgezeichnet,
aber Schmolde tat den Mund nur hin und wieder einmal auf, und nur,
wie mir schien, aus Ehrerbietung mir gegenüber. Seine Stimme war
müde und tonlos, und man hatte den Eindruck, daß es ihn Mühe
kostete, einen Laut hervorzubringen. Wenn er sprach, befeuchtete er
fortwährend seine Lippen mit der Zunge. Nach dem Essen servierte
man Kaffee. Nach einer Weile sah Schmolde auf die Uhr, wandte mir
seinen leeren Blick zu und sagte: "Es wären lange Erklärungen
nötig, um Ihnen die Sonderbehandlung zu beschreiben. Deshalb will
ich Ihnen lieber zeigen, wie wir verfahren. Ich glaube, daß Sie
sich auf diese Weise besser ein Bild machen können."
Setzler zog ein abweisendes
Gesicht und drehte den Kopf ruckartig zu mir herum. Ich sagte:
"Gewiß. Das ist ein sehr guter Gedanke."
Schmolde leckte sich die
Lippen und fuhr fort: "Um zwei Uhr geht es los."
Wir sprachen noch ein paar
Minuten. Dann sah Schmolde auf die Uhr und ich auf meine. Ich stand
auf. Schmolde gleichfalls, langsam, wie mit Bedauern. Setzler erhob
sich halb von seinem Stuhl und sagte:
"Entschuldigen Sie mich, ich habe meinen Kaffee
noch nicht ausgetrunken."
Ich blickte auf seine Tasse.
Er hatte sie noch gar nicht angerührt. Ich sagte schroff: "Kommen
Sie nach, wenn Sie fertig sind."
Setzler nickte und setzte
sich. Sein kahler Schädel wurde langsam rot, und er mied meinen
Blick. Schmolde trat beiseite, um mich vorbeizulassen. "Es ist
Ihnen wohl nicht unangenehm, wenn wir zu Fuß gehen? Es ist nicht
weit."
"Durchaus
nicht."
Die Sonne schien sehr warm.
Mitten auf dem Weg, den wir entlanggingen, lief ein Zementstreifen,
auf dem zwei Mann nebeneinander gehen konnten. Das Lager war
vollkommen verlassen, aber im Vorübergehen hörte ich Stimmengewirr
im Innern der Baracken. Ich bemerkte einige Gesichter hinter den
Fensterscheiben und begriff, daß die Häftlinge nicht heraus
durften. Ich bemerkte auch, daß es zweimal soviel Wachtürme gab als
in Auschwitz, obwohl das Lager kleiner war, und stellte fest, daß
der Stacheldrahtzaun elektrisch geladen war. Die Drähte wurden von
schweren Betonpfosten gehalten, die oben nach innen gebogen waren.
Auf diese Weise ragten die obersten Drähte um mindestens sechzig
Zentimeter über das senkrechte Netz zwischen den Pfosten hinaus. Es
war offensichtlich unmöglich, selbst für einen Akrobaten, dieses
Hindernis zu überspringen, ohne es zu berühren. Ich wandte mich an
Schmolde: "Ist ständig Strom darin?"
"Nachts. Aber wir geben
manchmal auch tags Strom, wenn die Häftlinge nervös
sind."
"Sie haben manchmal
Ärger?"
"Oft."
Schmolde leckte sich die
Lippen und fuhr mit langsamer, apathischer Stimme fort:
"
Verständlicherweise, sie
wissen, was sie erwartet."
Ich dachte darüber nach und
sagte: "Ich sehe nicht ein, wie sie es erfahren
können."
Schmolde zog ein Gesicht.
"Grundsätzlich ist es streng geheim. Aber alle Häftlinge des Lagers
sind im Bilde. Und mitunter wissen es sogar die, die
ankommen."
"Von wo kommen
sie?"
"Aus dem Warschauer
Getto."
"Alle?"
Schmolde senkte den Kopf.
"Alle. Meiner Meinung nach gibt es sogar im Getto Leute, die es
wissen. Das Lager ist zu nahe bei Warschau."
Hinter der letzten Baracke
war eine große freie Fläche, dann öffnete uns ein bewaffneter
Posten eine hölzerne Schranke, und wir betraten einen geschotterten
Weg, der rechts und links von einem doppelten
Stacheldrahtzaun flankiert war. Dann kam ein
anderes Tor, das von etwa zehn SS-Männern bewacht wurde. Dahinter
stand eine Wand aus Büschen. Man ging um sie herum, und eine tiefer
liegende lange Baracke wurde sichtbar. Ihre Fensterläden waren
hermetisch verschlossen. Etwa dreißig SS-Männer, mit
Maschinenpistolen bewaffnet und von Hunden begleitet, waren rings
darum aufgestellt. Jemand rief: "Achtung!"
Die SS-Männer erstarrten,
und ein Untersturmführer meldete. Er war blond, hatte ein
viereckiges Gesicht und Säuferaugen. Ich sah mich um. Eine doppelte
Reihe elektrisch geladener Stacheldrähte umgab die Baracke
vollständig und bildete einen zweiten Zaun innerhalb des
Lagerzaunes. Auf der anderen Seite des Stacheldrahts versperrten
Büsche und Tannen die Sicht. "Wollen Sie einen Blick
hineinwerfen?"
fragte Schmolde. Die
SS-Männer entfernten sich, und wir lenkten unsere Schritte zur
Baracke. Die Tür war aus massiver Eiche, mit Eisen beschlagen und
mit einem schweren Metallriegel verschlossen. Im oberen Teil war
ein kleines Guckfenster aus sehr dickem Glas. Schmolde drehte einen
in die Mauer eingelassenen Schalter und versuchte den Sperriegel zu
heben. Es gelang ihm nicht, und der Untersturmführer stürzte
herbei, um ihm zu helfen. Die Tür ging auf. Beim Eintreten hatte
ich den Eindruck, daß mir die Decke auf den Kopf fiele. Ich hätte
sie mit der Hand erreichen können. Drei mächtige vergitterte Lampen
erhellten den Raum. Er war vollkommen leer. Der Fußboden war
zementiert. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich noch eine
Tür, die hinter das Gebäude führte, aber diese hatte kein
Guckfenster . "Die Fenster", sagte Schmolde, "haben natürlich keine
Scheiben. Wie Sie sehen, sind sie vollständig. .."
-er leckte sich die Lippen
". ..dicht und schließen von außen."
Neben einer der vergitterten
Lampen bemerkte ich eine kleine runde Öffnung von etwa fünf
Zentimeter Durchmesser. Ich hörte Rennen, schrille Schreie und
rauhe Befehle. Die Hunde bellten. "Das sind sie", sagte Schmolde.
Er ging mir voraus. Obgleich seine Mütze noch ein paar Zentimeter
von der Decke entfernt war, senkte er den Kopf, während er durch
den Raum schritt. Als ich hinaustrat, kam die Kolonne der Häftlinge
im Laufschritt vom Gebüsch her, SS-Männer und Hunde begleiteten
sie. Geheul, gemischt mit Hundegebell, zerriß die Luft. Ein
Staubwirbel erhob sich, und die SS-Männer traten in Tätigkeit. Als
die Ordnung wiederhergestellt war und der Staub sich gelegt hatte,
konnte ich die Häftlinge besser sehen. Unter ihnen waren einige
kräftige Männer, aber die Mehrzahl der Kolonne setzte sich aus
Frauen und Kindern zusammen. Mehrere Jüdinnen trugen Babys auf dem
Arm. Alle Häftlinge waren in Zivil, und keinem war das Haar
abgeschnitten. "Eigentlich sollte man", sagte Schmolde leise, "mit
diesen da keinen Ärger haben. Sie sind gerade erst
angekommen."
Die SS-Männer ordneten die
Häftlinge zu fünfen. Schmolde machte eine leichte Bewegung mit der
Hand und sagte: "Bitte, Sturmbannführer."
Wir gingen wieder zu dem
Gebüsch. Wir standen so etwas weiter weg, und das abschüssige
Gelände erlaubte uns, die ganze Kolonne mit einem Blick zu
überschauen. Zwei Hauptscharführer und ein Scharführer fingen an,
die Häftlinge zu zählen. Der blonde Untersturmführer stand
unbeweglich vor uns. Ein jüdischer Häftling in gestreifter Uniform
und mit kahlrasiertem Schädel stand rechts von ihm etwas zurück. Am
linken Arm trug er eine Armbinde. Einer der beiden Hauptscharführer
kam herangelaufen, stand vor dem Untersturmführer stramm und rief:
"Zweihundertvier."
Der Untersturmführer sagte:
"Lassen Sie die vier letzten heraustreten und führen Sie sie in die
Baracken zurück!"
Ich wandte mich an Schmolde:
"Warum macht er das?"
. Schmolde befeuchtete seine
Lippen und sagte: "Um den anderen Vertrauen
einzuflößen."
"Dolmetscher", sagte der
Untersturmführer. Der Häftling mit der Armbinde trat einen Schritt
vor, stand stramm, und mit dem Gesicht der Kolonne zugewandt, rief
er etwas auf polnisch. Die drei letzten Häftlinge (zwei Frauen und
ein Mann mit einem verbeulten schwarzen Hut) trennten sich ohne
Schwierigkeit aus der Kolonne. Der vierte war ein kleines Mädchen
von etwa zehn Jahren. Ein Scharführer faßte sie beim Arm. Sofort
stürzte eine Frau vor, riß sie ihm aus den Händen, preßte sie wild
an sich und fing an zu schreien. Zwei SS-Männer gingen auf sie zu,
und die ganze Kolonne fing an zu murren. Der Untersturmführer
zögerte. "Laßt ihr das Kind!"
rief Schmolde. Die beiden
SS-Männer traten wieder ins Glied. Die Jüdin sah sie sich
entfernen, ohne es zu verstehen. Sie hielt ihre Tochter noch immer
umschlungen. "Dolmetscher", sagte Schmolde, "sagen Sie ihr, daß ihr
der Kommandant erlaubt, ihre Tochter bei sich zu behalten. Der
Häftling mit der Armbinde rief ihr einen langen polnischen Satz zu.
Die Jüdin setzte ihr Kind zu Boden, sah mich an und sah Schmolde
an. Dann erhellte ein Licht ihr düsteres Gesicht, und sie rief
etwas zu uns herüber. "Was erzählt sie?"
sagte Schmolde
ungeduldig.
Der Dolmetscher machte vorschriftsmäßig kehrt,
zu uns her, und sagte in vollendetem Deutsch: "Sie sagt, daß Sie
gut seien und daß sie Ihnen dankt."
Schmolde zuckte die Achseln.
Die drei Häftlinge, die in die Baracken zurückgeschickt wurden,
kamen an uns vorbei, gefolgt von einem Scharführer. Die zwei Frauen
gönnten uns keinen Blick. Der Mann sah uns an, zögerte, dann nahm
er mit einer weit ausladenden, eindrucksvollen Geste den
zerbeulten, schwarzen Hut ab. Zwei oder drei unter den Häftlingen
lachten, und die SS-Männer stimmten ein. Schmolde beugte sich zu
mir herüber . "Ich denke, alles wird gut gehen."
Der Untersturmführer wandte
sich mit gelangweilter Miene an den Dolmetscher: "Wie
gewöhnlich."
Der Dolmetscher trat einen
Schritt vor, stand vor uns stramm und hielt eine lange Rede auf
polnisch. Schmolde beugte sich zu mir herüber . "Er sagt ihnen, daß
sie sich ausziehen und aus ihren Sachen ein Bündel machen sollen.
Die Bündel würden zur Desinfektion geschickt und, bis sie ihnen
wiedergegeben werden, die Häftlinge in der Baracke
eingeschlossen."
Sobald der Dolmetscher zu
sprechen aufhörte, brach in der ganzen Kolonne Geschrei und Gemurr
aus. Ich drehte mich zu Schmolde um und sah ihn an. Er schüttelte
den Kopf. "Die normale Reaktion. Wenn sie nichts sagen, muß man
vorsichtig sein."
Der Untersturmführer gab dem
Dolmetscher ein Zeichen. Er fing wieder an zu sprechen. Nach einer
Weile begannen einige Frauen sich auszuziehen. Dann machten sich
allmählich alle daran. Eine oder zwei Minuten verflossen, bis die
Männer es ihnen gleichtaten, langsam und verschämt. Ein paar
SS-Männer traten aus dem Glied und halfen die Kinder ausziehen. Ich
blickte auf die Uhr. Es war halb drei. Ich wandte mich zu Schmolde:
"Würden Sie jemanden schicken, der den Obersturmführer Setzler
holt?"
Ich fügte hinzu: "Er muß
sich verlaufen haben."
Schmolde winkte einen
Scharführer heran und beschrieb ihm Setzler. Der Scharführer rannte
los. Geruch von Menschenfleisch, schwer und unangenehm, zog über
den Hof. Die Häftlinge standen regungslos in der Sonne, unbeholfen
und verlegen. Einige junge Mädchen waren innerhalb ihrer rassischen
Eigenart recht hübsch. Der Untersturmführer gab ihnen den Befehl,
in die Halle einzutreten, und versprach ihnen, die Fenster zu
öffnen, wenn sie alle darin wären. Die Bewegung wurde langsam und
in Ordnung ausgeführt.
Als der letzte Häftling hineingegangen war,
schloß der Untersturmführer selbst die Eichentür und legte den
Sperriegel vor. Sofort sah man mehrere Gesichter hinter dem
Guckfenster. Setzler kam an, rot und schwitzend. Er stand stramm.
"Zur Stelle, Sturmbannführer."
Ich sagte barsch: "Warum
kommen Sie so spät?"
Schmoldes wegen setzte ich
hinzu: "Haben Sie sich verlaufen?"
"Ich habe mich verlaufen,
Sturmbannführer."
Ich winkte ab, und Setzler
stellte sich links neben mich. Der Untersturmführer zog ein
Pfeifchen aus der Tasche und pfiff zweimal. Es wurde still, dann
lief irgendwo ein Automotor an. Die SS-Männer warfen nachlässig den
Riemen ihrer Maschinenpistolen über die Schulter . "Bitte,
Sturmbannführer", sagte Schmolde. Er ging voran, die SS-Männer
entfernten sich, und wir gingen um das Gebäude herum. Setzler
marschierte hinter mir her . Ein großer Lastwagen stand mit dem
hinteren Teil ganz dicht an der Baracke. Ein Rohr, das am Auspuff
befestigt war, stieg senkrecht hoch, machte dann einen Knick und
führte in Höhe der Barackendecke ins Innere. Der Motor lief. "Das
Auspuffgas", sagte Schmolde, "dringt durch die kleine Öffnung neben
der mittleren Lampe in die Halle."
Er horchte einen Augenblick
auf den Motor, runzelte die Stirn und ging zum Führerhaus. Ich
folgte ihm. Ein SS-Mann saß am Lenkrad, eine Zigarette zwischen den
Lippen. Als er Schmolde sah, nahm er die Zigarette aus dem Mund und
beugte sich durch das Türfenster heraus. "Treten Sie doch nicht so
sehr auf den Gashebel!"
sagte Schmolde. Die
Umdrehungen des Motors verminderten sich. Schmolde wandte sich zu
mir. "Sie treten immer ganz durch, um schneller fertig zu werden.
Die Folge ist, daß sie die Patienten ersticken, statt sie
einzuschläfern."
Ein unangenehmer fader
Geruch schwebte in der Luft. Ich blickte mich um. Ich sah nichts
als etwa zwanzig Häftlinge in gestreifter Uniform, in zwei Reihen
aufgestellt, einige Meter vom Wagen entfernt. Sie waren jung, gut
rasiert und schienen kräftig zu sein. "Das Sonderkommando", sagte
Schmolde. "Es hat den Auftrag, die Toten zu
beerdigen."
Einige waren blond und
athletisch gebaut. Sie standen tadellos stramm. "Das sind
Juden?"
"Gewiß."
Setzler beugte sich vor.
"Und sie helfen Ihnen beim... Das erscheint kaum
glaublich!"
Schmolde zuckte mit müdem
Gesicht die Achseln. "Hier ist alles
möglich."
Und er wandte sich wieder an
mich: "Bitte, Sturmbannführer. .."
Ich folgte ihm. Wir
entfernten uns von dem Gebäude. Je weiter wir gingen, um so stärker
wurde der Gestank. Nach etwa hundert Metern tat sich ein breiter
und sehr tiefer Graben vor uns auf. Hunderte von Leichen waren in
drei parallelen Reihen darin aufgeschichtet. Setzler schreckte
zurück und drehte der eichengrube den Rücken zu. "Das schwerste
Problem", sagte Schmolde in seinem gleichgültigen Ton, "ist das
Leichenproblem. Wir werden bald keinen Platz mehr für Gräben haben.
Deshalb müssen wir die Gräben sehr tief ausheben und mit dem
Schließen warten, bis sie voll sind. Doch sogar so werde ich bald
kein Gelände mehr dafür haben."
Er ließ seinen leeren Blick
umherschweifen, verzog das Gesicht und fuhr entmutigt fort: "Die
Leichen nehmen zuviel Platz weg."
Darauf entstand ein
Schweigen, bis er sagte; "Bitte, Sturmbannführer. .."
Ich machte kehrt, ließ
Schmolde einen kleinen Vorsprung und näherte mich Setzler. Sein
Gesicht sah grau aus. Ich sagte scharf, aber leise: "Nehmen Sie
sich bitte zusammen!"
Ich holte Schmolde wieder
ein. Der Motor des Lastwagens summte leise. Als wir nahe an der
Baracke waren, trat Schmolde ans Führerhaus, und der SS-Mann beugte
sich zur Tür heraus. "Treten Sie jetzt durch!"
sagte Schmolde. Die
Tourenzahl des Motors schwoll gewaltig an, und die Motorhaube fing
an zu zittern. Wir gingen um das Gebäude herum. Es waren nur noch
ein Dutzend SS-Männer auf dem Hof. Schmolde sagte: "Wollen Sie
einen Blick hineinwerfen?"
"Gewiß."
Wir gingen zur Tür hin, und
ich blickte durch das Guckfenster . Die Häftlinge lagen in Trauben
auf dem Zement. Ihre Gesichter waren friedlich, und abgesehen
davon, daß die Augen weit geöffnet waren, schienen sie nur zu
schlafen. Ich sah auf die Uhr, es war drei Uhr zehn. Ich drehte
mich zu Schmolde um. "Wann öffnen Sie die Türen?"
"Das ist sehr verschieden.
Alles hängt von der Temperatur ab. Wenn trockenes Wetter ist wie
heute, geht es ziemlich schnell."
Schmolde blickte seinerseits
durch das Guckfenster . "Es ist vorüber."
"Woran sehen Sie
das?"
"An der Färbung der Haut.
Sie ist blaß mit einem Anflug von Rot auf den
Backenknochen."
"Haben Sie sich schon einmal
geirrt?"
"Am Anfang ja. Die Leute
wurden wieder lebendig, als die Fenster geöffnet wurden. Wir mußten
von neuem anfangen."
"Warum öffnen Sie die
Fenster?"
"Um zu lüften und um es dem Sonderkommando zu
ermöglichen, den Raum zu betreten."
Ich brannte mir eine
Zigarette an und sagte: "
Was geschieht
dann?"
"Das Sonderkommando schafft
die Leichen hinaus hinter das Gebäude. Eine Gruppe lädt sie auf den
LKW. Der fährt sie zum Graben und kippt sie dort aus. Eine andere
Gruppe ordnet die Leichen auf dem Grunde des Grabens. Man muß sie
sehr sorgfältig schichten, damit sie sowenig Platz wie möglich
wegnehmen."
Mit müder Stimme setzte er
hinzu: "Ich werde bald keinen Platz mehr haben."
Er wandte sich an Setzler.
"Wollen Sie hineinsehen?"
Setzler zögerte, sein Blick
glitt schnell zu mir herüber, und er sagte mit schwacher Stimme:
"Gewiß."
Er warf einen Blick durch
das Guckfenster und rief aus: "Sie sind ja nackt!"
Schmolde sagte in seinem
gleichgültigen Ton: "Wir haben Befehl, ihnen die Kleidungsstücke
abzunehmen."
Er setzte hinzu: "Es würde
viel Zeit beanspruchen, sie auszuziehen, wenn man sie in Kleidern
tötete."
Setzler blickte durch das
Guckfenster. Er beschattete seine Augen mit der Hand, um besser
sehen zu können. "Außerdem", sagte Schmolde, "wenn die Chauffeure
sehr stark auf den Gashebel treten, sterben sie durch Ersticken,
sie leiden sehr und lassen Kot fahren. Die Kleider würden
beschmutzt werden."
"Sie haben so friedliche
Gesichter", sagte Setzler, die Stirn an das Guckfenster gedrückt.
Schmolde wandte sich zu mir . "Wollen Sie die Fortsetzung
sehen?"
"Das ist überflüssig. Sie
haben es ja beschrieben."
Ich machte kehrt, und
Schmolde schloß sich mir an. Nach ein paar Metern drehte ich mich
um und sagte: "Kommen Sie, Setzler!"
Setzler riß sich vom
Guckfenster los und folgte uns. Schmolde sah auf die Uhr . Ihr Zug
geht in einer Stunde. Vielleicht haben wir noch Zeit für eine
Erfrischung."
Ich nickte, und wir legten
den Rest des Weges schweigend zurück. In dem kleinen Zimmer der
Kantine erwarteten uns eine Flasche Rheinwein und trockener Kuchen.
Ich hatte keinen Hunger, aber der Wein war sehr willkommen. Nach
einer Weile sagte ich: Warum erschießt man sie nicht?"
Das ist zu kostspielig",
sagte Schmolde, und braucht Zeit und viele Leute."
Er setzte hinzu: "Doch wir
machen es, wenn unsere LKWs eine Panne haben."
"Kommt das
vor?"
"Oft. Es sind alte, den Russen abgenommene
Lastwagen. Sie sind stark mitgenommen, und wir haben keine
Ersatzteile. Und mitunter fehlt es an Sprit. Oder der Sprit ist
schlecht und das Gas nicht giftig genug."
Ich drehte mein Glas in den
Händen und sagte: "Nach Ihrer Meinung ist das Verfahren also nicht
sicher?"
Nein", sagte Schmolde, "es
ist nicht sicher."
Ein Schweigen entstand, bis
Setzler sagte: "Auf jeden Fall ist es human. Die Leute schlafen
ein, das ist alles. Sie gleiten sacht in den Tod. Sie haben doch
bemerkt, daß sie friedlich aussehen."
Schmolde zuckte die Achseln.
"Wenn ich dabei bin."
Setzler sah ihn neugierig
an, und Schmolde fuhr fort: "Wenn ich dabei bin, tritt der
Chauffeur den Gashebel nicht durch."
Ich sagte: "Könnte man zum
Vergasen nicht zwei LKWs ansetzen statt einem? Die Sache würde
schneller gehen."
Nein", sagte Schmolde, ich
habe zehn Gaskammern zu zweihundert Personen, aber habe nie mehr
als vier Wagen fahrbereit. Wenn ich einen Wagen an einer Kammer
ansetze, vergase ich achthundert Personen in einer halben Stunde.
Wenn ich zwei Wagen ansetze, würde ich vielleicht -vielleicht!
-vierhundert Personen in einer Viertelstundevergasen.
Abertatsächlich würde ich keine Zeit gewinnen, denn nachher blieben
mir immer noch vierhundert zu vergasen."
Er setzte hinzu:
"Selbstverständlich wird man mir niemals neue Wagen
liefern."
Ich erwiderte nach einer
Weile: "Man müßte ein sichereres Mittel haben, zum Beispiel ein
erstickendes Gas wie 1917."
"Ich weiß nicht, ob da noch
welches hergestellt wird", sagte Schmolde. "In diesem Krieg hat man
noch keins angewendet."
Er leerte sein Glas in einem
Zug und ging zum Tisch, um es von neuem zu füllen. "Tatsächlich ist
das größte Problem nicht das Vergasen, sondern das Beerdigen. Ich
kann nicht schneller vergasen, als ich beerdige. Und beerdigen
nimmt Zeit in Anspruch."
Er trank einen Schluck und
fuhr fort: "Meine Leistung in vierundzwanzig Stunden hat nie
fünfhundert Einheiten erreicht."
Er schüttelte den Kopf.
