15. Mai
1914
Vater starb, das Leben bei uns ging unverändert
seinen Gang, ich ging weiter jeden Morgen in die Messe, Mutter
führte das Geschäft weiter, und unsere wirtschaftliche Lage
besserte sich. Mutter haßte und verachtete die jüdischen Schneider
ebenso wie Vater, aber sie fand, daß dies kein Grund sei, es
abzulehnen, ihnen Stoffe zu verkaufen. Mutter erhöhte auch gewisse
Preise, die so lächerlich niedrig angesetzt waren, daß man sich
wirklich fragen konnte, ob Vater, wie Onkel Pranz behauptete, nur
darauf aus gewesen sei, seinen eigenen Interessen zu schaden. Etwa
acht Tage nach Vaters Tod empfand ich beim Betreten der Kirche
lebhaften Ärger. Unser Platz war besetzt. Ich setzte mich zwei
Reihen dahinter, die Messe begann, ich folgte ihr in meinem Meßbuch
Zeile um Zeile, als ich plötzlich abgelenkt wurde; ich hob den Kopf
und schaute zum Gewölbe hinauf. Ich hatte den Eindruck, daß auf
einmal die Kirche sich ins Ungemessene ausdehnte. Die Stühle, die
Statuen, die Säulen wichen mit rasender Geschwindigkeit in den Raum
zurück. Plötzlich, genau wie eine Schachtel, deren Wände
herunterklappen, fielen die Mauern um. Ich sah nur noch eine
Mondwüste, unbewohnt und grenzenlos. Angst schnürte mir die Kehle
zusammen, ich fing an zu zittern. Eine fürchterliche Drohung lag in
der Luft, alles war in einer düsteren Erwartung erstarrt, als ob
die Welt im Begriff sei, sich selbst zu vernichten, und mich im
Leeren allein lassen wollte. Ein Glöckchen erklang, ich kniete
nieder und senkte den Kopf. Unter meiner linken Hand fühlte ich das
Holz des Betpultes, ein Gefühl von Wärme und Festigkeit durchdrang
meine Hand, alles wurde wieder normal, es war vorüber. In den
folgenden Wochen wiederholte sich dieser Anfall. Ich merkte, daß er
stets eintrat, wenn ich von meinen Gewohnheiten abging. Von diesem
Augenblick an wagte ich keine einzige Bewegung mehr zu machen, ohne
sicher zu sein, daß sie zu meinen üblichen gehörte. Wenn zufällig
eine meiner Bewegungen mir von der "Regel"
abzuweichen schien, würgte
es mich in der Kehle, ich schloß die Augen und wagte die
Gegenstände nicht mehr anzublicken, aus Furcht, sie sich auflösen
zu sehen. Wenn ich dann in meinem Zimmer war, nahm ich mir sofort
eine mechanische Beschäftigung vor. Zum Beispiel wichste ich meine
Schuhe. Mein Lappen glitt erst langsam und sacht auf der glänzenden
Oberfläche hin und her, dann immer schneller. Wie gebannt ruhten
meine Blicke darauf, ich atmete den Geruch der Creme und des Leders
ein, und nach einer Weile stieg in mir ein Gefühl der Sicherheit
auf, ich fühlte mich eingeschläfert und beschützt. Eines Abends vor
dem Essen betrat Mutter mein Zimmer. Selbstverständlich stand ich
sofort auf. "Ich habe mit dir zu reden."
"Ja, Mutter."
Sie seufzte, setzte sich,
und sobald sie saß, sah man auf ihrem Gesicht die Ermüdung.
"Rudolf. .."
"Ja, Mutter."
Sie blickte weg und sagte
zögernd: "Willst du noch weiter jeden Tag um fünf Uhr aufstehen, um
die Messe zu hören?"
Angst schnürte mir die Kehle
zu. Ich wollte antworten, aber ich war ohne Stimme. Mutter strich
hilflos die Schürze auf ihren Knien glatt und fuhr fort: "Ich
dachte, du brauchtest vielleicht nur jeden zweiten Tag zu
gehen."
Ich schrie:
"Nein."
