1913
Ich bog um die Ecke der Kaiserallee, böiger Wind
und eiskalter Regen schlug an meine nackten Beine, und ich dachte
voll Angst daran, daß Sonnabend war. Die letzten Meter legte ich im
Laufschritt zurück, verschwand im Hausflur, raste die fünf Treppen
hinauf und klopfte zweimal leicht. Mit Erleichterung erkannte ich
den schleppenden Schritt der dicken Maria. Die Tür ging auf, Maria
strich ihre graue Locke nach oben, ihre guten blauen Augen sahen
mich an, sie beugte sich zu mir nieder und sagte leise und
verstohlen: "Du kommst aber spät."
Und mir war es, als stände
Vater vor mir, schwarz und mager, und sagte in seiner abgerissenen
Redeweise: "Pünktlichkeit ist eine deutsche Tugend, mein
Herr!"
Ich flüsterte: "Wo ist
er?"
Maria schloß behutsam die
Vorsaaltür . "In seinem Arbeitszimmer. Er macht die
Geschäftsabrechnung."
Sie setzte hinzu: "Ich habe
dir deine Hausschuhe mitgebracht. Da brauchst du nicht erst in dein
Zimmer zu gehen."
Ich mußte an Vaters
Arbeitszimmer vorbei, wenn ich in mein Zimmer wollte. Ich kniete
mit einem Bein nieder und fing an, meine Schuhe aufzuschnüren.
Maria stand dabei, massig und unbeweglich. Ich hob den Kopf und
sagte: "Und meine Schultasche?"
"Die nehm' ich selber mit.
Ich habe noch dein Zimmer zu bohnern."
Ich zog meine Windjacke aus,
hängte sie neben Vaters großen schwarzen Mantel und sagte: "Danke
schön, Maria."
Sie schüttelte den Kopf,
ihre graue Locke fiel wieder auf die Augen herunter, und sie
klopfte mir auf die Schulter. Ich konnte zur Küche gelangen,
öffnete leise die Tür und schloß sie hinter mir. Mama stand am
Ausguß und wusch. "Guten Abend, Mama."
Sie drehte sich um, ihre
blassen Augen blickten über mich weg, sie sah nach der Uhr auf dem
Küchenschrank und sagte in ängstlichem Ton: "Du kommst aber spät.“
"Es waren heute viele Schüler zur Beichte Und nachher hat mich
Pater Thaler zurückbehalten.“ Sie fing wieder an zu waschen, und
ich sah nur noch ihren Rücken. Sie fuhr fort, ohne mich anzusehen:
"Deine Schüssel und deine Lappen sind auf dem Tisch da. Deine
Schwestern sind schon bei der Arbeit. Beeile dich.“
"Ja, Mama.“ Ich nahm die Schüssel und die Lappen
und ging auf den Korridor. Ich ging langsam, um das Wasser in der
Schüssel nicht zu verschütten. Ich kam am Eßzimmer vorbei, die Tür
stand offen, Gerda und Bertha standen auf Stühlen am Fenster. Sie
kehrten mir den Rücken zu. Dann ging ich am Salon vorbei und in
Mamas Zimmer. Maria stellte den Schemel vors Fenster. Sie hatte ihn
für mich aus der Rumpelkammer geholt. Ich sah sie an und dachte:
,Danke schön, Mari... aber ich öffnete den Mund nicht. Man durfte
nicht sprechen, wenn man Fenster putzte. Nach einer Weile errung
ich den Schemel in Vaters Zimmer, holte die Schüssel und die Lappen
herüber, kletterte auf den Schemel und machte mich ans Putzen. Ein
Zug pfiff, die Eisenbahnstrecke drüben füllte sich lärmend mit
Rauch, ich ertappte mich dabei, daß ich mich zum Fenster
hinausbeugen wollte, um zuzuschauen, und sagte ganz leise voller
Entsetzen: 'Lieber Gott, gib, daß ich nicht auf die Straße
hinausgesehen habe.' Dann setzte ich hinzu: 'Lieber Gott, gib, daß
ich beim Fensterputzen keinen Verstoß begehe.' Danach sprach ich
ein Gebet, fing an, halblaut einen Choral zu singen, und fühlte
mich etwas wohler. Als Vaters Fenster fertig waren, wollte ich in
den Salon gehen Am Ende des Korridors tauchten plötzlich Gerda und
Bertha auf. Sie kamen hintereinander, jede mit ihrer Schüssel in
der Hand Sie wollten nun das Fenster ihres Zimmers drannehmen Ich
stellte den Schemel an die Wand, machte mich dünn, sie gingen an
mir vorüber, und ich wandte den Kopf weg. Ich war der Älteste, aber
sie waren größer als ich. Ich stellte den Schemel vor das Fenster
des Salons und kehrte in Vaters Zimmer zurück, um die Schüssel und
die Lappen zu holen; in einer Ecke setzte ich sie ab. Ich bekam
Herzklopfen, schloß die Tür und betrachtete die Porträts. Es waren
die drei Brüder, und Vaters Onkel, sein Vater und sein Großvater:
Offiziere alle, alle in großer Uniform. Das Porträt meines
Großvaters betrachtete ich länger: Er war Oberst gewesen, und man
behauptete, ich sähe ihm ähnlich. Ich öffnete das Fenster und
kletterte auf den Schemel; der Wind und der Regen drangen herein.
Ich stand auf Vorposten und spähte im Sturm nach dem sich nähernden
Feind aus. Dann wechselte die Szene, ich befand mich auf einem
Kasernenhof und wurde von einem Offizier bestraft; der Offizier
hatte die leuchtenden Augen und das hagere Gesicht von Vater; ich
stand still und sagte ehrerbietig: "Jawohl, Herr Hauptmann!"
Ein Prickeln lief mir über
den Rücken, mein Lappen fuhr mit mechanischen Bewegungen kräftig
über die Scheiben, und ich fühlte die starren Blicke der Offiziere
meiner Familie mit wollüstigem Behagen auf Schulter und Rücken. Als
ich fertig war, trug ich den Schemel in die Rumpelkammer, holte
Schüssel und Lappen und ging in die Küche.
Mama sagte, ohne sich umzudrehen: "Setz dein
Zeug ab und wasch dir hier die Hände."
Ich trat an den Ausguß, Mama
machte mir Platz, ich tauchte die Hände ins Wasser, es war heiß.
Vater hatte uns verboten, uns in heißem Wasser zu waschen, und ich
sagte leise: "Aber das Wasser ist ja heiß."
Mama seufzte, nahm die
Schüssel, goß sie wortlos im Ausguß aus und drehte den Wasserhahn
auf. Ich nahm die Seife, Mama trat beiseite und wandte mir zur
Hälfte den Rücken zu, die rechte Hand auf den Ausgußrand gestützt
und die Augen fest auf den Küchenschrank gerichtet. Ihre rechte
Hand zitterte leicht. Als ich fertig war, hielt sie mir den Kamm
hin und sagte, ohne mich anzusehen: "Kämm dich!"
Ich stellte mich vor den
kleinen Spiegel, hörte, wie Mama wieder das Waschfaß in den Ausguß
stellte, betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich meinem
Großvater ähnlich sähe oder nicht. Es war für mich wichtig, das zu
wissen, denn wenn ja, konnte ich hoffen, wie er Oberst zu werden.
Mutter sagte hinter meinem Rücken: "Der Vater erwartet
dich."
Ich legte den Kamm auf den
Schrank und fing an zu zittern. "Leg den Kamm nicht auf den
Schrank", sagte Mama. Sie tat zwei Schritte, nahm den Kamm, wischte
ihn an der Schürze ab und legte ihn in die Schublade des
Küchenschranks. Ich sah sie verzweifelt an, ihr Blick glitt über
mich weg, sie kehrte mir den Rücken zu und nahm wieder ihren Platz
vor dem Ausguß ein. Ich ging hinaus und langsamen Schritts zum
Arbeitszimmer meines Vaters. Auf dem Korridor kam ich wieder an
meinen Schwestern vorbei. Sie warfen mir tückische Blicke zu, und
ich begriff, daß sie erraten hatten, wohin ich ging. Ich blieb vor
der Tür des Arbeitszimmers stehen, bemühte mich mit aller Gewalt,
nicht mehr zu zittern, und klopfte an. Vaters Stimme rief:
"Herein!", ich öffnete die Tür, schloß sie wieder und nahm Haltung
an. Sofort drang eine eisige Kälte durch meine Kleider hindurch bis
auf die Knochen. Vater saß an seinem Schreibtisch, dem weit
offenstehenden Fenster gegenüber. Er drehte mir den Rücken zu und
rührte sich nicht. Ich verharrte im Stillgestanden. Der Wind trieb
Regenböen ins Zimmer, und vor dem Fenster war eine kleine Pfütze.
Vater sagte in seiner abgerissenen Sprechweise: "Komm her, setz
dich."
Ich ging hin und setzte mich
auf einen kleinen niedrigen Stuhl links von ihm. Vater ließ seinen
Sessel herumschwingen und sah mich an. Seine Augen lagen noch
tiefer als gewöhnlich, und sein Gesicht war so mager, daß man alle
Muskeln hätte einzeln zählen können. Die
kleine Schreibtischlampe brannte, und ich war
glücklich, im Schatten sitzen zu können.
"Frierst du?"
"Nein, Vater."
"Du zitterst doch nicht,
hoffe ich?"
"Nein, Vater."
Ich bemerkte, daß es ihm
selbst sehr schwerfiel, sein Zittern zu unterdrücken. Sein Gesicht
und seine Hände waren blau. ."Bist du fertig mit
Fensterputzen?"
"Ja, Vater."
"Hast du dabei
gesprochen?"
"Nein, Vater."
Er senkte wie
geistesabwesend den Kopf, und da er nichts mehr sagte, fügte ich
hinzu: "Ich habe einen Choral gesungen."
