1918
In Deutschland wurde unsere Abteilung von Ort zu
Ort geschickt, ohne daß jemand wußte, wer uns zu betreuen hätte,
und der Unteroffizier Schrader sagte zu mir: "
Von uns will niemand mehr
etwas wissen. Wir sind eine verlorene Abteilung."
Endlich erreichten wir
unsern Ausgangspunkt, die kleine Stadt B. Dort beeilte man sich,
uns zu demobilisieren, um uns nicht weiterverpflegen zu müssen; man
gab uns die Zivilkleider zurück, etwas Geld und einen Fahrschein,
damit wir nach Hause zurückkehren konnten. Ich nahm den Zug nach H.
Im Abteil kam ich mir in meiner Windjacke und der Hose, die mir
jetzt viel zu kurz war, lächerlich vor, und ich ging auf den Gang
hinaus. Gleich darauf sah ich von hinten einen großen, mageren,
braunen Burschen mit kahlem Schädel, dessen breite Schultern eine
abgetragene Jacke zu sprengen drohten. Er drehte sich um; es war
Schrader. Er sah mich an, rieb sich seine zerbrochene Nase mit dem
Handrücken und brach in ein Gelächter aus. "Du bist es? Wie bist du
denn angezogen? Du hast dich wohl als kleiner Junge
verkleidet?"
"Du auch."
Er warf einen Blick auf
seinen Anzug. "Ich auch."
Seine schwarzen Augenbrauen
senkten sich wie ein einziger dicker Strich über seine Augen, er
blickte mich einen Augenblick lang an, und sein Gesicht wurde
traurig. "
Wir sehen wie zwei magere
Clowns aus."
Er trommelte an das
Wagenfenster und fuhr fort: "
Wo willst du
hin?"
"Nach H."
Er pfiff. "Ich auch. Wohnen
deine Eltern dort?"
Die sind tot, aber meine
Schwestern und mein Vormund leben da."
"Und was willst du nun
machen?"
"Ich weiß
nicht."
Er trommelte wieder an die
Scheibe, ohne etwas zu sagen. Dann holte er eine Zigarette aus der
Tasche, brach sie entzwei und gab die eine Hälfte mir . "Siehst
du", sagte er bitter, "man ist hier überflüssig. Man hätte nicht
zurückkehren sollen."
Nach einem Schweigen sagte
er: "Zum Beispiel da drin sitzt eine kleine Blonde."
Er zeigte mit dem Daumen
nach seinem Abteil. "Ein hübsches kleines Ding. Mir gerade
gegenüber. Die sah mich an, als ob ich Dreck wäre!"
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es ist
alles Dreck! Das Eiserne Kreuz und alles! Alles ist Dreck!"
Er setzte hinzu: "Deshalb
bin ich rausgegangen."
Er tat einen Zug, bog seinen
Kopf zu mir herunter und sagte: "
Weißt du, was in Berlin die
Zivilisten mit den Offizieren machen, die in Uniform auf der Straße
herumlaufen?"
Er blickte mich an und sagte
mit verhaltener Wut: "Sie reißen ihnen die Schulterstücke
herunter."
Ich fühlte einen Kloß in
meinerKehle und sagte: "Bist du sicher?"
Er schüttelte den Kopf, und
wir standen eine Weile schweigend da. Dann begann er von neuem :
"Also was willst du jetzt machen ?"
.Ich weiß
nicht."
Er erwiderte: "Was kannst du
denn?"
Ohne mir Zeit zu einer
Antwort zu lassen, sagte er grinsend: "Streng dich nicht an; ich
will für dich antworten: Nichts. Und ich, was kann ich denn?
Nichts. Wir können kämpfen, aber es scheint, daß man nicht mehr zu
kämpfen braucht. Soll ich dir sagen, was wir sind? Wir sind
Arbeitslose."
Er fluchte. "Aber um so
besser. Herrgott, ich will lieber mein ganzes Leben lang
Arbeitsloser sein als für ihre verdammte Republik
arbeiten."
Er legte seine großen Hände
auf den Rücken und sah zu, wie die Landschaft vorüberflog. Nach
einer Weile zog er ein Stückchen Papier und einen Bleistift aus der
Tasche, legte es gegen die Scheibe, kritzelte ein paar Zeilen
darauf und hielt mir das Papier hin. "Da, das ist meine Adresse.
Wenn du nicht weißt, wohin, brauchst du nur zu mir zu kommen. Ich
habe nur ein Zimmer, aber in meiner Bude ist für einen alten
Kameraden von der Abteilung Günther immer Platz."
"Bist du sicher, dein Zimmer
frei vorzufinden?"
Er fing an zu lachen. "Was
das angeht, ja!"
Dann setzte er hinzu: "Meine
Wirtin ist eine Witwe."
In H. ging ich sofort zu
Onkel Franz. Es war finster, ein feiner Regen fiel, ich hatte
keinen Mantel und war vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt. Die Frau
von Onkel Franz öffnete. "Ach, du bist es", sagte sie, als ob sie
mich erst am Tag vorher gesehen hätte, "komm doch
herein."
Sie war eine große, dürre,
verdrießlich aussehende Frau mit einem Anflug von Schnurrbart und
schwarzen Haaren auf den Wangen. Unter der Lampe im Vorsaal
erschien sie mir sehr gealtert. "Deine Schwestern sind
da."
Ich sagte: "Und Onkel
Franz?"
Sie sah mich von oben herab an und sagte
trocken: "In Frankreich gefallen."
Dann setzte sie hinzu: "Nimm
hier die Überschuhe. Du machst alles schmutzig."
Sie ging voraus und öffnete
die Küchentür. Zwei junge Mädchen saßen da und nähten. Ich wußte,
daß es meine Schwestern waren, aber ich hätte sie schwerlich
wiedererkannt. "Komm doch herein", sagte meine Tante. Die beiden
jungen Mädchen standen auf und sahen mich unbeweglich an. "Das ist
euer Bruder Rudolf", sagte meine Tante. Sie kamen näher und
drückten mir nacheinander die Hand, ohne ein Wort zu sagen; dann
setzten sie sich wieder. "Na, setz dich doch, das kostet nichts",
sagte die Tante. Ich setzte mich und betrachtete meine Schwestern.
Sie waren sich immer etwas ähnlich gewesen, aber jetzt konnte ich
sie überhaupt nicht mehr unterscheiden. Sie hatten wieder zu nähen
angefangen und warfen mir von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick
zu. "Hast du Hunger?"
fragte die Tante. Ihre
Stimme klang falsch, und ich sagte: "Nein, Tante."
"
Wir haben schon gegessen,
aber wenn du Hunger gehabt hättest. .."
"Danke, Tante."
Es entstand ein neues
Schweigen, dann sagte Tante: "Wie schlecht du angezogen bist,
Rudolf."
Meine Schwestern hoben die
Köpfe und sahen mich an. "Das ist die Windjacke, in der ich
fortgegangen bin."
Daraufhin schüttelte die
Tante vorwurfsvoll den Kopf und nahm ihre Arbeit wieder auf. Ich
fügte hinzu: "Sie haben uns die Uniform nicht lassen wollen, weil
es die Kolonialausrüstung war."
Von neuem trat ein Schweigen
ein. Tante sagte: "Da bist du nun also."
"Ja, Tante."
"Deine Schwestern sind groß
geworden."
"Ja, Tante."
"Du wirst hier alles
verändert finden. Das Leben ist sehr hart. Man hat nichts mehr zu
essen."
"Ich weiß."
Sie seufzte und machte sich
wieder an ihre Arbeit. Meine Schwestern hielten den Kopf gesenkt
und nähten, ohne ein Wort zu sagen. So verging eine ganze Weile.
Dann plötzlich erstarrte die Stille. Es lag eine Spannung in der
Luft, und ich begriff, um was es ging. Meine Tante wartete darauf,
daß ich von meiner Mutter sprechen und nach Einzelheiten ihrer
Krankheit und ihres Todes fragen sollte. Dann würden meine
Schwestern zu weinen anfangen, meine Tante eine pathetische
Erzählung loslassen, und ohne mich
irgendwie anzuklagen, würde aus ihrer Erzählung
hervorgehen, daß ich es sei, der Mutters Tod verursacht hätte.
"Na", sagt die Tante nach eine Weile, "du bist nicht gerade
gesprächig, Rudolf."
"Nein, Tante."
"Man sollte nicht glauben,
daß du zwei Jahre von zu Hause weg warst."
"Ja, Tante, zwei
Jahre."
"Du scheinst dich nicht sehr
für uns zu interessieren."
"Doch, Tante."
Mir war die Kehle wie
zugeschnürt, ich dachte: ,Jetzt kommt der Augenblick', und sagte:
"Ich wollte euch eben fragen. .."