"Wohlgemerkt, der Reichsführer hat allen Grund, dieses Ergebnis
mittelmäßig zu finden. Andererseits ist es eine Tatsache, daß ich
nie neue Wagen habe erhalten können."
Er blickte im Zimmer umher
und sagte gleichgültig: "Es gibt auch Revolten. Sie verstehen, die
wissen, was sie erwartet. Manchmal weigern sie sich ganz einfach,
die Halle zu betreten. Manchmal stürzen sie sich sogar auf unsere
Männer. Selbstverständlich werden wir damit fertig. Aber das kostet
wieder Zeit."
Ein Schweigen entstand, und dann sagte ich:
"
Wenn sie revoltieren, ist
meiner Meinung nach die psychologische Vorbereitung nicht gut. Sie
sagen ihnen: 'Eure Kleider werden entlaust, und während dieser Zeit
wartet ihr in dieser Halle.' Aber in Wirklichkeit wissen sie sehr
wohl, daß dies nirgends so vor sich geht. Normalerweise gibt man
jemandem, wenn man seine Sachen entlaust, eine Dusche. Man muß sich
an ihre Stelle versetzen. Sie wissen sehr gut, daß man sie
entlauste Kleidungsstücke nicht wieder anziehen lassen wird, wenn
sie selbst noch voller Läuse sind. Das ist sinnlos. Sogar ein
zehnjähriges Kind würde verstehen, daß die Sache verdächtig
ist."
"Gewiß, Sturmbannführer",
sagte Schmolde, "das ist ein interessanter Punkt. Aber das
Hauptproblem. .."
Er leerte sein Glas in einem
Zug, stellte es auf den Tisch zurück und sagte: "Aber das
Hauptproblem ist das der Leichen."
Er warf mir einen
bezeichnenden Blick zu und sagte: "Sie werden es
sehen."
Ich sagte trocken: "Ich
verstehe den Sinn Ihrer Bemerkung nicht. Ich bin nur zur
Information hier."
Schmolde wandte den Blick
weg und sagte in neutralem Ton: "Gewiß, Sturmbannführer. So
verstehe ich es auch. Ich habe mich schlecht
ausgedrückt."
Darauf entstand ein langes
Schweigen, und plötzlich sagte Setzler: "Könnte man nicht
wenigstens die Frauen verschonen?"
Schmolde schüttelte den
Kopf. "Es ist selbstverständlich, daß man besonders sie vernichten
muß. Wie kann man eine Tierart unterdrücken, wenn man die Weibchen
erhält?"
"Richtig,
richtig!"
sagte Setzler. Dann setzte
er leise und kaum verständlich hinzu: "Trotzdem ist es
entsetzlich."
Ich blickte ihn an. Sein
großer gekrümmter Körper war wie zerbrochen. Seine Zigarette
verzehrte sich von selbst in seiner Rechten. Schmolde trat mit
steifen Schritten an den Tisch und goß sich ein Glas Wein
ein.
Ich verbrachte die
folgende Woche in schrecklicher Angst. Die Leistung von Treblinka
betrug fünfhundert Einheiten in vierundzwanzig Stunden, die von
Auschwitz sollte dem Programm nach dreitausend Einheiten betragen;
in knapp vier Wochen sollte ich dem Reichsführer einen Gesamtplan
in dieser Frage vorlegen, und ich hatte noch keine Vorstellung
davon. Ich betrachtete das Problem vergeblich von allen Seiten, es
gelang mir nicht einmal, die Lösung auch nur von ferne zu sehen.
Zwanzigmal am Tage war mir die Kehle angesichts der Gewißheit
eines
Mißerfolgs wie zugeschnürt, und ich wiederholte
mit Entsetzen, daß ich gleich zu Anfang in der Erfüllung meiner
Pflicht kläglich scheitern würde. In der Tat sah ich sehr gut ein,
daß ich eine sechsmal höhere Leistung erreichen müßte als in
Treblinka, aber ich sah keinerlei Möglichkeit, sie zu erreichen. Es
war leicht, sechsmal soviel Räume zu errichten wie in Treblinka,
aber das hätte nichts genützt. Man hätte auch sechsmal soviel LKWs
haben müssen, und in dieser Beziehung gab ich mich keiner Täuschung
hin. Wenn Schmolde trotz all seiner Bitten keine zusätzliche
Lieferung erhalten hatte, verstand es sich von selbst, daß ich sie
ebensowenig erhalten würde. Ich schloß mich in mein Büro ein und
verbrachte ganze Nachmittage über dem Versuch, mich zu
konzentrieren. Es gelang mir nicht; eine unwiderstehliche Lust
überkam mich, aufzustehen und aus dem Büro hinauszulaufen, dessen
vier Wände mich erstickten; ich zwang mich, mich wieder
hinzusetzen; mein Geist war ein völlig unbeschriebenes Blatt, und
ich empfand ein tiefes Gefühl der Scham und Impotenz bei dem
Gedanken, daß ich der Aufgabe nicht gewachsen war, die der
Reichsführer mir gestellt hatte. Endlich kam mir eines Nachmittags
der Gedanke, daß ich nie zu etwas käme, wenn ich fortführe, mich im
luftleeren Raum zu bewegen, ohne daß meine Gedanken zu einem
greifbaren Resultat führten, und ich entschloß mich, in meinem
eigenen Lager die Einrichtung von Treblinka nachzuahmen, als eine
Art Versuchsstation, die mir erlauben würde, die neuen Methoden,
die ich suchte, auszubilden. Sobald das Wort Versuchsstation in
meinem Geiste aufsprang, war es mit einem Schlage, als ob ein
Schleier zerriß, sich die Furcht vor dem Mißerfolg zerteilte und
ein Gefühl der Kraft, der Wichtigkeit und Nützlichkeit mich wie ein
Pfeil durchdrang. Ich stand auf, nahm meine Mütze, verließ mein
Büro, stürmte in das Setzlers und sagte rasch: "Kommen Sie,
Setzler, ich brauche Sie."
Ohne eine Antwort
abzuwarten, ging ich hinaus, sprang die Stufen der Terrasse
hinunter, stieg ins Auto, der Chauffeur setzte sich schnell ans
Lenkrad, ich sagte: "
Warten Sie!"
Setzler erschien, er setzte
sich neben mich, und ich sagte: "Nach Birkenau, zu den enteigneten
Gehöften."
-"Sturmbannführer", sagte
der Chauffeur, "dort ist ein richtiger Sumpf."
Ich erwiderte schroff: "Tun
Sie, was man Ihnen sagt."
Er fuhr los, ich beugte mich
zu ihm vor und rief: "Schneller!"
und das Auto raste. Ich
hatte das Gefühl, mit der Schnelligkeit und Wirkungskraft einer
Maschine zu handeln. Zweihundert Meter vor den Gehöften versank
mitten im Walde das Auto im Schlamm. Ich schrieb einen Zettel für
den diensthabenden Lagerführer und befahl dem Chauffeur, ihn ins
Lager zu bringen. Er eilte im Laufschritt davon, ich versuchte, die
Gehöfte, deren Schieferdächer ich andeutungsweise zwischen den
Bäumen erkennen konnte, zu Fuß zu erreichen. Nach ein paar Metern
mußte ich es aufgeben. Meine Stiefel sanken bis an die Waden ein.
Zwanzig Minuten später trafen zwei LKWs mit Häftlingen und
SS-Männern ein, Kommandorufe ertönten, die Häftlinge sprangen ab
und fingen an, Zweige abzuschneiden und einen Faschinenweg zu den
Gehöften hin zu bauen. Mein Wagen wurde frei gemacht, und der
Chauffeur kehrte ins Lager zurück, um zwei weitere Wagen zu holen.
Ich gab Setzler den Befehl, die Arbeit zu beschleunigen. Die
SS-Männer traten in Tätigkeit, man hörte dumpfe Schläge, und die
Häftlinge begannen wie die Verrückten zu arbeiten. Die Nacht brach
herein, als der Faschinenweg bis an die Gehöfte herangeführt war.
Setzler beschäftigte sich damit, Scheinwerfer zu installieren, die
an den nächsten Mast der elektrischen Leitung angeschlossen wurden.
Ich durchsuchte sorgfältig die Gehöfte. Als ich herauskam, ließ ich
Setzler rufen; ein Scharführer rannte los, und nach zwei Minuten
erschien Setzler. Ich zeigte ihm die Gehöfte und erklärte ihm die
Arbeit. Als ich damit fertig war, blickte ich ihn an und sagte:
"Binnen drei Tagen."
Er starrte mich an, öffnete
den Mund, aber ich wiederholte betont: "Binnen drei
Tagen!"
Ich verließ die Baustelle
nur zum Essen und Schlafen, Setzler löste mich dabei ab, wir
trieben die Arbeit mit unerhörter Hast voran, und am Abend des
dritten Tages waren zwei kleine Hallen für je zweihundert Personen
fertig. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte noch nichts Bestimmtes
beschlossen. Aber die Durchführung meiner Aufgabe hatte einen
Anfang genommen, und ich verfügte jetzt über eine Versuchsstation,
dank der ich täglich meine Gedanken auf die Probe stellen konnte.
Ich brachte unverzüglich eine beachtliche Verbesserung gegenüber
dem System von Treblinka an. Ich ließ an beiden Gebäuden die
Inschrift "Desinfektionsraum"
und im Innern zum Schein
Brausen und Rohrleitungen anbringen, um bei den Häftlingen den
Eindruck zu erwecken, man führe sie zum Waschen dahin. Immer in
demselben Sinne gab ich dem diensttuenden Untersturmführer die
Anweisung, er solle den Häftlingen ankündigen, daß sie nach der
Dusche heißen Kaffee erhielten. Außerdem solle er mit ihnen in den
"Desinfektionsraum"
und unter Scherzen (indem er
sich entschuldigte, ihnen keine Seife liefern zu können) von Gruppe
zu Gruppe gehen, bis alle darin wären. Ich setzte unverzüglich die
Einrichtung in Betrieb, und die Erfahrung bewies die Wirksamkeit
dieser Maßnahmen. Die Häftlinge zeigten kein Widerstreben, die
Halle zu betreten, und ich konnte infolgedessen die Verzögerungen
und Verdrießlichkeiten, die durch Revolten verursacht werden, als
ausgeschaltet betrachten. Es blieb noch das Problem der Vergasung.
Von Anfang an hatte ich die Verwendung der LKWs als Notbehelf
angesehen, und während der zwei folgenden Wochen suchte ich
fieberhaft nach einem schnelleren und sichereren Verfahren. Ich
nahm einen Gedanken wieder auf, den ich Schmolde vorgeschlagen
hatte, und ließ durch Vermittlung von Wulfslang beim Reichsführer
anfragen, ob es nicht möglich wäre, mir eine gewisse Menge
erstickenden Gases zu bewilligen. Man antwortete mir, die Wehrmacht
bewahre Vorräte davon auf (um mit Repressalien vorgehen zu können,
im Fall, daß der Feind zuerst davon Gebrauch mache), daß aber die
SS keine Belieferung dieser Art verlangen könne, ohne die stets
vorhandene, mehr oder weniger böswillige Neugier der Wehrmacht
gegenüber der Tätigkeit der SS zu wecken. Ich verzweifelte fast,
eine Lösung dieser beträchtlichen Schwierigkeit zu finden, als ein
von der Vorsehung gewollter Zufall sie mir lieferte. Eine Woche vor
dem vom Reichsführer für die Einreichung des Plans festgesetzten
Termin wurde ich offiziell vom Besuch des Inspekteurs der Lager,
Gruppenführer Görtz, benachrichtigt. Daher ließ ich eine große
Reinigung aller Räumlichkeiten des KZ vornehmen, und am Vortage der
Inspektion besichtigte ich sie selbst mit peinlichster Genauigkeit.
Dabei geriet ich in einen kleinen Raum, wo ein Haufen kleiner
zylindrischer Büchsen aufgestapelt war, auf denen
"Giftgas"
stand, und darunter Cyclon
B". Es war der Überrest des Materials,das die Firma Weerle &
Frischler ein Jahr vorher geliefert hatte, um die Kasernen der
polnischen Artilleristen von Ungeziefer zu befreien. Diese Behälter
wogen ein Kilo, sie waren hermetisch verschlossen, und wenn man sie
öffnete, zeigten sie, wie ich mich erinnerte, grüne Kristalle, die
beim Zusammentreffen mit dem Sauerstoff der Luft Gas entwickelten.
Ich erinnerte mich auch, daß Weerle & Frischler uns zwei
Techniker gesandt, daß diese Gasmasken angelegt und alle möglichen
Vorsichtsmaßregeln getroffen hatten, ehe sie die Behälter öffneten,
und ich schloß daraus, daß dieses Gas für den Menschen ebenso
gefährlich sei wie für Ungeziefer . Ich verfügte unverzüglich,
seine Eigenschaften auszuprobieren. Ich ließ in die Mauer der zwei
provisorischen Anlagen von Birkenau ein Loch von entsprechendem
Durchmesser machen und außen mit einer Klappe versehen.
Untaugliche, an Zahl zweihundert, wurden in dem Raum versammelt,
und ich ließ den Inhalt einer Büchse Cyclon B durch diese Öffnung
hineinschütten. Sofort ging darin ein Geheul los, und die Tür wie
die Mauern ertönten von heftigen Schlägen. Dann wurden die Schreie
schwächer, und nach fünf Minuten herrschte völlige Stille. Ich ließ
an die SS-Männer Gasmasken verteilen und gab Befehl, alle Öffnungen
aufzumachen, um Durchzug zu schaffen. Ich wartete noch einige
Minuten und betrat als erster die Halle. Der Tod hatte sein Werk
getan. Das Ergebnis meines Versuchs überstieg meine Hoffnung. Eine
Kilodose Cyclon B hatte genügt, um in zehn Minuten zweihundert
Untaugliche zu liquidieren. Der Zeitgewinn war beträchtlich, da man
mit dem System von Treblinka eine halbe Stunde brauchte, wenn nicht
mehr, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Außerdem wurde man nicht
durch die Zahl der LKWs, durch Pannen oder Mangel an Treibstoff
eingeschränkt. Endlich war das Verfahren sparsam, da das Kilo
Giftgas -wie ich sofort feststellte -nur drei Mark fünfzig kostete.
Mir wurde klar, daß ich die Lösung des Problems gefunden hatte.
Gleichzeitig erkannte ich die wichtige Folge, die sich daraus
ergab. In der Tat, es verstand sich von selbst, daß das System der
kleinen Räume zu je zweihundert Personen aufgegeben werden mußte,
das ich Treblinka entlehnt hatte. Das verhältnismäßig geringe
Fassungsvermögen dieser Kammern rechtfertigte sich nur durch die
geringe Menge Gas, die ein Kraftwagenmotor erzeugen konnte, denn es
stellten sich tatsächlich bloß Nachteile heraus, wenn man eine
Anlieferung von zweitausend Untauglichen in kleinen Gruppen zu
zweihundert Einheiten aufteilen und zu den verschiedenen Hallen in
Marsch setzen mußte. Das Verfahren nahm Zeit in Anspruch,
erforderte einen komplizierten Ordnungsdienst und stellte in Fällen
gleichzeitiger Meutereien sogar ernste Probleme. Diesen
Unannehmlichkeiten half die Verwendung von Cyclon B offensichtlich
ab. Da man nicht mehr durch die geringe Leistungsfähigkeit eines
LKWs, der das Gas erzeugte, beschränkt wurde, war es in der Tat
klar, daß, wenn man die erforderliche Zahl von Büchsen Cyclon B
verwandte, man in einer einzigen Halle die ganze Anlieferung
vergasen konnte. Indem ich den Bau einer Halle von so großartigen
Dimensionen ins Auge faßte, wurde mir bewußt, daß ich zum ersten
Male Mittel ersann, die der historischen Aufgabe, die mir oblag,
entsprachen. Es mußte nicht bloß schnell gehen, es mußte großzügig
geschehen, und zwar gleich von Anfang an. Indem ich darüber
nachdachte, kam ich zu der Überzeugung, daß die Halle unterirdisch
und aus Beton sein müsse, sowohl um dem verzweifelten Ansturm einer
so beträchtlichen Masse von Opfern standzuhalten, wie um die
Schreie zu ersticken. Daraus folgte ferner, daß, wenn man keine
Fenster mehr einbaute, durch die nach der Vergasung der Raum
gelüftet werden konnte, man für ein künstliches Lüftungssystem
sorgen mußte. Bei weiterem Nachdenken erschien es gleichfalls
wünschenswert, vor diesem Raum einen Auskleideraum anzuordnen (mit
Bänken, Kleiderhaken oder Kleiderbügeln ausgestattet), der einen
geeigneten Anblick bieten würde, um die Patienten zu beruhigen.
Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Personalfrage, und
hier schien es mir, als hätte Schmolde einen schweren Irrtum
begangen, indem er nicht vorausgesehen hatte, daß das
Sonderkommando der SS und das Sonderkommando der Häftlinge beide an
Ort und Stelle wohnen und vom übrigen Lager streng isoliert sein
mußten. Es war doch selbstverständlich, daß diese Einrichtung
Zeitgewinn bedeutete und die unbedingte Geheimhaltung der Vorgänge
gewährleistete, die sie verlangten. Mir ging auch auf, daß man die
Gaskammern mit dem Bahnhof verbinden und eine Eisenbahnstrecke
bauen müsse, welche die Transporte bis vor die Tür brächten, sowohl
um Zeitverluste zu vermeiden, als auch um den Inhalt der Züge vor
der Zivilbevölkerung von Auschwitz zu verbergen. So nahm allmählich
in meinem Geiste der Gedanke einer riesigen industriellen Anlage
mit berauschender Deutlichkeit Gestalt an, einer Anlage, die direkt
von der Eisenbahn beliefert wurde und deren Oberbauten, die sich
über ungeheuren unterirdischen Hallen erhoben, Kantinen für das
Personal, Küchen, Schlafräume, Beutekammern sowie Sezier- und
Arbeitssäle für die nationalsozialistischen Wissenschaftler
umfassen würden.
Achtundvierzig Stunden vor dem von Himmler
festgesetzten Termin meldete ich dem Obersturmbannführer Wulfslang
telefonisch, der für den Reichsführer bestimmte Plan würde am
festgesetzten Tage fertig sein, und ich klapperte ihn von Anfang
bis zu Ende auf der Schreibmaschine selbst herunter. Dazu brauchte
ich viel Zeit. Um acht Uhr abends telefonierte ich Elsie, sie solle
nicht auf mich warten, und telefonierte auch in die Kantine, mir
eine kalte Mahlzeit ins Büro zu schicken. Ich aß hastig und setzte
dann meine Arbeit fort. Um elf las ich die Blätter noch einmal
sorgfältig durch, setzte meine Unterschrift darunter und steckte
sie in einen Umschlag, den ich mit fünf Wachssiegeln verschloß. Ich
steckte den Umschlag in die linke Innentasche meiner Bluse und
bestellte meinen Wagen. Ich nahm auf dem hinteren Sitz Platz, der
Chauffeur fuhr los, ich ließ meinen Kopf auf das Aktenstück sinken
und schloß die Augen. Es wurde scharf gebremst, ich wachte auf,
eine elektrische Lampe war auf mich gerichtet und das Auto von SS
umringt. Wir befanden uns unter dem Eingangsturm des Lager .
"Entschuldigen Sie, Sturmbannführer", sagte eine Stimme, "aber
gewöhnlich schalten Sie die Deckenlampe ein."
"Macht nichts,
Hauptscharführer."
"Das Innere des Wagens war
dunkel, und ich habe sehen wollen, wer es war. Entschuldigen Sie
nochmals, Sturmbannführer."
"Schon gut. Man hat immer
Grund, mißtrauisch zu sein."
Ich winkte ab, der
Hauptscharführer knallte die Hacken zusammen, das zweiflügelige Tor
aus Stacheldraht öffnete sich knarrend, und das Auto fuhr los. Ich
wußte, daß irgendwo auf der Landstraße noch eine SS-Streife war,
und schaltete die Deckenlampe ein. Ich ließ den Chauffeur
fünfhundert Meter vor der Villa halten und schickte ihn ins Lager
zurück. Ich fürchtete, das Geräusch des Motors würde die Kinder
wecken. Beim Gehen merkte ich, daß auf der Straße Löcher waren, und
nahm mir vor, am nächsten Tag eine Mannschaft von Häftlingen
herzuschicken, um sie auszubessern. Ich war sehr müde, aber die
paar Schritte machten mir Vergnügen. Es war eine schöne, laue,
helle Julinacht. Ich öffnete die Tür mit meinem Hauptschlüssel,
schloß sie wieder behutsam, legte Mütze und Handschuhe auf das
Tischchen in der Diele und ging in mein Arbeitszimmer. So nannte
ich einen kleinen Raum, der dem Eßzimmer gegenüberlag und wo ich
schlief, wenn ich spät aus dem Lager heimkam. Er enthielt einen
Tisch, einen Rohrstuhl, einen kleinen Waschtisch, ein Feldbett und
über dem Tisch ein Regal aus Weichholz mit ein paar gebundenen
Büchern. Elsie sagte, es wäre eine richtige Mönchszelle, aber es
gefiel mir eben so. Ich setzte mich, tastete mechanisch die linke
Seite meiner Bluse ab, um mich zu vergewissern, daß der Bericht
noch da war, zog die Stiefel aus und begann in Hausschuhen
geräuschlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich war sehr müde, aber
ich war noch nicht schläfrig. Es klopfte zweimalleicht an die Tür,
ich sagte: "Herein!"
und Elsie erschien. Sie trug
den hübscheren ihrer zwei Morgenröcke, und ich bemerkte mit
Verwunderung, daß sie sogar parfümiert war. "Störe ich dich auch
nicht?"
"Nicht doch, komm nur
herein!"
Sie schloß die Tür hinter
sich, und ich küßte sie auf die Wange. Ich fühlte mich gehemmt,
weil ich die Stiefel nicht anhatte und ich so kleiner war als sie.
Ich sagte barsch: "Setz dich doch, Elsie!"
Sie nahm auf dem Feldbett
Platz und sagte verlegen: "Ich habe dich kommen
hören."
"Ich war doch
leise."
,Ja", sagte sie, "du bist
immer sehr leise."
Ein Schweigen trat ein, und
sie fuhr fort: "Ich wollte mit dir sprechen."
"Jetzt?"
Sie sagte zögernd: "Wenn es
dir recht ist."
Sie fügte hinzu: "Du mußt es doch verstehen, ich
sehe dich in der letzten Zeit nicht mehr viel."
"Ich kann nicht tun und
lassen, was ich will."
Sie sah mich an und begann
wieder: "Du siehst sehr müde aus, Rudolf. Du arbeitest
zuviel."
"Ja, ja."
Ich fuhr fort: "Du hast mit
mir zu sprechen, Elsie?"
Sie wurde langsam rot und
sagte mit gepreßter Stimme: "Es handelt sich um die
Kinder."
"Ja?"
"Es ist wegen ihres
Unterrichts. Wenn wir wieder nach Deutschland kommen, werden sie
weit zurück sein."
Ich nickte, und sie fuhr
fort: "Ich habe darüber mit Frau Bethmann und Frau Pick gesprochen.
Ihre Kinder sind in derselben Lage, und sie machen sich auch
deswegen Sorgen. .."
"Ja?"
"Da habe ich gedacht.
.."
"Ja?"
"
...daß wir vielleicht für
die Kinder der Offiziere eine deutsche Lehrerin kommen lassen
könnten."
Ich blickte sie an. "Das ist
ein sehr guter Gedanke, Elsie. Laß sie unverzüglich kommen. Ich
hätte schon eher daran denken sollen."
"Es ist nur", sagte Elsie
zögernd, "daß ich nicht weiß, wo man sie unterbringen soll.
.."
"Aber bei uns
natürlich."
Ich tastete mechanisch die
linke Seite meiner Bluse ab und sagte: "Da wäre wieder eine
Angelegenheit geregelt."
Elsie blieb sitzen. Sie
hatte die Augen niedergeschlagen und beide Hände auf den Knien
liegen. Ein Schweigen entstand, dann hob sie den Kopf und sagte mit
Anstrengung: "
Willst du dich nicht zu mir
setzen, Rudolf?"
Ich sah sie an. "Aber
gewiß."
Ich setzte mich neben sie
und roch wieder ihr Parfüm. Es sah Elsie so wenig ähnlich, sich zu
parfümieren. "Hast du mir noch etwas zu sagen, Elsie?"