Er hob den Kopf wieder und
sagte: "Begnüge dich damit, auf meine Fragen zu antworten.“ ".Ja,
Vater.“ Er fuhr in seinem Verhör fort, aber zerstreut, gleichsam
aus bloßer Gewohnheit: "Haben deine Schwestern gesprochen?“ "Nein,
Vater.“ "Hast du Wasser verschüttet?“ “Nein, Vater.“ "Hast du auf
die Straße gesehen?“ Ich zögerte eine Viertelsekunde. "Nein,
Vater.“ Er sah mich fest an. "Gib gut acht. Hast du auf die Straße
gesehen?“ "Nein, Vater.“ Er schloß die Augen. Er mußte wirklich
zerstreut sein. Sonst hätte er mich nicht so schnell davonkommen
lassen. Ein Schweigen entstand. Sein großer steifer Körper bewegte
sich auf dem Sessel hin und her. Der Regen drang mit bösartigen
Windstößen ins Zimmer, und ich fühlte, daß mein linkes Knie naß
war. Die Kälte ging mir durch und durch, aber es war nicht die
Kälte, unter der ich litt. Es war die Furcht, Vater könnte
bemerken, wie ich wieder zu zittern anfing. "Rudolf, ich habe mit
dir zu reden.“ "Ja, Vater..“ Er wurde von einem entsetzlichen
Husten geschüttelt. Dann sah er aufs Fenster hin, und ich hatte den
Eindruck, er wollte aufstehen, um die Flügel zuzuschlagen. Aber er
besann sich anders und fuhr fort: "Rudolf, ich habe mit dir über
deine Zukunft zu reden.“ "Ja, Vater.“ Eine ganze Weile saß er
schweigend da und sah zum Fenster hin. Seine Hände waren blau vor
Kälte, aber er gestattete sich keine Bewegung. "Vorher wollen wir
beten.“ Er stand auf, und ich stand auch auf. Er trat vor das
Kruzifix, das hinter dem kleinen niedrigen Stuhl an der Wand hing,
und kniete auf
dem Fußboden nieder. Ich kniete ebenfalls
nieder, nicht neben, sondern hinter ihm. Er machte das Zeichen des
Kreuzes und begann, langsam, deutlich und ohne eine Silbe
auszulassen, ein Vaterunser zu sprechen. Seine Sprechweise war
nicht mehr abgerissen, wenn er betete. Ich hielt meine Augen fest
auf die große, steife Gestalt gerichtet, die vor mir kniete, und
wie immer hatte ich das Empfinden, daß mein Gebet sich viel mehr an
sie als an Gott wandte. Vater sagte mit fester Stimme "amen"und
stand auf. Ich stand gleichfalls auf. Er setzte sich wieder an
seinen Schreibtisch. "Setz dich."
Ich nahm wieder auf meinem
kleinen Stuhl Platz. In meinen Schläfen hämmerte es. Er sah mich
eine ganze Weile an, und ich hatte den außergewöhnlichen Eindruck,
daß es ihm an Mut gebrach, zu sprechen. Während dieses Zögerns
hörte der Regen plötzlich auf. Sein Gesicht erhellte sich, und ich
wußte, was geschehen würde. Vater stand auf und schloß das Fenster:
Gott selbst hatte der Strafe ein Ende gesetzt. Vater setzte sich
wieder, und mir schien es, als hätte er neuen Mut geschöpft.
"Rudolf", sagte er, "du bist dreizehn Jahre und du bist in dem
Alter es zu verstehen. Gott sei Dank bist du verständig und dank
mir oder vielmehr", fuhr er fort, "dank der Erleuchtung, die Gott
mir betreffs deiner Erziehung hat zuteil werden lassen, bist du in
der Schule ein guter Schüler. Denn ich habe dich gelehrt, Rudolf,
ich habe dich gelehrt deine Pflicht zu tun- so wie du die Fenster
putzt -gründlich!"
Er schwieg eine Sekunde und
fuhr mit lauter Stimme, fast schreiend, fort:
"Gründlich!"
Ich begriff, daß ich etwas
sagen mußte, und antwortete mit schwacher Stimme: "Ja,
Vater."
Seitdem das Fenster
geschlossen war, kam es mir vor, als wäre es im Zimmer noch kälter.
"Ich werde also dir sagen, was ich betreffs deiner Zukunft
beschlossen habe. Aber ich will", fuhr er fort, "daß du- die Gründe
meines Entschlusses erfährst und verstehst."
Er hielt inne, preßte seine
Hände gegeneinander, und seine Lippen fingen an zu beben. "Rudolf,
einst habe ich einen Fehltritt begangen."
Ich sah ihn verblüfft an.
"Und damit du meinen Entschluß verstehst, muß ich dir meinen
Fehltritt mitteilen. Einen Fehltritt –Rudolf, eine Sünde so groß,
so entsetzlich, daß ich nicht hoffen darf daß Gott mir verzeiht
wenigstens nicht im Leben. .."
.
Er schloß die Augen, seine Lippen zuckten
krampfhaft, und so verzweifelt aus, daß es mich im Halse würgte und
ich einige Minuten lang aufhörte zu zittern. Vater löste mit
Anstrengung seine Hände und legte sie auf die Knie. "Du kannst dir
wohl denken, wie peinlich es mir ist, dich so zu erniedrigen, zu
demütigen. Aber auf meine Leistung kommt es nicht an. Ich bin
nichts."
Er schloß die Augen und
wiederholte: "Ich bin nichts."
Das war seine
Lieblingsredensart, und jedesmal, wenn er sie brauchte, fühlte ich
mich schrecklich unsicher und schuldig, um meinetwillen das
sozusagen göttliche Geschöpf, das mein war, "ein
Nichts"
wäre. Er schlug die Augen
auf und blickte ins Leere. "Rudolf, einige Zeit genauer einige
Wochen vor deiner Geburt habe ich mich meiner Geschäfte wegen. ..",
er sprach mit "nach Frankreich begeben müssen, nach Paris.
.."
Er hielt inne, schloß die
Augen, und jedes Zeichen des Nichts schwand aus seinem Gesicht.
"Paris, Rudolf, ist die Hauptstadt aller Laster!"
Mit einem Ruck richtete er
sich in seinem Sessel auf und mich mit haßerfüllten Augen an.
"Verstehst du das?"
Ich hatte es nicht
verstanden, aber sein Blick schreckte mich ich sagte mit
erloschener Stimme: "Ja, Vater."
"Gott", fuhr er mit leiser
Stimme fort, "suchte in seinem Zorn meinen Körper und meine Seele
heim."
Er blickte ins Leere. "Ich
wurde krank", sagte er in einem Ton unglaublichen "ich pflegte mich
und genas, aber die Seele genas nicht."
Er fing plötzlich an zu
schreien: "Sie sollte nicht genesen!"
Es entstand ein langes
Schweigen, dann schien er wieder zu bemerken, daß ich da war. "Du
zitterst?"
fragte er mechanisch. "Nein,
Vater."
Er fuhr fort: "Ich kehrte
zurück nach Deutschland. Ich gestand meinen Fehltritt deiner Mutter
und entschloß mich von nun an zu meinen eigenen Fehlern, die Fehler
meiner Kinder, und meiner Frau auf mich zu nehmen und Gott um
Verzeihung zu bitten - für ihre wie für meine."
Nach einer Weile fing er
wieder an zu sprechen, und es war, als ob er betete. Seine Stimme
war nicht mehr abgerissen. "Schließlich versprach ich der Heiligen
Jungfrau feierlich, daß, wenn das Kind, das wir erwarteten, ein
Sohn wäre, ich ihn ihrem Dienst widmen würde."
Er blickte mir in die
Augen.
"Die Heilige Jungfrau wollte, daß es ein Sohn
war."
Ich hatte eine Anwandlung
unerhörter Kühnheit: Ich erhob mich. "Setz dich!"
sagte er, ohne die Stimme zu
heben. "Vater. .."
"Setz dich!"
Ich setzte mich wieder .
"Wenn ich fertig bin, kannst du sprechen."
Ich sagte: "Ja, Vater", aber
ich wußte schon, daß, wenn er fertig war, ich nicht mehr sprechen
könnte. "Rudolf", fuhr er fort, "seitdem du in dem Alter bist,
Fehltritte begehen zu können, habe ich sie einen nach dem andern
auf meine Schultern genommen. Ich habe für dich, Gott um Verzeihung
gebeten, als ob ich es wäre, der schuldig war und ich werde weiter
so handeln, solange du minderjährig bist."
Er fing an zu husten. "Aber
du Rudolf mußt deinerseits, wenn du zum Priester geweiht bist,
hoffentlich lebe ich so lange, meine Sünden auf deine Schultern
nehmen. .."
Ich machte eine Bewegung,
und er schrie mich an: "Unterbrich mich nicht!"
Er fing wieder an zu husten,
aber diesmal auf eine herzzerreißende Weise, wobei er sich über den
Tisch krümmte, und plötzlich dachte ich, daß, wenn er sterben
würde, ich nicht Priester zu werden brauchte. "Wenn ich sterbe",
fuhr er fort, als ob er meine Gedanken erraten hätte, und eine Flut
von Scham überfiel mich, "wenn ich sterbe, bevor du ordiniert bist,
habe ich meine Anordnungen getroffen mit deinem künftigen Vormund,
damit sich nach meinem Tod nichts ändert. Und selbst nach meinem
Tode, Rudolf, selbst nach meinem Tode, wird es deine Pflicht als
Priester sein, vor Gott für mich einzutreten."
Er schien auf eine Antwort
von mir zu warten. Ich kam nicht dazu zu antworten. "Vielleicht,
Rudolf", begann er wieder, "hast du manchmal den Gedanken, daß ich
zu dir strenger war, als zu deinen Schwester oder zu deiner Mutter,
aber begreife, Rudolf, begreife, du hast nicht das Recht, verstehst
du? Du hast nicht das Recht Fehltritte zu begehen. Als ob es", fuhr
er leidenschaftlich fort "nicht genug wäre, an meinen eigenen
Sünden müssen an diesem Hause, alle, alle"
(er fing plötzlich wieder an
zu schluchzen) "jeden Tag, diese Last, diese furchtbare Last,
vermehren.“ Er stand auf, begann im Zimmer hin und her zu laufen,
und Stimme zitterte vor Wut. "Jawohl, das tut ihr mir an. Ihr
drückt mich tiefer in Schuld. Alle. Ihr drückt mich tiefer hinab.