Die drei Frauen hoben den
Kopf und sahen mich an. Ich unterbrach meine Rede. In ihrer
Erwartung lag etwas Entsetzliches und Freudiges, das mir durch und
durch ging, und, ich weiß nicht warum, statt zu sagen: ,Wie ist
Mama gestorben?', wie ich beabsichtigt hatte, sagte ich: "Wie ist
Onkel Franz gestorben?"
Es entstand ein lastendes
Stillschweigen, und meine Schwestern blickten die Tante an. "Sprich
mir nicht von diesem Taugenichts", sagte die Tante mit eisiger
Stimme. Dann setzte sie hinzu: "Er hatte nur eins im Kopf wie alle
Männer. Kämpfen, kämpfen, immer nur kämpfen. ..und den Mädchen
nachlaufen!"
Ich stand auf, die Tante sah
mich an. "Du gehst schon?"
"Ja."
"Hast du schon eine Wohnung
gefunden?"
Ich log. "Ja."
Sie richtete sich auf. "Um
so besser. Hier ist es zu eng. Und dann habe ich schon deine
Schwestern da. Aber eine Nacht oder zwei hätte es sich einrichten
lassen."
"Danke, Tante."
Sie sah mich scharf an und
betrachtete meine Kleidung. "Du hast keinen Mantel?"
"Nein, Tante."
Sie überlegte. "Warte. Ich
habe vielleicht einen alten Mantel von deinem Onkel."
Sie ging hinaus, und ich
blieb mit meinen Schwestern allein. Sie nähten, ohne die Köpfe zu
heben. Ich sah sie nacheinander an und sagte: "Wer von euch ist
denn Bertha?"
"Ich."
Die, die geantwortet hatte,
hob ihr Gesicht, unsere Blicke trafen sich, und sie blickte sofort
wieder weg. Man mußte in der Familie nicht gut von mir gesprochen
haben. "Da", sagte die Tante, als sie wieder hereinkam, "probier
einmal den."
Es war ein abgetragener,
fadenscheiniger, mottenlöcheriger grüner Raglanmantel, der für mich
viel zu groß war. Ich erinnerte mich nicht, Onkel Franz jemals
darin gesehen zu haben. Onkel Franz trug sich in Zivil immer sehr
elegant.
"Danke, Tante."
Ich zog ihn an. "Man müßte
ihn kürzer machen lassen."
"Ja, Tante."
"Er ist noch gut, weißt du.
Wenn du ihn schonst, geht er noch lange."
Sie lächelte. Sie sah stolz
und gerührt aus. Sie hatte mir einen Mantel geschenkt. Ich hatte
nicht von der Mutter gesprochen, und trotzdem hatte sie mir einen
Mantel geschenkt. Alles Unrecht war auf meiner Seite. "Bist du
zufrieden?"
"Ja, Tante."
"
Willst du wirklich keine
Tasse Kaffee?"
"Nein, Tante."
"Du kannst noch ein bißchen
bleiben, wenn du willst, Rudolf."
"Danke, Tante. Ich muß
gehen."
"Na, ich halte dich
nicht."
Bertha und Gerda standen auf
und gaben mir die Hand. Sie waren beide etwas größer als ich.
"Besuch uns wieder, wann du willst", sagte Tante. Ich stand auf der
Schwelle der Küche mitten zwischen den drei Frauen. Die Schultern
des Mantels fielen mir auf die Oberarme herunter, und meine Hände
verschwanden in den Ärmeln. Plötzlich erschienen mir die drei
Frauen sehr groß, eine von ihnen drehte den Kopf zur Seite, es gab
einen Knacks, und ich hatte den Eindruck, als berührten ihre Füße
nicht mehr den Boden, sondern tanzten in der Luft wie die der
gehängten Araber in Es Salt. Dann verwischten sich ihre Gesichter,
die Mauern der Küche schwanden, eine erstarrte, eiskalte Wüste tat
sich vor mir auf, und in der unermeßlichen Weite waren, soweit der
Blick reichte, nur Puppen zu sehen, die in der Luft hingen und sich
unablässig drehten. "Na", sagte eine Stimme, "hörst du denn nicht?
Ich habe gesagt, du kannst wiederkommen, wann du
willst."
Ich sagte: "Danke", und
schritt schnell der Vorsaaltür zu. Die Schöße des Mantels schlugen
fast an meine Fersen. Meine Schwestern blieben in der Küche. Meine
Tante begleitete mich. "Morgen früh", sagte sie, "mußt du Doktor
Vogel aufsuchen. Gleich morgen. Versäume das nicht."
"Nein, Tante."
"Dann auf Wiedersehen,
Rudolf."
Sie öffnete die Tür. Ihre
Hand lag hart und kalt in der meinen. "Du bist also froh, den
Mantel zu haben?"
"Sehr froh,
Tante."
Ich stand wieder auf der
Straße. Die Tante schloß sofort die Tür, und ich hörte, wie sie
drinnen den Riegel vorschob. Ich blieb unter der Tür stehen, ich
hörte ihre Schritte verklingen, und es war gerade so, als ob ich
noch im Hause wäre. Ich sah förmlich Tante die Küchentür aufmachen,
sich hinsetzen und ihre Arbeit aufnehmen, und das Ticktack der
Wanduhr klang in der Stille frostig und hart. Nach einer Weile
würde Tante meine Schwestern anblicken und
kopfschüttelnd
sagen: "Er hat nicht einmal von seiner Mutter
gesprochen!"
Meine Schwestern würden zu
weinen anfangen, Tante würde sich ein paar Tränen abwischen, und
alle drei würden zusammen glücklich sein. Die Nacht war kalt, es
fiel ein leichter, feiner Regen, ich kannte den Weg nicht genau und
brauchte eine halbe Stunde, um zu der Adresse zu gelangen, die mir
Schrader gegeben hatte. Ich klopfte, und nach einer Weile öffnete
eine Frau. Sie war groß, blond und hatte einen starken Busen. "Frau
Lippmann?"
"Das bin ich."
"Ich möchte Unteroffizier
Schrader sprechen."
Sie blickte auf meinen
Mantel und fragte barsch: "In welcher Angelegenheit ?
"
"Ich bin ein Freund von
ihm."
"Sie sind ein Freund von
ihm?"
Sie musterte mich noch
einmal und sagte: "Treten Sie ein."
Ich trat ein, und wieder
betrachtete sie meinen Mantel. "Folgen Sie mir."
Ich folgte ihr über einen
langen Korridor. Sie klopfte an eine Tür, öffnete sie, ohne eine
Antwort abzuwarten, und sagte mit zusammengekniffenen Lippen: "Ein
Freund von Ihnen, Herr Schrader."
Schrader war in Hemdsärmeln.
Er drehte sich verblüfft um.
"Du bist es! Schon! Komm doch herein! Was machst
du denn für ein Gesicht! Und der Mantel! Wo hast du bloß den Fetzen
her? Komm herein! Frau Lippmann, ich stelle Ihnen den Unteroffizier
Lang von der Abteilung Günther vor. Einen deutschen Helden, Frau
Lippmann!"
Frau Lippmann nickte mir zu,
gab mir aber nicht die Hand. "Aber so komm doch
herein!"
sagte Schrader mit plötzlich
ausbrechender Lustigkeit. "Komm doch herein! Und Sie auch, Frau
Lippmann! Und zieh erst mal diesen Fetzen aus. So siehst du viel
besser aus. Frau Lippmann! Frau Lippmann!"
Frau Lippmann girrte: "Ja,
Herr Schrader."
"Frau Lippmann, lieben Sie
mich?"
"Ach", sagte Frau Lippmann
mit einem verzückten Blick, "was Sie für Sachen sagen, Herr
Schrader! Und noch dazu vor Ihrem Freund!"
"
Wenn Sie mich lieben, dann
holen Sie mir sofort Bier und belegte Brote. ..was Sie kriegen
können. ..für den Jungen hier, für mich und auch für Sie, Frau
Lippmann. Wenigstens wenn Sie mir die Ehre antun, mit mir zu
speisen."
Er zog seine dichten
Augenbrauen hoch, blinzelte ihr schelmisch zu, umschlang sie und
machte mit ihr pfeifend einige Walzerschritte durchs Zimmer. "Ach,
Herr Schrader", sagte Frau Lippmann mit einem girrenden Lachen,
"
ich bin doch viel zu alt zum
Walzertanzen. "
"Was? Zu alt?"
sagte Schrader. "Kennen Sie
denn nicht das französische Sprichwort?"
Er flüsterte ihr einige
Worte ins Ohr, und sie schüttelte sich vor Lachen. Er ließ sie los.
"Und dann, hören Sie zu, Frau Lippmann, bringen Sie eine Matratze
für den Jungen. Er wird heute abend hier schlafen."
Frau Lippmann hörte auf zu
lachen und kniff die Lippen zusammen. "Hier?"