"Nein", sagte sie zögernd.
"Ich möchte nur ein bißchen schwatzen."
Sie faßte mich bei der Hand,
ich wandte ihr leicht den Kopf zu. "Ich sehe dich in der letzten
Zeit nicht mehr viel, Rudolf."
"Ich habe viel
Arbeit."
"Ja", sagte sie traurig.
"aber auch im Bruch hast du viel gearbeitet, und ich habe auch viel
gearbeitet, aber es war nicht dasselbe."
Ein Schweigen trat ein, dann
fuhr sie fort: "Im Bruch hatten wir kein Geld, keine
Bequemlichkeit, kein Dienstmädchen, kein Auto, und trotzdem.
.."
"Komm doch nicht immer
darauf zurück, Elsie!"
Ich stand jäh auf und sagte heftig: "Glaubst du
etwa nicht, daß auch ich. .."
Ich unterbrach mich, tat ein
paar Schritte durchs Zimmer und fuhr mit ruhigerer Stimme fort:
"Ich bin hier, weil ich hier am nützlichsten bin."
Nach einer Weile begann
Elsie wieder: "
Willst du dich nicht wieder
setzen, Rudolf?"
Ich setzte mich auf das
Feldbett, sie rückte etwas näher an mich heran und ergriff wieder
meine Hand. "Rudolf", sagte sie, ohne mich anzusehen, "ist es
wirklich notwendig, daß du jeden Abend hier schläfst?"
Ich blickte weg. "Aber du
weißt doch, daß ich zu unmöglichen Zeiten nach Hause komme. Ich
will die Kinder nicht aufwecken."
Sie sagte leise: "Du machst
so wenig Lärm. Und ich könnte dir die Hausschuhe auf die Diele
stellen."
Ich sagte, ohne sie direkt
anzusehen: "Es ist doch nicht nur das. Ich schlafe in der letzten
Zeit sehr schlecht. Ich wälze mich im Bett hin und her. Und
manchmal stehe ich auf, um eine Zigarette zu rauchen oder um ein
Glas Wasser zu trinken. Ich will dich nicht stören."
Ich roch ihr Parfüm stärker
und begriff, daß sie sich zu mir beugte. "Du würdest mich nicht
stören."
Sie legte ihre Hand auf
meine Schulter. "Rudolf", sagte sie leise, "du bist noch nie so
lange weggeblieben. .."
Ich sagte schroff: "Sprich
doch nicht von solchen Dingen, Elsie. Du weißt doch, daß mir das
peinlich ist. .."
Es entstand ein langes
Stillschweigen, ich blickte ins Leere und sagte dann: "Du weißt
doch, daß ich nicht sinnlich veranlagt bin."
Ihre Hand legte sich auf die
meine. "Das ist es nicht. Ich finde nur, daß du verändert bist.
Seit deiner Reise nach Berlin bist du verändert."
Ich sagte unwirsch: "Du bist
verrückt, Elsie."
Ich stand auf, ging zum
Tisch und brannte mir eine Zigarette an. Hinter mir hörte ich ihre
besorgte Stimme: "Du rauchst zuviel."
"Ja, ja."
Ich führte die Zigarette an
meine Lippen und strich mit der Hand über meine Bücher. "Was hast
du denn, Rudolf?"
"Nichts. Gar
nichts."
Ich drehte mich zu ihr um.
"Mußt auch du mich quälen, Elsie?"
Sie stand auf, die Augen
voller Tränen, und warf sich in meine Arme. "Ich will dich doch
nicht quälen, Rudolf. Es ist nur, daß ich glaube, du hast mich
nicht mehr lieb."
Ich streichelte ihr Haar und sagte mit
Anstrengung: "Natürlich habe ich dich lieb."
Nach einer Weile sagte sie:
"Im Bruch waren wir zuletzt wirklich glücklich. Erinnerst du dich?
Wir legten Geld für das Gut beiseite, es war eine schöne Zeit.
.."
Sie drückte sich stärker an
mich, ich entzog mich ihr und küßte sie auf die Wange. "Geh jetzt
schlafen, Elsie!"
Sie sagte nach einer Weile:
"Willst du nicht heute nacht oben schlafen?"
Ich sagte ungeduldig: "Nicht
heute abend. Nicht jetzt."
Sie sah mich eine volle
Sekunde lang an, errötete, ihre Lippen bewegten sich, aber sie
sprach kein Wort. Sie küßte mich auf die Wange und ging hinaus. Ich
schloß die Tür, dann hörte ich die Stufen der Treppe unter ihren
Schritten knarren. Als ich nichts mehr hörte, schob ich behutsam
den Riegel vor. Ich zog meine Bluse aus, hängte sie über die
Stuhllehne und fuhr mit der Hand in die Innentasche, um zu
kontrollieren, ob der Umschlag immer noch da war. Dann nahm ich
meine Stiefel, musterte sie sorgfältig und stellte fest, daß das
Eisen des rechten Absatzes abgewetzt war. Ich nahm mir vor, es
gleich am nächsten Tage erneuern zu lassen. Ich strich mit der Hand
über den Schaft. Das Leder war glatt und geschmeidig. Ich hatte es
nie jemand anderem überlassen, sie zu putzen. Ich holte meinen
Putzbeutel aus der Schublade des Tisches, trug etwas Creme auf,
verrieb sie sorgfältig und fing dann an zu polieren. Ich polierte
lange und leicht, die Stiefel fingen an zu glänzen, meine Hand ging
her und hin in einer langsamen mechanischen Bewegung, und so
verflossen einige Minuten. Eine heiße Welle der Befriedigung
durchflutete mich.
Am übernächsten Tag -einem Donnerstag -kam
Obersturmbannführer Wulfslang im Auto an, ich übergab ihm meinen
Bericht, er lehnte meine Einladung zum Frühstück ziemlich schroff
ab und fuhr sofort wieder weg. Zu Beginn des Nachmittags wollte
Setzler mich sprechen. Ich gab der Ordonnanz Befehl, ihn
hereinzuführen. Er trat ein, schlug die Hacken zusammen und grüßte.
Ich erwiderte seinen Gruß untadelig und bat ihn, Platz zu nehmen.
Er setzte seine Mütze ab, legte sie auf einen Stuhl neben sich und
strich sich mit seiner langen, mageren Hand über den kahlen
Schädel. Er sah bekümmert und müde aus. "Sturmbannführer, es ist
wegen der Versuchsstation. Es sind da einige Punkte, die mich
quälen. Einer besonders."
"Ja?"
"Darf ich Ihnen einen zusammenhängenden Bericht
über den Betrieb geben?"
"Gewiß."
Er strich sich wieder mit
seiner langen Hand über den Schädel. "Was die psychologische
Vorbereitung betrifft, so ist nur wenig darüber zu sagen. Doch da
man ihnen heißen Kaffee nach der Dusche verspricht, habe ich es auf
mich genommen, eine alte Feldküche herbeischaffen zu lassen.
.."
Er lächelte ein wenig.
"
...um die Ausstattung zu
vervollständigen, sozusagen."
Ich nickte, und er fuhr
fort: "Was die Vergasung angeht, erlaube ich mir, Ihnen
mitzuteilen, daß sie manchmal mehr als zehn Minuten beansprucht.
Aus zwei Gründen: wegen der Luftfeuchtigkeit und der Feuchtigkeit
der Halle."
"Feuchtigkeit der
Halle?"
"Ich habe dem Sonderkommando
Befehl gegeben, nach der Vergasung die Leichen mit Wasser
abzusprengen. Sie sind mit Kot bedeckt. Wohlverstanden, das Wasser
wird dann nach außen gespült, aber etwas bleibt immer
zurück."
Ich nahm ein Stück Papier,
schraubte meinen Füllhalter auf und sagte: "
Was schlagen Sie
vor?"
"Den Zementboden abschüssig
zu machen und Abflußrinnen anzubringen."
Ich überlegte einen
Augenblick und sagte dann: "Ja, aber das genügt nicht. Man muß eine
Heizung vorsehen und dazu einen kräftigen Ventilator. Der
Ventilator wird gleichzeitig dazu dienen, das Gas zu vertreiben.
Wie lange lüften Sie die Halle nach der Vergasung?"
"Gerade darüber,
Sturmbannführer, wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie haben zehn
Minuten Lüftung vorgesehen. Aber das ist etwas knapp. Die Männer
des Sonderkommandos, die die Halle betreten, um die Leichen
herauszuholen, klagen über Kopfschmerzen und Übelkeit, und dadurch
verringert sich die Leistung."
"Geben Sie ihnen vorläufig
die nötige Zeit. Die Ventilatoren werden uns erlauben, sie
abzukürzen."
Setzler hustete. "Noch ein
anderer Punkt, Sturmbannführer. Die Kristalle werden direkt auf den
Boden der Halle geworfen, und wenn die Patienten hinstürzen, fallen
sie darauf, und da sie sehr zahlreich sind, hindern sie einen Teil
des Gases daran, sich zu entwickeln."
Ich stand auf, ließ die
Asche meiner Zigarette in den Aschenbecher fallen und sah zum
Fenster hinaus. "Was schlagen Sie vor?"
"Im Augenblick nichts,
Sturmbannführer."
Ich nahm es zur Kenntnis,
ohne mich wieder zu setzen, dann winkte ich Setzler
fortzufahren.
"Die Leute vom Sonderkommando finden es auch
beschwerlich, die Leichen herauszuschaffen. Die sind infolge der
Besprengung feucht, und die Männer können sie schlecht
fassen."
Ich nahm es zur Kenntnis und
sah Setzler an. Ich hatte den Eindruck, daß er mir noch etwas
Wichtigeres zu berichten hatte und daß er diese Mitteilung
hinausschob. Ich sagte ungeduldig: "Weiter!"
Setzler hustete und wandte
seine Augen weg. "
Noch eine kleine Einzelheit.
..Sturmbannführer. Auf die Anzeige eines Kameraden hin habe ich
einen Mann des Sonderkommandos durchsuchen lassen. Man hat bei ihm
etwa zwanzig Trauringe gefunden, die er den Leichen abgestreift
hatte."
"Was wollte er denn damit
machen?"
"Er hat gesagt, er könnte
diese Arbeit nicht ohne Alkohol verrichten. Er wollte die Ringe
gegen Schnaps eintauschen."
"Bei wem?"
"Bei SS-Männern. Ich habe
die SS-Männer durchsuchen lassen, habe aber nichts gefunden. Was
den Juden angeht, so ist er selbstverständlich erschossen
worden."
Ich dachte darüber nach und
sagte: "Künftig lassen Sie alle Trauringe nach der Vergasung
einsammeln. Es versteht sich von selbst, daß die Wertsachen der
Patienten Eigentum des Reiches sind."
Es entstand ein Schweigen,
und ich sah Setzler an. Sein kahler Schädel wurde langsam rot, und
er blickte weg. Ich begann hin und her zu gehen und sagte: "Ist das
alles?"
"Nein“ Sturmbannführer",
sagte Setzler. Er hustete. Ich setzte meinen Spaziergang fort, ohne
ihn anzusehen. Ein paar Sekunden verstrichen, sein Stuhl knarrte,
er hustete von neuern, und ich sagte: "Nun?"
Und plötzlich packte mich
eine Unruhe. Ich hatte Setzler nie scharf angefaßt. vor mir konnte
er also keine Angst haben. Ich sah ihn von der Seite an. Er
streckte den Hals vor und sagte in einem Atemzug: "Was die
Gesamtleistung angeht, Sturmbannführer, bedaure ich sagen zu
müssen, daß sie nicht höher ist als die von
Treblinka."
Ich blieb jäh stehen und
starrte ihn an. Er strich sich mit seiner langen mageren Hand über
den Schädel und fuhr fort: "
Wohlgemerkt, wir haben große
Fortschritte gegenüber Treblinka gemacht. Wir haben praktisch die
Revolten ausgeschlossen, die Vergasung ist sicher und schnell, und
mit unsern beiden kleinen Hallen können wir von jetzt an in
vierundzwanzig Stunden fünftausend Einheiten
vergasen."
Ich sagte barsch: "Na
also?"
"Aber wir können nicht mehr
als fünfhundert begraben."
"
Tatsächlich", fuhr er fort,
"Töten ist weiter nichts. Begraben braucht Zeit."
Ich spürte, daß meine Hände zitterten. Ich
verbarg sie hinter dem Rücken und sagte: "Verdoppeln Sie das
Sonderkommando!"
"Entschuldigen Sie,
Sturmbannführer, das würde nichts nützen. Man kann gleichzeitig
nicht mehr als zwei oder drei Leichen durch die Türen
hinausbringen. Und die Zahl der Männer, die in den Gräben sind, um
die Leichen in Empfang zu nehmen, kann man auch nicht
überschreiten. Sonst behindern sie sich gegenseitig. "Warum haben
Sie Leute in den Gräben?"
"Man muß die Körper sehr
sorgfältig schichten, um Platz zu gewinnen. Wie Untersturmführer
Pick sagt: Sie müssen wie Ölsardinen in der Büchse
liegen."
"Graben Sie die Gräben
tiefer!"
"Ich habe es versucht,
Sturmbannführer, aber das Graben nimmt dann noch viel mehr Zeit in
Anspruch, und der Platzgewinn steht in keinem Verhältnis zu der
aufgewandten Zeit. Meiner Meinung nach ist die beste Tiefe drei
Meter."
Setzler wandte den Kopf
etwas zur Seite und fuhr fort: "Noch ein Punkt. Die Gräben
beanspruchen ein ungeheuer weites Gelände."
Ich sagte schroff: "Wir sind
nicht in Treblinka, an Gelände fehlt es uns hier
nicht."
"Nein, Sturmbannführer, aber
ich sehe vor allem etwas anderes voraus. Indem Maße, wie wir neue
Gräben ausheben, entfernen wir uns notwendigerweise von den
Gaskammern, und der Transport der Leichen wird schließlich ein
Problem werden und die Leistung noch mehr
verlangsamen."
Ein langes Schweigen folgte.
Ich riß mich zusammen und sagte, die Silben sorgfältig betonend:
"Haben Sie Vorschläge zu machen?"
"Leider keine,
Sturmbannführer."
Ich sagte schnell und ohne
ihn anzusehen: "Es ist gut, Setzler, Sie können so
weitermachen."
Meine Stimme hatte trotzdem
gebebt. Er nahm seine Mütze, stand auf und sagte zögernd:
"Natürlich, Sturmbannführer, werde ich weiter darüber nachdenken.
Tatsächlich plage ich mich seit drei Tagen mit diesen verteufelten
Gräben herum. Wenn ich zu Ihnen davon gesprochen habe, so darum,
weil ich keine Lösung sehe."
"Wir werden sie finden,
Setzler. Es ist nicht Ihre Schuld."
Ich überwand mich und setzte
hinzu: "Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß ich in allem
Ihren Eifer zu würdigen weiß."
Er grüßte, ich erwiderte
seinen Gruß, und er ging. Ich setzte mich, schaute auf das Blatt,
auf dem ich mir Notizen gemacht hatte, nahm den Kopf in beide Hände
und versuchte sie zu lesen. Nach einer Weile war mir die Kehle wie
zugeschnürt, ich stand auf und stellte mich ans Fenster. Der
großartige Plan, den ich dem Reichsführer eingesandt hatte, war
hinfällig. Das Problem war noch vorhanden. Ich hatte es nicht
gelöst. Ich war an meiner Aufgabe vollständig
gescheitert.
Die folgenden zwei Tage waren fürchterlich. Der
Sonntag kam heran, Hauptsturmführer Hagemann hatte mich zu einem
musikalischen Tee eingeladen, ich mußte mich aus Höflichkeit
hinbegeben, die Hälfte der Lageroffiziere war mit ihren Frauen da,
aber glücklicherweise brauchte ich nicht viel zu reden. Frau
Hagemann setzte sich sofort ans Klavier, und abgesehen von einer
kurzen Zwischenpause, in der Erfrischungen gereicht wurden,
spielten die Musiker Stück um Stück. Die Zeit verging, ich merkte,
daß ich wirklich auf die Musik achtgab und sogar daran Vergnügen
fand. Setzler spielte ein Violinsolo. Sein großer gekrümmter Körper
beugte sich über den Notenständer, sein Kranz grauen Haars
leuchtete unter der Lampe, und ich wußte stets im voraus, welche
Stellen ihn besonders bewegten, weil sein kahler Schädel ein paar
Sekunden vorher rot anlief. Nach dem Solo brachte Hagemann eine
große Karte der russischen Front herbei und legte sie auf den
Tisch, man versammelte sich darum und stellte das Radio an. Die
Nachrichten waren großartig, die Panzer rückten überall vor,
Hagemann steckte unaufhörlich auf der Karte die kleinen
Hakenkreuzfähnchen weiter, und als der Heeresbericht zu Ende war,
entstand ein andächtiges und freudiges Schweigen. Ich schickte
meinen Wagen zurück und legte den Weg mit Elsie zu Fuß zurück. Im
Ort brannte kein einziges Licht, die beiden spitzen Türme der
Auschwitzer Kirche standen schwarz gegen den Himmel, und ich
empfand aufs neue Niedergeschlagenheit ob meines Versagens. Am
nächsten Tage rief Berlin an, um mir den Besuch des
Obersturmbannführers Wulfslang anzukündigen. Er kam gegen Mittag
an, lehnte wiederum die Einladung zum Essen ab und blieb nur einige
Minuten. Es war offensichtlich, daß er es darauf anlegte, sich
hinter seiner Rolle als Kurier zu verschanzen. Als Wulfslang weg
war, verschloß ich die Tür meines Büros, drehte den Schlüssel
zweimal herum, setzte mich und öffnete mit zitternder Hand den
Brief des Reichsführers. Er war in so vorsichtigen Ausdrücken
abgefaßt, daß kein anderer als ich oder Setzler hätten verstehen
können, um was es sich handelte. Der Reichsführer billigte mit
warmen Worten meinen Gedanken eines weiträumigen Gebäudes, in dem
"alle für das besondere Unternehmen nötigen Dienststellen vereinigt
sein würden", und beglückwünschte mich zu dem Scharfsinn, den ich
bei der Einrichtung "gewisser praktischer Einzelheiten"
entfaltet hätte. Doch teilte
er mir mit, daß ich noch nicht großzügig genug gewesen sei und daß
man mindestens vier Gebäude dieser Art vorsehen müsse, "da die
Spitzenleistung im Jahre 1942 zehntausend Einheiten täglich
erreichen soll". Was den Abschnitt V meines Berichts betraf,
verwarf er die vorgeschlagene Lösung vollständig und befahl mir,
mich unverzüglich zur Versuchszentrale nach Culmhof zu begeben, wo
Standartenführer Kellner mir die nötigen Richtlinien geben würde.
Ich las den letzten Satz mit freudiger Bewegung. Der Abschnitt V
meines Berichts bezog sich auf das Verscharren der Leichen. Es war
klar, daß der Reichsführer mit seinem genialen Verstand die
Hauptschwierigkeit, mit der ich mich herumschlug, ohne weiteres
erfaßt hatte und mich nach Culmhof schickte, um mir eine Lösung
zugute kommen zu lassen, die ein anderer seiner Forscher gefunden
hatte. Befehlsgemäß verbrannte ich den Brief des Reichsführers,
telefonierte dann mit Culmhof und verabredete eine Zusammenkunft
für den folgenden Tag. Ich fuhr mit Setzler im Auto hin. Den
Chauffeur hatte ich nicht mitnehmen wollen, und Setzler fuhr
selbst. Der Morgen war schön, und nach ein paar Minuten beschlossen
wir zu halten, um das Verdeck herunterzuschlagen. Es war eine Lust,
sich in der schönen Augustsonne das Gesicht vom Fahrtwind peitschen
zu lassen. Nach all den Wochen der Qual und Überbürdung war ich
glücklich, einmal dem Lager entfliehen zu können und die reine Luft
außerhalb zu atmen, während ich schon fast die Gewißheit hatte,
endlich am Ende meiner Qualen zu sein. Ich teilte Setzler das
Nötigste aus dem Brief des Reichsführers mit, setzte ihm den Zweck
unserer Fahrt auseinander, sein Gesicht hellte sich auf, und er
fing an, so schnell zu fahren, daß ich ihn beim Durchfahren von
Städten zurückhalten mußte. Zum Mittagessen hielten wir in einer
ziemlich unbedeutenden Ortschaft, und da gab es einen recht
komischen Zwischenfall. Sobald wir aus dem Auto stiegen und die
Bauern unsere Uniform sahen, rissen sie vor uns aus und schlossen
eiligst ihre Fensterläden. Wir waren doch nur zwei, aber
augenscheinlich hatten die Dorfbewohner schon mit SS-Männern ein
Hühnchen zu rupfen gehabt. Als wir in der Versuchszentrale ankamen,
wurde ich durch den ekelhaften Geruch, der dort herrschte,
unangenehm überrascht. Er überfiel uns, bevor wir noch am Wachtturm
angekommen waren, er wurde immer schlimmer, je weiter wir ins Lager
hineinfuhren, und verließ uns nicht einmal, als sich die Tür der
Kommandantur hinter uns geschlossen hatte. Man hätte meinen können,
daß er Wände und Möbel sowie unsere Kleider durchtränkt hätte. Es
war ein scharfer Fettgeruch, der ihm noch nirgends begegnet war und
der nichts mit dem faden, fauligen Geruch eines toten Pferdes oder
eines menschlichen Leichenhaufens zu tun hatte. Nach einigen
Minuten führte uns ein Hauptscharführer in das Büro des
Kommandanten. Das Fenster stand weit offen, und beim Eintreten
drehte mir eine Wolke desselben Fettgeruchs fast den Magen um. Ich
stand stramm und grüßte. Der Standartenführer saß hinter seinem
Schreibtisch. Er erwiderte nachlässig meinen Gruß und deutete auf
einen Sessel. Ich stellte mich vor, dann Setzler, und setzte mich.
Setzler nahm rechts von mir, etwas zurück, auf einem Stuhl Platz.
"Sturmbannführer", sagte Kellner höflich, "ich freue mich, Sie hier
zu sehen."
Er drehte den Kopf zum
Fenster und saß einen Augenblick unbeweglich da. Er war blond,
hatte das Profil einer Medaille und trug ein Monokel. Für einen
Standartenführer erschien er ungewöhnlich jung. "Ich muß Ihnen",
fuhr er fort, das Gesicht immer noch dem Fenster zugewandt, "einige
Worte über meine eigene Aufgabe sagen."
Er blickte mich an, nahm ein
goldenes Etui von seinem Schreibtisch, öffnete es und hielt es mir
hin. Ich nahm eine Zigarette, er knipste sein Feuerzeug an und
reichte mir die Flamme. Ich beugte mich vor. Seine Hände waren weiß
und gepflegt. "Der Reichsführer", fuhr Kellner in verbindlichem Ton
fort, "hat mir den Befehl erteilt, alle Beerdigungsstätten im
gesamten Ostraum ausfindig zu machen. Es handelt sich um zivile,
wohlverstanden. .."
Er unterbrach sich. "Ich
bitte um Verzeihung", sagte er, sich an Setzler wendend, "daß ich
Ihnen keine Zigarette angeboten habe."
Er öffnete abermals sein
Etui, beugte sich über den Schreibtisch und hielt Setzler das Etui
hin. Setzler dankte, und Kellner brannte ihm die Zigarette an. "Ich
soll also", fuhr Kellner fort, wobei er wieder zum Fenster hinsah,
"alle Beerdigungsstätten des Ostraums ausfindig machen, das heißt
nicht nur die aus dem Polenfeldzug. ..", er machte mit der Hand
eine kleine Geste, ". ..und was darauf folgte. .., sondern auch
diejenigen, die bei dem Vorrücken unserer Truppen in Rußland
hinterlassen worden sind. ..Sie verstehen: von Juden, Zivilisten,
Partisanen, Sonderaktionen. ..", er machte abermals eine lässige
Geste, ". ..und all dergleichen."
Er machte eine Pause, das
Gesicht immer noch dem Fenster zugewandte. "Ich soll also die
Beerdigungstätten ausfindig machen, sie öffnen. .. und die Leichen
verschwinden lassen."