Jeden Tag drückt ihr mich hinab!"
Er kam auf mich zu, ganz außer sich. Ich sah ihn
bestürzt an, er hatte mich bis dahin noch nie geschlagen. Einen
Schritt vor mir blieb er unvermittelt stehen, er holt Atem, ging um
meinen Stuhl herum und warf sich vor dem Kruzifix nieder. Ich stand
mechanisch auf. "Bleib, wo du bist", sagte er über die Schulter
weg, "das geht dich nichts an."
Er begann wieder ein
Vaterunser in der langsamen, fließenden Redeweise, die ihm eigen
war, wenn er betete. Er betete eine ganze Weile, setzte sich dann
wieder an seinen Schreibtisch und sah mich so lange an, daß ich von
neuem zu zittern anfing. "Hast du etwas zu sagen?"
"Nein, Vater."
"Ich glaubte, du hättest
etwas zu sagen."
"Nein, Vater."
"Es ist gut, du kannst
gehen."
Ich stand auf und nahm
Haltung an. Er winkte ab. Ich machte kehrt, ging hinaus und schloß
die Tür. Ich ging in mein Zimmer, öffnete das Fenster und schloß
die Läden. Ich zündete die Lampe an, setzte mich an meinen Tisch
und begann eine arithmetische Aufgabe zu lösen. Aber ich kam nicht
weiter. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, und mir wurde ganz übel.
Ich stand auf, holte meine Schuhe unter dem Bett hervor und machte
mich daran, sie zu reinigen. Sie hatten seit meiner Heimkehr aus
der Schule Zeit gehabt zu trocknen, und nachdem ich etwas Creme
aufgetragen hatte, begann ich, sie mit einem Lappen zu polieren.
Nach kurzer Zeit fingen sie an zu glänzen. Aber ich rieb immer
weiter, schneller und immer stärker, bis mir die Arme weh taten. Um
halb acht läutete Maria zum Abendessen. Nach dem Essen wurde das
Abendgebet gesprochen, Vater stellte uns die üblichen Fragen,
niemand hatte den Tag über einen Verstoß begangen, und Vater zog
sich in sein Arbeitszimmer zurück. Um halb neun ging ich wieder auf
mein Zimmer, und um neun kam Mama, um das Licht zu löschen. Ich lag
schon im Bett. Sie schloß die Tür wieder, ohne ein Wort zu sagen
und ohne mich anzusehen, und ich blieb im Dunkeln allein. Nach
einer Weile streckte ich mich lang aus, die Beine steif
nebeneinander, mit starrem Kopf und geschlossenen Augen, die Hände
über der Brust gekreuzt. Mir war, als wäre ich gestorben. Meine
Familie lag betend auf den Knien um mein Bett. Maria weinte. Das
dauerte ein Weilchen, dann endlich erhob sich mein Vater, schwarz
und mager, ging steifen Schrittes hinaus, schloß sich in seinem
eiskalten Arbeitszimmer ein, setzte sich vor das weitgeöffnete
Fenster und wartete darauf, daß der Regen aufhörte, um es dann zu
schließen. Aber das nützte jetzt nichts mehr. Ich war nicht mehr da
und konnte weder Priester werden noch bei Gott für ihn
eintreten.
Am nächsten Montag stand ich wie gewöhnlich um
fünf Uhr auf, es war eiskalt, und als ich meine Fensterläden
öffnete, konnte ich sehen, daß auf dem Dach des Bahnhofs Schnee
lag. Um halb sechs frühstückte ich mit Vater im Eßzimmer. Als ich
wieder in mein Zimmer ging, stand auf dem Korridor plötzlich Maria
vor mir. Sie hatte auf mich gewartet. Sie legte mir ihre große rote
Hand auf die Schulter und sagte leise: "
Vergiß nicht, noch einmal
rauszugehen! "
Ich blickte weg und sagte:
"Ja, Maria."
Ich rührte mich nicht, ihre
Hand drückte auf meine Schulter, und sie flüsterte: "Du mußt nicht
sagen: 'Ja, Maria', du mußt gehen. Sofort."
Sie drückte stärker . "Los,
Rudolf!"
Sie ließ mich los, ich ging
zu dem Abort, ich fühlte ihren Blick in meinem Nacken. Ich öffnete
die Tür und schloß sie hinter mir. Einen Schlüssel gab es nicht,
und die Glühbirne hatte Vater heraus- gedreht. Das graue Licht des
frühen Morgens fiel durch ein immer offenstehendes kleines
Fensterchen herein. Der Raum war dunkel und kalt. Ich setzte mich
schlotternd hin und starrte unentwegt auf den Fußboden. Aber das
nützte nichts. Er war da mit seinen Hörnern, seinen großen
herausquellenden Augen, seiner abfallenden Nase und seinen dicken
Lippen. Das Papier war etwas vergilbt, weil Vater es schon vor
einem Jahr an die Tür gezweckt hatte, gerade dem Sitz gegenüber in
Augenhöhe. Schweiß lief mir über den Rücken. Ich dachte: 'Es ist
nur eine Zeichnung. Du wirst doch vor einer Zeichnung keine Angst
haben.' Ich hob den Kopf. Der Teufel blickte mir ins Gesicht, und
seine eklen Lippen fingen an zu lächeln. Ich stand auf, zog meine
Hose hoch und flüchtete in den Korridor. Maria kriegte mich zu
fassen und zog mich an sich. "Hast du was gemacht?"
"Nein, Maria."
Sie schüttelte den Kopf, und
ihre guten Augen blickten mich traurig an. "Du hast Angst
gehabt?"
Ich hauchte:
"Ja."
"Du brauchst bloß nicht
hinzusehen."
Ich schmiegte mich an sie
und wartete mit Schrecken darauf, daß sie mir den Befehl gab, noch
einmal zu gehen. Sie sagte nur: "Ein großer Junge wie
du!"
In Vaters Zimmer war ein
Geräusch von Schritten zu hören, und sie flüsterte mir noch schnell
zu: "Mach's in der Schule. Vergiß es nicht."
"Nein, Maria."
Sie ließ mich los, und ich
ging in mein Zimmer. Ich knöpfte die Hose zu, zog die Schuhe an,
nahm meine Schultasche vom Tisch und setzte mich auf einen Stuhl,
die Schultasche auf den Knien, wie in einem Wartezimmer . Nach
einer Weile hörte ich Vaters Stimme durch die Tür hindurch: "Sechs
Uhr zehn, mein Herr!"
Das "mein Herr"
klang wie ein
Peitschenknall. Auf der Straße lag der Schnee schon hoch. Vater
ging seinen steifen, gleichmäßigen Schritt, ohne zu sprechen, und
blickte geradeaus. Ich reichte ihm kaum bis zur Schulter und hatte
Mühe, ihm zur Seite zu bleiben. Ohne den Kopf zu drehen, sagte er:
"Halt doch Schritt!"
Ich wechselte den Tritt,
zählte dabei ganz leise: "Links. .. links. ..", Vaters Beine
streckten sich maßlos, ich fiel von neuem in falschen Tritt, und
Vater sagte in seinem abgerissenen Ton: "Ich habe dir gesagt -du
sollst Schritt halten."
Ich setzte wieder dazu an,
ich krümmte mich, um ebenso große Schritte zu machen wie er, aber
es war zwecklos, ich kam immer wieder aus dem Takt, und hoch über
mir sah ich Vaters mageres Gesicht sich vor Zorn verzerren. Wie
alle Tage kamen wir zehn Minuten vor Beginn der Messe in der Kirche
an. Wir nahmen Platz, knieten nieder und beteten. Nach einer Weile
erhob sich Vater wieder, legte sein Meßbuch auf das Betpult, setzte
sich und kreuzte die Arme. Ich tat das gleiche. Es war kalt. Schnee
wirbelte an die Kirchenfenster, ich stand auf einer ungeheuren
vereisten Steppe und gab als Nachhut mit meinen Männern Schüsse ab.
Die Steppe verschwand, ich war in einem Urwald, mit einem Gewehr in
der Hand, von wilden Tieren umzingelt, von Eingeborenen verfolgt,
und litt unter Hitze und Hunger. Die Eingeborenen fingen mich, sie
banden mich an einen Pfahl, sie schnitten mir Nase, Ohren und die
Geschlechtsteile ab. Plötzlich befand ich mich im Palast des
Gouverneurs, er wurde von den Negern belagert, ein Soldat fiel an
meiner Seite, ich ergriff seine Waffe und schoß ohne Unterbrechung
mit verblüffender Treffsicherheit. Die Messe begann, ich stand auf
und betete im stillen: ,Lieber Gott, gib, daß ich wenigstens
Missionar werde.' Vater nahm sein Meßbuch zur Hand, ich tat das
gleiche und folgte dem Gottesdienst, ohne eine Zeile zu
überspringen. Nach der Messe blieben wir noch zehn Minuten, und
plötzlich schnürte sich mir die Kehle zusammen; mir kam der
Gedanke, Vater hätte mich vielleicht schon zum Weltgeistlichen
bestimmt. Wir verließen die Kirche. Als wir ein paar Schritte
gegangen waren, unter- drückte ich das Zittern, das mich
schüttelte, und sagte: ,.Bitte, Vater!"
Er sagte, ohne den Kopf zu
drehen: ,.Ja?"
,.Ich bitte, sprechen zu
dürfen."
Die Muskeln seiner Kiefer zogen sich zusammen,
und er sagte in trockenem, unzufriedenem Ton: ,.Ja."
,.Wenn es dir recht ist,
Vater, möchte ich Missionar werden."
Er sagte barsch: ,.Du wirst
tun, was man dir sagt."
Es war aus. Ich wechselte
den Tritt, ich zählte ganz leise: ,.Links. .. links.
.."
Vater blieb plötzlich stehen
und ließ seinen Blick auf mir ruhen. ,.Und warum willst du
Missionar werden?"
Ich log: ,.Weil es am
mühseligsten ist."
,.So, du willst Missionar
werden, weil es am mühseligsten ist?"