"Los, los!"
sagte Schrader. "Er ist eine
Waise, er kann doch nicht auf der Straße schlafen. Herrgott, er ist
ein deutscher Held! Frau Lippmann, für einen deutschen Helden muß
man auch etwas tun können!"
Sie verzog schmollend den
Mund, und er fing an zu schreien: "Frau Lippmann! Frau Lippmann!
Wenn Sie sich weigern, weiß ich nicht, was ich mit Ihnen
mache."
Er nahm sie in seine Arme,
hob sie wie eine Feder hoch und begann mit ihr im Zimmer
herumzulaufen, während er rief: "Sie holt der Wolf! Sie holt der
Wolf!"
"Ach, Sie sind ja verrückt,
Herr Schrader!"
sagte sie und lachte dabei
wie ein kleines Mädchen. "Los, mein Schatz!"
sagte er und setzte sie zu
Boden, recht derb, wie mir schien. "Los, meine Liebe!
Los!"
"Aber nur Ihnen zu Gefallen,
Herr Schrader."
Und als sie durch die Tür
ging, gab er ihr einen tüchtigen Klaps auf den Hintern. "Aber Herr
Schrader!"
sagte sie, und man hörte ihr
girrendes Lachen auf dem Korridor verklingen. Nach einer Weile kam
sie wieder. Wir tranken Bier und aßen Schmalzbrote, und Schrader
überredete Frau Lippmann, uns Schnaps und noch mehr Bier zu
bringen. Wir tranken weiter, Schrader redete unaufhörlich, die
Witwe wurde immer röter und girrte immer mehr . Gegen elf Uhr zog
sich Schrader mit ihr zurück; nach einer halben Stunde kam er mit
einer Handvoll Zigaretten allein wieder . "Da", sagte er mit
düsterer Miene, während er mir die Hälfte davon auf die Matratze
warf, "man muß für einen deutschen Helden etwas tun
können."
Am folgenden Nachmittag
begab ich mich zu Doktor Vogel. Ich nannte dem Dienstmädchen meinen
Namen, sie kam nach einer kleinen Weile zurück und sagte mir, der
Herr Doktor würde mich gleich empfangen. Ich wartete etwa eine
Dreiviertelstunde im Salon. Die Geschäfte des Doktor Vogel mußten
seit dem Krieg gut gegangen sein, denn das Zimmer war so luxuriös
geworden, daß ich es gar nicht wiedererkannte. Endlich kam das
Dienstmädchen zurück und führte mich in das Arbeitszimmer. Doktor
Vogel saß hinter einem riesigen leeren
Schreibtisch. Er war dick geworden und ergraut,
aber sein Gesicht war immer noch schön. Er blickte auf meinen
Mantel, winkte mir, näher zu kommen, drückte mir mit eisiger Miene
die Hand und wies auf den Sessel. "Nun Rudolf", sagte er und legte
seine beiden Hände flach auf den Tisch, "da bist du also."
"Ja, Herr Doktor
Vogel."
Er sah mich eine ganze Weile
an. Sein Körper und seine Hände zeigten keine Bewegung. Sein
Gesicht mit den kraftvollen, regelmäßigen Zügen, das Gesicht eines
römischen Kaisers, wie Vater sagte, sah wie eine schöne starre
Maske aus, in deren Schutz seine graublauen Augen sich unaufhörlich
bewegten und umherhuschten. "Rudolf", sagte er mit seiner tiefen,
melodisch klingenden Stimme, "ich will dir keinen Vorwurf
machen."
Er machte eine Pause und sah
mich an. "Nein, Rudolf", wiederholte er mit Nachdruck, "ich will
dir keinen Vorwurf machen. Was du getan hast, kann niemand
ungeschehen machen. Die Verantwortung, die du trägst, ist schwer
genug; ich brauche wohl nichts weiter hinzuzufügen. Übrigens habe
ich dir ja geschrieben, wie ich über dein Ausreißen denke und über
die nicht wiedergutzumachenden Folgen, die es hatte."
Er hob mit schmerzlicher
Miene den Kopf und setzte hinzu: "Ich glaube, ich habe damit genug
gesagt."
Er hob leicht die rechte
Hand "Was geschehen ist, ist geschehen. Es handelt sich jetzt um
deine Zukunft."
Er blickte mich mit ernster
Miene an, als erwarte er eine Antwort, aber ich sagte nichts. Er
beugte den Kopf leicht vornüber und schien sich zu sammeln. "Du
kennst den Willen deines Vaters. Ich bin jetzt der Vollstrecker
seines Willens. Ich habe deinem Vater versprochen, alles zu tun,
was in meiner Macht steht, in moralischer wie in materieller
Hinsicht, um die Durchführung zu sichern."
Er hob den Kopf wieder und
blickte mir in die Augen. "Rudolf, ich muß dir jetzt eine Frage
vorlegen. Hast du die Absicht, den Willen deines Vater zu
achten?"
Es entstand ein Schweigen,
er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, und ich sagte:
"Nein."
Doktor Vogel schloß für den
Bruchteil einer Sekunde die Augen, aber kein Muskel seines Gesichts
bewegte sich. "Rudolf", sagte er in ernstem Ton, "der Wille eines
Toten ist heilig."
Ich antwortete nicht darauf.
"Du weißt sehr gut", fuhr er fort, "daß dein Vater in diesem Punkt
selbst durch ein Gelübde gebunden war."
Und da ich nichts sagte, setzte er hinzu: "Durch
ein heiliges Gelübde."
Ich schwieg noch immer, und
nach einer Weile begann er wieder: "Deine Seele ist verhärtet,
Rudolf, und ohne Zweifel darf man darin die Folge deines Vergehens
erblicken. Aber du wirst sehen, Rudolf, die Vorsehung wendet
wirklich die Dinge zum Guten. Denn während sie, um dich zu strafen,
aus deinem Herzen eine Wüste machte, legte sie gleichzeitig
sozusagen das Heilmittel neben das Übel und schuf günstige
Bedingungen für deine Erlösung. -Rudolf", fuhr er nach einer Weile
fort, "als du deine Mutter im Stich ließest, ging das Geschäft gut,
eure finanzielle Lage war gut. ..oder wenigstens", fuhr er mit
hochmütiger Miene fort, "befriedigend. Beim Tod deiner Mutter habe
ich einen Geschäftsführer eingesetzt. Er ist ein arbeitsamer Mensch
und ein guter Katholik. Er ist über jeden Verdacht erhaben. Aber
die Geschäfte gehen wirklich sehr schlecht, und was der Laden jetzt
einbringt, reicht kaum aus, um die Pension für deine Schwestern zu
bezahlen."
Er faltete die Hände.
"Bisher habe ich diese peinliche Lage beklagt, aber heute merke
ich, daß das, was ich für ein ungerechtes Unglück hielt, in der Tat
nur eine verhüllte Wohltat war. Ja, Rudolf, die Vorsehung wendet
die Dinge zum Guten, und ihr Wille scheint mir sehr klar zu sein:
Sie bestimmt deinen Weg."
Er machte eine Pause und sah
mich an. "Rudolf", fuhr er lauter fort, "du mußt wissen, daß es für
dich gegenwärtig nur eine Möglichkeit gibt, zu studieren, eine
einzige, nämlich als Student der Theologie mit einem bischöflichen
Stipendium in einem Internat. Was du darüber hinaus notwendig
brauchst, werde ich dir persönlich als Vorschuß
geben."
Seine blauen Augen fingen
plötzlich an zu glänzen, anscheinend ohne sein Wissen, aber sofort
senkte er die Lider. Dann legte er seine gepflegten Hände flach auf
den Tisch und wartete. Ich betrachtete sein schönes, gefühlloses
Gesicht und fing an, ihn aus Leibeskräften zu hassen. Er begann
wieder: "Nun, Rudolf?"
Ich schluckte meinen
Speichel hinunter und sagte: "Können Sie mir nicht für ein anderes
Studium als das theologische Vorschuß geben?"
"Rudolf!
Rudolf!"
sagte er mit einem halben
Lächeln, "wie kannst du so etwas von mir verlangen? Wie kannst du
von mir verlangen, dir dabei zu helfen, deinem Vater ungehorsam zu
sein, wo ich der Vollstrecker seines Letzten Willens
bin?"
Darauf war nichts zu
erwidern. Ich stand auf. Er sagte milde: "Setz dich, Rudolf, ich
bin noch nicht zu Ende."
Ich setzte mich wieder. "Du bist in heller
Empörung, Rudolf", sagte er mit einem Ton von Trauer in seiner
schönen, tiefen Stimme, "und willst den Wink, den dir die Vorsehung
gibt, nicht sehen. Und der Wink ist doch so deutlich. Indem sie
dich vernichtet, indem sie dich in die Armut stürzt, zeigt sie dir
den einzig möglichen Weg, den sie für dich wünscht, den dein Vater
für dich gewählt hat. .."