Er blickte mich an und hob
leicht die rechte Hand". ..Und zwar sie so vollständig verschwinden
lassen -nach dem Ausdruck des Reichsführers -, daß später niemand
die Zahl der Menschen, die wir liquidiert haben, feststellen kann.
.."
Er lächelte verbindlich. "Es
war. ..wie soll ich sagen? ...ein etwas schwieriger Befehl. Zum
Glück erhielt ich vom Reichsführer eine Frist. .., um die Frage
zu
studieren. Daher. ..", wieder eine leichte
Handbewegung". ..die Versuchszentrale."
Er sah zum Fenster hinaus,
und von neuem trat sein vollendet schönes Profil hervor. "Sie
begreifen, das hat nichts gemein mit Treblinka ...oder den
scheußlichen kleinen Lagern dieser Art. ..Wohlgemerkt, ich vergase
die Leute auch, aber nur, um die Leichen zu bekommen."
Er machte eine Pause. "Ich
bin zu verschiedenen Experimenten übergegangen. Zum Beispiel habe
ich Sprengstoffe versucht."
Er sah zum Fenster hinaus
und runzelte leicht die Stirn. "Du lieber Himmel!"
sagte er halblaut. "Was für
ein Geruch!"
Er stand auf, tat ein paar
rasche Schritte zum Fenster hin und schloß es. "Entschuldigen Sie
bitte", sagte er in verbindlichem Ton. Er setzte sich wieder. Der
Geruch war immer noch da, scharffettig, ekelerregend. Er begann
wieder: "Die Sprengstoffe, Sturmbannführer, waren eine
Enttäuschung. Die Körper waren zerfetzt, und das war alles. Und wie
sollte man die Überreste verschwinden lassen ? Es war nicht das
vollständige Verschwinden, das der Reichsführer
verlangte."
Er hob leicht die rechte
Hand. "Kurz, die einzige Lösung war, die Leichen zu
verbrennen."
Öfen! Wie hatte ich nur
nicht an Öfen denken können? Ich sagte ganz laut: "In Öfen,
Standartenführer?"
"Sehr richtig. Aber merken
Sie sich, Sturmbannführer, diese Methode ist nicht überall
angebracht. Wenn ich eine Beerdigungstätte fünfzig Kilometer von
hier in einem Wald entdecke, kann ich meine Öfen selbstverständlich
nicht dorthin transportieren. Man mußte also etwas anderes finden.
.."
Er stand auf und lächelte
mich verbindlich an. "Ich habe es gefunden."
Er steckte sein goldenes
Etui in die Tasche, nahm seine Mütze und sagte:
"Bitte."
Ich erhob mich und Setzler
gleichfalls. Kellner öffnete die Tür, ließ uns vorangehen und
schloß sie. Dann sagte er noch einmal: "Bitte!", ging voraus und
bedeutete einem Hauptscharführer, uns zu folgen. Als wir draußen
waren, rümpfte Kellner die Nase, schnüffelte leicht und warf mir
einen Blick zu. "Offenbar ist das hier kein Luftkurort", sagte er
leicht lächelnd. Erzuckte die Achseln und setzte auf französisch
hinzu: "Que voulez vous?"
Ich ging rechts neben ihm. Die Sonne schien ihm
voll ins Gesicht. Es war von einem Netz von Fältchen überzogen,
Kellner war mindestens fünfzig Jahre alt. Er blieb vor einer Garage
stehen und ließ sie durch den Hauptscharführer öffnen. "Der
Vergaser-Lastwagen", sagte er und legte seine Linke auf den
hinteren Kotflügel. "Sie sehen", fuhr er fort, "das Auspuffgas wird
von dem Rohr aufgefangen und ins Innere geführt. Nehmen wir jetzt
an, die Gestapo verhaftet etwa dreißig Partisanen und stellt sie
mir liebenswürdigerweise zur Verfügung, so holt sie der Lastwagen,
und wenn er hier ankommt, sind sie tot."
Er lächelte. "Sie verstehen,
man schlägt sozusagen zwei Fliegen mit einem Schlag. Der Sprit
dient zum Transport und zur Vergasung. Das heißt. .."
er machte eine kleine Geste
mit der Hand, ". ..Sparsamkeit."
Er winkte, der
Hauptscharführer schloß die Garage zu, und wir gingen weiter .
"Merken Sie sich aber", begann er wieder, "es ist ein Verfahren,
das ich niemandem empfehle. Es ist nicht sicher. Im Anfang öffnet
man die Türen des Wagens, man glaubte Leichen vorzufinden, aber die
Leute waren nur ohnmächtig, und als man sie in die Flammen warf,
stießen sie Schreie aus."
Setzler machte eine
Bewegung, und ich sagte: "Standartenführer, an der Färbung der Haut
erkennt man, ob es vorbei ist. Sie sehen dann blaß aus und haben
einen rosigen Anflug auf den Backenknochen."
"Die Vergasung", erwiderte
Kellner mit einem kaum wahrnehmbaren verächtlichen
Gesichtsausdruck, "interessiert mich nicht. Wie ich Ihnen schon
gesagt habe, vergase ich die Leute nur, um die Leichen zu bekommen.
Allein die Leichen interessieren mich."
Ein langes Gebäude aus Stein
tauchte auf, mit einem hohen Fabrikschornstein aus roten Ziegeln
daneben. "Das ist es", sagte Kellner. An der Tür trat er höflich
zur Seite. Das Gebäude war leer. "Die Öfen sind gekoppelt", fuhr er
fort. Er betätigte selbst die schwere Metalltür des einen Ofens und
zeigte uns das Innere. "Er faßt drei Leichen, und die Heizung
erfolgt mit Koks. Mächtige Ventilatoren bringen in kurzer Zeit das
Feuer auf die gewünschte Temperatur."
Er schloß die Tür wieder,
und ich sagte: "Bitte, Standartenführer, wieviel Öfen würde man
brauchen, um in vierundzwanzig Stunden zweitausend Einheiten zu
verbrennen?"
Er fing an zu lachen.
"Zweitausend! Mein lieber Mann, Sie sind aber
großzügig."
Er zog sein Notizbuch und einen goldenen
Drehbleistift aus der Tasche und warf rasch einige Ziffern aufs
Papier . "Acht gekoppelte Öfen."
Ich warf Setzler einen Blick
zu. Kellner fuhr fort: "Ich habe nur zwei gekoppelte
Öfen."
Er zog seine rechte Braue
hoch, sein Monokel fiel herab, er fing es in der hohlen Hand auf
wie ein Taschenspieler und fügte hinzu: "Aber ich betrachte sie nur
als Behelfsmittel."
"Bitte!"
sagte er. Er setzte sein
Monokel wieder ein und ging uns voraus. Ich ließ Setzler vor mir
her gehen und gab ihm einen kleinen Klaps auf die Schulter. Der
Wagen des Standartenführers erwartete uns vor dem Tor. Setzler
stieg zu dem Chauffeur, und ich setzte mich links neben Kellner auf
den Rücksitz. Der scharfe Fettgeruch wurde stärker. Das Auto fuhr
auf ein Gehölz zu, aus dem Wolken schwarzen Rauches aufstiegen.
Kellner ließ den Wagen halten. Eine freundliche Lichtung tat sich
vor uns auf. Im Hintergrund stieg vom Boden in etwa fünfzig Meter
Breite dichter Rauch auf. In dem Rauch bewegten sich verschwommene
Silhouetten von SS-Männern und Häftlingen. Zuweilen züngelten
Flammen aus dem Boden, und die Silhouetten erschienen rot. Der
Geruch war unerträglich. Wir kamen näher. Der Rauch und die Flammen
kamen aus einem breiten Graben, in dem nackte Leichen beiderlei
Geschlechts aufgeschichtet waren. Unter der Einwirkung der Flammen
krümmten sich die Leichen und streckten sich wieder mit jähen
Bewegungen, als ob sie lebendig wären. Ein Knistern von Gebratenem
prasselte fortwährend mit unerhörter Stärke. Die hohen schwarzen
Flammen ließen für Augenblicke ein helles, lebhaftes, unwirkliches
rotes Licht auf flackern, das wie bengalisches Feuer aussah. In
regelmäßigen Abständen hoben sich Klumpen nackter Leichen über den
Rand des Grabens, und die Häftlinge des Sonderkommandos waren
geschäftig um diese Klumpen bemüht. Der Rauch verbarg zum Teil ihre
Bewegungen, aber von Zeit zu Zeit wurden von beiden Seiten und in
der ganzen Länge des Grabens nackte Körper in die Luft
geschleudert, leuchteten plötzlich auf und fielen ins Feuer zurück.
In zehn Meter Entfernung von mir sah ich, wie ein Kapo den Kopf
drehte und den Mund weit aufmachte, er schien einen Befehl zu
brüllen, aber ich verstand nichts, das Knistern übertönte alles.
Kellners Gesicht war vom Flammenschein rot beleuchtet. Er hielt
sein Taschentuch vor die Nase.
"Kommen Sie!"
brüllte er, den Mund fast an
meinem Ohr. ich folgte ihm. Er führte mich an das äußerste Ende des
Grabens. Ungefähr drei Meter unter mir brodelte in einem Behälter,
der zwischen den Grabenwänden eingebaut war, eine dicke
Flüssigkeit. Seine Oberfläche warf ständig Blasen, und ein
übelriechender Geruch stieg daraus empor. Ein Häftling ließ an
einem Strick einen Eimer hinunter, schöpfte aus der Flüssigkeit und
zog den Eimer wieder hoch. "Fett!"
schrie mir Kellner ins Ohr.
Von da aus, wo wir standen, konnte ich mit einem Blick den Graben
in seiner ganzen Ausdehnung übersehen. Die Häftlinge um uns herum
bewegten sich wie Wahnsinnige. Ein Taschentuch, das unterhalb der
Augen zusammengeknotet war, bedeckte Nase und Mund, so daß sie
überhaupt kein Gesicht zu haben schienen. Etwas weiter hinten
verschwanden sie in dicken Rauchschwaden, und die nackten Körper,
die sie in den Graben warfen, schienen aus dem Nichts zu kommen.
Sie flogen unaufhörlich von rechts und links heran, schlugen in der
Luft Purzelbäume wie Hampelmänner, starkes Licht beleuchtete sie
kurz von unten her, sie fielen nieder und verschwanden wie von den
Flammen verschluckt. Ein Häftling näherte sich mit einem Eimer, die
Leine lief ab, und der Eimer tauchte von neuem in die Flüssigkeit.
Das Knistern war betäubend. "Kommen Sie!"
schrie mir Kellner ins Ohr.
Wir gingen wieder zum Auto. Setzler erwartete uns, er lehnte an der
Wagentür. Als er mich sah, verbesserte er seine Haltung.
"Entschuldigen Sie", sagte er, "ich habe Sie in dem Rauch
verloren."
Wir nahmen im Wagen Platz.
Kein Wort wurde gewechselt. Kellner saß unbeweglich da. Er hielt
sich kerzengerade, und sein scharfes Profil zeichnete sich gegen
die Glasscheibe des Autos ab. "Sehen Sie", sagte er, als er sich
wieder hinter seinen Schreibtisch setzte, "das Verfahren ist
einfach. ..aber es war viel Herumprobieren nötig, um es
hinzukriegen. ..Erstens muß der Graben. ..wie soll ich sagen.
..optimale Ausmaße haben."
Er zog seine rechte Braue
hoch, sein Monokel fiel herab, er fing es wieder im Fluge und
begann, es zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her pendeln zu
lassen. "Ich fand heraus, daß ein guter Graben fünfzig Meter lang,
sechs Meter breit und drei Meter tief sein muß."
Er hob die Hand, die das
Monokel hielt. "Der zweite Punkt, der mir viel Mühe gemacht hat,
ist die Anordnung des Holzes und der Leichen. Sie begreifen, man
darf sich nicht auf den Zufall verlassen. Ich gehe so vor. Ich lege
eine erste Schicht Holz auf den Boden. Auf diese Schicht lege ich
etwa hundert Leichen, und das ist der wichtigste Punkt,
Sturmbannführer! zwischen die Leichen lege ich wieder Holz. Ich
brenne dann mit Petroleumlappen das Ganze an, und wenn das Feuer
richtig brennt, aber erst dann, lege ich Holz nach und werfe neue
Leichen darauf. ..", er machte eine Bewegung mit der Hand, "und so
weiter. .."
Er hob sein Monokel. "Der
dritte Punkt ist das Fett."
Er sah mich an. "Sie müssen
wissen", fuhr er fort, "daß am Anfang die Verbrennung durch die
ungeheure Menge Fett behindert wurde, die sich von den Leichen
absonderte. Ich suchte eine Lösung. ..", er lächelte verbindlich,
,'. ..und ich fand sie. Ich mache den Graben abschüssig, lege
Abflußrinnen an und sammle das Fett in einem
Behälter."
Ich sagte:
"Standartenführer, die Häftlinge, die das Fett mit Eimern
schöpften..."
"Ganz richtig."
Er legte beide Hände flach
auf den Tisch und sah mich pfiffig an. "Sie besprengen damit die
Leichen. Das ist der ganze Trick. Ich besprenge die Leichen mit
einem Teil des Fetts, das sie abgeben. .. Warum?"
Er hob die rechte Hand.
"Viel Fett behindert die Verbrennung, aber ein wenig Fett regt sie
an. Bei Regenwetter zum Beispiel ist das Besprengen
wertvoll."
Er öffnete sein goldenes
Etui, hielt es mir hin, hielt es Setzler hin und gab uns Feuer.
Dann nahm er selbst eine Zigarette, löschte sein Feuerzeug, knipste
es wieder an und hielt seine Zigarette in die Flamme. Ich sagte:
"Standartenführer, wie hoch ist die Leistung eines derartigen
Grabens in vierundzwanzig Stunden?"
Er lachte. "In
vierundzwanzig Stunden? Aber Sie sind wirklich
großzügig."
Er warf mir von der Seite
einen Blick zu, sein Gesicht wurde wieder ernst, und er fuhr fort:
"Sie verstehen, die Leistung innerhalb von vierundzwanzig Stunden
ist keine Frage für mich. Ich habe niemals solche Mengen zu
bewältigen. Doch ich kann Ihnen meine Stundenleistung sagen. Sie
beläuft sich auf dreihundert bis vierhundert Einheiten;
dreihundertvierzig bei trockenem Wetter und dreihundert bei
Regenwetter. "
Ich rechnete und sagte:
"Achttausend Leichen in vierundzwanzig Stunden."
"
Vermutlich."
"Natürlich", sagte ich nach
einer Weile, "kann derselbe Graben unbegrenzt lange
dienen?"
"Natürlich."
Es entstand ein Schweigen,
und ich sah Setzler an. Die Zeit der tastenden Versuche und der
Angst war abgeschlossen. Ich konnte mit Vertrauen in die Zukunft
blicken. Ich war von nun an sicher, die im Plan vorgesehene
Leistung zu erreichen und sogar zu übertreffen. Was mich betraf, so
konnte ich mich beinahe mit Öfen begnügen. Indem ich insgesamt für
die vier großen Anlagen, die ich bauen sollte, zweiunddreißig
vorsah, konnte ich zu einer Gesamtleistung von achttausend Leichen
in vierundzwanzig Stunden gelangen, eine Zahl, die nur um
zweitausend Einheiten niedriger lag als die Spitzenleistung, die
der Reichsführer vorsah. Folglich würde ein einziger Behelfsgraben
genügen, um gegebenenfalls die übrigen zweitausend Einheiten zu
verbrennen. Um die Wahrheit zu sagen, ich liebte die Gräben nicht
sehr. Das Verfahren erschien mir zu plump, primitiv und eines
großen Industrievolkes unwürdig. Ich war mir bewußt, indem ich mich
für die Öfen entschied, eine modernere Lösung zu wählen. Die Öfen
hatten obendrein den Vorteil, besser die Geheimhaltung zu wahren,
da die Verbrennung nicht im Freien, wie in den Gräben, sondern
gegen Sicht geschützt vollzogen wurde. Außerdem war es mir von
Anfang an wünschenswert erschienen, alle für die Sonderaktion
notwendigen Dienststellen in demselben Gebäude zusammenzufassen.
Ich legte auf diesen Gedanken viel Wert und hatte aus der Antwort
des Reichsführers ersehen können, daß er ihn gleichfalls gereizt
hatte. Es lag in der Tat etwas den Geist Befriedigendes in dem
Gedanken, daß von dem Augenblick an, in dem sich die Türen des
Auskleideraums hinter einer Sendung von zweitausend Juden schließen
würden, bis zu dem Augenblick, da die Juden zu Asche zerfallen
würden, der ganze Vorgang ohne Anstoß an demselben Ort abrollen
würde. Als ich diesen Gedanken weiter durchdachte, kam ich darauf,
daß man wie in einer Fabrik ein laufendes Band herstellen müßte,
das die zu behandelnden Personen in einem Minimum von Zeit aus dem
Auskleideraum in die Gaskammer und aus der Gaskammer in die Öfen
führte. Da die Gaskammer unterirdisch war und die Ofenkammer im
oberen Stockwerk sein mußte, folgerte ich, daß der Transport der
Leichen von der einen zur andern nur mit mechanischen Hilfsmitteln
möglich war. Man konnte sich in der Tat schlecht vorstellen, daß
die Männer des Sonderkommandos mehrere hundert Leichen über eine
Treppe oder selbst über eine schiefe Ebene schleppten. Der
Zeitverlust würde ungeheuer sein. Ich arbeitete also meinen
anfänglichen Plan noch einmal durch und entschloß mich, darin den
notwendigen Raum für vier mächtige Aufzüge auszusparen, jeden mit
einem Fassungsvermögen von etwa fünfundzwanzig Leichen. Ich
berechnete, daß man auf diese Weise nur zwanzig Fahrten machen
müßte, um die zweitausend Leichen aus der Gaskammer
herauszuschaffen. Diese Einrichtung mußte im oberen Stockwerk durch
Karren ergänzt werden, welche die Leichen an den Ausgängen der
Aufzüge übernehmen und in die Öfen bringen würden. Als ich meinen
Plan in dieser Weise abgeändert hatte, verfaßte ich für den
Reichsführer einen neuen Bericht. Obersturmbannführer Wulfslang
diente noch einmal als Vermittler, und achtundvierzig Stunden
später brachte er mir Himmlers Antwort. Mein Plan war ohne
Änderungen angenommen, erhebliche Geldmittel waren mir eröffnet,
und ich konnte mich als bevorrechtigt für den Bezug aller Baustoffe
betrachten. Das Schreiben des Reichsführers fügte hinzu, daß zwei
der vier Anlagen spätestens am 15. Juli 1942 betriebsfähig sein
müßten, die beiden anderen am 31. Dezember desselben Jahres. Ich
hatte also etwas weniger als ein Jahr, um den ersten Bauabschnitt
durchzuführen. Ich begann unverzüglich mit den Bauarbeiten.
Gleichzeitig waren die beiden provisorischen Anlagen von Birkenau
unter Setzlers Leitung in Betrieb, und ich überließ ihm auch die
Sorge, die alten Gräben wieder zu öffnen und die Darinliegenden zu
verbrennen. Der ekelerregende Geruch, den wir in Culmhof eingeatmet
hatten, verbreitete sich sogleich über das ganze Lager, und ich
bemerkte, daß er sogar wahr-nehmbar war, wenn der Wind von Westen
wehte. Kam der Wind aus Osten, verbreitete er sich noch weiter, bis
zum Ort Auschwitz und darüber hinaus bis Bobitz. Ich ließ das
Gerücht verbreiten, in unserm Bezirk wäre eine Gerberei errichtet
worden, und von ihr kämen diese Ausdünstungen her. Aber ich
brauchte mich keiner Täuschung über die Wirksamkeit dieser Legende
hinzugeben. Der Geruch in Verwesung übergehender Häute hatte
wirklich nichts gemein mit dem Gestank brenzligen Fettes,
verbrannten Fleisches und versengter Haare, der aus den Gräben
aufstieg. Ich dachte mit Besorgnis daran, daß es noch schlimmer
sein würde, wenn die Hochöfen meiner vier riesigen Krematorien alle
vierundzwanzig Stunden lang ihren pestilenzialischen Qualm über die
Gegend ausspeien würden. Doch ich hatte keine Zeit über solchen
Erwägungen zu verlieren. Ich war ständig auf den Baustellen, und
Elsie fing wieder an, sich zu beklagen, daß sie mich nicht mehr zu
Hause sähe. In der Tat, ich ging früh um sieben weg und kam erst um
zehn oder elf Uhr abends nach Hause, um mich dann in meinem
Arbeitszimmer sofort aufs Feldbett zu werfen und einzuschlafen.
Diese Anstrengungen trugen Früchte. Weihnachten '41 kam heran, und
zwei Gebäude des großen Werkes waren schon genügend vorgeschritten,
um mich hoffen zu lassen, sie rechtzeitig vollenden zu können. Doch
ich ließ in meinen Anstrengungen nicht nach, und mitten in all den
Sorgen, die mir die ständige Erweiterung der beiden Lager, die
beinahe tägliche Ankunft neuer Transporte und die Disziplin der
Allgemeinen SS machten (die mich mit immer mehr Bedauern an meine
prächtigen Totenkopfkerle von einst denken ließ), fand ich doch
jeden TagZeit, mehrmals auf den Baustellen zu erscheinen. Anfang
Dezember wünschte mich einer meiner Lagerführer aus Birkenau,
Hauptsturmführer Hagemann, zu sprechen. Ich ließ ihn sofort
eintreten. Er grüßte, und ich ließ ihn Platz nehmen. Sein rotes
Vollmondgesicht drückte Verlegenheit aus. "Sturmbannführer", sagte
er mit keuchender Stimme, "ich habe. .. Ihnen. ..etwas zu sagen.
..Setzler betreffend. .."
Ich wiederholte:
"Setzler?"
Ich hatte Überraschung
gezeigt, und Hagemann sah gleich noch gedrückter aus. "Ganz
richtig, Sturmbannführer. ..Da ich weiß. ..daß Obersturmführer
Setzler nicht mir untersteht. ..sondern direkt Ihnen. .. wäre es.
..vielleicht in der Tat. ..richtiger. .."
Er machte Miene,
aufzustehen. "Ist es eine dienstliche Angelegenheit?"
"Gewiß,
Sturmbannführer."
"In diesem Falle brauchen
Sie keine Bedenken zu haben."
'.Gewiß, Sturmbannführer,
das habe ich mir schließlich auch gesagt. Andererseits ist es
ziemlich heikel. ..Setzler"
( er schnaufte stärker) "ist
mein persönlicher Freund. ..Ich schätze ihn wegen seiner
künstlerischen Qualitäten. .."
Ich sagte schroff: "Das
spielt hier keine Rolle. Wenn Setzler einen Fehler begangen hat,
ist es Ihre Pflicht, es mich wissen zu lassen."
"Das habe ich mir auch
gesagt, Sturmbannführer", sagte Hagemann. Er sah etwas erleichtert
aus. "Natürlich", fuhr er fort, "tadele ich Setzler nicht
persönlich. ..Er hat einen sehr schweren Dienst, und ich kann mir
vorstellen, daß er Aufheiterung braucht. ..Aber trotzdem ist es ein
Fehler. ..Gegenüber den Männern ist es bestimmt. ..wie soll ich
sagen. ..ein ernster Mangel an Würde. .. Wohlverstanden, von seiten
eines einfachen Scharführers wäre es nicht so von Bedeutung. ..aber
bei einem Offizier. .."
Er hob beide Hände, sein
Vollmondgesicht nahm einen gewichtigen und beleidigten Ausdruck an,
und er sagte fließend: "Darum habe ich gedacht, daß es richtig
wäre, endlich. .."
"Nun?"
sagte ich ungeduldig.
Hagemann steckte seine dicken Würstchenfinger zwischen Hals und
Kragen und schaute nach dem Fenster hin. "Ich habe sagen hören.
..Natürlich, Sturmbannführer, habe ich mir nicht erlaubt. ..mich
ohne Ihre Erlaubnis auf eine Untersuchung einzulassen. ..Setzler
untersteht mir nicht. ..Indessen, Sie werden verstehen, ich habe
keinerlei Zweifel. ..meinerseits. ..Kurz", keuchte er, "folgendes
sind die Tatsachen. Wenn ein Transport sich vor der provisorischen
Anlage auskleidet. ..läßt Setzler. ..natürlich ist er aus
dienstlichen Gründen da. ..dagegen ist nichts zu sagen. .. kurz, er
läßt ...ein jüdisches junges Mädchen beiseite treten. ..im
allgemeinen die hübscheste. ..und wenn der ganze Transport drin
ist. ..nimmt er das junge Mädchen mit. ..das Mädchen ist nackt,
bedenken Sie. ..was die Sache noch weniger korrekt macht. ..er
nimmt sie in einen Nebenraum mit. ..und da. .."