'.Ja, Vater."
Er ging weiter, nach etwa
zwanzig Schritten drehte er den Kopf leicht zu mir her und sagte
verlegen: ,. Wir werden sehen."
Nach ein paar Schritten
begann er wieder: ,.So, du möchtest Missionar werden."
Ich sah zu ihm auf, er sah
mich scharf an, runzelte die Stirn und wiederholte in strengern
Ton: "Wir werden sehen."
An der Ecke der Schloßstraße
blieb er stehen. ,.Auf Wiedersehen, Rudolf."
Ich stand stramm. ,.Auf
Wiedersehen, Vater."
Er winkte, ich machte eine
vorschriftsmäßige Kehrtwendung und ging in gerader Haltung davon.
Ich bog in die Schloßstraße ein, ich drehte mich um, Vater war
nicht mehr zu sehen, und ich fing an, wie ein Verrückter zu rennen.
Es war etwas Unerhörtes geschehen: Vater hatte nicht nein gesagt.
Im Laufen schwang ich das Gewehr, das ich im Palast des Gouverneurs
dem verwundeten Soldaten abgenommen hatte, und schoß damit auf den
Teufel. Mein erster Schuß riß ihm die linke Gesichts- hälfte weg.
Die Hälfte seines Gehirns spritzte an die Aborttür, sein linkes
Auge hing heraus, während er mich mit dem rechten entsetzt ansah
und in seinem zerfetzten, blutigen Mund sich seine Zunge noch
bewegte. Ich gab einen zweiten Schuß ab, der die rechte Seite
wegriß, während sich die andere unverzüglich erneuerte und nun das
linke Auge mich entsetzt und flehend ansah. Ich durchschritt die
Vorhalle der Schule, zog meine Mütze, um den Pförtner zu grüßen,
und hörte auf zu schießen. Es klingelte, ich begab mich auf meinen
Platz, und Pater Thaler kam. Um zehn Uhr gingen wir in den
Arbeitssaal, Hans Werner setzte sich neben mich, sein rechtes Auge
war schwarz und verquollen, ich blickte ihn an, und mit einem
Anflug von Stolz flüsterte er mir zu: "Mensch, hab' ich aber was
abgekriegt!"
Und er setzte leise hinzu:
"Ich erkläre es dir in der Pause."
Ich blickte sofort weg und
vertiefte mich in mein Buch. Es klingelte, und wir gingen auf den
Hof der großen Schüler. Der Schnee war sehr glatt geworden, ich
erreichte die Mauer der Kapelle und fing an, meine Schritte zu
zählen. Von der Kapellmauer bis zur Mauer des Zeichensaals waren es
hundertzweiundfünfzig. Wenn ich am Ziel nur hunderteinundfünfzig
oder aber hundertdreiundfünfzig herausbekam, zählte der Marsch
nicht. Innerhalb einer Stunde mußte ich die Strecke vierzigmal
zurückgelegt haben. Wenn ich sie aus Versehen nur achtunddreißigmal
zurückgelegt hatte, mußte ich sie in der nächsten Pause nicht bloß
zweimal mehr ablaufen, um meinen Rückstand aufzuholen, sondern noch
zweimal zusätzlich als Strafe. Ich zählte: "Eins, zwei, drei, vier.
..", da tauchte der heitere rothaarige Hans Werner neben mir auf,
packte mich am Arm, zog mich mit fort und rief: "Mensch, ich hab'
aber was abgekriegt!"
Ich verzählte mich, kehrte
um und fing an der Kapellmauer wieder zu zählen an: "Eins, zwei.
.."
"Siehst du da", sagte Werner
und legte die Hand aufs Auge, "das war mein Vater."
Da blieb ich doch lieber
stehen. '"Er hat dich geschlagen?"
Werner brach in ein
Gelächter aus. "Hihi! Geschlagen! Das ist nicht das richtige Wort.
Es war eine ganze Tracht von Schlägen, eine mächtige Tracht. Und
weißt du, was ich gemacht hatte?"
fuhr er, noch lauter
lachend, fort. "Ich hatte. .. hihi! die chinesische Vase. ..im
Salon. ..zerbrochen. .."
Dann wiederholte er in einem
Zuge und ohne zu lachen, aber mit außerordentlich zufriedener
Miene: "Ich hatte die chinesische Vase im Salon
zerbrochen."
Ich nahm meinen Marsch
wieder auf und zählte ganz leise: "Drei, vier, fünf.
.."
Dann blieb ich stehen. Daß
er ein so zufriedenes Gesicht machen konnte, nachdem er ein solches
Verbrechen begangen hatte, bestürzte mich. "Und du hast es deinem
Vater gesagt?"
"Ich -es sagen! Was denkst
du dir denn? Der Alte hat alles entdeckt."
"Der Alte?"
"Na ja, mein
Vater."
Also nannte er seinen Vater
den "Alten", und was mir noch sonderbarer vorkam als dieser
unglaubliche Mangel an Ehrfurcht, war, daß er in dieses Wort so
etwas wie Zuneigung hineinlegte. "Der Alte hat eine kleine
Untersuchung angestellt. ..Er ist schlau, der Alte; Mensch, er hat
alles herausgekriegt!"
Ich sah Werner an. Sein
rotes Haar leuchtete in der Sonne, er sprang im Schnee auf der
Stelle umher, und trotz seines blauen Auges strahlte er. Ich
merkte, daß ich mich verzählt hatte, empfand meine
Unzuverlässigkeit und Unbehagen darüber und lief zurück zur
Kapellmauer.
"He, Rudolf", rief Werner neben mir, "was hast
du denn? Warum rennst du so? Bei diesem Schnee kann man sich ja die
Knochen brechen."
Ich ging, ohne ein Wort zu
sagen, an die Mauer und fing wieder an zu zählen. "Dann aber",
sagte Werner, während er seinen Schritt dem meinen anpaßte, "hat es
mir der Alte gegeben! Am Anfang war es ja eher zum Lachen, aber als
ich ihm einen Fußtritt ans Schienbein versetzt hatte.
.."
Ich blieb wie vor den Kopf
geschlagen stehen. "Du hast ihm einen Fußtritt ans Schienbein
versetzt?"
"Aber dann", sagte Werner
lachend, "Mensch, da wurde er unangenehm. Er fing an zu boxen. Da
hab' ich was gekriegt! Er boxte und boxte. Und schließlich hat er
mich k. O. geschlagen. .."
Er brach wieder in Lachen
aus. "Darüber war er selber ganz verdattert. Er übergoß mich mit
Wasser und gab mir Kognak zu trinken, er wußte nicht mehr, was er
machen sollte, der Alte."
"Und dann?"
"Dann? Na, dann hab' ich
dumm getan, klar."
Ich schluckte meinen
Speichel hinunter . "Du hast dumm getan?"
"Klar. Und da war der Alte
noch verdatterter. Schließlich hat er in der Küche herumgesucht,
und dann kam er wieder und gab mir ein Stück Kuchen."
"Er gab dir
Kuchen?"
"Klar. Und weißt du, was ich
da zu ihm gesagt habe? Wenn es so ist, habe ich gesagt, werde ich
auch die andere Vase zerbrechen."
Ich starrte ihn fassungslos
an. "Das hast du gesagt? Was hat er denn da gemacht?"
"Er hat
gelacht."
"Er hat
gelacht?"
"Er hat sich gebogen vor
Lachen, der Alte. Die Tränen standen ihm in den Augen. Und er sagte
-da siehst du, wie pfiffig der Alte ist! -er sagte: ,Wenn du
kleiner Sauhund die andere Vase zerbrichst, schlag ich dir das
andre Auge blau!"
"Und dann?"
sagte ich mechanisch. "Da
hab' ich gelacht, und wir waren alle beide sehr
lustig."
Ich sah ihn mit offenem
Munde an. "Ihr wart lustig?"
"Klar!"
Und mit entzückter Miene
setzte er hinzu: "Kleiner Sauhund hat er mich genannt, kleiner
Sauhund."
Ich wachte aus meiner
Betäubung auf. Ich hatte meine Schritte überhaupt nicht mehr
gezählt. Ich sah auf die Uhr. Die Hälfte der Freistunde war schon
vorüber. Ich war mit zwanzig Strecken im Rückstand, was mit der
Strafe zusammen vierzig ausmachte. Mir war
klar, daß ich diesen Rückstand nie aufholen
konnte. Ein Angstgefühl überkam mich, und ich empfand Haß gegen
Werner . "Was hast du bloß?"
sagte Werner, während er
hinter mir herlief. "
Wo willst du denn hin? Warum
kehrst du immer an der Mauer um?"
Ich gab keine Antwort und
fing wieder an zu zählen. Werner wich mir nicht von der Seite.
"Übrigens", sagte er, "hab' ich dich heute früh in der Messe
gesehen. Du gehst wohl alle Tage?"
"Ja."
"Ich auch. Wie kommt es, daß
ich dich nie beim Herausgehen sehe?"' "Vater bleibt immer zehn
Minuten länger."
"Wozu denn? Wenn die Messe
vorüber ist?"
Ich blieb plötzlich stehen
und sagte: "Habt ihr nicht wegen der Vase... gebetet?"
"
Gebetet ? "
sagte Werner und sah mich
groß an. "
Gebetet? Warum ? Weil ich
die Vase zerbrochen hatte?"
Er lachte laut heraus, ich
fühlte seinen Blick auf mir ruhen, und plötzlich faßte er mich am
Arm und zwang mich stehenzubleiben. "Du hättest wegen der Vase
gebetet?"
Voller Verzweiflung wurde
ich mir darüber klar, daß ich mich von neuem verzählt hatte. "Laß
mich los!"
"Antworte! Hättest du wegen
der Vase gebetet?"
"Laß mich los!"
Er ließ mich los, und ich
kehrte wieder zur Kapellmauer zurück. Er folgte mir. Ich startete
wieder, mit zusammengepreßten Zähnen. Er ging ein Weilchen
schweigend neben mir her, dann brach er mit einemmal in Lachen aus.
"Also, es ist so! Du hättest gebetet."