Mutter warf mir einen erstaunten Blick zu, sah
dann wieder auf ihre Schürze und sagte zögernd: "Du siehst müde
aus, Rudolf."
"Ich bin nicht
müde."
Danach warf sie mir noch
einen Blick zu, seufzte und sagte, ohne mich anzusehen: "Ich habe
auch daran gedacht. ..was das Abendgebet angeht. ..jeder könnte
vielleicht in seinem Zimmer beten. .."
"Nein."
Mutter sackte auf ihrem
Stuhl zusammen, und ihre Augen blinzelten. Ein Schweigen entstand,
dann fuhr sie schüchtern fort: "Aber du selbst. .."
Ich glaubte, sie wollte
sagen: 'Du selbst betest ja nicht', aber sie sagte nur: "Aber du
selbst betest leise."
"Ja, Mutter."
Sie blickte mich an. Ich
sagte, ohne die Stimme zu heben, genauso wie Vater es tat, wenn er
einen Befehl erteilte: "Es kann keine Rede davon sein, etwas zu
ändern."
Nach einer Weile seufzte
Mutter, stand auf und verließ wortlos das Zimmer.
An einem Augustabend tauchte während des Essens
Onkel Franz bei uns auf, sein Gesicht war gerötet und heiter, und
von der Schwelle aus rief er triumphierend: "Der Krieg ist
erklärt!"
Mutter stand auf, ganz
bleich, und Franz sagte: "Zieh doch nicht so ein Gesicht! In drei
Monaten ist alles vorüber."
Er rieb sich die Hände und
setzte hinzu: "Meine Frau ist wütend."
Mutter stand auf, um die
Flasche mit dem Kirschwasser aus dem Büfett zu holen. Onkel Franz
setzte sich, bog sich über die Lehne seines Stuhles zurück,
streckte seine gestiefelten Beine weit von sich, knöpfte seinen
Rock auf und sah mich blinzelnd an. "Na, Junge", sagte er
belustigt, "was hältst du davon?"
Ich sah ihn an und sagte:
"Ich werde mich freiwillig melden."
Mutter rief:
"Rudolf!"
Sie
stand vor dem Büfett, die Flasche Kirschwasser in der
Hand, aufrecht und bleich. Onkel Franz sah mich an, und
sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. "Recht so,' Rudolf! Du
hast sofort an deine Pflicht gedacht."
Er wandte sich zu meiner Mutter und sagte mit
spöttischer Miene: "Stell nur die Flasche her. Du wirst sie noch
zerbrechen."
Mutter gehorchte. Onkel
Franz sah sie an und sagte gutmütig: "Beruhige dich. Er hat noch
nicht das nötige Alter."
Und er fügte hinzu: "Daran
fehlt noch viel. Und wenn er es erreicht hat, ist alles
vorbei."
Ich stand wortlos auf, ging
in mein Zimmer, schloß mich ein und
fing an zu weinen. Ein paar Tage später gelang
es mir, mich außerhalb der Schulzeit als freiwilliger
Hilfskrankenträger beim Roten Kreuz einstellen zu lassen, um die
Lazarettzüge mit zu entladen. Meine Anfälle schwanden, ich las
begierig in den Zeitungen die Kriegsberichte, ich schnitt aus den
Illustrierten Fotografien aus, die Haufen von Feindesleichen auf
dem Schlachtfeld zeigten, und heftete sie mit Reißzwecken an die
vier Wände meines Zimmers. Mutter hatte auf dem Abort wieder eine
Glühbirne eingesetzt, und jeden Morgen, ehe ich zur Messe ging, las
ich dort die Zeitung, die ich am Abend vorher gelesen hatte, noch
einmal. Sie war voll von Scheußlichkeiten, welche die Franzosen
begingen, um ihren Rückzug zu bemänteln. Ich zitterte vor Empörung,
ich hob den Kopf, der Teufel sah mich an. Ich hatte keine Angst
mehr vor ihm. Ich erwiderte seinen Blick. Er hatte braunes Haar,
schwarze Augen und ein häßliches Gesicht. Er glich in jeder
Hinsicht den Franzosen. Ich zog einen Bleistift aus der
Hosentasche, strich das Wort unter der Zeichnung: "Der
Teufel"
aus und schrieb darunter:
"Der Franzose."