Er steckte von neuem seinen
Finger in den Kragen. ". ..da bindet er. ..ihre Handgelenke an zwei
Stricke, die er an der Decke hat anbringen lassen. ..Ich habe die
Stricke gesehen, Sturmbannführer. ..Kurz, das Mädchen ist nackt, es
hängt mit den Handgelenken an Stricken. ..und Setzler schießt mit
der Pistole auf das Mädchen. ..Wohlgemerkt, alle SS-Männer wissen
Bescheid darüber.. ."
Er keuchte und sah beleidigt
und ganz unglücklich aus. ". ..sie hören die Schreie des Mädchens
und die Schüsse. ..Und Setzler nimmt sich Zeit, sozusagen.
.."
Hagemann keuchte. "Notfalls,
Sie verstehen, bei einem Scharführer. .."
Ich drückte auf einen der
Knöpfe meines Tischapparates, nahm den Hörer ab und sagte: "Sind
Sie es, Setzler? Ich habe mit Ihnen zu sprechen."
Hagemann sprang auf, auf
seinem Vollmondgesicht malte sich Bestürzung. "Sturmbannführer,
soll ich wirklich. ..in seiner Gegenwart ..."
Ich sagte freundlich: "Sie
können sich zurückziehen, Hagemann."
Er grüßte hastig und ging
hinaus. Eine Minute verstrich, und es klopfte. Ich rief:
"Herein!"
Setzler erschien, schloß die
Tür und grüßte. Ich sah ihn fest an, und sein kahler Schädel fing
an, rot zu werden. Ich sagte schroff: "Hören Sie zu, Setzler, ich
will Ihnen keine Vorwürfe machen, und ich verlange von Ihnen keine
Erklärungen. Aber wenn Sie bei der provisorischen Anlage im Dienst
sind, ersuche ich Sie, außer im Fall einer Revolte, von Ihrer
Pistole keinen Gebrauch zu machen."
Er verfärbte sich.
"Sturmbannführer. .."
"Ich verlange von Ihnen
keine Erklärungen, Setzler. Ich sehe einfach die fragliche Praxis
als unvereinbar mit Ihrer Würde als Offizier an und befehle Ihnen,
damit Schluß zu machen, das ist alles."
Setzler strich sich mit
seiner langen mageren Hand über den Schädel und sagte mit leiser,
tonloser Stimme: "Ich tue das, um die Schreie der andern nicht zu
hören."
Er streckte den Kopf vor und
setzte beschämt hinzu: "Ich kann nicht mehr."
Ich stand auf. Ich wußte
nicht, was ich denken sollte. Setzler fuhr fort: "Es ist vor allem
dieser abscheuliche Geruch von verbranntem Fleisch. Ich habe ihn
ständig um mich. Sogar nachts. Wenn ich
aufwache, scheint mir, mein Kopfkissen sei
verpestet. Selbstverständlich ist das nur eine Täuschung. .."
Er hob wieder den Kopf und
sagte, plötzlich aufbrausend: "Und die Schreie! Sobald man die
Kristalle hineinwirft. ..Und die Schläge gegen die Wände! ...Ich
konnte es nicht ertragen. Ich mußte irgend etwas tun."
Ich sah Setzler an. Ich
verstand ihn nicht. Meiner Meinung nach war sein Verhalten nur ein
Gewebe von Widersprüchen. Ich sagte nachsichtig: "Hören Sie zu,
Setzler, wenn Sie bloß Scharführer wären. ..Aber so begreifen Sie
doch, Sie sind Offizier, das ist unmöglich, sicherlich sprechen die
Männer unter sich darüber. .."
Ich wandte den Kopf ab und
setzte verlegen hinzu: ". ..Und wenn das Mädchen noch bekleidet
gewesen wäre. .."
Seine Stimme stieg plötzlich
wieder an: "Aber Sie verstehen mich nicht, Sturmbannführer. ..Ich
kann einfach nicht dort bleiben und sie heulen hören.
.."
Ich sagte schroff: "Da ist
nichts zu verstehen. Sie dürfen das nicht tun."
Setzler verbesserte seine
Haltung, richtete sich auf und sagte mit fester Stimme: "Ist das
ein Befehl, Sturmbannführer?"
"Jawohl."
Ein Schweigen entstand.
Setzler stand unbeweglich stramm mit starrem Gesicht.
"Sturmbannführer", sagte er mit neutraler, offizieller Stimme, "ich
möchte Sie bitten, dem Reichsführer mein Gesuch um Versetzung zu
einer Fronteinheit zu übermitteln."
Ich war verblüfft. Ich
blickte rasch weg und setzte mich. Ich nahm meinen Füllhalter und
malte einige Kreuze auf meinen Notizblock. Nach einer Weile hob ich
den Kopf und sah Setzler an. "Besteht eine Beziehung zwischen dem
Befehl, den ich Ihnen eben erteilt habe, und dem Gesuch um
Versetzung, das Sie mir zu überreichen gedenken?"
Sein Blick glitt über mich
hinweg, blieb auf der Schreibtischlampe haften, und leise sagte er:
"Jawohl."
Ich legte meinen Füller hin.
"Selbstverständlich halte ich meinen Befehl aufrecht."
Ich sah ihn fest an. "Was
Ihr Gesuch um Versetzung angeht, so ist es meine Pflicht, es
weiterzugeben, aber ich verhehle Ihnen nicht, daß ich es mit einer
gegenteiligen Stellungnahme weitergeben werde."
Setzler machte eine
Bewegung, aber ich hob die Hand. "Setzler, Sie haben von Anfang an
bei dieser ganzen Sache mit mir zusammengearbeitet. Sie allein
haben außer mir die notwendige
Fähigkeit, die provisorische Anlage zu leiten.
Wenn Sie weggingen, müßte ich persönlich einen anderen Offizier
anlernen und unterweisen."
Ich fuhr lauter fort: "Ich
habe dazu keine Zeit. Ich muß mich bis Juli ganz den Baustellen
widmen."
Ich stand auf. "Bis dahin
sind Sie mir unentbehrlich."
Es entstand ein Schweigen,
dann setzte ich hinzu: "Zu diesem Zeitpunkt, wenn der Krieg noch
andauert -was ich übrigens für unwahrscheinlich halte -, können Sie
ein Gesuch einreichen. Ich werde es unterstützen."
Ich schwieg. Setzler stand
unbeweglich da, sein Gesicht war starr und eisig. Nach einer Weile
sagte ich: "Das wäre alles."
Er grüßte steif, machte
vorschriftsmäßig kehrt und ging. Ein paar Minuten später erschien
Hagemann mit seinem roten Mondgesicht, ganz außer Atem. Er legte
mir einige Schriftstücke zur Unterzeichnung vor. Die Schriftstücke
waren nicht dringend. Ich nahm meinen Füllhalter und sagte: "Er hat
nicht geleugnet."
Hagemann sah mich an, und
sein Gesicht heiterte sich auf. "Natürlich. ..er ist ein so offener
Mensch. ..so treu. .."
"Aber er hat sich die Sache
sehr zu Herzen genommen."
"Ach!
Wirklich?"
sagte er mit erstaunter
Miene. "Wirklich? ...Er ist eben ein Künstler, nicht wahr?
Vielleicht erklärt das sogar. .."
Er sah mich an und keuchte.
"
Wenn ich eine Vermutung
äußern darf ...Sturmbannführer. .. bestimmt ist er ein Künstler,
das erklärt alles. .."
Er machte ein andächtiges
und zugleich beleidigtes Gesicht. "Wenn man bedenkt! ...Ein
Offizier, Sturmbannführer! Was für eine unglaubliche Phantasie! Er
ist ein Künstler, das ist der Grund. .. Und wohlgemerkt,
Sturmbannführer", fuhr er fort, während er seine fetten Hände mit
triumphierender Miene erhob, "er hat sich die Sache zu Herzen
genommen, wie Sie sehr richtig bemerkten. ..Er ist eben Künstler.
.."
Ich schraubte meinen
Füllhalter zu. "Hagemann, ich rechne auf Sie, daß sich die Sache
nicht herumspricht."
"Selbstverständlich."
Ich stand auf, nahm meine
Mütze und ging die Baustellen inspizieren. Obersturmführer Pick kam
mir entgegen. Er war ein kleiner braunhaariger, ruhiger und kühler
Mann. Ich erwiderte seinen Gruß. "Haben Sie mit dem Sondieren der
Häftlinge Fortschritte gemacht?"
"Jawohl, Sturmbannführer. Es ist ganz so, wie
Sie glaubten, Sie haben keine Ahnung von der Bestimmung des
Werkes."
"Und die
SS-Männer?"
"Sie denken, es handele sich
um Luftschutzräume. Sie nennen die beiden Anlagen ,Bunker' oder
auch, da sie gleichmäßig sind, die 'Zwillingsbunker'."
"Das ist ein sehr guter
Gedanke. Wir werden sie künftig so nennen."
Pick fuhr nach einer Weile
fort: "Noch eine dumme Kleinigkeit, Sturmbannführer. Auf dem Plan
enden die vier großen Aufzüge, welche die Leute aus dem ,Duschraum'
heraufbringen, in einem großen Raum -dem künftigen Ofenraum. Und
dieser Raum hat offensichtlich keinen Ausgang. Einer der
Architekten hat sich darüber gewundert. Wohlgemerkt, er weiß nicht,
daß dieser Raum Öfen erhalten soll und daß durch sie. ..", Pick
lächelte leicht, ". ..die Leute herauskommen werden."
Ich sagte nach einer Weile
zu ihm: "Was haben Sie ihm geantwortet?"
"Daß ich es auch nicht
verstehe, aber es wäre Befehl."
Ich nickte, warf Pick einen
bedeutsamen Blick zu und sagte: "
Wenn dieser Architekt noch
einmal Fragen stellt, dann vergessen Sie nicht, es mir
mitzuteilen."
Pick erwiderte meinen Blick,
und ich ging zu den Baustellen. Man war dabei, die Abzugskanäle zu
betonieren, welche die unterirdischen Gaskammern mit der freien
Luft verbanden. Diese Kanäle sollten in den inneren Hof der Anlage
münden und hermetisch schließende Hauben erhalten. Ich malte mir
aus, wie die Dinge vor sich gehen würden. Nachdem einmal die
Häftlinge in die Gaskammer eingeschlossen wären, begäben sich die
dazu eingesetzten SS-Männer mit den Giftgasbüchsen auf den Hof,
legten ihre Gasmasken an, öffneten die Büchsen, schraubten die
Hauben der Kamine ab, schütteten die Kristalle ins Innere und
schraubten die Hauben wieder zu. Danach brauchten sie nur noch ihre
Masken abzulegen und könnten, wenn sie wollten, eine Zigarette
rauchen. "Das Dumme ist", sagte Pick, "daß die Kristalle direkt auf
den Boden geworfen werden. Sie erinnern sich gewiß,
Sturmbannführer, daß Obersturmführer Setzler sich darüber bei der
provisorischen Anlage beklagt hat."
"Ich erinnere
mich."
"Die Folge ist, daß die von
den Dämpfen Erreichten auf die Kristalle drauf fallen und das Gas
sich weniger gut entwickelt."
"Das ist
richtig."
Es entstand ein Schweigen.
Pick straffte sich und sagte: "Sturmbannführer, darf ich einen
Vorschlag machen?"
"Gewiß."
"Man könnte die Kanäle durch
Säulen aus durchlöchertem Blech verlängern, die auf dem Boden der
Gaskammern aufsitzen. Auf diese Weisewürden die Kristalle, die in
die Abzugskanäle geworfen werden, in das Innere der Säulen fallen
und die Gasdämpfe durch die Löcher des Blechs austreten. Sie würden
nicht mehr durch die darüber lagernden Körper beeinträchtigt
werden. Ich sehe bei dieser Anordnung zwei Vorteile. Erstens eine
Beschleunigung der Vergasung und zweitens eine Ersparnis an
Kristallen."
Ich überlegte und erwiderte:
"Ihr Gedanke erscheint mir ausgezeichnet. Sagen Sie Setzler, er
solle in einem der beiden Räume der provisorischen Anlage diese
Anordnung ausprobieren, während der andere unverändert bleibt. Das
wird uns erlauben, durch Vergleich die Ersparnis an Kristallen und
den Zeitgewinn ziffernmäßig zu bestimmen."
"Jawohl,
Sturmbannführer."
"Selbstverständlich werden
wir, wenn die Ersparnis nennenswert ist, Ihre Vorrichtung für die
Bunker übernehmen."
Ich sah Pick an. Er war
etwas kleiner als ich. Er sprach nur, wenn man das Wort an ihn
richtete. Er war ruhig, korrekt, positiv. Vielleicht hatte ich Pick
bisher nicht ganz nach seinem Wert eingeschätzt. Nach einer Weile
sagte ich: "Was machen Sie zu Weihnachten, Pick?"
"Nichts Besonderes,
Sturmbannführer."
"Meine Frau und ich geben
eine kleine Abendgesellschaft. Wir würden uns freuen, Sie und Ihre
Frau bei uns zu sehen."
Es war das erste Mal, daß
ich ihn zu mir einlud. Sein blasses Gesicht rötete sich leicht, und
er antwortete: "Gewiß, Sturmbannführer, wir werden sehr gern
..."
Ich sah, daß er nicht wußte,
wie er den Satz beenden sollte, und setzte freundlich hinzu:
"
Wir rechnen also auf
Sie."
Am Heiligen Abend, am frühen
Nachmittag, wollte Setzler mich sprechen. Seit unserer letzten
Zusammenkunft waren unsere Beziehungen anscheinend normal gewesen.
Aber tatsächlich hatte ich ihn sehr wenig zu sehen gekriegt, und
nur aus dienstlichen Gründen. Er grüßte, ich erwiderte seinen Gruß
und bat ihn, Platz zu nehmen. Er machte eine ablehnende
Handbewegung "
Wenn Sie gestatten,
Sturmbannführer, ich habe Ihnen nur sehr wenig
mitzuteilen."
Ich sah ihn an. Er hatte
sich sehr verändert. Sein Rücken hatte sich noch mehr gekrümmt, und
seine Backen waren hohl. Der Ausdruck seiner Augen befremdete mich.
Ich sagte freundlich: "Nun, Setzler?"
Ich sah, wie seine Brust
sich hob, er öffnete den Mund, als ob er keine Luft kriegte, sagte
aber nichts. Er sah ungewöhnlich blaß aus. Ich sagte: "Wollen Sie
nicht Platz nehmen, Setzler."
Er schüttelte den Kopf und setzte leise hinzu:
"Danke, Sturmbannführer."
Einige Sekunden verstrichen.
Er stand vollkommen unbeweglich da, groß und gebeugt, seine
fiebrigen Augen waren starr auf mich gerichtet. Er sah wie ein
Gespenst aus. Ich sagte: "Nun?"
Seine Brust hob sich, seine
Kiefer zogen sich zusammen, und er sagte mit farbloser Stimme:
"Sturmbannführer, ich beehre mich, Sie zu bitten, dem Reichsführer
SS mein Gesuch um Versetzung in eine Fronteinheit weiterreichen zu
wollen."
Er zog ein Schreiben aus der
Tasche, faltete es auseinander, tat zwei Schritt vorwärts wie ein
Automat, legte das Schreiben auf meinen Schreibtisch, tat zwei
Schritt zurück und stand stramm. Ich rührte das Schriftstück nicht
an. Einige Sekunden verstrichen, dann sagte ich: "Ich werde Ihr
Gesuch mit einer gegenteiligen Stellungnahme
weitergeben."
Er zwinkerte mehrere Male
mit den Augen, und in seinem mageren Halse stieg der Adamsapfel
hoch; das war alles. Er schlug die Hacken zusammen, grüßte, machte
eine vorschriftsmäßige Kehrtwendung und wandte sich der Tür zu.
"Setzler!"
Er drehte sich um. "Bis
heute abend, Setzler"
Er sah mich mit einem
verstörten Blick an. "Heute abend?"
"Meine Frau hat Sie doch zu
uns eingeladen. nicht wahr? Sie und Ihre Frau. Sie wissen doch. zur
Weihnachtsfeier."
Er lächelte. "Gewiß.
Sturmbannführer, ich erinnere mich."
"Wir rechnen auf Sie. sobald
Ihr Nachtdienst beendet ist."
Er verbeugte sich. grüßte
nochmals und ging. Ich besuchte dann die Baustellen. Der Wind wehte
von Osten. und der Rauch aus den Gräben von Birkenau durchzog das
Lager. Ich nahm Pick beiseite. . "Was sagen sie zu dem
Geruch?"
Pick schnitt ein Gesicht.
"Sie beklagen sich darüber, Sturmbannführer."
"Danach frage ich Sie
nicht."
"Nun", antwortete Pick
verlegen. "unsere SS-Männer sagen ja immer, daß es eine Gerberei
sei, aber ich weiß nicht, ob sie es glauben."
"Und die
Häftlinge?"
"Sturmbannführer, ich wage
die Dolmetscher nicht allzuviel darüber auszufragen. Das könnte sie
stutzig machen."
"Gewiß, aber Sie können sich
mit ihnen unterhalten."
"Ganz richtig,
Sturmbannführer, aber sobald ich auf den Geruch anspiele, werden
sie stumm wie die Karpfen."
"Ein schlimmes
Zeichen."
"Das glaube ich auch, Sturmbannführer."
Ich verließ ihn. Ich war
unruhig und unzufrieden. Es war offensichtlich, daß die
Sonderaktion, wenigstens innerhalb des Lagers, nicht lange geheim
bleiben konnte. Ich ging zum Appellplatz. Ich hatte Befehl gegeben,
dort zu Weihnachten einen Tannenbaum für die Häftlinge
aufzustellen. Hagemann kam mir entgegen, dick, groß, gewichtig.
Sein Unterkinn lag auf dem Kragen auf. "Ich habe die größte Tanne
genommen, die ich gefunden habt: ... entsprechend den Ausmaßen des
Appellplatzes, ..", er keuchte, ". ..eine kleine Tanne hätte
vielleicht lächerlich ausgesehen, nicht wahr?"
Ich nickte und trat näher.
Der Baum lag am Boden. Zwei Häftlinge gruben unter Anleitung eines
Kapo ein Loch. Der Rapportführer und zwei Scharführer sahen zu.
Sobald der Rapportführer mich sah, rief er "Achtung!", die beiden
Scharführer standen stramm, der Kapo und die Häftlinge rissen ihre
Kopfbedeckungen herunter und erstarrten.
"Weitermachen!"
Der Rapportführer schrie:
"Los! Los!", und die Häftlinge fingen an, wie die Verrückten zu
arbeiten. Ihre Züge erschienen mir nicht sonderlich semitisch. Aber
vielleicht rührte dieser Eindruck von ihrer außerordentlichen
Magerkeit her Ich betrachtete den Baum, überschlug annäherungsweise
seine Länge und sein Gewicht und wandte mich an Hagemann:
"
Wie tief lassen Sie das Loch
machen?"
"Einen Meter,
Sturmbannführer."
"Der größeren Sicherheit
wegen machen Sie es doch einen Meter dreißig tief. Heute abend kann
Wind aufkommen."
"Jawohl,
Sturmbannführer."
Ich sah den Häftlingen ein
paar Minuten beim Arbeiten zu, dann machte ich kehrt, Hagemann gab
meinen Befehl an den Rapportführer weiter und holte mich ein. Er
keuchte, um mit mir auf gleicher Höhe zu bleiben. "Wir werden
Schnee bekommen, glaube ich. .."
"Ja?"
"Ich fühle es. ..in meinen
Gelenken", sagte er mit einem leichten diskreten Lachen. Dann
hustete er. Wir gingen noch ein paar Minuten, und er begann wieder:
"Wenn ich mir erlauben darf. ..eine Vermutung zu äußern,
Sturmbannführer..."
"Ja?"
"Die Häftlinge hätten
vielleicht. ..heute abend. ..eine doppelte Ration Suppe.
"vorgezogen."
Ich sagte schroff: "Wem
vorgezogen?"
Hagemann wurde rot und fing an zu keuchen. Ich
fuhr fort: "Wo nehmen Sie die doppelte Ration her? Können Sie mir
das sagen?"
"Sturmbannführer", sagte
Hagemann überstürzt, "es war nur ein Einfall. ..Ich habe mich wohl
schlecht ausgedrückt. ..Tatsächlich habe ich durchaus nichts
vorgeschlagen. ..Es war eine einfache Vermutung ...eine Vermutung
psychologischer Art, sozusagen. .. Die Tanne ist sicherlich eine
schöne Geste. ..selbst wenn die Häftlinge sie nicht würdigen.
.."
Ich sagte ungeduldig: "Deren
Meinung interessiert mich nicht. Wir haben getan, was angemessen
ist, das ist das Wesentliche."
"Gewiß, Sturmbannführer",
sagte Hagemann, "wir haben getan, was angemessen ist."
Mein Büro roch etwas
dumpfig. Ich zog meinen Mantel aus, hängte ihn samt der Mütze an
den Kleiderhaken und machte das Fenster weit auf. Der Himmel war
grau und flockig. Ich brannte mir eine Zigarette an und setzte
mich. Setzlers Gesuch lag noch da, wo er es hingelegt hatte. Ich
zog es zu mir heran, las es, schraubte meinen Füllhalter auf und
schrieb rechts darunter: "Gegenteilige Stellungnahme."
Es fing an zu schneien, und
etliche Flocken flogen ins Zimmer herein. Sie schwebten auf den
Fußboden nieder und schmolzen sofort. Nach einer Weile fühlte ich,
daß mir kalt wurde. Ich las das Gesuch Setzlers noch einmal durch,
unterstrich die Worte "Gegenteilige Stellungnahme", schrieb
darunter: "Unentbehrlicher Spezialist (Provisorische Anlage)", und
unterschrieb. Ein Windstoß trieb Schneeflocken auf den Tisch, und
als ich den Kopf hob, sah ich vor dem Fenster eine kleine Pfütze.
Ich steckte das Gesuch Setzlers in einen Umschlag und den Umschlag
in meine Tasche. Dann zog ich einen Stoß Papiere heran. Meine Hände
waren blau vor Kälte. Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher
aus und fing an zu arbeiten. Nach einer Weile hob ich die Augen.
Als ob es dieses Zeichens bedurft hätte, hörte es auf zu schneien.
Ich stand auf, ging ans Fenster, faßte den Riegel, fügte die beiden
Fensterflügel ineinander und drückte sie zu. Im selben Augenblick
sah ich Vater, schwarz und steif, mit glänzenden Augen, vor mir:
Der Regen hatte aufgehört, er konnte also das Fenster schließen.
Die rechte Hand tat mir weh. Ich merkte, daß ich den Fensterriegel
mit aller Kraft in der falschen Richtung drehte. Ich drückte leicht
in entgegengesetzter Richtung, und es gab ein leichtes, dumpfes,
gleitendes Geräusch. Ich ging um den Schreibtisch herum, schaltete
wütend den elektrischen Ofen ein und fing an, hin und her zu
laufen. Nach einer Weile setzte ich mich wieder, zog ein Blatt
Papier heran und schrieb: "Mein lieber Setzler! Würden Sie mir Ihre
Pistole leihen?"
Ich klingelte der Ordonnanz,
übergab ihm das Billett, und zwei Minuten später kam er mit der
Pistole und einem Zettel zurück: "Mit besten Empfehlungen von
Obersturmführer Setzler."