Ich blieb stehen und blickte
ihn wütend an. "Ich nicht! Ich nicht! Mein Vater hätte
gebetet."
Er sah mich mit großen Augen
an. "Dein Vater?"
Und er lachte noch mehr.
Dein Vater? Ist das komisch! Dein Vater betet, weil du etwas
zerbrochen hast."
"Schweig!"
Aber er konnte sich nicht
mehr halten. Ist das komisch! Mensch! Du zerbrichst die Vase, und
dein Vater betet! Der ist doch verrückt, dein Alter."
Ich schrie auf:
Schweig!"
"Aber er ist.
.."
Ich ging mit erhobenen
Fäusten auf ihn los. Er wich zurück, strauchelte, bemühte sich,
wieder das Gleichgewicht zu gewinnen, fiel hin und schrie. Sein
Schienbein war gebrochen und hatte sich durch die Haut gebohrt. Der
Lehrer und drei große Schüler kamen vorsichtig über
den Schnee gelaufen. Einen Augenblick später
wurde Werner auf eine Bank gelegt, ein Kreis von Schülern stand um
ihn herum, ich schaute bestürzt auf den Knochen, der die Haut am
Knie durchbohrt hatte. Werner war blaß, er hatte die Augen
geschlossen und wimmerte leise. "Du Tolpatsch", sagte der Lehrer,
"wie hast du denn das gemacht?"
"Ich bin gerannt und
hingefallen."
"Euch war doch gesagt
worden, ihr sollt bei diesem Schnee nicht rennen."
"Ich bin hingefallen", sagte
Werner. Sein Kopf fiel nach hinten, und er wurde ohnmächtig. Die
großen Schüler hoben ihn sacht auf und trugen ihn weg. Ich stand da
wie betäubt, wie angenagelt, durch die Schwere meines Verbrechens
vernichtet. Nach einem Weilchen wandte ich mich an den Lehrer und
stand stramm. "Bitte, kann ich zu Pater Thaler gehen?"
Der Lehrer blickte mich an,
sah auf seine Uhr und nickte bejahend. Ich lief nach der Nordtreppe
und raste klopfenden Herzens hinauf. Im dritten Stock wandte ich
mich nach links, noch ein paar Schritte, und ich klopfte an eine
Tür. "Herein!"
rief eine laute Stimme. Ich
trat ein, schloß die Tür und stand stramm. Pater Thaler war in eine
Rauchwolke eingehüllt. Er wedelte mit der Hand, um sie zu
zerteilen. "Du, Rudolf? Was willst du denn?"
"Bitte, Hochwürden, ich
möchte beichten."
"Du hast doch am Montag
gebeichtet."
"Ich habe eine Sünde
begangen."
Pater Thaler sah auf seine
Pfeife und sagte in einem Ton, der keine Antwort zuließ: "Jetzt ist
nicht die Zeit dazu."
"Bitte, Hochwürden, ich habe
etwas Schweres begangen."
"
Was hast du denn
gemacht?"
"Wenn es Ihnen recht ist,
Hochwürden, möchte ich es Ihnen in der Beichte sagen."
"Und warum nicht
sofort?"
Ich stand schweigend da.
Pater Thaler tat einen Zug aus seiner Pfeife und sah mich einen
Augenblick an. "So ernst ist es also?"
Ich wurde rot, sagte aber
nichts. "Meinetwegen", sagte er mit einer leichten Mißstimmung im
Ton. "Ich nehme sie dir ab."
Er warf einen bedauernden Blick auf seine Pfeife, legte sie auf seinen Schreibtisch und setzte sich auf einen Stuhl. Ich kniete vor ihm nieder und erzählte ihm alles. Er hörte mir aufmerksam zu, stellte einige
Fragen, erlegte mir als Buße 2O Paternoster und
2O Aves auf und erteilte mir die Absolution. Er stand auf, setzte
seine Pfeife wieder in Brand und sah mich an. "Und deshalb
wünschtest du das Beichtgeheimnis?"
"Ja,
Hochwürden."
Er zuckte die Achseln, warf
mir dann einen funkelnden Blick zu, und sein Gesichtsausdruck
veränderte sich. "Hat Hans Werner gesagt, daß du es
warst?"
"Nein,
Hochwürden."
"
Was hat er denn
gesagt?"
"Daß er hingefallen
wäre."
"So, so!"
sagte er und blickte mich
an, "so daß nur ich es weiß, und ich bin durch das Beichtgeheimnis
gebunden."
Er legte die Pfeife auf den
Schreibtisch. "Kleiner Schurke!"
sagte er mit Entrüstung,
"auf diese Weise ziehst du dich heraus, entlastest dein Gewissen
und entgehst zugleich der Strafe."
"Nein,
Hochwürden!"
rief ich leidenschaftlich.
"Nein! So ist es nicht! Es ist nicht wegen der Strafe. In der
Schule kann man mich bestrafen, soviel man will!"
Er sah mich überrascht an.
"Weshalb denn dann?"
"Weil ich nicht möchte, daß
Vater etwas davon erfährt."
Er rieb sich wieder mit dem
Daumen den Bart. "Aha! Deswegen!"
sagte er in ruhigerem Ton.
"Solche Angst hast du vor deinem Vater?"
Er setzte sich, nahm wieder
seine Pfeife und rauchte schweigend ein Weilchen. "Was würde er
denn tun? Er würde dich durchprügeln?"
"Nein,
Hochwürden."
Er schien noch weitere
Fragen stellen zu wollen, besann sich aber anders und fing wieder
an zu rauchen. "Rudolf", hob er endlich wieder mit sanfter Stimme
an. "Hochwürden?"
"Es wäre trotzdem besser, du
sagtest es ihm."
Ich fing sofort an zu
zittern. "Nein, Hochwürden! Nein, Hochwürden! Bitte!"
Er stand auf und sah mich
verdutzt an. "Aber was hast du denn? Du zitterst ja? Du wirst doch
nicht ohnmächtig werden, hoffe ich."
Er packte mich an den
Schultern und schüttelte mich, gab mir zwei Klapse auf die Backen,
ließ mich dann los, machte das Fenster auf und sagte nach einem
Weilchen: "Ist dir jetzt besser?"
"Ja,
Hochwürden."
"Setz dich
doch!"
Ich gehorchte, und er fing
an, brummelnd in seinem Zimmerchen hin und her zu gehen, wobei er
mir von Zeit zu Zeit einen flüchtigen Blick zuwarf
Nach einer Weile schloß er das Fenster wieder.
Die Schulglocke ertönte. "Und jetzt geh, du kommst sonst zu spät
zum Unterricht."
Ich stand auf und wandte
mich zur Tür . "Rudolf!"
Ich drehte mich um. Er stand
hinter mir, "
Was deinen Vater angeht",
sagte er fast leise, "kannst du tun, was du willst."
Er legte mir für ein paar
Sekunden die Hand auf den Kopf, dann öffnete er die Tür und schob
mich hinaus. Als mir an diesem Abend Maria die Tür öffnete, sagte
sie ganz leise: "Dein Onkel Franz ist da."
Ich sagte lebhaft: "Ist er
in Uniform?"
Onkel Franz war nur
Unteroffizier, sein Bild hing nicht neben den Offizieren im Salon,
aber trotzdem bewunderte ich ihn sehr . "Ja", sagte Maria mit
ernster Miene, "aber du darfst nicht mit ihm
sprechen."
"Warum denn
nicht?"
"Herr Lang hat es
verboten."
Ich zog meine Windjacke aus,
hängte sie auf und bemerkte, daß Vaters Mantel nicht da war. "Wo
ist Vater?"
"Er ist
ausgegangen."
"Warum darf ich nicht mit
Onkel Franz sprechen?"
"Er hat Gott
gelästert."
Was hat er denn
gesagt?"
.Das geht dich nichts an",
sagte Maria streng. Dann setzte sie aber sofort mit
wichtigtuerischer und entsetzter Miene hinzu: "Er hat gesagt, die
Kirche wäre ein großer Schwindel."
Ich hörte in der Küche
Laute, spitzte die Ohren und erkannte die Stimme von Onkel Franz.
"Herr Lang hat verboten, daß du mit ihm sprichst", sagte Maria.
"Kann ich ihn grüßen?"
"Sicher", sagte Maria
zögernd, "es ist nicht schlimm, wenn man höflich ist."
Ich ging an der Küche
vorüber, die Tür stand weit offen, ich blieb stehen und stand
stramm. Onkel Franz saß da, ein Glas in der Hand, seine Bluse war
aufgeknöpft, und seine Füße lagen auf einem Stuhl. Mama stand neben
ihm mit glücklicher, aber schuldbewußter Miene. Onkel Franz
bemerkte mich und rief mit lauter Stimme: "Da ist ja der kleine
Pfarrer! Guten Tag, kleiner Pfarrer!"
"Franz!"
sagte Mama vorwurfsvoll.
"Was soll ich denn sagen? Da ist das kleine Opfer! Guten Tag,
kleines Opfer!"
"Franz!"
sagte Mama und drehte sich
erschrocken um, wie wenn sie erwartet hätte, daß Vater hinter ihrem
Rücken auftauchte.
"Was denn?"
sagte Onkel Franz. "Ich sage
doch bloß die Wahrheit, nicht wahr?"
Ich stand regungslos stumm
vor der Tür. Ich sah Onkel Franz an. "Rudolf", sagte Mama schroff,
"geh unverzüglich in dein Zimmer!"
"Ach was!"
sagte Onkel Franz und
blinzelte mir zu, "laß ihn doch eine Minute in Ruhe. Er hob mir
sein Glas entgegen, blinzelte mir noch einmal zu und setzte mit
jener weltmännischen Miene, die mir so sehr an ihm gefiel, hinzu:
"Laß ihn doch von Zeit zu Zeit einen wirklichen Mann
sehen!"
"Rudolf", sagte Mama, "geh
in dein Zimmer!"
Ich machte kehrt und ging
den Korridor entlang. Hinter meinem Rücken hörte ich, wie Onkel
Franz sagte: "Das arme Kind! Du wirst mir zugeben, daß es ein
starkes Stück ist, wenn er gezwungen wird, Pfarrer zu werden, nur
weil dein Mann in Frankreich. .."