Darauf antwortete ich
ebensowenig. Doktor Vogel legte die Hände übereinander, beugte sich
leicht vor und sagte, während er mich durchdringend ansah: "Bist du
sicher, Rudolf, daß dieser Weg nicht der für dich richtige
ist?"
Dann senkte er die Stimme
und sagte mild, fast liebevoll: "Bist du sicher, daß du nicht zum
Priester geschaffen bist? Prüfe dich, Rudolf! Regt sich in dir
nichts, das dich zum Leben eines Priesters beruft?"
Er hob seinen schönen weißen
Kopf. "Hast du kein Verlangen, Priester zu werden? -Nun, du
antwortest nicht, Rudolf", sagte er nach einer Weile, "und ich
weiß, daß es einst dein Traum war, Offizier zu werden. Aber du
weißt doch selbst, Rudolf, es gibt kein deutsches Heer mehr.
Überlege doch, was kannst du also jetzt machen? Ich begreife dich
nicht."
Er machte eine Pause, und da
ich noch immer nicht antwortete, wiederholte er leicht ungeduldig:
"Ich begreife dich nicht. Was hält dich denn davon ab, Priester zu
werden?"
Ich sagte: "Mein
Vater."
Doktor Vogel wurde
dunkelrot, seine Augen funkelten, er erhob sich zu seiner ganzen
Größe und schrie: "Rudolf!"
Ich stand meinerseits auf.
Er sagte mit erstickter Stimme: "Du kannst gehen."
Ich schritt in meinem viel
zu langen Mantel durch das ganze Zimmer. An der Tür angekommen,
hörte ich seine Stimme: "Rudolf!"
Ich drehte mich um. Er saß
an seinem Schreibtisch, die Hände flach vor sich auf der
Tischplatte. Sein schönes Gesicht war wieder geglättet. "Überleg es
dir! Du kannst wiederkommen, wann du willst. Meine Vorschläge
bleiben unverändert."
Ich sagte: "Danke, Herr
Vogel."
Und ich ging hinaus. Auf der
Straße ging ein leichter eisiger Regen nieder, ich schlug den
Kragen meines Mantels hoch und dachte: ,Nun gut! Das ist vorbei.
Das ist endgültig vorbei.' Ich lief aufs Geratewohl drauflos, ein
Auto streifte mich, der Chauffeur fluchte, und ich merkte, daß ich,
wie ein Soldat unter Waffen, auf dem Fahrdamm marschierte. Ich ging
auf den Fußweg zurück und setzte meinen Weg fort. Ich kam in eine
belebte Gegend, junge Mächen überholten mich lachend und drehten
sich meines Mantels wegen um. Ein offener Lastwagen fuhr vorüber.
Er war vollgestopft mit Soldaten und mit Arbeitern in ihrer
Arbeitskleidung. Alle trugen sie ein Gewehr und eine rote Armbinde.
Sie sangen die Internationale. Aus der Menge heraus stimmte man im
Chor ein. Ein dürres Männchen, barhäuptig, mit geschwollenem
Gesicht, überholte mich. Er trug eine feldgraue Uniform, und an der
dunkleren Färbung des Stoffes an den Schultern erkannte ich, daß
ihm die Abzeichen seines Ranges abgerissen worden waren. Ein
anderer Lastwagen fuhr vorüber, voller Arbeiter, sie schwenkten
Gewehre und riefen: "Hoch Liebknecht!"
Die Menge etwiderte im Chor:
"Liebknecht! Liebknecht!"
Sie war jetzt so dicht, daß
ich nicht weiter konnte. Eine plötzliche Gegenströmung warf mich
beinahe um, ich hielt mich am Arm meines rechten Nachbarn fest und
sagte: "Entschuldigen Sie bitte!"
Der Mann hob den Kopf, er
war ziemlich alt, sehr ordentlich gekleidet, und seine Augen
blickten traurig. Er sagte: "Keine Ursache."
Die Menge rückte weiter, ich
fiel wieder gegen ihn und fragte: "
Wer ist
Liebknecht?"
Er warf mir einen
mißtrauischen Blick zu, sah sich um und schlug die Augen nieder,
ohne zu antworten. Dann hörte man Schüsse, alle Fenster wurden
geschlossen, und die Menge fing an zu laufen. Sie zog mich mit
vorwärts, ich bemerkte rechts eine Seitenstraße, drängte mich
durch, erreichte sie und rannte hinein. Nach fünf Minuten merkte
ich, daß ich in einem Labyrinth enger Straßen war, die ich nicht
kannte. Ich ging aufs Geratewohl eine von ihnen entlang. Der Regen
hatte aufgehört. Da rief eine Stimme: "Du! Der Judenjunge
da!"
Ich drehte mich um. Zehn
Meter entfernt von mir, in einer Seitenstraße, sah ich einen Trupp
Soldaten und einen Unteroffizier. "Du da!"
"Ich?"
"Ja, du!"
Ich schrie wütend: "Ich bin
kein Jude."
"Ach was!"
sagte der Unteroffizier.
"Nur ein Jude trägt so einen Mantel."
Die Soldaten fingen an zu
lachen, während sie mich musterten. Ich zitterte vor Wut. "Ich
verbitte mir, daß man mich einen Juden nennt."
"Sachte, Kerl!"
sagte der Unteroffizier.
"Mit wem glaubst du, daß du sprichst? Komm mal ein bißchen näher
und zeig deine Papiere."
Ich ging hin, nahm Haltung
an und sagte: "Unteroffizier Lang, Dragonerregiment 28.
Asienkorps."
Der Unteroffizier runzelte
die Stirn und sagte kurz: "Deine Papiere."
Ich reichte sie ihm. Er
prüfte sie lange und mißtrauisch, dann hellte sich sein Gesicht
auf, und er gab mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken.
"Entschuldige, Dragoner! Aber du verstehst, dein Mantel. Du sahst
so komisch aus. Wie ein Spartakist."
"Hat nichts zu sagen."
"Und was machst du denn
hier?"
"Ich gehe
spazieren."
Die Soldaten lachten, und
einer rief: "Das ist kein Wetter zum Spazierengehen."
"Er hat recht", sagte der
Unteroffizier, "geh nach Hause! Es wird gleich Krawall
geben."
Ich sah ihn an. vor kaum
zwei Tagen trug ich auch Uniform, hatte Männer zu befehlen und
Vorgesetzte, die mir Befehle gaben. Ich erinnerte mich an die Rufe
der Menge und fragte: "Kannst du mir sagen, wer Liebknecht
ist?"
Die Soldaten platzten laut
heraus, und der Unteroffizier lächelte. "
Wie", sagte er, "das weißt
du nicht? Wo kommst du denn her?"
"Aus der
Türkei."
"Ach richtig!"
sagte der Unteroffizier.
"Liebknecht", sagte ein kleiner Soldat, "ist der neue
Kaiser."
Und alle fingen an zu
lachen. Dann sah mich ein großer Blonder mit einem groben Gesicht
prüfend an und sagte langsam, mit starkem bayrischen Akzent:
"Liebknecht, das ist der Schweinehund, wegen dem wir hier
stehen."
Der Unteroffizier sah mich
lächelnd an und sagte: "Los, geh nach Hause!"
"Und wenn du Liebknecht
triffst", rief der kleine braune Soldat, "sag ihm, wir warten auf
ihn."
Und er schwenkte sein
Gewehr. Seine Kameraden lachten. Es war das Lachen von Soldaten,
frei und fröhlich. Ich entfernte mich, ich hörte ihr Gelächter
schwächer werden, und das Herz krampfte sich mir zusammen. Ich war
in Zivil, ich hatte eine Bleibe bei Schrader, keinen Beruf und in
der Tasche gerade so viel, um acht Tage leben zu können. Ich fand
wieder ins Stadtzentrum zurück und war überrascht, es so belebt zu
sehen. Die Läden waren geschlossen, aber in den Straßen wimmelte es
von Menschen, der Verkehr war sehr stark, und niemand hätte denken
können, daß zehn Minuten vorher geschossen worden war. Ich ging
mechanisch geradeaus, und plötzlich trat die Krise ein. Eine Frau
ging ganz nahe an mir vorbei. Sie lachte. Sie machte dabei den Mund
weit auf, ich sah ihr rosiges Zahnfleisch, ihre glänzenden Zähne,
die mir riesig erschienen, Furcht würgte mich, die Gesichter der
Passanten glitten ohne Unterlaß an mir vorbei, wurden größer und
schwanden wieder, und plötzlich waren es nur noch Kreise; Augen,
Nase, Mund, Farbe, alles verschwamm, es waren nur noch weißliche
Kreise wie die Augen von Blinden, sie schwollen an, wenn sie auf
mich zukarnen, wie zitterndes Gallert, sie wurden noch größer und
berührten fast mein Gesicht, ich bebte vor Entsetzen und Abscheu,
es gab einen harten Klang, alles verschwand, und dann tauchte
zehn
Schritt vor mir ein anderer weißer, milchiger
Kreis auf und kam, größer werdend, auf mich zu. Ich schloß die
Augen, blieb stehen, von Furcht gelähmt, und eine Hand preßte mir
die Kehle zu, wie um mich zu erwürgen. Mir strömte der Schweiß
herunter, ich holte tief Atem und Wurde allmählich ruhiger. Ich
fing wieder an, ziellos weiterzulaufen, immer geradeaus. Die
Gegenstände sahen fahl und verschwommen aus. Plötzlich blieb ich
wider Willen stehen, wie wenn jemand mir "Halt!"
zugerufen hätte. Mir
gegenüber war ein steinerner Torbogen, und unter dem Torbogen stand
ein sehr schönes schmiedeeisernes Gittertor offen. Ich ging über
die Straße, durch das Gittertor und die Stufen hinauf. Ein
vertrautes derbes Gesicht erschien, und eine Stimme sagte: "Was
wollen Sie?"