Setzlers Waffe schoß
bemerkenswert genau, und die Offiziere des KZ liehen sie oft bei
ihm aus, um damit zu üben. Ich bestellte meinen Wagen und ließ mich
zum Schießstand fahren. Ich schoß ungefähr eine Viertelstunde lang
auf verschiedene Entfernungen, auf feste und bewegliche Ziele. Ich
steckte die Pistole wieder in die Pistolentasche, ließ mir die
Schachtel bringen, in der man meine Schießkarten verwahrte, und
verglich die neue mit den früheren Serien: Ich hatte mich
verschlechtert. Ich ging, blieb aber vor dem Schießstand stehen. Es
hatte wieder zu schneien angefangen, und ich fragte mich, ob ich
nicht in mein Büro zurückkehren sollte. Ich sah auf die Uhr. Es war
halb acht. Ich bestieg den Wagen und sagte Dietz, er solle mich
nach Hause fahren. Das Haus war hell erleuchtet. Ich betrat mein
Arbeitszimmer, legte das Koppel auf den Tisch und hängte den Mantel
und die Mütze an den Kleiderhaken. Dann wusch ich mir die Hände und
ging ins Eßzimmer . Elsie, Frau Müller und die Kinder saßen bei
Tisch. Nur die Kinder aßen, Frau Müller war die Lehrerin, die wir
aus Deutschland hatten kommen lassen. Es war eine Frau mittleren
Alters, grauhaarig und ganz annehmbar . Ich blieb auf der Schwelle
stehen und sagte: "Ich bringe euch Schnee mit."
Der kleine Franz blickte auf
meine Hände und sagte mit seiner hellen, niedlichen Stimme:
"
Wo ist er?"
Karl und die beiden Mädchen
fingen an zu lachen. "Papa hat ihn vor der Tür gelassen", sagte
Elsie, "er war zu kalt, Papa konnte ihn nicht mit
hereinbringen."
Karl lachte wieder. Ich
setzte mich neben Franz und sah ihm beim Essen zu. "Ach", sagte
Frau Müller, "ein Weihnachten ohne Schnee. .."
Sie unterbrach sich und warf
verlegene Blicke um sich, als ob sie aus der Rolle gefallen wäre.
"Aber gibt es denn Weihnachten ohne Schnee?"
fragte Hertha.
"Sicher!"
sagte Karl. "In Afrika gibt
es überhaupt keinen Schnee."
Frau Müller hustete. "Außer
auf den Bergen natürlich."
Karl wiederholte keck:
"Natürlich."
"Ich kann den Schnee nicht
leiden", sagte Katharina. Sobald Franz mit dem Essen fertig war,
nahm er mich bei der Hand, um mir den schönen Tannenbaum im Salon
zu zeigen. Elsie schaltete den Kronleuchter aus, betätigte den
Schalter, und im Baum leuchteten kleine Sterne auf. Die Kinder
betrachteten ihn eine ganze Weile.
Dann erinnerte sich Franz an den Schnee und
wollte ihn sehen. Ich warf Elsie einen Blick zu, und sie sagte
bewegt: "Sein erster Schnee."
Ich schaltete die Ampel auf
der Terrasse ein und öffnete die Läden der Glastür. Die Flocken
tanzten weiß und flimmernd um die Lampe. Nachher wollte Franz die
Vorbereitungen für den Empfang sehen, und ich ließ sie alle einen
Augenblick in die Küche gehen. Der große Tisch war über und über
mit Bergen von belegten Broten und Kuchen bedeckt. Jeder bekam ein
Stück Kuchen, und sie gingen zum Schlafen nach oben. Es war
ausgemacht, daß man sie um Mitternacht wecken würde und daß sie
ihren Anteil am Nachtisch bekommen und mit den großen Leuten ,,O
Tannenbaum"
singen sollten. Ich ging
auch hinauf und wechselte die Uniform. Dann ging ich wieder
hinunter in mein Arbeitszimmer, schloß mich dort ein und blätterte
in einem Buch über Pferdezucht, das Hagemann mir geliehen hatte.
Nach einer Weile dachte ich an den Bruch und fühlte, wie mich
Trauer überkam. Ich klappte das Buch zu und fing an, im Zimmer auf
und ab zu gehen. Wenig später holte mich Elsie, und wir nahmen an
einer Ecke des Eßzimmertisches einen kleinen Imbiß ein. Elsie war
im Abendkleid, und ihre Schultern waren nackt. Als wir fertig
waren, gingen wir in den Salon hinüber, sie zündete überall Kerzen
an, löschte den Kronleuchter und setzte sich ans Klavier. Ich hörte
Elsie zu. Elsie hatte in Dachau angefangen, Klavierstunden zu
nehmen, als ich zum Offizier ernannt worden war . Zehn Minuten vor
zehn schickte ich meinen Wagen zu Hagemanns, und pünktlich um zehn
Uhr kamen Hagemanns und Picks an. Dann fuhr der Wagen wieder weg,
um Bethmanns, Schmidts und Frau Setzler zu holen. Als alle da
waren, ließ ich Dietz durch das Dienstmädchen sagen, er solle in
die Küche kommen und sich wärmen. Elsie führte die Damen in ihr
Zimmer, und die Herren legten ihre Mäntel in meinem Arbeitszimmer
ab. Dann führte ich sie in den Salon, und während wir auf die Damen
warteten, tranken wir einen Schluck. Man sprach von den Ereignissen
in Rußland, und Hagemann sagte: "Ist es nicht merkwürdig? ...In
Rußland hat der Winter sehr früh begonnen. ..und hier überhaupt
nicht. .."
Daraufhin sprachen wir etwas
über den russischen Winter und die Kriegsvorgänge und kamen
übereinstimmend zu der Meinung, daß man im nächsten Frühjahr fertig
sein würde. "Wenn Sie gestatten", sagte Hagemann, "ich sehe die
Dinge so. .. für Polen ein Frühjahr. ..Für Frankreich ein Frühjahr.
..Und für Rußland, da es größer ist, zwei. .."
Dann sprachen alle durcheinander.
"Richtig!"
sagte Schmidt mir seiner
scharfen Stimme. "Die Ausdehnung ist es! Der wirkliche Gegner ist
die Ausdehnung!"
Pick sagte: "Der Russe ist
sehr primitiv."
Bethmann drückte den Zwicker
auf seiner mageren Nase zurecht. "Darum unterliegt der Ausgang des
Kampfes keinem Zweifel. Rassisch gesehen, ist ein Deutscher zehn
Russen wert ...Von der Kultur gar nicht zu reden."
"Sicherlich", keuchte
Hagemann, "indessen. ..wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf
...", er lächelte, hob seine fetten Hände und wartete, bis das
Dienstmädchen hinausgegangen war, ". ..man hat mir gesagt, daß in
den besetzten Gebieten unsere Soldaten. ..die größten
Schwierigkeiten haben. ..mit den russischen Frauen in
geschlechtlichen Verkehr zu treten. Sie wollen absolut nichts davon
wissen. ..Begreifen Sie das ? ...Oder aber es gehört eine lange
Freundschaft dazu. ..Aber. ..", er machte eine Handbewegung und
sagte leise: "
..eine flüchtige Liebschaft.
..Sie verstehen? ...Nichts zu machen. .."
"Das ist stark", sagte
Bethmann mit einem kehligen Lachen, "sie sollten sich geehrt
fühlen."
Die Damen traten ein, wir
erhoben uns, und alle nahmen Platz, Hagemann neben Frau Setzler .
"
Wenn Sie gestatten. ..ich
will es ausnutzen, daß Sie heute abend Strohwitwe sind. ..und Ihnen
ein bißchen den Hof machen. .. sozusagen. .."
"Es ist die Schuld des
Kommandanten, wenn ich Strohwitwe bin", sagte Frau Setzler . Und
sie drohte mir neckisch mit dem Finger. Ich sagte: "Aber durchaus
nicht, gnädige Frau, ich bin daran unschuldig. Er ist nur mit dem
Dienst an der Reihe."
"Er wird sicherlich vor
Mitternacht da sein", sagte Hagemann. Elsie und Frau Müller
reichten die belegten Brote und Erfrischungen herum, dann, als die
Unterhaltung zu erlahmen begann, setzte sich Frau Hagemann ans
Klavier, die Herren holten ihre Instrumente, die sie in der Diele
gelassen hatten, und fingen an zu musizieren. Nach einer Stunde
wurde eine Pause gemacht, der Kuchen wurde aufgetragen, man sprach
über Musik, und Hagemann erzählte Anekdoten von großen Musikern. Um
halb zwölf ließ ich Frau Müller die Kinder wecken, und gleich
darauf sah man sie durch die große Glastür, die den Salon vom
Eßzimmer trennte. Sie saßen um den Tisch herum. Sie sahen feierlich
und verschlafen aus. Wir beobachteten sie eine Zeitlang durch die
Türbespannung, und Frau Setzler, die keine Kinder hatte, sagte mit
bewegter Stimme: "Ach, wie niedlich sie sind!"
Zehn Minuten vor zwölf holte ich sie herein. Sie
machten im Salon die Runde und begrüßten die Gäste sehr korrekt.
Dann erschienen das Mädchen und Frau Müller mit einem großen
Tablett, Gläsern und zwei Flaschen Sekt. Ich sagte: "Den Sekt
verdanken wir Hagemann", es gab ein lustiges Durcheinander der
Stimmen, und Hagemann lächelte allen zu. Als wir die Gläser in der
Hand hatten, erhoben wir uns, Elsie löschte den Kronleuchter aus,
steckte den Weihnachtsbaum an, und wir stellten uns im Halbkreis um
ihn auf, um die Mitternacht zu erwarten. Stille trat ein, alle
Augen waren auf die kleinen Sterne des Baumes gerichtet, als ich
fühlte, wie eine kleine Hand sich in meine linke stahl. Es war
Franz. Ich beugte mich zu ihm hinunter und sagte ihm, es würde viel
Lärm geben, weil alle zu gleicher Zeit zu singen anfangen würden.
Jemand berührte mich leicht am Arm. Ich drehte mich um. Es war Frau
Müller. Sie sagte ganz leise: "Man verlangt Sie am Telefon, Herr
Kommandant."
Ich sagte Franz, er solle
wieder zu seiner Mutter gehen, und zog mich aus der Gruppe zurück
Frau Müller öffnete mir die Salontür und verschwand in der Küche.
Ich schloß mich in meinem Arbeitszimmer ein, stellte mein Glas auf
den Tisch und ergriff den Hörer. "Sturmbannführer", sagte eine
Stimme, "hier ist Untersturmführer Lück."
Die Stimme klang sehr
entfernt, aber deutlich. "Nun?"
"Sturmbannführer, ich
erlaube mir, Sie aus einem ernsten Anlaß zu stören."
Ich wiederholte ungeduldig:
"Nun?"
Es dauerte einige Zeit, dann
fuhr die Stimme fort: "Obersturmführer Setzler ist
tot."
"Wie?"
Die Stimme wiederholte:
"Obersturmführer Setzler ist tot."
"
Was sagen Sie? Er ist
tot?"
"
Jawohl, Sturmbannführer.
"
"Haben Sie den Lagerarzt
benachrichtigt?"
"Jawohl, Sturmbannführer, es
ist recht sonderbar ...Ich weiß nicht, ob ich. .."
"Ich komme, Lück. Erwarten
Sie mich am Eingangsturm!"
Ich legte auf, ging in die
Diele und stieß die Tür zur Küche auf. Dietz stand auf. Das Mädchen
und Frau Müller sahen mich erstaunt an. "Wir fahren,
Dietz."
Dietz zog seinen Mantel an.
Ich sagte: "Frau Müller!"
Ich winkte ihr, mir zu
folgen. Sie kam in mein Arbeitszimmer mit. "Frau Müller, ich muß
ins Lager. Wenn ich weg bin, benachrichtigen Sie meine
Frau!"
"Ja, Herr
Kommandant."
Ich hörte Dietz' Schritte in der Diele. Ich
schnallte mein Koppel um, zog den Mantel darüber und griff nach
meiner Mütze. Frau Müller sah mich an. "Schlechte Nachrichten, Herr
Kommandant?"
"Ja."
Ich öffnete die Tür und
drehte mich noch einmal um: "Benachrichtigen Sie meine Frau
unauffällig."
"Ja, Herr
Kommandant."
Ich lauschte. Im Salon war
es vollkommen still. "
Warum singen sie denn
nicht?"
"Sie warten wahrscheinlich
auf Sie, Herr Kommandant."
"Sagen Sie meiner Frau, man
soll nicht auf mich warten."
Ich schritt schnell durch
die Diele, sprang die Stufen vor der Haustür hinunter und stieg ins
Auto. Es schneite nicht mehr, aber die Luft war eisig. "Nach
Birkenau."
Dietz fuhr los. Kurz bevor
wir am Eingangsturm ankamen, schaltete ich die Deckenbeleuchtung
an. Der Posten öffnete das Tor aus Stacheldraht, während er nervös
den Kopf zum Wachlokal hin drehte. Gelächter und Gesangsfetzen
drangen zu mir herüber . Die athletische Silhouette Lücks trat aus
dem Schatten hervor. Ich ließ ihn in den Wagen steigen. "Er ist auf
der Kommandantur, Sturmbannführer. Ich habe. .."
Ich legte meine Hand auf
seinen Arm, und er schwieg. "Nach der Kommandantur,
Dietz."
"Wegen der Wache", sagte
Lück, "bitte ich um Entschuldigung, aber ich glaubte, ich müßte
nicht. ..Natürlich haben sie sich gehenlassen."
"Ja, ja."
An der Kommandantur stieg
ich aus und sagte Dietz, er solle mich am Eingangsturm erwarten. Er
fuhr los, und ich wandte mich an Lück. "Wo ist er?"
"Ich habe ihn in sein Büro
geschafft."
Ich stieg die Stufen hinauf
und eilte durch den Korridor. Die Tür Setzlers war verschlossen.
"Erlauben Sie, Sturmbannführer", sagte Lück, "ich hielt es für
richtig, die Tür abzusperren."
Er öffnete, und ich machte
Licht, Setzler lag auf dem Boden. Seine Lider waren zur Hälfte über
die Augen gefallen, sein Gesicht war friedlich, er schien zu
schlafen. Ich brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er tot
war. Ich verschloß die Tür, ließ den Fenstervorhang herunter und
sagte: "Berichten Sie!"
Lück straffte sich. "Einen
Augenblick, Lück."
Ich setzte mich an Setzlers Schreibtisch, nahm
ein Blatt Papier und spannte es in die Schreibmaschine. Lück sagte:
"Als ich um elf Uhr die Kommandantur verließ, hörte ich in der
Garage Nr. 2 einen Automotor laufen. .."
"Nicht so
schnell."
Er wartete ein paar Sekunden
und fuhr dann fort: ". ..Der eiserne Rolladen war heruntergelassen.
..Ich beachtete es nicht weiter. .. Ich ging in die Kantine und
trank ein Glas. .."
Ich gab Lück ein Zeichen,
innezuhalten, ich radierte das Wort "Glas"
weg und tippte an seiner
Stelle "Erfrischung". "Fahren Sie fort."
". ..während ich
Schallplatten hörte ...Als ich in die Kommandantur zurückkam, lief
der Motor immer noch. ..Ich sah auf die Uhr. ..Es war halb zwölf.
Ich fand die Sache seltsam. .."
Ich hob die Hand, ich tippte
"halb zwölf"
und sagte:
"Warum?"
"Es erschien mir seltsam,
daß der Chauffeur den Motor so lange laufen ließ."
Ich tippte: "Ich fand es
seltsam, daß der Chauffeur den Motor so lange laufen
ließ."
Ich winkte, und Lück fuhr
fort: "Ich versuchte, den eisernen Rolladen hochzuheben. Er war von
innen verriegelt ... Ich ging durch den Korridor der Kommandantur
und öffnete die Tür, die in die Garage führt ...Obersturmführer
Setzler saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad. ..ich stellte den
Motor ab. .. Dann zog ich den Körper aus dem Wagen. ..und schaffte
ihn hierher. .."
Ich hob den Kopf.
"Allein?"
Lück reckte seine breiten
Schultern. "Allein, Sturmbannführer."
"Fahren Sie
fort!"
". ..Ich wandte dann
künstliche Beatmung an ..."
"Warum?"
"Es war klar, daß
Obersturmführer Setzler einer Vergiftung durch das Auspuffgas
erlegen war. .."
Ich tippte einen Satz, stand
auf, tat ein paar Schritte durch das Zimmer und betrachtete
Setzler. Er lag der Länge lang auf dem Rücken, die Beine ein wenig
gespreizt. Ich blickte auf. "
Was halten Sie davon,
Lück?"
"Es ist eine Vergiftung, wie
ich sagte, Sturm. .."
Ich sagte schroff: "Das
meine ich nicht."
Ich sah ihn an, seine
hellblauen Augen trübten sich, und er sagte: "Ich weiß nicht,
Sturmbannführer."
"Sie haben doch eine Ansicht
darüber?"
Es entstand ein Schweigen,
dann sagte Lück langsam: "Nun, es gibt zwei Annahmen: Es ist
Selbstmord oder ein Unfall."
Noch langsamer fuhr er fort:
"Was mich angeht, so glaube ich. .."
Er stockte, und ich sagte:
". ..daß es ein Unfall ist."
Er sagte hastig: "Das glaube ich tatsächlich,
Sturmbannführer."
Ich setzte mich wieder,
tippte: "Meiner Meinung nach ist es ein Unfall", und sagte:
"
Wollen Sie Ihren Bericht
unterschreiben?"
Lück kam um den Schreibtisch
herum, ich reichte ihm meinen Füllhalter, und er unterzeichnete,
ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, den Bericht zu lesen. Ich
hob den Hörer ab. "Hier der Kommandant. Sagen Sie meinem Chauffeur,
er soll hierherkommen."
Ich hängte ein, und Lück gab
mir meinen Füllhalter zurück. "Sie nehmen das Auto und holen
Hauptsturmführer Hagemann und den Lagerarzt. Hauptsturmführer
Hagemann ist in meiner Wohnung. Sprechen Sie im Auto nicht über die
Angelegenheit."
"Jawohl,
Sturmbannführer."
Er war schon an der Tür, als
ich ihn zurückrief. "Haben Sie die Leiche durchsucht?"
"Das hätte ich mir nicht
erlaubt, Sturmbannführer."
Ich winkte, und er ging. Ich
stand auf, um die Tür hinter ihm abzuriegeln. Dann bückte ich mich
und durchsuchte Setzler. In der linken Tasche seiner Uniformjacke
fand ich einen an mich adressierten Umschlag. Ich öffnete ihn. Der
Brief war mit der Maschine geschrieben und vorschriftsmäßig
abgefaßt.
"SS-Obersturmführer Setzler, KZ Auschwitz an
SS-Sturmbannführer Lang, Kommandant des KZ Auschwitz
Ich nehme mir das
Leben, weil ich den abscheulichen Geruch verbrannten Fleisches
nicht mehr ertragen kann.
R. Setzler,
SS-Ostuf."
Ich leerte den
Aschenbecher in den Papierkorb, legte den Brief samt Umschlag auf
den Aschenbecher und hielt ein Streichholz daran. Als alles
verbrannt war, zog ich den Vorhang auf, öffnete das Fenster und
verstreute die Asche. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch,
es verging eine Weile, da dachte ich an Setzlers Pistole, ich zog
sie aus der Tasche und legte sie in eine der Schubladen. Dann
durchsuchte ich alle Schubladen eine nach der anderen und fand
schließlich, wonach ich suchte: eine Flasche Schnaps. Sie war kaum
angebrochen. Ich stand auf und goß zwei Drittel davon in die
Waschtoilette, dann besprengte ich die Bluse Setzlers vorn und
unterhalb des Halses. Ich ließ etwas Wasser in die Waschtoilette
fließen, schloß dann die Flasche wieder und stellte sie auf den
Schreibtisch. Sie enthielt noch zwei Fingerbreit
Schnaps.
Ich entriegelte die Tür, zündete mir eine
Zigarette an, setzte mich an den Schreibtisch und wartete. Von da,
wo ich saß, konnte ich die Leiche Setzlers nicht sehen. Mein Blick
fiel auf seinen Mantel. Er hing über einem Kleiderbügel und der
Bügel am Kleiderhaken rechts von der Tür. Zwischen den Schultern
war der Stoff ausgebeult, weil Setzler einen gekrümmten Rücken
hatte. Ich hörte Schritte auf dem Korridor. Als erster trat
Hagemann ein, mit bleichem, fassungslosem "Gesicht. Ihm folgte der
Lagerarzt, Hauptsturmführer Benz. Lück stand hinter ihm, ihn um
einen ganzen Kopf überragend. Hagemann stammelte: "Aber wieso?
...Wieso? ...Ich kann nicht begreifen. .."
Benz bückte sich, hob die
Augenlider des Toten hoch und schüttelte den Kopf. Dann richtete er
sich wieder auf, nahm die Brille ab, wischte sie ab, setzte sie
wieder auf, strich mit der Hand über sein glänzendes weißes Haar
und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sagte: "Sie können
gehen, Lück. Ich werde Sie rufen, wenn es nötig sein
sollte."
Lück ging. Hagemann stand
unbeweglich da. Er blickte auf die Leiche. Ich sagte: "Natürlich
ist es ein entsetzlicher Unglücksfall."
Ich fuhr fort: "Ich werde
Ihnen Lücks Bericht vorlesen."
Ich bemerkte, daß ich die
Zigarette noch in der Hand hatte, es war mir peinlich, ich wandte
mich ab und zerdrückte sie rasch im Aschenbecher. Ich las Lücks
Bericht vor und wandte mich dann an Benz. "
Wie sehen Sie die Dinge,
Benz?"
Benz blickte mich an. Es war
klar, daß er mich verstanden hatte. "Meiner Meinung nach", sagte er
langsam, "ist es ein Unfall."
"Aber wieso? ...Wieso?
..."
sagte Hagemann mit
verstörter Miene. Benz wies mit dem Finger auf die Schnapsflasche.
"Er hat ein bißchen zu sehr gefeiert. Er hat dann den Motor in Gang
gesetzt. Die Kälte hat ihn überfallen, er hat eine plötzliche
Ohnmacht gehabt und ist daraus nicht wieder
aufgewacht."
"Aber ich verstehe nicht",
sagte Hagemann keuchend, "für gewöhnlich trank er kaum etwas.
.."
Benz zuckte die Achseln.
"Sie brauchen ja bloß zu riechen."
"Aber wenn ich mir erlauben
darf", sagte Hagemann keuchend, "da ist trotzdem noch etwas.
..etwas Sonderbares. ..Warum hat Setzler nicht einen Chauffeur
gerufen, wie das sonst stets geschieht? Er hatte doch keinen Grund,
den Motor selbst in Gang zu setzen. .."
Ich sagte schroff: "Sie
wissen doch wohl, daß Setzler nichts wie andere Leute
tat."
"Ja, ja", sagte Hagemann,
"er war ein Künstler, sozusagen. .."
Er blickte mich an und sagte hastig: "Natürlich
glaube ich auch, daß es ein Unfall ist."
Ich stand auf. "Ich
beauftrage Sie, Frau Setzler nach Hause zu bringen und sie in
Kenntnis zu setzen. Nehmen Sie das Auto! Benz, ich möchte Ihren
Bericht gleich morgen früh haben, um ihn meinem
beizufügen."
Benz stand auf und nickte.
Sie gingen weg. Ich telefonierte ins Lazarett, sie sollten einen
Krankenwagen schicken, setzte mich an den Schreibtisch und begann,
meinen Bericht zu tippen. Sobald die Krankenträger die Leiche
fortgebracht hatten, brannte ich mir eine Zigarette an, öffnete das
Fenster ganz weit und fing wieder an zu tippen. Ein wenig später
nahm ich den Hörer ab und rief Obersturmführer Pick in seiner
Wohnung an. Eine Frauenstimme antwortete. Ich sagte: "Hier
Sturmbannführer Lang. Könnten Sie Ihren Mann rufen, Frau
Pick?"
Ich hörte das Geräusch, das
der Hörer machte, als sie ihn auf den Tisch legte, dann das
Geräusch von Schritten. Die Schritte verhallten, irgendwo klappte
eine Tür, dann trat Stille ein; plötzlich sagte eine kalte, ruhige
Stimme ganz nahe an meinem Ohr: "Obersturmführer
Pick."
"Ich habe Sie doch nicht geweckt, Pick?"
"Keinesweg, Sturmbannführer.
Wir sind eben nach Hause gekommen."
"Sie sind auf dem
laufenden?"
"Ich bin auf dem laufenden,
Sturmbannführer."
Ich fuhr fort: "Pick, ich
erwarte Sie morgen früh um sieben in meinem Büro."
"Ich werde dort sein,
Sturmbannführer."