Die Küchentür wurde heftig
zugeschlagen, und ich hörte die Fortsetzung nicht. Dann vernahm ich
Mamas scheltende Stimme, aber ohne die einzelnen Worte
unterscheiden zu können, und wieder von neuem die Stimme von Onkel
Franz, und ich hörte deutlich: "Ein großer Schwindel."
Wir aßen an jenem Abend
etwas früher, weil Papa zu einer Elternversammlung in die Schule
mußte. Nach dem Essen knieten wir im Eßzimmer nieder, und das
Abendgebet wurde gesprochen. Als Vater zu Ende war, wandte er sich
zu Bertha und sagte: "Bertha, hast du dir ein Vergehen
vorzuwerfen?"
"Nein, Vater."
Dann wandte er sich an
Gerda. "Gerda, hast du dir ein Vergehen vorzuwerfen?"
"Nein, Vater."
Ich war der Älteste. Deshalb
sparte Vater mich bis zuletzt auf. "Rudolf, hast du dir ein
Vergehen vorzuwerfen?"
"Nein, Vater."
Er erhob sich, und alle
taten es ihm nach. Er zog seine Uhr heraus, sah Mama an und sagte:
"Acht Uhr. Um neun Uhr liegen alle im Bett."
Mama nickte bejahend. Vater
wandte sich an die dicke Maria. "Sie auch, meine
Dame."
"Ja, Herr Lang", sagte
Maria. Vater überblickte seine Familie, ging auf den Korridor
hinaus, legte Mantel und Schal an und setzte den Hut auf. Wir
rührten uns nicht. Er hatte uns noch nicht erlaubt, uns zu rühren.
Er erschien wieder auf der Schwelle, schwarz gekleidet und
behandschuht. Das Licht des Eßzimmers ließ seine tiefliegenden
Augen aufleuchten. Er blickte über uns hin und sagte: "Gute
Nacht."
Man hörte einstimmig ein
dreifaches "Gute Nacht", dann, etwas verspätet, das "Gute Nacht,
Herr Lang"
Marias.
Mama folgte Vater bis an die Flurtür, öffnete
sie und machte sich dünn, um ihn durchzulassen. Sie hatte das
Recht, ihm allein gute Nacht zu sagen. Ich lag schon zehn Minuten
im Bett, als Mama mein Zimmer betrat. Ich schlug die Augen auf und
überraschte sie, als sie mich ansah. Es dauerte nur einen
Augenblick, denn sie wandte sofort die Augen ab und löschte das
Licht. Dann schloß sie wortlos die Tür, und ich hörte ihren leisen
Schritt sich auf dem Korridor verlieren. Ich wurde durch das
Zuklappen der Vorsaaltür und einen schweren Schritt im Korridor
aufgeweckt. Helles Licht blendete mich, ich blinzelte und glaubte
Vater neben meinem Bett zu sehen, im Mantel und mit dem Hut auf dem
Kopf. Eine Hand schüttelte mich, und ich wurde hellwach. Vater
stand da, unbeweglich, ganz in Schwarz, und seine Augen in den
tiefen Augenhöhlen funkelten. "Steh auf!"
sagte er mit eisiger Stimme.
Ich blickte ihn an, schreckgelähmt. "Steh auf!"
Mit seiner
schwarzbehandschuhten Hand warf er heftig das Deckbett zurück. Es
gelang mir, aus dem Bett zu schlüpfen, und ich bückte mich, um
meine Hausschuhe zu suchen. Mit einem Fußtritt schleuderte er sie
unter das Bett. "Komm, wie du bist!"
Er ging auf den Korridor
hinaus, ließ mich vor sich hergehen, schloß die Tür meines Zimmers,
ging dann schweren Schrittes zum Zimmer Marias, klopfte laut an
ihre Tür und rief: "Aufstehen!"
Dann klopfte er an die Tür
meiner Schwestern: "Aufstehen!"
Und endlich klopfte er
womöglich noch heftiger an Mamas Tür. "Aufstehen!"
Maria erschien als erste,
mit eingewickelten Haaren, in einem grünen, geblümten Hemd. Sie
blickte Vater an, der im Mantel und mit dem Hut auf dem Kopf
dastand, dann mich, barfuß und schlotternd neben ihm. Mama und
meine beiden Schwestern kamen aus ihren Zimmern, erschrocken
blinzelnd. Vater wandte sich an sie gemeinsam und sagte: "Zieht
eure Mäntel an und kommt!"
Er wartete, ohne sich zu
bewegen und ohne ein Wort zu sagen. Die Frauen kamen wieder aus
ihren Zimmern heraus, er begab sich ins Eßzimmer, alle folgten ihm.
Er machte Licht, setzte den Hut ab, legte ihn auf das Büfett und
sagte: "
Wir wollen
beten."
Wir knieten nieder, und
Vater begann zu beten. Das Feuer war schon ausgegangen, aber obwohl
ich im Hemd auf dem eiskalten Fußboden kniete, fühlte ich die Kälte
kaum. Vater sagte "amen"
und erhob sich. Er stand da,
in Handschuhen, unbeweglich. Er erschien mir
riesenhaft.
"Unter uns", sagte er, ohne die Stimme zu heben,
"ist ein Judas."
Niemand bewegte sich,
niemand hob die Augen zu ihm auf. "Hörst du, Martha?"
"Ja, Heinrich", sagte Mama
mit schwacher Stimme. Vater fuhr fort: "Heute abend -beim Beten
-ihr habt es alle gehört fragte ich Rudolf -ob er- sich ein
Vergehen vorzuwerfen hätte."
Er sah Mama an, und Mama
nickte. "Und ihr habt -alle -gehört -ihr habt es deutlich gehört,
nicht wahr? wie Rudolf- nein -antwortete."
"Ja, Heinrich", sagte Mama.
"Rudolf", sagte Vater, "steh auf!"
Ich stand auf, ich zitterte
vom Kopf bis zu den Füßen. "Schaut ihn an!"
Mama, meine Schwestern und
Maria starrten mich an. "Er hat also nein geantwortet", sagte Vater
triumphierend, "nun sollt ihr erfahren -daß er -nur einige Stunden
-bevor er nein antwortete eine unerhörte -brutale Handlung
-begangen hatte. Er hat", fuhr Vater mit eiskalter Stimme fort,
"einen kleinen hilflosen Kameraden mit Schlägen traktiert -und ihm
das Bein zerbrochen."
Vater brauchte nicht mehr zu
sagen: Schaut ihn an! Aller Augen ließen mich nicht mehr los. "Und
dann", fuhr Vater fort und hob seine Stimme, "hat sich dieses
grausame Geschöpf -unter uns gesetzt -hat von unserm Brot gegessen
-schweigend -und hat -mit uns gebetet -gebetet!"
Er sah auf Mama herab. "Das
ist der Sohn -den du mir geschenkt hast."
Mama wandte den Kopf weg.
"Sieh ihn an!"
sagte Vater wütend. Mama
blickte mich wieder an, und ihre Lippen fingen an zu beben. "Und
dieser Sohn", fuhr Vater mit zitternder Stimme fort, "dieser Sohn
-hat -hier -nur liebevolle Lehren empfangen. .."
Da geschah etwas Unerhörtes.
Die dicke Maria murmelte etwas- Vater reckte sich, ließ einen
funkelnden Blick über uns hinschweifen und sagte leise, bedächtig
und fast mit einem Lächeln auf den Lippen: "Wer etwas -zu sagen hat
-sage es!"
Ich sah Maria an. Ihre Augen
waren gesenkt, aber ihre dicken Lippen waren leicht geöffnet, und
ihre derben Finger verkrampften sich in ihren Mantel. Eine Sekunde
später hörte ich mit Bestürzung meine eigene Stimme. "Ich habe
gebeichtet."
"Ich wußte es", schrie Vater
triumphierend. Ich sah ihn niedergeschmettert an. "Ihr sollt
wissen", fuhr Vater mit lauter Stimme fort, "daß dieser Teufel
-nachdem er seine Missetat begangen hatte -in der Tat - einen Pater
aufgesucht hat -mit einem
Herzen voller Arglist -und von ihm -durch
geheuchelte Reue Absolution erhalten hat. Und noch mit der
göttlichen Vergebung auf der Stirn -hat er gewagt - die Ehrfurcht
-die er seinem Vater schuldig war -zu schänden - indem er ihm seine
Verbrechen verheimlichte. Und wenn nicht zufällige Umstände -mir
das Verbrechen -enthüllt hätten -hätte ich – sein Vater..."
Er hielt inne, und in seine
Stimme kam ein Schluchzen. "Ich, sein Vater -der ich seit seinem
zartesten Alter -seine Sünden -aus Liebe auf mich genommen habe
-als ob es meine wären - ich hätte mein eigenes Gewissen -besudelt
-ohne es zu wissen. .."
Und er schrie auf einmal: ".
..ohne es zu wissen! -mit seiner Missetat."
Er sah Mama wütend an.
"Hörst du, Martha? ...Hörst du? Wenn ich nicht- zufällig -das
Verbrechen deines Sohnes -erfahren hätte -hätte ich mich -vor Gott.
..", er schlug an seine Brust, ". ..ohne mein Wissen -auf ewig -mit
seiner Grausamkeit und seinen Lügen- belastet. -Herr!"
fuhr Vater fort und warf
sich auf die Knie, "wie -kannst du mir -jemals -verzeihen.
.."
Er hielt inne, und dicke
Tränen rollten über die Runzeln seiner Wangen. Dann nahm er seinen
Kopf in beide Hände, beugte sich vornüber, pendelte mit dem
Oberkörper hin und her und stöhnte dabei mit eintöniger,
ergreifender Stimme: "Vergebung, Herr! Vergebung, Herr! Vergebung,
Herr! Vergebung, Herr!"
Nachher schien er leise zu
beten, er beruhigte sich allmählich, hob den Kopf und sagte:
"Rudolf, knie nieder und bekenne deine Schuld!"