Ich blieb stehen, blickte
umher, alles war verschwommen und grau wie in einem Traum, und ich
sagte mit einer Stimme wie von weit her: "Ich möchte Pater Thaler
sprechen."
"Der ist nicht mehr
da."
Ich wiederholte: "Nicht mehr
da?"
"Nein."
Ich fuhr fort: "Ich bin ein
alter Schüler."
"Es schien mir auch so",
sagte die Stimme. "Warten Sie mal, sind Sie nicht der Kleine, der
mit sechzehnJahren sich freiwillig meldete?"
"Ja."
"Mit sechzehn
Jahren!"
sagte die Stimme. Ein
Schweigen entstand. Alles war grau und gestaltlos. Das Gesicht des
Mannes schien über mir zu schweben wie ein Ballon. Von neuem
ergriff mich Furcht, ich wandte die Augen weg und sagte: "Darf ich
eintreten und einmal herumgehen?"
"Gewiß. Die Schüler haben
Unterricht."
Ich sagte: "Danke", und trat
ein. Ich ging über den Hof der Unterklassen, dann über den der
Mittelklassen, und endlich kam ich in meinen Hof. Ich überquerte
ihn in der Diagonale. Ich sah vor mir eine Steinbank. Es war die
Bank, auf die man Hans Werner gelegt hatte. Ich schlug einen Bogen,
um sie zu meiden, setzte meinen Weg fort, erreichte die
KapeIlmauer, dann machte ich kehrt, stellte meine Hacken an den Fuß
der Mauer und ging los, meine Schritte zählend. So verging eine
ganze Weile, und mir war, als hätte mich jemand sanft und kräftig
in seine Arme genommen und wiegte mich.
Gerade zu dem Zeitpunkt, als wir nur noch ein paar Pfennige besaßen, fand Schrader für uns beide eine Anstellung in einer kleinen Fabrik, die Metallschränke herstellte. Schrader wurde in die
Malerwerkstatt gesteckt, was ihm täglich einen
halben Liter Magermilch eintrug. Die Arbeit, die man mir
anvertraute, war leicht. Ich nahm die Schranktüren eine nach der
anderen und schlug mit einem Hammer einen kleinen Stahlbolzen in
die Türbänder ein, um ihnen die richtige Form für die Angeln zu
geben. Einen Schlag auf den Kopf des Bolzens, damit er hineinging,
zwei kleine Schläge von der Seite, damit er Spiel bekam, und dann
zog ich ihn mit der linken Hand heraus. Ich legte immer vier Türen
übereinander auf die Werkbank. Wenn eine Tür fertig war, ließ ich
sie hinuntergleiten und lehnte sie an einen Pfeiler. Wenn alle vier
Türen fertig waren, trug ich sie an einen anderen Pfeiler, links
neben dem Monteur, der sie in die Angeln der Schränke einsetzte. Da
die Türen ziemlich schwer waren, trug ich anfangs immer nur eine.
Aber nach einer Stunde befahl mir der Meister, zwei auf einmal zu
nehmen, um Zeit zu sparen. Ich gehorchte, aber da fing die
Schwierigkeit an. Der Monteur -ein Alter namens Karl -kam viel
weniger schnell voran als ich, weil er, nachdem er die Türen
eingehängt hatte, noch die schweren, sperrigen Schränke mit der
Hand fortbewegen und auf die Karren laden mußte, die sie in die
Malerwerkstatt brachten. Ich hatte also einen Vorsprung vor ihm,
und die Türen, die ich durchgesehen hatte, fingen an, sich an
seinem Pfeiler zu häufen. Der Meister merkte es und sagte dem alten
Karl, er solle schneller machen. Der strengte sich an, aber selbst
dann gelang es ihm nicht, mitzukommen, und jedesmal, wenn ich neue
Türen brachte, brummte er: "Langsam, Mensch, langsam!"
Aber ich sah nicht, wie ich
langsamer machen könnte, wenn ich zwei Türen auf einmal trug.
Schließlich wurde der Stapel Türen beim alten Karl immer größer,
der Meister kam und machte in schrofferem Ton wieder eine
Bemerkung. Karl beschleunigte sein Tempo, er wurde ganz rot und
schwitzte, aber es half alles nichts. Als die Sirene ertönte, hatte
sich sein Rückstand nicht vermindert. Dann wusch ich mir im
Waschraum Hände und Gesicht. Der alte Karl stand neben mir. Er war
ein großer, magerer, braunhaariger, bedächtiger Preuße. Er mochte
fünfzig Jahre alt sein. Er sagte zu mir: "Warte auf mich am
Ausgang. Ich habe mit dir zu reden."
Ich nickte, zog meinen
Mantel an, gab beim Pförter meine Marke ab und ging durchs Tor. Der
alte Karl wartete schon auf mich. Er winkte mir, ich folgte ihm,
wir gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander, dann blieb er
stehen und sah mir ins Gesicht. "Hör mal, Junge, ich habe nichts
gegen dich, aber so kann das nicht weitergehen. Du bringst mich in
Verzug."
Er sah mich an und
wiederholte: "Du bringst mich in Verzug. Und wenn ich im Verzug
bin, kann mir die Gewerkschaft nicht helfen."
Ich sagte nichts, und er fuhr fort: "Du scheinst
das nicht zu verstehen. Weißt du, was geschieht, wenn ich in Verzug
gerate?"
"Nein."
"Zuerst Vorhaltungen, dann
Abzüge und schließlich. ..", er ließ seine Finger knacken, ".
..Rausschmiß!"
Ein Schweigen entstand, dann
sagte ich: "Ich kann doch nichts dafür. Ich hab' gemacht, was der
Meister gesagt hat."
Er sah mich eine Weile an.
"Arbeitest du das erste Mal in einer Fabrik?"
"Ja."
"Und vorher, wo warst du
da?"
"Beim Heer."
"Freiwillig
gemeldet?"
"Ja."
Er schüttelte den Kopf und
fuhr fort: "Hör mal, du mußt langsamer machen."
"Aber ich kann doch nicht
langsamer machen. Sie haben doch selbst gesehen. .."
"Zuerst mal", unterbrach
mich der alte Karl, "sag nicht Sie zu mir! Was sind das für
Manieren?"
Er fuhrfort: "Mit dem
Kameraden, der vor dir da war, ging alles gut. Und der hatte auch
Anweisung, mir zwei Türen auf einmal zu bringen."
Er brannte sich eine alte,
schwarze, schartige Pfeife an "Wie viele von den Türbändern, die du
einpaßt, meinst du, sind so eng, daß es schwer ist, den Bolzen
wieder herauszukriegen?"
Ich überlegte. "Einer von
fünfzehn oder zwanzig."
"Und da verlierst du
Zeit?"
"Ja."
"Na hör mal, es gibt doch
auch Türbänder, in die der Bolzen ohne Hammer wie geschmiert
reingeht?"
"Ja."
"Und da sparst du
Zeit?"
"Ja."
"Gut. Hör jetzt gut zu,
Junge. Morgen wird von zehn Türbändern eins schwer
gehen."
Ich sah ihn verdutzt an. Er
sagte: "
Verstehst du das
nicht?"
Ich sagte zögernd: "Sie
wollen damit sagen, daß ich so tun soll, als ob ich in einem von
zehn Fällen Mühe hätte, den Bolzen herauszuziehen?"