Ich setzte noch hinzu: "Ich
beabsichtige, Ihren Dienst zu ändern."
Es entstand ein Schweigen,
und die Stimme erwiderte: "Zu Befehl, Sturmbannführer.
"
Die zwei großen
Zwillingskrematorien waren einige Tage vor der festgesetzten Frist
fertig, und am 18. Juli 1942 kam der Reichsführer persönlich, um
sie einzuweihen. Die Dienstwagen sollten um zwei Uhr nachmittags in
Birkenau eintreffen. Um halb vier waren sie immer noch nicht da,
und diese Verspätung hätte beinahe einen ernsten Zwischenfall
entstehen lassen. Ich wünschte natürlich, daß die Sonderaktion in
Gegenwart des Reichsführers ohne Anstoß abrollen sollte. Aus diesem
Grunde hatte ich nicht die Untauglichen des Lagers als Patienten
verwenden wollen. Sie waren in der Tat schwieriger zu behandeln als
Lagerfremde, da die Bestimmung der Zwillingskrematorien ihnen jetzt
wohl bekannt war. Ich hatte es mir also angelegen sein lassen, aus
einem polnischen Getto einen Transport von zweitausend Juden kommen
zu lassen. Dieser war kurz vor Mittag in ganz leidlichem Zustand
angekommen, und ich hatte ihn unter Bewachung von SS-Männern mit
Hunden im großen inneren Hof des Krematoriums I untergebracht. Zehn
Minuten vor zwei Uhr hatte man den Juden angekündigt, daß sie ein
Bad nehmen sollten, da aber der Reichsführer noch immer nicht kam
und die Wartezeit sich hinauszog, wurden die Juden, denen die
glühende Hitze im Hof sehr lästig war, nervös und unruhig,
verlangten zu trinken und zu essen und fingen bald sogar an, sich
zu erregen und zu schreien. Pick verlor seine Kaltblütigkeit nicht.
Er rief mich an und hielt aus einem Fenster des Krematoriums mit
Hilfe eines Dolmetschers eine Ansprache an die Menge. Er erklärte,
daß der Kessel der Duschen entzwei sei und man dabei wäre, ihn zu
reparieren. Mittlerweile kam ich dazu, ich ließ sofort Eimer voll
Wasser bringen, damit die Juden trinken konnten, ich versprach
ihnen, daß man nach der Dusche Brot verteilen würde, und rief
Hagemann an, er solle sein Häftlingsorchester kommen lassen. Ein
paar Minuten später war es da, die Musiker stellten sich in einer
Ecke des Hofes auf und fingen an, Wiener und polnische Weisen zu
spielen. Ich weiß nicht, ob es die Musik allein war, die sie
beruhigte, oder ob auch die Tatsache, daß man ihnen vorspielte, sie
über unsere Absichten in Sicherheit wiegte, aber allmählich
verebbte der Tumult, die Juden hörten auf, sich zu erregen, und ich
war überzeugt, daß, wenn Himmler ankäme, sie keine Schwierigkeiten
machen würden, in den unterirdischen Auskleideraum hinabzusteigen.
Weniger sicher war ich, soweit es das Hinüberwechseln vom
Auskleideraum in den "Duschraum"
betraf. Seitdem die
Krematorien fertiggestellt waren, hatte ich mehrmals die
Sonderaktion vornehmen lassen, und drei-oder viermal hatte ich in
dem Augenblick, in dem die Menge in den "Duschraum"
hineinströmte, eine lebhafte
rückläufige Bewegung beobachtet, die man natürlich mit Kolbenstößen
und indem man die Hunde losließ, zum Stillstand brachte. Das Ende
der Herde hatte dann nach vorn gedrängt, Frauen und Kinder waren
niedergetrampelt worden, und das Ganze war von Geschrei und
Schlägen begleitet. Es wäre natürlich ärgerlich gewesen, wenn ein
Zwischenfall dieser Art den Besuch des Reichsführers gestört hätte.
Doch fühlte ich mich zunächst machtlos, ihm zu begegnen, denn ich
sah nicht, worauf die rückläufige Bewegung zu schieben war, wenn
nicht auf einen dunklen Instinkt, denn der "Duschraum"
mit seinem mächtigen
vorgetäuschten Röhrenwerk, seinen Abflußrinnen und den zahlreichen
Brausen hatte durchaus nichts an sich, was Verdacht hätte erwecken
können. Schließlich bestimmte ich, daß am Tage des Besuchs Himmlers
die Scharführer zusammen mit den Juden in den Duschraum gehen und
kleine Seifenstückchen verteilen sollten. Zugleich befahl ich den
Dolmetschern, die Nachricht davon im Auskleideraum zu verbreiten,
während die Häftlinge sich auszogen. Ich wußte sehr gut, daß für
die Häftlinge das kleinste Stück Seife ein köstlicher Schatz war,
und ich rechnete darauf, sie damit zu locken. Diese List war ein
voller Erfolg. Sobald Himmler angekommen war, gingen Scharführer
mit großen Kartons durch die Menge, die Dolmetscher schrien die
Ankündigung in die Lautsprecher, ein Gemurmel der Befriedigung
erhob sich, das Auskleiden geschah in Rekordzeit, und alle Juden
eilten mit fröhlicher Geschäftigkeit in die Gaskammer . Die
Scharführer gingen einer nach dem anderen heraus, sie zählten ab,
und Pick schloß die schwere Eichentür. Ich fragte den Reichsführer,
ob er durch das Guckfenster blicken wollte. Er nickte, ich trat
beiseite, und in demselben Augenblick begannen die Schreie und die
dumpfen Schläge gegen die Wände. Himmler sah auf seine Uhr,
beschattete das Uhrglas mit der Hand und sah eine ganze Weile zu.
Sein Gesicht war völlig teilnahmslos. Nach einiger Zeit gab er den
Offizieren seines Gefolges ein Zeichen, daß sie auch durchschauen
könnten. Darauf führte ich ihn in den Hof des Krematoriums und
zeigte ihm die Betonkanäle, durch die die Kristalle hineingeworfen
worden waren. Das Gefolge Himmlers kam dazu, ich nahm die ganze
Gruppe in die Heizungsanlage mit und setzte meine Erklärungen fort.
Nach einer Weile ertönte ein schrilles Klingeln, und ich sagte:
"Das ist Pick, der den Ventilator verlangt, Reichsführer. Die
Vergasung ist beendet."
Der damit Beauftragte legte
einen Hebel um, ein mächtiges dumpfes Brausen erschütterte die
Luft, und Himmler sah von neuem auf die Uhr. Wir gingen wieder in
die Gaskammer. Ich zeigte der Gruppe die Säulen aus durchlöchertem
Blech, wobei ich nicht zu erwähnen vergaß, daß ich sie Pick
verdankte. Häftlinge des Sonderkommandos in hohen Gummistiefeln
leiteten mächtige Wassergüsse auf die Leichenhaufen. Ich erklärte
Himmler den Grund dafür. Hinter meinem Rücken flüsterte ein
Offizier des Gefolges spöttisch: "Na, da kriegen sie ja trotz allem
noch eine Dusche."
Man hörte unterdrücktes
Lachen, Himmler wandte sich nicht um, und sein Gesicht blieb
teilnahmslos. Wir gingen wieder ins Erdgeschoß hinauf, in den Teil,
in dem sich die Öfen befanden. Gerade in diesem Augenblick kam der
Aufzug Nr.
2 an, und die Häftlinge des Sonderkommandos
begannen, die Leichen auf die Wagen zu legen. Diese fuhren dann an
einem Kommando vorbei, das die Ringe einsammelte, einem Kommando
von Friseuren, die das Haar abschnitten, und einem Kommando von
Zahnärzten, welche die Goldzähne ausrissen. Ein viertes Kommando
warf die Leichen in die Öfen. Himmler beobachtete den ganzen
Vorgang in jeder Phase, ohne ein Wort zu sagen. Er hielt sich etwas
länger bei den Zahnärzten auf. Ihre Geschicklichkeit war
bemerkenswert. Ich führte Himmler dann in die Sezier-und
Forschungsräume des Krematoriums I. Das lebhafte Interesse des
Reichsführers für die Wissenschaft war mir bekannt, ich hatte
darauf die höchste Sorgfalt verwandt, und die Gesamtheit der Räume
und Laboratorien hätte in der Tat der modernsten Universität Ehre
gemacht. Der Reichsführer besichtigte alles sehr eingehend, hörte
aufmerksam meine Erklärungen an, aber er machte keine Bemerkung,
und sein Gesicht verriet nichts. Als wir das Krematorium verließen,
beschleunigte der Reichsführer seinen Schritt, und ich verstand,
daß er nicht die Absicht hatte, das Lager zu besichtigen. Er ging
so schnell, daß sein Stab nicht mitkam, und ich hatte selbst einige
Mühe, ihm zu folgen. An seinem Wagen angekommen, blieb er stehen,
drehte sich zu mir um, seine Augen hefteten sich über meinen Kopf
hinweg auf einen Punkt irgendwo im Raum, und er sagte langsam und
wie automatisch: "Es ist eine harte Aufgabe, aber wir müssen sie
erfüllen."
Ich straffte mich und sagte:
"Jawohl, Reichsführer."
Ich grüßte, er erwiderte
meinen Gruß und stieg in seinen Wagen. Nach zwölf Tagen, genau am
30. Juli, erhielt ich aus Berlin das folgende
Schreiben:
"Nach Mitteilung
des Chefs der Amtsgruppe D hat der Reichsführer SS im Nachgang
seines Besuches vom 18. Juli 1942 im KZ Auschwitz den
Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Rudolf Lang, mit Wirkung vom
18. Juli zum Obersturmbannführer befördert."
Ich begann unverzüglich die Bauarbeiten an den
beiden anderen Krematorien. Dank den erworbenen Erfahrungen beim
Bau ihrer Vorgänger war ich sicher, sie vor dem vorgeschriebenen
Datum fertigzustellen. Das Bedürfnis dafür war übrigens spürbar,
denn sofort nach dem Besuch des Reichsführers begann das RSHA, mir
in einem so beschleunigten Tempo Transporte zu schicken, daß die
Zwillingskrematorien ihrer Aufgabe kaum gewachsen waren. Da nur die
Untauglichen vergast wurden, vergrößerte der Rest den schon zu
hohen Bestand des Lagers, der Gesundheitszustand und die Ernähng
wurden mit jedem Tag kläglicher, und Epidemien -besonders
Scharlach, Diphtherie und Typhus -folgten einander unaufhörlich.
Die Lage war hoffnungslos, weil die Fabriken, die im Bezirk wie
Pilze aus der Erde zu schießen begannen -angelockt durch die
reichlichen und billigen Arbeitskräfte, die für sie die Häftlinge
darstellten -, damals im Vergleich zu der riesigen Bevölkerung der
Lager nur einen geringen Teil des Bestands verbrauchten. Ich bat
also von neuem und wiederholt das RSHA, man solle mir weniger
Transporte schicken, aber alle meine Vorstellungen blieben
erfolglos, und ich erfuhr durch Indiskretion eines Büros, daß nach
dem förmlichen Befehl des Reichsführers jeder SS-Führer, der
willentlich oder unwillentlich das Programm der Ausrottung
verlangsame, sei es auch noch so geringfügig, erschossen werden
würde. Tatsächlich mußten die Judentransporte überall als vorrangig
behandelt werden und sogar den Waffen-und Truppentransporten an die
russische Front vorangehen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich
zu fügen. Doch nicht ohne Mißbehagen sah ich die Lager, die ich zu
Anfang musterhaft organisiert hatte, von Woche zu Woche mehr in ein
unbeschreibliches Chaos geraten. Die Häftlinge starben wie die
Fliegen, Epidemien töteten fast ebensoviel Menschen wie die
Gaskammern, und vor den Baracken häuften sich die Leichen so
schnell, daß die Sondermannschaften, die sie in die Krematorien
schafften, überlastet waren. Am 16. August unterrichtete mich ein
Telefonanruf aus Berlin, daß Standartenführer Kellner ermächtigt
worden sei, informationshalber die Einrichtungen von Birkenau zu
besichtigen, und am nächsten Tag kam Kellner tatsächlich ganz früh
am Morgen im Auto an, ich machte ihm die Honneurs, er zeigte sich
sehr interessiert für die Sonderaktion und die Einrichtung der
Krematorien, und zu Mittag nahm ich ihn zum Essen mit nach Hause.
Wir nahmen im Salon Platz und warteten darauf, daß das Mädchen uns
ankündigte, das Essen sei aufgetragen. Nach einer Weile erschien
Elsie. Kellner sprang auf, schlug die Hacken zusammen, ließ sein
Monokel verschwinden, verbeugte sich tief und küßte ihr die Hand.
Danach setzte er sich ebenso schnell wieder, wie er aufgestanden
war, wandte sein Gesicht dem Fenster zu, so daß sein vollendetes
Profil zu sehen war, und sagte: "Und wie finden Sie Auschwitz,
gnädige Frau?"
Elsie öffnete den Mund. Er
fuhr aber gleich fort: "Ja, ja. Natürlich dieser unangenehme
Geruch. ..", er machte eine kleine Geste mit der Hand, ". ..und all
das. Aber ich versichere Ihnen, wir haben in Culmhof dieselben
kleinen Unannehmlichkeiten. .."
Er setzte sein Monokel
wieder ein und blickte sich mit interessierter und freundlicher
Miene um.
"Aber Sie sind schön eingerichtet. ..Sie sind
bemerkenswert schön eingerichtet, gnädige Frau."
Er warf einen Blick durch
die Glastür ins Eßzimmer. "Und ich stelle fest, daß Sie ein
geschnitztes Büfett haben."
"Wollen Sie es sehen,
Standartenführer?"
fragte Elsie. Wir gingen ins
Eßzimmer, Kellner stellte sich vor das Büfett und betrachtete lange
die Schnitzereien. "Ein religiöses Sujet. ..", sagte er und kniff
die Augen zusammen, "
..Ausdruck von Angst.
..jüdisch-christliche Auffassung des Todes. ..", er machte eine
kleine Handbewegung, "und all dieser alte Kram. ..Wohlgemerkt, der
Tod hat nur Bedeutung, wenn man wie sie ein Jenseits annimmt.
..Aber welche Vollendung, mein Lieber! Was für eine
Ausführung!"
Ich sagte: "Ein polnischer
Jude hat es gemacht, Standartenführer."
"Ja, ja", sagte Kellner,
"nichtsdestoweniger muß er eine kleine Dosis nordischen Blutes in
seinen Adern haben. Sonst hätte er nie diese wundervolle Arbeit
ausführen können. Die Juden sind hundertprozentig unfähig zu
schöpferischen Leistungen, das wissen wir seit
langem."
Er strich mit seinen
gepflegten Händen leicht und zärtlich über die Schnitzereien.
"Charakteristische Häftlingsarbeit", fuhr er dann fort. "Sie wissen
nicht, ob sie ihr Werk um einen Tag überleben. ..Und für sie hat
natürlich der Tod Bedeutung. ..Sie haben im Leben diese unedle
Hoffnung. .."
Er schnitt ein Gesicht, und
ich fragte verlegen: "Glauben Sie, Standartenführer, daß ich es dem
Juden hätte verbieten sollen, ein religiöses Sujet zu
behandeln?"
Er wandte sich zu mir und
fing an zu lachen. "Haha! Lang", sagte er mit einer boshaften
Miene, "ahnten Sie denn nicht, daß Ihr Büfett im Widerspruch zur
Lehrmeinung steht. .."
Er betrachtete das
Möbelstück noch einmal, indem er seinen Kopf zur Seite drehte, und
seufzte: "Sie haben Glück mit Ihrem Lager, Lang. Unter der großen
Zahl haben Sie zwangsläufig richtige Künstler."
Wir nahmen am Tisch Platz,
und Elsie sagte: "Aber ich dachte, Sie hätten auch ein Lager unter
sich, Standartenführer."
"Das ist etwas anderes",
sagte Kellner, während er seine Serviette entfaltete, "ich habe
keine ständigen Häftlinge wie Ihr Gatte. Meine sind alle. ..", er
lachte leicht, ". ..Zugvögel."
Elsie sah ihn erstaunt an,
und er fuhr sogleich fort: "Hoffentlich fehlt Ihnen das Vaterland
nicht allzusehr, gnädige Frau? Polen ist ein trauriges Land, nicht
wahr? Aber es wird nicht mehr allzulange dauern, glaube ich. Bei
dem Tempo, in dem unsere Truppen
vorgehen, werden sie binnen kurzem im Kaukasus
sein, und der Krieg wird sich nicht mehr lange hinziehen."
Ich sagte: "Diesmal werden
wir vor dem Winter fertig sein. Das glaubt jeder hier,
Standartenführer ."
"In zwei Monaten", sagte
Kellner mit fester Stimme. "Noch etwas Fleisch,
Standartenführer?"
sagte Elsie. "Nein, danke,
gnädige Frau. In meinem Alter. ..", er lachte leicht, ". ..muß man
anfangen, an seine Linie zu denken."
"Oh! Sie sind doch noch
jung, Standartenführer", sagte Elsie mit liebenswürdiger Miene. Er
wandte sein scharfes Profil dem Fenster zu. "Richtig", sagte er
melancholisch, "ich bin noch jung. .."
Ein Schweigen entstand, und
er fuhr dann fort: "Und Sie, Lang, was werden Sie nach dem Krieg
machen? Es wird nicht immer Lager geben, wollen wir
hoffen."
"Ich gedenke vom Reich ein
Gut im Ostraum zu erbitten, Standartenführer ."
"Mein Mann", sagte Elsie,
"war Pächter bei Oberst Baron von Jeseritz in Pommern. Wir bebauten
etwas Land und züchteten Pferde."
"Ach,
wirklich!"
sagte Kellner. Er spielte
mit seinem Monokel und sah mich verständnisvoll an. "Ackerbau!
Pferdezucht! Sie haben mehr als einen Pfeil im Köcher,
Lang."
Er wandte sein Gesicht dem
Fenster zu, und seine Züge wurden würdevoll und streng. "Sehr gut",
sagte er in ernstem Ton, "sehr gut, Lang! Das Reich wird Kolonisten
brauchen, wenn die Slawen. ..", er lachte leicht, ". ..verschwunden
sein werden. ..Wie war gleich der Ausdruck des Reichsführers?
...der deutsche Musterpionier des Ostraums sein. Übrigens", setzte
er hinzu, "glaube ich daß er das von Ihnen gesagt
hat."
"Hat er das wirklich", sagte
Elsie mit leuchtenden Augen, "von meinem Mann gesagt?"
"Aber ja, gnädige Frau",
sagte Kellner höflich, "ich glaube wohl, daß es sich um Ihren
Gatten handelte. Ich bin sogar sicher, wenn ich jetzt darüber
nachdenke. Der Reichsführer urteilt gerecht."
"Oh!"
sagte Elsie, "ich freue mich
für Rudolf. Er arbeitet so viel. Er ist in allem so gewissenhaft.
"
Ich sagte: "Aber
Elsie!"
Kellner fing an zu lachen,
sah uns nacheinander gerührt an und hob seine gepflegten Hände. "Es
ist eine Freude, gnädige Frau, sich in einer echten deutschen
Familie zu befinden ! Ich bin Junggeselle", fuhr er mit
schwermütiger Miene fort. "Ich fühlte mich nicht berufen,
gewissermaßen. Aber in Berlin habe ich Freunde, die sehr glücklich
verheiratet sind."
Er dehnte den Schluß seines Satzes. Wir standen
auf und gingen in den Salon, um den Kaffee dort zu trinken. Der
Kaffee war richtiger Kaffee, den Hagemann aus Frankreich erhalten
und von dem er Elsie ein Päckchen geschenkt hatte.
"Großartig!"
sagte Kellner. "Sie leben in
Auschwitz wirklich wie Gott in Frankreich. Das Lagerleben hat sein
Gutes. ..Wenn nur nicht. ..", er zog ein angewidertes Gesicht,
"
.all dieses Häßliche
wäre."
Er rührte gedankenversunken
mit dem Löffel in seiner Tasse. "Die größte Unannehmlichkeit der
Lager ist die Häßlichkeit. Ich stellte diese Überlegung heute
morgen an, Lang, als Sie mir die Sonderaktion zeigten. Alle diese
Juden. .."
Ich sagte rasch:
"Entschuldigen Sie, Standartenführer! Elsie, würdest du den Likör
holen?"
Elsie sah mich erstaunt an,
stand auf und ging ins Eßzimmer. Kellner hob den Kopf nicht. Er
rührte immer noch mit seinem Kaffeelöffel. Elsie ließ die Glastür
hinter sich halb offen stehen. "
Wie häßlich sie
sind!"
fuhr Kellner fort, die Augen
auf die Tasse geheftet. "Ich habe sie betrachtet, als sie in die
Gaskammer gingen. Was für ein Anblick! Die nackten Gestalten!
Besonders die Frauen. .."
Ich sah ihn verzweifelt an.
Er blickte nicht auf. "Und die Kinder. ..so mager. ..mit ihren
kleinen Affengesichtern ...so groß wie meine Faust. ..Diese
Gerippe! Sie sahen wirklich scheußlich aus. ..Und als die Vergasung
losging. .."
Ich sah Kellner an und
blickte bestürzt zur Tür. Schweiß floß mir an der Hüfte herunter,
ich konnte nicht sprechen. "Was für gemeine
Stellungen!"
fuhr er fort, indem er
langsam, mechanisch mit seinem Löffel den Kaffee umrührte.
"
Wahrhaftig ein Gemälde von
Breughel! Schon weil sie so häßlich sind, verdienen sie den Tod.
Und wenn man daran denkt. ..", er lachte, ". ..wenn man daran
denkt, daß sie nach dem Tod noch schlechter riechen als zu ihren
Lebzeiten!"
Ich handelte mit unerhörter
Kühnheit. Ich berührte sein Knie. Er fuhr zusammen, ich neigte mich
hastig zu ihm hinüber, wies mit dem Kopf nach der halboffenen Tür
und flüsterte rasch: "Sie weiß von nichts."
Er öffnete den Mund und
hielt einen Augenblick verblüfft den Löffel mit den Fingerspitzen
in der Schwebe. Ein Schweigen entstand, und dieses Schweigen war
schlimmer als alles. "Breughel", fuhr er mit veränderter Stimme
fort, "kennen Sie Breughel, Lang? Nicht Breughel den Älteren
...nein, auch nicht den anderen. ..sondern den Höllenbreughel, wie
man ihn nannte. ..weil er die Hölle malte. .."
Ich blickte in meine Tasse. Ein Geräusch von
Schritten erklang, die Glastür klappte, und ich machte eine
verzweifelte Anstrengung, nicht aufzublicken. "Stellen Sie sich
vor, er liebte es, die Hölle zu malen", fuhr er mit lauter Stimme
fort. "Er hatte eine Art Begabung für das Makabre ..."
Elsie setzte das Tablett mit
den Likören auf das niedrige Tischchen, und ich sagte mit
übertriebener Höflichkeit: "Danke, Elsie."
Ein Schweigen trat ein, und
Kellner warf mir einen Blick zu. "Oh! Oh!"
sagte er mit erzwungener
Heiterkeit. "Noch mehr gute Sachen! Und sogar französische Liköre,
wie ich sehe."
Mit Anstrengung sagte ich:
"Hauptsturmführer Hagemann erhält sie, Standartenführer. Er hat
Freunde in Frankreich."
Meine Stimme klang trotz
allem verändert. Ich streifte Elsie mit einem Blick. Sie hatte die
Augen niedergeschlagen, und ihr Gesicht verriet nichts. Die
Unterhaltung stockte wieder. Kellner sah Elsie an und meinte: "Ein
wunderbares Land, Frankreich, gnädige Frau."
"Kognak,
Standartenführer?"
sagte Elsie mit ruhiger
Stimme. "Nur ein wenig, gnädige Frau, Kognak muß ...", er hob eine
Hand, ". ..auf französische Weise genossen werden. Nur ein wenig
auf einmal und langsam. Unsere Tölpel drüben müssen immer das ganze
Glas auf einmal hinunterstürzen. .."
Er hatte dabei ein Lachen,
das mir gezwungen vorkam, dann warf er mir einen Blick zu, und ich
verstand, daß er Lust hatte zu gehen. Elsie bediente ihn, dann
füllte sie mein Glas zur Hälfte. Ich sagte: "Danke,
Elsie."