Ich kniete nieder, faltete
die Hände, öffnete den Mund, aber ich konnte kein einziges Wort
herausbringen. "Bekenne deine Schuld!"
Aller Augen richteten sich
auf mich, ich machte eine verzweifelte Anstrengung, ich öffnete
wieder den Mund, aber es kam kein Wort heraus. "Es ist der
Teufel!"
rief Vater in einer Art
Raserei. "Es ist der Teufel-der ihn am Sprechen
hindert."
Ich sah Mama an und flehte inständig und
schweigend um Hilfe. Sie versuchte wegzublicken, aber diesmal
gelang es ihr nicht. Eine volle Sekunde lang starrte sie mich mit
aufgerissenen Augen an, dann flackerte ihr Blick, sie wurde bleich,
und ohne ein Wort zu sagen, fiel sie der Länge nach zu Boden. Ich
begriff blitzschnell, was geschah. Wieder einmal lieferte sie mich
Vater aus. Maria richtete sich halb auf. "Rühren Sie sich
nicht!"
schrie Vater mit
schrecklicher Stimme. Maria erstarrte, dann aber kniete sie wieder
nieder. Vater blickte auf Mamas vor ihm liegenden regungslosen
Körper und sagte ganz leise mit einer Art Freude: "Die Züchtigung
beginnt."
Dann sah er wieder mich an
und sagte mit dumpfer Stimme: "Bekenne deine Schuld!"
Es war in der Tat, als wäre
der Teufel in mich gefahren. Ich konnte einfach nicht sprechen.
"Das ist der Teufel!"
sagte Vater. Bertha verbarg
ihr Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen. "Herr", sagte
Vater , "da du meinen Sohn -verlassen hast- erlaube mir -in deiner
Barmherzigkeit -noch einmal -seine abscheuliche Missetatauf meine
Schultern zu nehmen."
Schmerz entstellte sein
Gesicht, er rang die Hände, und dann kamen in einem grauenvollen
Röcheln nacheinander die Worte aus seiner Kehle: "Mein Gott -ich
klage mich an -das Bein -Hans Werners zerbrochen zu
haben."
Nichts von allem, was er
bisher gesagt hatte, tat größere Wirkung auf mich. Vater hob wieder
den Kopf, ließ einen funkelnden Blick über uns schweifen und sagte:
"Laßt uns beten!"
Er stimmte das Vaterunser
an. Den Bruchteil eines Augenblickes später vereinigten Maria und
meine beiden Schwestern ihre Stimmen mit der seinen. Vater sah mich
an. Ich öffnete den Mund, kein einziger Ton kam heraus, der Teufel
war in mir. Ich fing an, die Lippen zu bewegen, als ob ich leise
betete, ich versuchte, gleichzeitig an die Worte des Gebets zu
denken, aber alles war vergeblich, es gelang mir nicht. Vater
machte das Zeichen des Kreuzes, stand auf, holte aus der Küche ein
Glas Wasser und goß es Mama ins Gesicht. Sie bewegte sich etwas,
schlug die Augen auf und kam taumelnd auf die Beine. "Geht
schlafen", sagte Vater. Ich tat einen Schritt vorwärts. "Sie nicht,
mein Herr!"
sagte Vater mit eisiger
Stimme. Mama ging hinaus, ohne mich anzusehen. Meine beiden
Schwestern folgten ihr. Maria drehte sich auf der Schwelle noch
einmal um, blickte Vater an und sagte langsam und deutlich: "Es ist
eine Schande!"
Dann ging sie hinaus. Ich
wollte schreien: Maria!, aber ich vermochte nicht zu sprechen. Ich
hörte ihren schleppenden Schritt sich auf dem Korridor verlieren.
Eine Tür klappte, und ich blieb mit Vater allein. Er wandte sich um
und sah mich so haßerfüllt an, daß ich einen Augenblick lang
Hoffnung hatte. Ich glaubte, er würde mich schlagen.
"Komm!"
sagte er mit dumpfer Stimme.
Mit seinem steifen Schritt ging er voraus, ich folgte ihm. Nach den
Fliesen des Eßzimmers erschien der Fußboden des Korridors meinen
nackten Füßen fast warm.
Vater öffnete die Tür seines Arbeitszimmers, es
war eiskalt darin, er ließ mich vorangehen und schloß die Tür. Er
zündete keine Lampe an, sondern zog die Vorhänge des Fensters auf.
Die Nacht war klar, und die Dächer des Bahnhofs waren mit Schnee
bedeckt. "Wir wollen beten."
Er kniete zu Füßen des
Kruzifixes nieder, ich kniete hinter ihm. Nach einem Weilchen
drehte er sich um. "Du betest nicht?"
Ich sah ihn an und nickte
bejahend. "Bete laut!"
Ich wollte sagen: Ich kann
nicht! Meine Lippen rundeten sich, ich griff mit den Händen nach
meiner Kehle, aber es kam kein Ton heraus. Vater faßte mich an den
Schultern, als ob er mich schütteln wollte. Er ließ mich aber
gleich wieder los, wie wenn die Berührung mit mir ihm Abscheu
einflößte. "Bete!"
sagte er feindselig. "Bete,
bete!"
Ich bewegte die Lippen, aber
es kam nichts. Vater lag auf den Knien, halb zu mir gewandt; seine
tiefliegenden funkelnden Augen starrten mich an, und es schien, als
hätte es nun ihm die Sprache verschlagen. Nach einer Weile blickte
er weg und sagte: "Nun gut, dann bete leise!"
Dann drehte er sich um und
stimmte ein Ave an. Diesmal bemühte ich mich nicht einmal mehr, die
Lippen zu bewegen. Mein Kopf war leer und heiß. Ich versuchte nicht
mehr, mein Zittern zu unterdrücken. Von Zeit zu Zeit preßte ich die
Schöße meines Hemdes an die Seiten. Vater bekreuzigte sich, drehte
sich um, sah mich starr an und sagte gewissermaßen triumphierend :
"Hiernach -Rudolf -wirst du verstehen -wie ich hoffe -wirst du
verstehen -daß du noch -Priester -werden kannst -aber nicht
mehr-Missionar."
Am nächsten Tag wurde ich
ernstlich krank. Ich erkannte niemanden, ich verstand nicht, was
man zu mir sagte, und ich konnte nicht sprechen. Man drehte mich
hin, man drehte mich her, man legte mir Kompressen auf, man ließ
mich etwas trinken, man legte mir Eisbeutel auf den Kopf, man wusch
mich. Darauf beschränkten sich meine Beziehungen zur Familie. Was
mir besonderes Vergnügen bereitete, war, daß ich die Gesichter
nicht mehr klar erkennen konnte. Ich sah sie als weißliche
ausgefüllte Kreise, ohne Nase, ohne Augen, ohne Mund, ohne Haar.
Die Kreise bewegten sich im Zimmer hin und her, neigten sich über
mich, wichen wieder zurück, und gleichzeitig hörte ich ein Gemurmel
von Stimmen, undeutlich und eintönig wie das Summen von Insekten.
Die
Kreise waren verschwommen, die Umrißlinien
zitterten unaufhörlich wie Gelee, und auch die Stimmen hatten etwas
Weiches und Zitterndes. Weder die Kreise noch die Stimmen machten
mir angst. Eines Morgens saß ich in meinem Bett, den Rücken von
Kissen gestützt, und beobachtete zerstreut, wie einer der Kreise
sich in Höhe meines Deckbettes bewegte, als mit einem Male etwas
Furchtbares geschah. Der Kreis färbte sich. Zuerst sah ich zwei
kleine rote Flecken beiderseits eines gelben, viel wichtigeren, der
sich unablässig zu bewegen schien. Dann wurde das Bild schärfer,
trübte sich von neuern, ich hegte einen Augenblick lang Hoffnung.
Ich versuchte wegzublicken, aber meine Augen kehrten von selbst zu
dem Bild zurück. Es wurde mit erschreckender Schnelligkeit
schärter, ein großer erschien, von zwei roten Bändern flankiert,
und mit unerbittlicher Geschwindigkeit zeichnete sich ein Gesicht
ab. Augen, Nase und Mund traten hervorund plötzlich erkannte ich am
Kopfende des Bettes auf einem Stuhl meine Schwester Bertha, die
über ein Buch gebeugt saß. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, ich
schloß die Augen, öffnete sie wieder: Sie war immer noch da. Angst
schnürte mir die Kehle zu, ich richtete mich in den Kissen auf, und
ehe ich begriff, wie mir geschah, sagte ich langsam, mühevoll wie
ein buchstabierendes Kind: "Wo -ist -Maria?"
Bertha sah mich mit
erschrockenen Augen an, sprang auf, das Buch fiel zu Boden, und sie
verließ schreiend das Zimmer . "Rudolf hat gesprochen. Rudolf hat
gesprochen."
Gleich darauf traten Mama,
Bertha und meine andere Schwester zögernden Schritts ins Zimmer,
stellten sich an den Fuß meines Bettes und blickten mich ängstlich
an. "Rudolf?"
"Ja."
"Du kannst
sprechen?"
"Ja."
"Ich bin deine
Mama."
"Ja."
"Erkennst du
mich?"
"Ja, ja."
Ich wandte ärgerlich den
Kopf und sagte: "Wo ist Maria?"
Mama schlug die Augen nieder
und schwieg. Ich wiederholte zornig: "Wo ist Maria?"
"Sie ist gegangen", sagte
Mama hastig. Mir zog es den Leib zusammen, und meine Hände fingen
an zu zittern. Mit Mühe brachte ich heraus: "Wann?"
"An dem Tag, als du krank
wurdest."
"Warum?"
Mama antwortete nicht. Ich
fuhr fort: "Vater hat sie entlassen?"
"Nein."
"Sie selber hat gehen
wollen?"
"Ja."
"An dem Tag, als ich krank
wurde?"
"Ja."
Auch Maria hatte mich im
Stich gelassen. Ich schloß die Augen. "
Willst du, daß ich bei dir
bleibe, Rudolf?"
Ich sagte, ohne die Augen zu öffenen:
"Nein."