"Ganz richtig!"
sagte er befriedigt. "Aber
das ist noch nicht alles. Wenn du weite Türbänder hast, mußt du den
Bolzen mit dem Hammer einschlagen und mit dem Hammer wieder
herausklopfen. Verstanden? Sogar, wenn er wie geschmiert
hineingeht. Du wirst sehen, alles wird gutgehen. Aber du mußt
gleich morgen damit anfangen, denn heute habe ich schon fünf
Schränke mehr montiert. Einmal geht das. Die Kameraden in der
Malerwerkstatt haben es fertiggebracht, sie anzupinseln. Aber wenn
das so weitergeht, wird das nicht mehr möglich sein. Der Meister
wird es merken, und wenn er es merkt, dann ist es aus. Er muß dann
jeden Tag seine fünf
Schränke mehr kriegen! Und da ich das nicht
aushalte, würde ich rausfliegen."
Er zündete seine Pfeife
wieder an. "Hast du verstanden? Gleich morgen."
Es entstand ein Schweigen,
und ich sagte: "Das kann ich nicht machen."
Er zuckte die Achseln. "Mußt
vor dem Meister keine Angst haben, Junge. Der Kamerad, der vor dir
da war, hat das fünf Jahre lang so gemacht, und niemand hat es
gemerkt."
"Ich habe keine Angst vorm
Meister."
Der alte Karl sah mich
erstaunt an. "Warum willst du dann nicht?"
Ich sah ihm offen ins
Gesicht und sagte: "Das ist Sabotage."
Der alte Karl wurde
dunkelrot, und seine Augen blitzten vor Zorn. "Hör mal, Junge, du
bist hier nicht mehr beim Militär! Sabotage! Meine Fresse! Ich bin
ein guter Arbeiter, ich hab' noch nie Sabotage
getrieben."
Er blieb stehen, er konnte
nicht weitersprechen. Er preßte die Pfeife in der rechten Hand, und
seine Finger wurden ganz weiß. Nach einer Weile sah er mich an und
sagte leise: "Das ist keine Sabotage, Junge, das ist
Solidarität."
Ich erwiderte nichts darauf,
und er fuhr fort: "Überleg doch. Beim Militär gibt es Vorgesetzte
und Befehle und sonst nichts. Aber hier gibt es auch Kameraden. Und
wenn du nicht auf Kameraden Rücksicht nimmst, wirst du nie ein
Arbeiter werden."
Er drehte mir den Rücken zu
und ging davon. Ich kehrte zu Frau Lippmann zurück und traf
Schrader in seinem Zimmer beim Rasieren an. Schrader rasierte sich
immer abends. Beim Eintreten sah ich eine Halbliterflasche
Magermilch auf dem Tisch stehen, die man ihm in der Fabrik gegeben
hatte. Sie war noch halb voll. "Da", sagte Schrader, indem er sich
umdrehte und mit dem Rasiermesser darauf zeigte, "das ist für
dich."
Ich blickte auf die Flasche.
Die Milch sah bläulich aus, aber es war immerhin Milch. Ich wandte
den Kopf. "Nein, Schrader, danke."
Er drehte sich abermals zu
mir um. "Ich will keine mehr."
Ich nahm eine halbe
Zigarette aus der Tasche und brannte sie mir an. "Nein, Schrader,
das ist deine Milch. Das ist für dich Arznei."
"Hör mir bloß einer diesen
Idioten an!"
rief Schrader und hob sein
Rasiermesser gen Himmel. "
Wenn ich dir sage, daß ich
keine mehr will! Los, trink, Dummkopf!"
"Kommt nicht in
Frage."
Er brummte: "Verdammter bayrischer Dickschädel",
dann entblößte er seinen Oberkörper, beugte sich über das
Waschbecken und wusch sich unter vielem Prusten. Ich setzte mich
und rauchte weiter. Die Milchflasche stand vor mir. Nach einer
Weile setzte ich mich schräg zu ihr, um sie nicht mehr zu sehen.
"Was hat dir der alte Karl gesagt?"
fragte Schrader, während er
sich den Rücken mit dem Handtuch abtrocknete. Ich erzählte ihm
alles. Als ich zu Ende war, warf er den Kopf nach hinten, seine
wuchtige Kinnlade schob sich vor, und er fing an zu lachen. "Ach,
so ist das also!"
rief er. "In der
Malerwerkstatt stöhnen sie alle, daß der alte Karl ihnen zu viele
Schränke schickte. Und es war gar nicht der alte Karl, sondern du
warst's! Es war der kleine Rudolf!"
Er zog sein Hemd wieder an,
aber ohne es in die Hose zu stecken, und setzte sich. "Und du wirst
jetzt tun, was dir der alte Karl gesagt hat, nicht?"
"Kommt nicht in
Frage."
Er sah mich an, und die
schwarze Linie seiner Augenbrauen senkte sich auf die Augen
herunter . "Und warum kommt es nicht in Frage?"
"Ich werde dafür bezahlt,
diese Arbeit zu verrichten, und meine Pflicht ist es, sie gut zu
verrichten."
"Quatsch!"
sagte Schrader. "Du machst
sie gut, aber du wirst schlecht bezahlt. Bist du dir klar darüber,
daß sie wegen dir den alten Karl rausschmeißen
werden?"
Er trommelte mit den
Fingerspitzen auf den Tisch und fuhr fort: "Und es ist doch klar,
daß der alte Karl nicht zum Meister hingehen und sagen kann: 'Sehen
Sie, mit dem Burschen, der vor Rudolf da war, haben wir fünf Jahr
lang Beschiß gemacht, und so und so ist das zugegangen."' Er sah
mich an, und da ich nichts sagte, setzte er hinzu: "Er sitzt eklig
in der Klemme, der alte Karl. Wenn du ihm nicht hilfst, fliegt
er."
"Dafür kann ich
nichts."
Er rieb seine gebrochene
Nase mit dem Handrücken. "Und wenn er fliegt, werden die Kameraden
in der Fabrik dich schief ansehen."
"Dafür kann ich doch
nichts."
"Doch, du kannst was dafür
."
Es entstand ein Schweigen
und dann sagte ich: "Ich tu' meine Pflicht."
"Deine
Pflicht!"
schrie Schrader und sprang
auf, daß die Schöße seines Hemdes um ihn herumflogen.
"
Willst du wissen, wohin
deine Pflicht dich führt? Dazu, daß täglich fünf Schränke mehr
gemacht
werden, damit der alte Säcke mehr Geld in seine
Tasche kriegt, die schon zum Platzen voll sind. Hast du heute früh
den alten Säcke in seinem Mercedes kommen sehen? Mit seiner Fresse
wie ein rosa Ferkel und seinem Wanst! Da kannst du sicher sein, daß
der nicht auf einer Pritsche schläft. Und die Milch in seinem
Morgenkaffee ist auch keine Magermilch, bestimmt nicht. Ich will
dir sagen, was die Folge deiner verfluchten 'Pflicht' ist, Rudolf:
daß der alte Karl auf der Straße liegt und der alte Säcke mehr
verdient."
Ich wartete, bis er sich
etwas beruhigt hatte, und sagte: "Solche Erwägungen stelle ich
nicht an. Für mich ist die Frage klar. Man stellt mir eine Aufgabe,
und meine Pflicht ist es, sie gut und gründlich
auszuführen."
Schrader ging mit bestürzter
Miene ein paar Schritte im Zimmer hin und her, dann trat er wieder
an den Tisch. .Der alte Karl hat fünf Kinder."
Ein Schweigen entstand, und
ich sagte sehr schnell, schroff und ohne ihn anzusehen: "Das spielt
dabei keine Rolle."
"Zum
Donnerwetter!"
schrie Schrader und schlug
mit der Faust auf den Tisch. "Du bist widerlich."
Ich stand auf, verbarg meine
zitternden Hände in den Taschen und sagte: "Wenn ich dir widerlich
bin, kann ich ja gehen."
Schrader sah mich an, und
sein Zorn verebbte augenblicklich. "Wahrhaftig, Rudolf", sagte er
mit seiner gewöhnlichen Stimme, "manchmal frage ich mich, ob du
nicht verrückt bist."
Er steckte die Schöße seines
Hemdes in die Hose, ging zum Schrank und kam mit Brot, Schmalz und
Bier zurück. Er setzte alles auf den Tisch. "Zu Tisch! Zu
Tisch!"
sagte er mit gekünstelter
Heiterkeit. Ich setzte mich wieder. Er strich ein Brot und gab es
mir herüber . Dann machte er eins für sich und fing an zu essen.
Als er damit fertig war, goß er sich ein Glas Bier ein, brannte
sich eine halbe Zigarette an, klappte sein Messer zusammen und
steckte es in die Tasche. Er sah traurig und müde aus. "Tja", sagte
er nach einer Weile, "so ist das im Zivilleben. Du steckst im Dreck
bis an den Hals, und niemand ist da, der dir Befehle gibt. Niemand,
der dir sagt, was du tun sollst. Du mußt immer alles selber
entscheiden."