Sie blickte nicht auf. Von
neuem entstand Schweigen. "Im ,Maxim", begann Kellner wieder,
"trinken sie ihn aus dickbauchigen Gläsern ...so. .."
Er deutete die Form der
Gläser in der Luft mit beiden Händen an. Wieder trat Schweigen ein,
und er sagte mit verlegener Miene: "Paris ist wunderbar, gnädige
Frau. Ich muß gestehen. ..", er lachte wieder, ". ..daß ich
zuweilen Herrn Abetz sehr beneide."
Er sprach noch ein Weilchen
vom "Maxim"
und von Paris, dann stand er
auf und verabschiedete sich. Ich bemerkte, daß er sein Glas nicht
einmal ausgetrunken hatte. Wir ließen Elsie im Salon zurück, ich
ging mit Kellner die Freitreppe hinunter und brachte ihn zu seinem
Wagen. Der Wagen fuhr los, ich bedauerte, daß ich nicht meine Mütze
mitgenommen hatte. Ich wäre sonst sofort weggefahren. Ich stieg
langsam die Treppe wieder hinauf, stieß die Haustür auf und schritt
leise durch die Diele. Mit Erstaunen sah ich, daß meine Mütze nicht
mehr auf dem Tischchen lag. Ich öffnete die Tür meines
Arbeitszimmers und blieb betroffen stehen. Elsie stand da,
aufrecht, blaß, mit der linken Hand auf eine
Stuhllehne gestützt. Ich schloß mechanisch die
Tür hinter mir und wandte den Kopf ab. Die Mütze lag auf meinem
Tisch. Eine volle Sekunde verstrich, ich ergriff meine Mütze und
wollte gehen. Elsie sagte: "Rudolf!"
Ich drehte mich um. Ihr
Blick erschreckte mich. "So", sagte sie, "das also tust
du!"
Ich wandte den Kopf. "Ich
weiß nicht, was du damit sagen willst."
Ich wollte kehrtmachen,
hinausgehen, das Gespräch abbrechen. Aber ich stand da wie
erstarrt, wie gelähmt. Ich konnte sie nicht einmal ansehen. "So",
sagte sie mit leiser Stimme, "du vergast sie! ...Und dieser
entsetzliche Geruch kommt von ihnen her!"
Ich öffnete den Mund, aber
ich konnte nicht sprechen. "Die Schornsteine!"
fuhr sie fort. "Ich begreife
jetzt alles."
Ich blickte zu Boden und
sagte: "Selbstverständlich verbrennen wir die Toten. Man hat in
Deutschland schon immer Leichen verbrannt, das weißt du doch. Das
ist eine Frage der Hygiene. Dagegen ist nichts zu sagen. Besonders
bei Epidemien."
Sie schrie: "Du lügst! Du
vergast sie!"
Ich hob bestürzt den Kopf.
"Ich lüge? Elsie! Wie kannst du wagen. .."
Sie fuhr fort, ohne auf mich
zu hören: "Männer, Frauen, Kinder. ..alle durcheinander. ..nackt.
..und die Kinder sehen aus wie kleine Affen. .."
Ich richtete mich steif auf.
"Ich weiß nicht, was du da redest."
Ich machte eine heftige
Anstrengung, und es gelang mir, mich wieder zu bewegen. Ich drehte
mich um und tat einen Schritt auf die Tür zu. Sogleich überholte
sie mich mit verblüffender Schnelligkeit, stürzte an die Tür und
lehnte sich dagegen. "Du!"
sagte sie.
"Du!"
Sie zitterte am ganzen
Leibe. Mit weit aufgerissenen, funkelnden Augen starrte sie mich
an. Ich rief: "Wenn du glaubst, daß ich das gerne
tue!"
Und sofort versank ich in
einer Flut von Scham. Ich hatte den Reichsführer verraten. Ich
hatte meiner Frau ein Staatsgeheimnis enthüllt. "Es ist also wahr",
rief Elsie, "du tötest sie!"
Sie wiederholte weinend: "Du
tötest sie!"
Blitzschnell ergriff ich sie
bei den Schultern, legte ihr meine Hand auf den Mund und sagte:
"Leiser, Elsie, ich bitte dich, leiser!"
Ihre Augen blitzten, sie
machte sich los, ich zog meine Hand zurück, sie horchte, und wir
lauschten einen Augenblick auf die Geräusche im Haus, regungslos,
schweigend, schuldbewußt. Mit leiser, normaler Stimme sagte sie:
"Frau Müller ist ausgegangen, glaube ich."
"Und das Dienstmädchen?"
"Sie wäscht im
Kellergeschoß. Und die Kinder halten Mittagsruhe."
Wir horchten noch einen
Augenblick schweigend, dann wandte sie den Kopf, sah mich an, und
es war, als ob sie sich plötzlich darauf besann, wer ich war.
Abscheu prägte sich von neuem auf ihren Zügen aus, und sie drückte
sich wieder gegen die Tür. Ich sagte mit äußerster Anstrengung:
"Hör zu, Elsie. Du mußt es verstehen. Es sind nur Arbeitsunfähige.
Und es gibt nicht genug Nahrungsmittel für alle. Es ist für sie
viel besser. .."
Ihre Augen waren hart und
unversöhnlich auf mich gerichtet. Ich fuhr fort: ". ..auf diese
Weise mit ihnen zu verfahren. ..als sie Hungers sterben zu
lassen."
"Das also", sagte sie leise,
"hast du dir ausgedacht!"
"Aber ich doch nicht! Ich
bin daran unbeteiligt. Es ist Befehl!"
"Sie sagte verächtlich:
"
Wer hätte einen solchen
Befehl geben können?"
"Der
Reichsführer."
Angst preßte mir das Herz
zusammen. Noch einmal hatte ich den Reichsführer verraten. "Der
Reichsführer!"
sagte Elsie. Ihre Lippen
fingen an zu beben, und sie sagte mit tonloser Stimme: "Ein Mann,
..dem die Kinder so zutraulich entgegengingen!"
Sie stammelte: "Aber warum?
Warum?"
Ich hob die Schultern. "Das
kannst du nicht verstehen. Diese Fragen gehen über deinen Horizont.
Die Juden sind unsere schlimmsten Feinde, das weißt du doch. Sie
sind es, die den Krieg entfesselt haben. Wenn wir sie jetzt nicht
liquidieren, werden sie später das deutsche Volk
ausrotten."
"Aber das ist doch
unsinnig!"
sagte sie mit unerhörter
Heftigkeit. "
Wie könnten sie uns
ausrotten, da wir doch den Krieg gewinnen werden?"
Ich sah sie mit offenem Mund
an. Daran hatte ich noch nie gedacht. Ich wußte nicht mehr, was ich
denken sollte. Ich wandte den Kopf ab und sagte nach einer Weile:
"Es ist Befehl."
"Aber du hättest um einen
anderen Auftrag bitten können."
Ich sagte mit Nachdruck:
"Ich habe es getan. Ich meldete mich an die Front. Der Reichsführer
wollte nicht."
"Nun", sagte sie mit leiser
Stimme und mit unglaublicher Heftigkeit, "dann mußt du dich weigern
zu gehorchen."
Ich schrie fast:
"Elsie!"
Und eine Sekunde lang war
ich außerstande, die Sprache wiederzufinden.
"Aber", sagte ich, die Kehle war mir wie
zugeschnürt, "aber Elsie! ...was du da sagst, das. ..ist wider die
Ehre!"
"Und was du
tust?"
"Ein Soldat, der sich
weigert zu gehorchen! Und außerdem hätte das nichts geändert. Man
hätte mich degradiert, gemartert, erschossen. ..Und was wäre aus
dir geworden? Und aus den Kindern?"
"Ach!"
sagte Elsie, "einerlei.
.."
Ich unterbrach sie. "Aber
das hätte auch nichts genützt. Wenn ich mich geweigert hätte zu
gehorchen, hätte es an meiner Stelle irgendein anderer
getan."
Ihre Augen funkelten. "Ja,
aber du", sagte sie, "du wenigstens hättest es nicht
getan."
Ich sah sie bestürzt und
stumpfsinnig an. In meinem Geist herrschte völlige Leere. "Aber
Elsie ..."
sagte ich. Ich konnte nicht
mehr denken. Ich straffte mich, bis mir sämtliche Muskeln weh
taten, blickte starr vor mich hin, und ohne Elsie anzusehen, ohne
sie überhaupt zu sehen, ohne irgend etwas zu sehen, brachte ich mit
Mühe heraus: "Es ist Befehl."
"Befehl!"
sagte Elsie spöttisch. Und
plötzlich barg sie den Kopf in ihren Händen. Nach einer Weile
näherte ich mich ihr und faßte sie an den Schultern. Sie erbebte
heftig, stieß mich mit aller Kraft zurück und sagte mit tonloser
Stimme: "Rühr mich nicht an!"
Mir fingen die Beine an zu
zittern, und ich rief: "Aber du hast kein Recht, mich so zu
behandeln. Alles, was ich im Lager tue, tue ich auf Befehl. Ich bin
nicht dafür verantwortlich."
"Du bist es, der es
tut!"
Ich sah sie verzweifelt an.
"Du verstehst das nicht, Elsie. Ich bin nur ein Stück des
Räderwerks, nichts weiter. Wenn im Heer ein Vorgesetzter einen
Befehl gibt, ist er dafür verantwortlich, und nur er allein. Wenn
der Befehl schlecht ist, wird der Vorgesetzte bestraft, nie der,
der ihn ausführt."
,,So", sagte sie mit
vernichtender Langsamkeit, "das ist der Grund, weshalb du
gehorchst. Du wußtest, daß, wenn die Sache schlecht ausgeht, du
nicht bestraft werden würdest."
Ich schrie: "Daran habe ich
nie gedacht. Nur, daß es mir unmöglich ist, einem Befehl nicht zu
gehorchen. Begreife es doch! Es ist mir physisch
unmöglich."
"Also", sagte sie mit
erschreckender Ruhe, "wenn man dir den Befehl gäbe, den kleinen
Franz zu erschießen, würdest du es tun."
Ich sah sie bestürzt an.
"Aber das ist doch Wahnsinn! Niemals wird man mir einen solchen
Befehl geben."
"Und warum nicht?"
sagte sie mit einem wilden
Lachen. "Man hat dir befohlen, kleine jüdische Kinder zu töten.
Warum nicht auch deine? Warum nicht Franz?"
"Hör doch auf! Der
Reichsführer wird mir niemals einen solchen Befehl geben. Niemals.
Es ist. .."
Ich wollte sagen: ,Es ist
undenkbar!', aber plötzlich blieben mir die Worte im Halse stecken.
Ich erinnerte mich mit Entsetzen, daß der Reichsführer den Befehl
gegeben hatte, seinen eigenen Neffen zu erschießen. Ich senkte die
Augen. Es war zu spät. "Du bist dir dessen nicht sicher", sagte
Elsie mit entsetzlicher Geringschätzung, "siehst du, du bist dir
dessen nicht sicher. Und wenn der Reichsführer dir sagte, du sollst
Franz töten, würdest du es tun."
Sie entblößte zur Hälfte
ihre Zähne, sie schien sich zu sammeln, und ihre Augen begannen in
einem wilden, tierischen Glanz zu leuchten. Die so ruhige, sanfte
Elsie ...Ich blickte sie an, von so viel Haß wie gelähmt, an den
Boden genagelt. "Du würdest es tun!"
sagte sie heftig. "Du
würdest es tun."
Ich weiß nicht, was dann
geschah. Ich schwöre, daß ich antworten wollte: ,Natürlich nicht!',
ich schwöre, daß ich die lautere und ausdrückliche Absicht dazu
hatte, aber statt dessen blieben mir plötzlich die Worte in der
Kehle stecken, und ich sagte: "Natürlich."
Ich glaubte, sie wollte sich
auf mich stürzen. Eine endlose Zeit verging. Sie blickte mich an.
Ich konnte nicht mehr sprechen. Ich wünschte verzweifelt, das
Gesagte zurückzunehmen, mich zu erklären. ..Die Zunge klebte mir am
Gaumen. Sie drehte sich um, öffnete die Tür, ging hinaus, und ich
hörte sie schnell die Treppe hinauflaufen. Nach einer Weile zog ich
langsam das Telefon heran, wählte die Nummer des Lagers, befahl den
Wagen und ging hinaus. Meine Beine waren weich und kraftlos. Ich
hatte Zeit, ein paar hundert Meter zu Fuß zu gehen, bevor mich das
Auto traf. Ich war kaum einige Minuten in meinem Büro, als die
Klingel des Telefons ertönte. Ich nahm den Hörer ab.
"Obersturmbannführer?"
fragte eine kalte Stimme.
"Ja?"
"Pick, im Krematorium II.
Ich melde, Obersturmbannführer, die Juden des Transports 26 haben
revoltiert."
"Was?"
"Die Juden des Transports 26
haben revoltiert. Sie haben sich auf die Scharführer gestürzt, die
das Auskleiden überwachten, ihnen die Waffen abgenommen und die
elektrischen Kabel herausgerissen. Die
Wachen draußen haben das Feuer eröffnet,und die
Juden haben es erwidert."
"Und?"
"Es ist schwer, sie
niederzuzwingen. Sie sind im Auskleideraum und schießen auf die
Treppe, die zum Auskleideraum hinunterführt, sobald sie ein Paar
Beine sehen."
"Es ist gut, Pick, ich
komme."
Ich legte auf, ging sofort
hinaus und warf mich in mein Auto. "Krematorium II."
Ich beugte mich vor.
"Schneller, Dietz."
Dietz nickte, und der Wagen
sprang vorwärts. Ich war niedergeschmettert. Nie bisher hatte ich
eine Revolte gehabt. Die Bremsen kreischten auf dem Kies im Hof des
Krematoriums. Ich sprang aus dem Auto. Pick war da, er trat an
meine linke Seite, und ich schritt schnell mit ihm auf den
Auskleideraum zu. "Wieviel Scharführer sind entwaffnet
worden?"
"Fünf."
"Wie waren die Scharführer
bewaffnet?"
"Mit
Maschinenpistolen."
"Haben die Juden viel
geschossen?"
"Nicht schlecht, aber sie
müssen noch Munition übrig haben. .. Es ist mir gelungen, die Tore
des Auskleideraums schließen zu lassen."
Er setzte hinzu: "Es hat
zwei Tote und vier Verwundete gegeben. Die fünf Scharführer
natürlich nicht mitgerechnet. Die. .."
Ich schnitt ihm das Wort ab:
"Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?"
Es entstand ein Schweigen,
dann sagte Pick: "Wir könnten die Juden aushungern."
Ich sagte schroff: "Davon
kann keine Rede sein. Wir können die Krematorien nicht so lange
stillegen. Es muß rund gehen."
Ich ließ meine Blicke über
die starke Kette von SS-Männern schweifen, die den Auskleideraum
umgaben. "Die Hunde?"
"Ich habe es versucht. Aber
die Juden haben die elektrischen Kabel herausgerissen, der
Auskleideraum liegt im Finstern, und die Hunde wollen nicht
hinein."
Ich überlegte und sagte:
"Lassen Sie einen Scheinwerfer holen!"
Pick rief einen Befehl. Zwei
SS-Männer rannten los. Ich fuhr fort: "Das Angriffskommando wird
sieben Mann umfassen. Zwei Mann öffnen rasch die Tür und lassen sie
zurückschlagen. Die laufen keine Gefahr. In der Mitte hält ein Mann
den Scheinwerfer. Rechts von ihm schießen zwei Scharfschützen die
bewaffneten Juden ab. Links von ihm schießen zwei andere Schützen
nach Gutdünken. Das Ziel ist, die bewaffneten Juden zu vernichten
und die anderen daran zu hindern, die Waffen aufzuheben. Ihnen
obliegt, schon jetzt ein zweites Kommando vorzusehen, um das erste
zu ersetzen."
Ein Schweigen folgte. Dann sagte Pick mit seiner
kalten Stimme: "Für die Haut des Mannes, der den Scheinwerfer
tragen wird, gebe ich keinen Pfifferling."
Ich fuhr fort: "Suchen Sie
Ihre Männer aus!"
Die beiden SS-Männer kamen
im Laufschritt mit dem Scheinwerfer zurück. Pick schloß ihn selbst
an die außen befindliche Steckdose an und entrollte das Kabel. Ich
sagte: "Das Kabel muß ziemlich lang sein. Wenn der Angriff gelingt,
muß man in den Auskleideraum vordringen können."
Pick nickte. Zwei Mann waren
schon hinter der Tür postiert. Fünf andere standen in einer Reihe
auf der ersten Treppenstufe. Der mittlere, ein Scharführer, hielt
den Scheinwerfer vor der Brust. Die fünf Mann standen unbeweglich
mit gespanntem Gesicht. Pick rief einen Befehl, sie gingen in
vollendetem Gleichschritt die Treppe hinunter, und das elektrische
Kabel rollte hinter ihnen her wie eine Schlange. Ungefähr
anderthalb Meter vor der Tür machten sie halt. Fünf andere
SS-Männer nahmen sofort ihren Platz auf der ersten Stufe ein.
Stille lagerte über dem Hof. Pick beugte sich über die Treppe,
sprach leise mit dem Scharführer, der den Scheinwerfer hielt, und
hob die Hand. Ich sagte: "Moment, Pick."
Er sah mich an und ließ
seine Hand wieder sinken. Ich wandte mich nach der Treppe, die
Männer des zweiten Kommandos traten beiseite, und ich ging die
Treppe hinab. "Geben Sie her!"
Der Scharführer blickte mich
bestürzt an. Schweiß rann über sein Gesicht. Nach einer Sekunde
faßte er sich und sagte: "Jawohl,
Obersturmbannführer."
Er gab mir den Scheinwerfer,
und ich sagte: "Sie können wegtreten."
Der Scharführer sah mich an,
knallte die Hacken zusammen, machte kehrt und ging die Stufen
hinauf. Ich wartete, bis er oben war, und sah die Männer des
Kommandos einen nach dem anderen an. "Wenn ich sage ,Ja!, öffnet
ihr die Türen, wir gehen zwei Schritte vor, ihr werft euch hin und
fangt an zu schießen. Die Scharfschützen passen die günstigsten
Augenblicke ab."
"Obersturmbannführer!"
sagte eine Stimme. Ich
drehte mich um und hob den Kopf. Pick sah von oben herab. Sein
Gesicht war verstört. "Obersturmbannführer, das ist doch.
..unmöglich! Das ist. .."
Ich blickte ihn fest an, und
er schwieg. Ich drehte mich wieder um, sah gerade vor mich hin und
sagte: "Ja!"
Die beiden Türflügel
schlugen zurück. Ich preßte den Scheinwerfer gegen meine Brust, tat
zwei Schritte vorwärts, die Männer warfen sich zu Boden, und die
Kugeln begannen um mich herum zu pfeifen. Kleine Stücke Beton
fielen zu meinen Füßen nieder, und die Maschinenpistolen meiner
Männer traten in Tätigkeit. Ich schwenkte meinen Scheinwerfer
langsam von links nach rechts, und die Scharfschützen zu meinen
Füßen schossen zweimal. Ich schwenkte den Lichtkegel langsam wieder
nach links, die Kugeln pfiffen wie wild, und ich dachte: ,Jetzt ist
es vorbei.' Ich führte den Lichtkegel abermals nach rechts und
hörte durch das ununterbrochene Knattern der Maschinenpistolen
hindurch die dumpfen Abschüsse der Scharfschützen. Dann pfiffen
keine Kugeln mehr. Ich rief "Vorwärts!", wir drangen in den
Ankleideraum ein, und nach ein paar Schritten befahl ich, das
Schießen einzustellen. Die halbausgekleideten Juden standen in
einer Ecke des Raumes. Sie waren zu einer riesigen wirren Masse
zusammengeballt. Der Scheinwerfer leuchtete in verstörte Augen.
Pick tauchte neben mir auf. Ich fühlte mich mit einem Male sehr
erschöpft. Ich übergab den Scheinwerfer einem Schützen und wandte
mich zu Pick. "Übernehmen Sie das Kommando."
"Zu Befehl,
Obersturmbannführer."
Er fuhr fort: "Sollen wir
die Vergasung wieder aufnehmen?"
"Sie würden Schwierigkeiten
haben. Lassen Sie einen nach dem anderen durch die kleine Tür
hinausgehen, führen Sie sie in den Seziersaal und erschießen Sie
sie. Einen nach dem anderen."
Ich stieg langsam die Stufen
hinauf, die in den Hof führten. Als ich erschien, entstand
Totenstille, und alle SS-Männer erstarrten. Ich winkte ihnen, zu
rühren. Sie rührten, aber sie schwiegen weiter, und ihre Blicke
ließen mich nicht los. Ich erkannte daran, daß sie das, was ich
getan hatte, bewunderten. Ich stieg ins Auto und knallte wütend die
Tür zu. Pick hatte recht. Ich hätte mich dieser Gefahr nicht
aussetzen dürfen. Die vier Krematorien waren fertiggestellt, aber
ihr gutes Funktionieren hing noch für gewisse Zeit von meiner
Anwesenheit ab. Ich hatte meine Pflicht verraten. Ich kam wieder in
mein Büro und versuchte zu arbeiten. Mein Geist war leer, und es
gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich rauchte eine Zigarette
nach der anderen. Um halb acht ließ ich mich nach Hause fahren.
Elsie und Frau Müller überwachten die Kinder beim Essen. Ich küßte
die Kinder und sagte: "Guten Abend, Elsie."
Es entstand eine kleine
Pause, dann sagte sie mit ganz natürlicher Stimme: "Guten Abend,
Rudolf."
Ich hörte einen Augenblick
dem Geschwätz der Kinder zu, dann stand ich auf und ging in mein
Arbeitszimmer . Etwas später klopfte es an meine Tür, und Elsies
Stimme sagte: "Das Abendessen, Rudolf."
Ich hörte ihre Schritte
schwächer werden, ich trat hinaus und ging ins Eßzimmer. Ich setzte
mich, Elsie und Frau Müller taten das gleiche.
Ich fühlte mich sehr müde. Wie gewöhnlich füllte
ich die Gläser, und Elsie sagte: "Danke, Rudolf."
Frau Müller fing an, von den
Kindern zu sprechen, und Elsie diskutierte mit ihr über ihre
Fähigkeiten. Nach einer Weile sagte Elsie: "Nicht wahr,
Rudolf?"
Ich hob den Kopf. Ich hatte
nicht zugehört und sagte aufs Geratewohl: "Ja, ja."
Ich sah Elsie an. In ihren
Augen war nichts zu lesen. Sie blickte mit gleichgültiger Miene
weg. "
Wenn Sie erlauben, Herr
Kommandant", sagte Frau Müller, "auch Karl ist klug. Nur, er
interessiert sich sehr für Dinge, aber gar nicht für
Menschen."
Ich nickte bejahend und
hörte nicht mehr zu. Nach dem Essen stand ich auf, verabschiedete
mich von Elsie und Frau Müller und schloß mich in meinem
Arbeitszimmer ein. Das Buch über Pferdezucht lag auf meinem
Schreibtisch, ich schlug es auf gut Glück auf und fing an zu lesen.
Nach einer Weile stellte ich das Buch ins Regal, zog meine Stiefel
aus und begann hin und her zu gehen. Um zehn Uhr hörte ich, wie
Frau Müller Elsie gute Nacht sagte und nach oben ging. Ein paar
Minuten später erkannte ich Elsies Schritt auf der Treppe. Ich
hörte das leichte Knacken des Schalters, den sie niederdrückte, und
dann wurde alles wieder still. Ich brannte mir eine Zigarette an
und öffnete das Fenster ganz weit. Es schien kein Mond, aber die
Nacht war klar. Ich sah einen Augenblick zum Fenster hinaus, dann
entschloß ich mich, zu Elsie zu gehen und mit ihr zu sprechen. Ich
drückte meine Zigarette aus, ging durch die Diele und stieg leise
die Treppe hinauf. Ich legte meine Hand auf die Türklinke, drückte
sie nieder und gab der Tür einen leichten Stoß. Die Tür war
verriegelt. Ich klopfte schwach, dann nach ein paar Sekunden
zweimal kräftiger. Es erfolgte keine Antwort. Ich näherte mein
Gesicht der Türfüllung und lauschte. Das Zimmer war so still wie
das einer Toten.