Ich kam zehn Minuten zu früh
in der Kirche an, nahm Vaters Platz ein, legte mein Meßbuch auf das
Betpult, setzte mich und kreuzte die Arme. Tausende von Teufeln
tauchten vor mir auf. Sie zogen besiegt, entwaffnet an mir vorüber,
das französische Käppi zwischen ihren Hörnern, die Arme über dem
Kopf erhoben. Ich ließ ihnen ihre Kleider wegnehmen. Sie zogen noch
einmal im Kreis herum, dann trieb man sie auf mich zu. ..Ich saß in
Helm und Stiefeln da, rauchte eine Zigarette, hatte ein glänzendes
Maschinengewehr zwi- schen den Beinen, und als sie nahe genug heran
waren, schlug ich das Zeichen des Kreuzes und begann zu schießen.
Blut spritzte auf, sie fielen heulend nieder, krochen auf dem Bauch
auf mich zu und baten um Gnade, ich zerschmetterte ihnen die
Gesichter mit Stiefel- tritten und schoß immer weiter. Andere
tauchten auf, und wieder andere, Tausende und aber Tausende, ich
mähte sie mit meinem Maschinengewehr unaufhörlich nieder, sie
schrien, wenn sie fielen, Ströme von Blut flossen, die Leichen
häuften sich vor mir, aber ich schoß immer weiter. Und dann war es
plötzlich vorbei. Kein einziger Feind war mehr da. Ich erhob mich
und befahl kurz meinen Leuten, aufzuräumen. Dann ging ich
gestiefelt und behandschuht, fleckenlos, ins Offizierskasino, um
ein Glas Kognak zu trinken. Ich war allein, ich fühlte mich hart
und gerecht und hatte ein kleines Goldkettchen auf der rechten
Brust. Auf dem Bahnhof war ich jetzt bekannt wegen meiner Tätigkeit
als Hilfskrankenträger und der Armbinde, die ich trug. Im Frühjahr
1915 hielt ich es dort nicht mehr aus. Als ein Militärzug abfuhr,
sprang ich auf das Trittbrett, Hände griffen nach mir, man zog mich
hinauf, und erst als ich mitten unter ihnen war, dachten die
Soldaten daran, mich zu fragen, was ich wollte. Ich sagte ihnen,
daß ich mit ihnen zur Front wollte, um zu kämpfen. Sie fragten
mich, wie alt ich wäre, und ich sagte: "Fünfzehn."
Da fingen sie laut zu lachen
an und gaben mir Klapse auf den Rücken. Schließlich bemerkte einer
von ihnen, den sie den "Alten"
nannten, man würde mich auf
jeden Fall bei der Ankunft festnehmen und nach Hause schicken, aber
einstweilen wäre es vielleicht gar nicht schlecht für mich, das
Leben der Soldaten zu erleben und zu sehen, "was daran sei". Dann
räumten sie mir einen Platz zwischen sich ein, und einer gab mir
Brot. Es war schwarz und ziemlich schlecht, und "der
Alte"
sagte lachend: "Besser
K-Brot als kein Brot."
Ich aß es mit Wonne. Dann
fingen die Soldaten an zu singen, und ihr lauter, männlicher Gesang
drang in mein Inneres wie ein Pfeil. Die Nacht kam, sie schnallten
ihre Koppel ab, machten die Kragen auf und streckten ihre Beine
aus. In der Dunkelheit des Wagens atmete ich den Leder- und
Schweißgeruch ein, den sie ausströmten. Ich machte einen zweiten
Versuch Anfang März 1916. Er hatte nicht mehr Erfolg als der erste.
An der Front wurde ich festgenom- men, verhört und nach Hause
geschickt. Daraufhin verbot man mir den Zutritt zum Bahnhof, das
Lazarett schickte mich nicht mehr zum Entladen der Züge, sondern
verwandte mich als Aufwärter .