Ich dachte einen Augenblick
darüber nach und war der Meinung, daß er recht hätte. Als ich am
nächsten Morgen meine Arbeit wieder anfing, ging ich beim alten
Karl vorbei, er lächelte mir zu und sagte in herzlichem Ton: "Na,
Junge?"
Ich sagte ihm guten Tag und
begab mich an meine Werkbank. Meine Knie waren weich, und Schweiß
lief mir zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter. Ich
legte vier Türen auf einander. Die Halle fing an zu vibrieren vom
Gekreisch der Maschinen, die das Blech zerschnitten. Ich nahm
meinen kleinen Stahlbolzen, meinen Hammer und machte mich an die
Arbeit. Ich stieß zunächst auf schwierige Türbänder, ich verlor
etwas Zeit, und als ich die vier ersten Türen zu Karl brachte,
lächelte er mich wieder an und flüsterte mir zu: "So klappt es,
Junge!"
Ich wurde rot und antwortete
nicht. Die nächsten Türen waren gleichfalls schwierig, und ich
hoffte schon, daß an diesem und den folgenden Tagen alle so sein
würden und daß auf diese Weise kein Problem entstünde. Aber nach
einer Stunde gab es keine Schwierigkeiten mehr, die Türbänder waren
so weit, daß ich den Hammer nicht mehr zu benutzen brauchte, um den
Bolzen einzuführen. Ich fühlte, wie mir wieder Schweiß über den
Rücken lief. Ich zwang mich, das Denken auszuschalten. Nach ein
paar Minuten löste sich etwas in mir, und ich fing an, blindlings,
mit der Perfektion einer Maschine, draufloszuarbeiten. Nach Verlauf
einer Stunde stand jemand vor meiner Werkbank; ich blickte nicht
auf. Ich sah, wie eine Hand über meine Türen strich, die Hand hielt
eine kleine schwarze, ausgebrochene Pfeife, die Pfeife klopfte
zweimal hart auf das Metall, und ich hörte die Stimme des alten
Karl, der sagte: "Was fällt dir denn ein?"
Ich legte den Bolzen an die
Öffnung des Türbands, stieß zu, und er ging ohne Schwierigkeiten
hinein. Ich zog ihn sofort wieder heraus und legte ihn an das
zweite Türband. Auch da ging er leicht hinein. Ich zog ihn rasch
heraus, und immer, ohne aufzublicken, ließ ich eine Tür
hinuntergleiten und lehnte sie gegen den Pfeiler. Die Hand, in der
die Pfeife lag, war noch immer da. Sie zitterte leicht. Dann war
plötzlich nichts mehr da, und ich hörte Schritte, die sich
entfernten. Die Maschinen ließen die weite Halle vibrieren, ich
arbeitete unablässig, ich war tätig und innerlich unbeteiligt, ich
hatte kaum das Empfinden, dazusein. Der Karren der Malerwerkstatt
kam knarrend an, die Räder kreischten auf dem Zement, und ich hörte
den Fahrer wütend zu Karl sagen: "Was fällt dir denn ein? Hat dich
Säcke am Reingewinn beteiligt?"
Stille trat ein, ich hielt
die Augen gesenkt und sah nur, wie Karls Pfeife sich hob und auf
mich zeigte. Nach einer Weile knarrte der Karren von neuern, ein
Schatten glitt an meiner Werkbank vorbei, und die Stimme des
Meisters klang deutlich und barsch durch das Zittern der Maschinen:
"Ich verstehe das nicht! Was haben Sie denn? Schlafen
Sie?"
-"Bleiben Sie bloß zehn
Minuten bei mir", sagte die Stimme Karls, "und Sie werden sehen, ob
ich schlafe."
Wieder trat Stille ein, der
Schatten kam wieder an meiner Werkbank vorbei, und ich hörte den
alten Karl leise fluchen. Der Meister kam eine halbe Stunde später
noch einmal, aber diesmal konnte ich nicht verstehen, was er
sagte.
Nachher hatte ich eine ganze Weile den Eindruck,
daß die Augen des alten Karl mich nicht losließen. Ich warf ihm
einen raschen Blick zu. Es war nicht der Fall. Er drehte mir den
Rücken zu, sein Nacken war gerötet, sein Haar schweißverklebt, und
er arbeitete wie ein Verrückter. Es lehnten jetzt so viele Türen an
seinem Pfeiler, daß sie ihn in seinen Bewegungen behinderten. Die
Sirene kündete die Mittagspause an, die Maschinen blieben stehen,
und Stimmengewirr erfüllte die Halle. Ich ging mir die Hände
waschen, wartete auf Schrader und begab mich dann mit ihm zur
Kantine. Sein Gesicht war starr, und er sagte, ohne mich anzusehen:
"In der Malerwerkstatt sind sie wütend."
Als ich die Tür der Kantine
öffnete, hörten die lauten Unterhaltungen sofort auf, und ich
fühlte, daß alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ich sah niemanden
an, ging geradewegs auf einen Tisch zu, Schrader folgte mir, und
allmählich fingen die Unterhaltungen wieder an. Die Kantine war ein
großer, heller, sauberer Raum mit kleinen rotgestrichenen Tischen
und einem Strauß künstlicher Nelken auf jedem Tisch. Schrader
setzte sich neben mich, und nach einer Weile stand an einem
Nebentisch ein lang aufgeschossener, abgemagerter Arbeiter auf, den
ich "Zigarettenpapier"
hatte nennen hören, und
setzte sich uns gegenüber. Schrader hob den Kopf und sah ihn scharf
an. "Zigarettenpapier"
winkte leicht zum Gruß, und
ohne ein Wort zu sagen oder uns anzusehen, fing er an zu essen. Die
Kantinenwirtin kam mit Bechern und schenkte Tee ein. Mein Gegenüber
drehte den Oberkörper zu ihr um, und ich verstand jetzt, warum man
ihn "Zigarettenpapier"
nannte. Er war groß und
breit, aber wenn man seinen Körper von der Seite sah, hatte man den
Eindruck, daß es ihm an Dicke fehle. Ich aß und blickte über seinen
Kopf hinweg geradeaus. Mitten auf der ockerfarbenen Wand mir
gegenüber war ein großer rechteckiger Fleck in einem etwas
dunkleren Ocker, und auf den Fleck sah ich hin. Von Zeit zu Zeit
warf ich einen Blick zu Schrader . Er aß mit gesenktem Kopf, und
die schwarze Linie seiner Augenbrauen verdeckte seine Augen.
"Junge", sagte "Zigarettenpapier". Ich sah ihn an. Seine Augen
waren farblos. Er lächelte.
"Du arbeitest zum erstenmal in einer Fabrik?"
"Ja."
"Wo warst du denn
vorher?"
Aus seinem Ton ging hervor,
daß er es schon wußte. "Dragonerunteroffizier."
"Unteroffizier?"
sagte "Zigarettenpapier",
und pfiff durch die Zähne. Schrader hob den Kopf und sagte barsch:
"Ich auch."
"Zigarettenpapier"
lächelte und umspannte
seinen Becher mit beiden
Händen. Ich hob den Kopf und sah auf den großen
rechteckigen Fleck an der Wand. Ich hörte Schrader sein Messer
zusammenklappen, und an dem Stoß seines Ellenbogens gegen meine
Hüfte merkte ich, daß er es in die Tasche steckte. "Junge", sagte
"Zigarettenpapier", "der alte Karl ist ein guter Kamerad, und wir
hätten es nicht gern, wenn er rausgeschmissen würde."
Ich blickte ihn an. Sein
aufreizendes Lächeln erschien wieder, und plötzlich kam mich die
Lust an, ihm meinen Becher Tee ins Gesicht zu gießen. "Und wenn er
rausgeschmissen wird", sagte "Zigarettenpapier", ohne sein Lächeln
aufzugeben, "bist du dran schuld."
Ich sah auf den rechteckigen
Fleck an der Wand, stellte fest, daß dort früher ein Bild gehangen
hatte, und fragte mich, warum man es wohl weggenommen hatte.
Schrader stieß mich mit dem Ellenbogen an und ich hörte mich
antworten: "Und?"
"Das ist ganz einfach",
sagte "Zigarettenpapier", "du machst, was der alte Karl gesagt
hat."
Schrader spielte auf dem
Tisch mit den Fingerspitzen Klavier, und ich sagte:
"Nein."
Schrader hörte auf, Klavier
zu spielen, und legte beide Hände flach auf den Tisch. Ich sah
"Zigarettenpapier"
nicht an, aber ich fühlte,
daß er lächelte. "Schweinehund", sagte er leise. Und plötzlich
begriff ich: Es war kein Gemälde gewesen, das man von der Wand
abgenommen hatte. Es war das Bild des Kaisers gewesen. In der
nächsten Sekunde gab es ein klatschendes Geräusch, und im Saal
entstand Totenstille. Schrader stand auf und packte mich am Arm.