Ich hörte sie im Zimmer
umhergehen, Medikamente klapperten auf meinem Nachttisch, sie
seufzte, dann entfernten sich ihre weichen Schritte, die Türklinke
schnappte leise ein, und ich konnte endlich die Augen öffnen. In
den folgenden Wochen begann ich über den Verrat Pater Thalers
nachzudenken, und ich verlor den Glauben. Mehrmals am Tage kam Mama
ins Zimmer . "Fühlst du dich gut? "Ja."
Willst du Bücher haben?
"Nein."
"Soll ich dir
vorlesen?"
"Nein."
"Sollen deine Schwestern dir
Gesellschaft leisten?"
"Nein."
Es entstand ein Schweigen,
und dann sagte sie: "Soll ich hierbleiben?"
"Nein."
Sie ordnete die Medikamente
auf dem Nachttisch, klopfte mir die Kissen auf und lief ziellos im
Zimmer umher. Ich beobachtete sie mit halbgeöffneten Augen. Wenn
sie sich umdrehte, heftete ich meinen Blick auf ihren Rücken und
dachte angestrengt: 'Geh doch! Geh doch!' Nach einigen Augenblicken
ging sie hinaus, und ich fühlte mich glücklich, wie wenn mein Blick
sie dazu gebracht hätte, zu gehen. Eines Abends, kurz vor dem
Essen, kam sie ins Zimmer, betreten und schuldbewußt. Sie machte
sich wie gewöhnlich zum Schein im Zimmer zu schaffen und sagte,
ohne mich anzusehen: "
W as willst du heute abend
essen, Rudolf?"
"Dasselbe wie
alle."
Sie zog die Fenstervorhänge
zu und sagte, ohne sich umzudrehen: "Vater sagt, du müßtest mit uns
essen."
Das war es also. Ich sagte
trocken: "Gut."
"Glaubst du, daß du es
kannst?"
"Ja."
Ich stand auf. Sie erbot
sich, mir zu helfen, aber ich lehnte ihre Hilfe ab. Dann ging ich
allein ins Eßzimmer. Auf der Schwelle blieb ich stehen. Vater und
meine beiden Schwestern saßen schon am Tisch. "Guten Abend,
Vater."
Er hob den Kopf. Er sah
abgemagert und krank aus. "Guten Abend, Rudolf."
Dann setzte er hinzu:
"Fühlst du dich wohl?"
"Ja, Vater."
"Setz dich!"
Ich setzte mich und sagte
kein Wort mehr. Als wir mit Essen fertig waren, zog Vater seine Uhr
und sagte: "Und jetzt wollen wir beten."
Wir knieten nieder. Das neue Dienstmädchen kam
aus der Küche und kniete mit uns nieder. Die Kälte der Fliesen an
meinen nackten Knien ging mir durch und durch. Vater stimmte ein
Vaterunser an. Ich schickte mich an, seine Lippenbewegungen
nachzumachen, ohne aber einen Laut herauszubringen. Er sah mich
fest an, seine tiefliegenden Augen sahen traurig und müde aus, er
unterbrach sich und sagte mit dumpfer Stimme: "Rudolf, bete
laut!"
Alle Augen richteten sich
auf mich. Ich blickte Vater eine Zeitlang an, dann brachte ich
mühsam heraus: "Ich kann nicht."
Vater sah mich bestürzt an.
"Du kannst nicht?"
"Nein, Vater."
Vater sah mich noch einen
Augenblick lang an und sagte dann: "Wenn du nicht kannst, bete
still."
"Ja, Vater."
Er fuhr in seinem Gebet
fort, ich fing wieder an, die Lippen zu bewegen, und bemühte mich,
an nichts zu denken. Zwei Tage darauf ging ich wieder zur Schule.
Niemand sprach mich wegen des Vorfalls an. In der Morgenpause
begann ich wiedermeine Schritte zu zählen, ich hatte die Strecke
sechsmal zurückgelegt, da tauchte ein Schatten zwischen der Sonne
und mir auf. Ich hob die Augen: Es war Hans Werner . "Guten Tag,
Rudolf."
Ich antwortete nicht und
setzte meinen Weg fort. Er ging neben mir her. Während ich meine
Schritte zählte, sah ich auf seine Beine. Er hinkte leicht.
"Rudolf, ich muß dich sprechen."
Ich blieb stehen. "Ich will
mit dir nicht sprechen."
"So!"
sagte er nach einer Weile
und blieb wie angenagelt stehen. Ich setzte meinen Marsch fort und
kam zur Kapellmauer. Werner stand immer noch da, wo ich ihn
verlassen hatte. Ich kam wieder auf ihn zu, er schien zu zögern,
schließlich machte er auf den Hacken kehrt und ging davon. Am
seIben Tag traf ich auf einem Korridor Pater Thaler. Er sprach mich
an. Ich blieb stehen und stand stramm. "Da bist du
ja!"
"Ja,
Hochwürden."
"Man hat mir erzählt, du
wärst sehr krank gewesen."
"Ja,
Hochwürden."
"Aber jetzt geht es dir
wieder gut?"
"Ja,
Hochwürden."
Er sah mich schweigend
scharf an, als falle es ihm schwer, mich wiederzuerkennen. "Du hast
dich verändert."
Dann fuhr er fort: "
Wie alt bist du jetzt,
Rudolf?"
"Dreizehn Jahre,
Hochwürden."
Er schüttelte den Kopf.
"Dreizehn Jahre! Erst dreizehn Jahre!"
Er brummelte etwas in seinen
Bart, klopfte mir auf die Wange und ging weiter. Ich betrachtete
seinen Rücken, er war groß und mächtig. Ich dachte: 'Er ist ein
Verräter!', und ein wilder Haß packte mich. Am nächsten Morgen,
nachdem ich Vater verlassen hatte, bog ich um die Ecke der
Schloßstraße, als ich Schritte hinter mir hörte.
"Rudolf!"
Ich drehte mich um. Es war
Hans Werner. Ich drehte ihm den Rücken zu und setzte meinen Weg
fort. "Rudolf", sagte er ganz außer Atem, "ich muß dich
sprechen."
Ich wandte nicht einmal den
Kopf. "Ich will mit dir nicht sprechen."
"Aber begreifst du denn
nicht, Rudolf, ich muß dich sprechen."
Ich beschleunigte meine
Schritte. "Geh nicht so schnell, Rudolf, bitte! Ich komme nicht
mit."
Ich ging noch schneller. Er
fing an, unbeholfen neben mir her zu hüpfen. Ich warf ihm von der
Seite einen Blick zu und sah, daß sein Gesicht infolge der
Anstrengung gerötet und verzerrt war . "Natürlich", sagte er
keuchend, "versteh' ich. ..daß du mit mir. .. nicht mehr reden
willst. ..nach dem, was ich dir angetan habe."
Ich blieb sofort stehen.
"Was hast du mir denn angetan?"
"Ich ja nicht", sagte er
peinlich berührt, "mein Alter war es. Mein Alter hat dich
verpetzt."
Ich sah ihn verdutzt an. "Er
hat es den Patres erzählt?"
"Noch am seIben Abend",
erwiderte Werner, "am seIben Abend ist er hingegangen und hat sie
angeschnauzt. Er ist mitten in der Elternversammlung über sie
hergefallen. Er hat die Patres vor allen Leuten
angeschnauzt!"
"Hat er meinen Namen
genannt?"
"Und ob! Er hat sogar
hinzugefügt: 'Wenn Sie solche Rohlinge unter Ihren Schülern haben,
müssen Sie sie fortjagen."' "Das hat er gesagt?"
"Ja", sagte Werner fast
lustig, "aber du darfst dir nichts daraus machen, denn am nächsten
Tag hat er dem Vorsteher geschrieben, du wärst nicht daran schuld
gewesen, sondern der Schnee, und ich wollte nicht, daß du bestraft
würdest."
"So ist das also", sagte ich
langsam und kratzte mit der Fußspitze auf dem Trottoir. "Haben Sie
dich bestraft?"
sagte Werner. Ich starrte
auf meine Fußspitze, und Werner fragte noch einmal: "Haben sie dich
bestraft?"
"Nein."
Werner zögerte.
"
Und dein. .."
Er wollte sagen, "dein
Alter", aber er besann sich noch rechtzeitig. "Und dein
Vater?"
Ich sagte mit Nachdruck: "Er
hat nichts gesagt."
Nach einem Weilchen hob ich
die Augen und sagte, ohne zu stocken: "
Hans, ich bitte dich um
Verzeihung wegen deines Beines."
Er sah betreten aus. "Das
ist weiter nichts!"
sagte er hastig. "Das war
der Schnee."
Ich erwiderte: "Wirst du
immer hinken?"
"O nein", sagte er lachend,
"nur. .."
Er suchte nach dem richtigen
Wort. "Nur vorübergehend. Verstehst du? Nur
vorübergehend."
Er wiederholte das Wort ganz
entzückt. "Das heißt", fügte er hinzu, "es wird nicht so
bleiben."
Bevor wir durch das Schultor
gingen, drehte er sich zu mir um, lächelte und streckte mir die
Hand hin. Ich blickte auf seine Hand und fühlte, wie ich erstarrte.
Mit Anstrengung sagte ich: "Ich will dir die Hand geben, aber
nachher werde ich nicht mehr mit dir reden."
"Aber Mensch!"
rief er bestürzt aus. "Bist
du immer noch böse?"
"Nein, ich bin dir nicht
böse."
Ich setzte hinzu: "Ich bin
niemandem böse."
Ich hob langsam, mechanisch
den Arm und drückte ihm die Hand. Ich zog sie sofort wieder zurück.
Werner sah mich schweigend, wie versteinert an. "Du bist komisch,
Rudolf."
Er sah mich noch einen
Augenblick an, dann drehte er mir den Rücken zu und ging in die
Schule hinein. Ich ließ ihn etwas voraus- gehen und trat dann
meinerseits ein. Ich dachte den ganzen Tag und die ganze folgende
Woche über diese Unterhaltung nach. Und schließlich entdeckte ich
mit Erstaunen, daß, abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen für
Pater Thaler, sich nichts geändert hatte. Ich hatte den Glauben
verloren, und er war für immer verloren.