"Du bist verrückt!"
schrie er.
"Zigarettenpapier"
stand da und wischte sich
mit dem Ärmel das Gesicht ab. Ich hatte ihm meinen Becher Tee ins
Gesicht gegossen. Er sah mich an, seine Augen funkelten, er stand
von seinem Stuhl auf und kam auf mich zu. Ich rührte mich nicht.
Schraders Arm bewegte sich zweimal nacheinander blitzartig an mir
vorbei, zwei dumpfe Schläge waren zu hören, und
"Zigarettenpapier"
wälzte sich auf dem Boden.
Alle standen auf, ein grollendes Gemurr erhob sich, und mir war,
als ob der ganze Saal über uns zusammenschlüge. Ich sah, wie
Schraders Hände sich um seinen Stuhl krampften. Die Stimme des
alten Karl rief: "Laßt sie rausgehen!"
Und mit einemmal öffnete
sich für uns ein Weg zur Tür hin. Schrader nahm mich beim Arm und
zog mich mit sich fort. Schrader ging in den Waschraum, um sich die
Hände zu waschen. Seine Fingergelenke bluteten. Ich brannte mir
einen
Zigarettenstummel an. Als Schrader fertig war,
hielt ich ihm den Stummel hin. Er tat ein paar Züge und gab ihn mir
wieder. Die Fabriksirene ertönte, aber wir warteten noch ein paar
Minuten, ehe wir hinausgingen. Schrader machte einen Umweg, um mich
in die Halle zu bringen. Ich stieß die Tür auf und blieb bestürzt
stehen. Die Halle war völlig leer. Schrader sah mich an und
schüttelte den Kopf. Ich ging an meinen Platz, und nach einem
Weilchen verließ mich Schrader. Ich legte vier Türen auf meine
Werkbank und fing an, die Türbänder zu weiten. Dann trug ich immer
zwei Türen auf einmal an den Pfeiler des alten Karl. Ich sah auf
meine Uhr. Die Sirene war vor zehn Minuten ertönt. Die riesige
Halle war leer. Die Glastür im Hintergrund öffnete sich, der
Meister steckte den Kopf herein und rief: "Zur Direktion!"
Ich legte den kleinen
Stahlbolzen und den Hammer auf die Werkbank und ging. An der Tür
zur Direktion traf ich Schrader. Er schob mich vor sich her, und
ich öffnete die Tür. Ein kleiner Büroangestellter mit einem
Rattengesicht stand hinter einem Zahltisch. Er sah uns an, als wir
kamen, und rieb sich die Hände. "Sie sind entlassen!"
sagte er leicht lächelnd.
"Warum?"
fragte Schrader.
"
Tätlichkeiten gegen einen
Kameraden."
Schraders Brauen senkten
sich über seine Augen. "So schnell!"
"Der
Arbeiterrat!"
sagte das Rattengesicht
grinsend. "Sofortige Entlassung oder Streik."
"Und Säcke hat
nachgegeben?"
"Ja, ja, Herr Säcke hat
nachgegeben."
Er legte zwei Umschläge auf
den Tisch. "Da ist die Abrechnung. Anderthalb Tage."
Dann wiederholte er: "Ja,
ja, Herr Säcke hat nachgegeben."
Er blickte sich um und sagte
dann leise: "Du glaubst wohl, wir sind noch in der guten alten
Zeit?"
Dann fuhr er im gleichen Ton
fort: "Da hat also ,Zigarettenpapier' eins in die Fresse
gekriegt?"
"Zwei", sagte Schrader. Das
Rattengesicht blickte sich wieder um und flüsterte: "Da ist dem
Schweinehund von Spartakisten recht geschehen."
Und er blinzelte Schrader
zu. "Wir sitzen im Dreck", sagte er. "So weit haben wir es
gebracht. Im dicksten Dreck!"
"Da hast du recht", sagte
Schrader . "Aber warte nur", sagte das Rattengesicht und blinzelte
von neuem, "nicht immer werden diese Herren oben und wir unten
sein."
"Heil!"
sagte Schrader.
Auf der Straße empfing uns derselbe leichte,
eisige Regen, der schon seit acht Tagen fiel. Schweigend gingen wir
ein paar Schritte, dann sagte ich: "Du hättest nicht
dazwischentreten müssen."
"Laß doch", sagte Schrader.
Er rieb sich mit dem Handrücken seine gebrochene Nase. "Meiner
Meinung nach ist es viel besser so."
Wir kamen in sein Zimmer.
Nach einem Weilchen hörten wir auf dem Korridor den Schritt der
Frau Lippmann. Schrader ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Zuerst hörte man Lachen, knallende Geräusche und das bekannte
Girren. Dann steigerte sich die Stimme der Frau Lippmann. Es war
kein Girren mehr. Sie war kreischend und schneidend. "Nein! Nein!
Nein! Das habe ich satt. Wenn ihr nicht innerhalb von acht Tagen
Arbeit findet, muß dein Freund gehen."
Ich hörte Schrader fluchen,
und dann steigerte er seinerseits seine tiefe Stimme: "Dann gehe
ich auch!"
Darauf wurde es still. Frau
Lippmann sprach lange und leise; dann brach sie plötzlich in ein
hysterisches Lachen aus und rief mit gellender Stimme: "Also gut!
Abgemacht, Herr Schrader, Sie ziehen aus!"
Schrader kam ins Zimmer
zurück und knallte die Tür zu. Er war rot im Gesicht, und seine
Augen funkelten vor Zorn. Er setzte sich aufs Bett und sah mich an.
"Weißt du, was die verdammte Hexe zu mir gesagt hat?"
"Ich hab' es
gehört."
Er stand auf. "Dieses
Luder!"
sagte er mit erhobenen
Armen. "Dieses Luder! Nicht einmal ihr Bauch ist
dankbar."
Dieser Scherz schockierte
mich, und ich fühlte, daß ich errötete. Schrader sah mich von der
Seite an, sein Gesicht hellte sich wieder auf, er zog sein Hemd
aus, nahm seinen Rasierpinsel und begann, sich unter Pfeifen die
Backen einzuseifen. Dann nahm er sein Rasiermesser und hielt seinen
Ellenbogen genau in Höhe der Schultern. Er hörte auf zu pfeifen,
und ich vernahm das beharrliche Kratzen der Klinge auf der Haut.
Nach einer Minute drehte er sich um, mit hocherhobenem Pinsel. Sein
Gesicht, mit Ausnahme der Nase und Augen, war ein einziger weißer
Schaum, und er sagte: "Sag mal, du scheinst dich nicht viel um
Frauen zu kümmern?"
Darauf war ich nicht gefaßt,
und ich sagte, ohne zu überlegen: "Nein."
Sofort aber dachte ich
ängstlich: 'Jetzt wird er mich sicher ausfragen.'
"Warum?"
sagte Schrader. Ich blickte
weg. "Ich weiß nicht."
Er fing von neuem an, den
Schaum auf seinem Gesicht zu verteilen. "Ja, ja", sagte er, "aber
du hast es trotzdem versucht, nicht wahr?"
"Ja, einmal, in Damaskus."
"Und?"
Da ich nicht antwortete,
fing er wieder an: "
Wie sitzt du denn da auf
deinem Stuhl! Wie ein toter Hering! Und siehst ins Leere! Antworte
doch! Erzähle doch von dem einen Mal! Hat es dir Spaß gemacht, ja
oder nein?"
"Ja."
"Na also."
Ich gab mir einen Ruck und
sagte: "Es hat mich nicht zur Wiederholung veranlaßt."
Er erstarrte, den
Rasierpinsel in der Hand. "Weshalb denn nicht? War sie
unsympathisch?"
,,O nein."
"Hatte sie einen Geruch an
sich?"
"Nein."
"So sprich doch! War sie
vielleicht nicht hübsch?"
"Doch. ..ich
glaube."
"Du glaubst!"
sagte Schrader lachend. Dann
fuhr er fort: "Was ist denn schiefgegangen?"
Ein Schweigen trat ein, dann
wiederholte er: "Los, sprich doch!"
"Na ja", sagte ich verlegen,
"ich mußte mit ihr die ganze Zeit reden. Ich fand das
ermüdend."
Schrader sah mich an, machte
ganz große Augen, sperrte den Mund auf und brach in ein Gelächter
aus. "Herrgott!"
sagte er. "Du bist doch ein
komischer kleiner Hering, Rudolf."
In mir flammte plötzlich
Zorn auf, und ich sagte: "Schweig!"
"Ach, du bist komisch,
Rudolf", rief Schrader, noch lauter lachend, "und soll ich dir was
sagen, Rudolf? Ich frage mich, ob du nicht besser getan hättest,
trotz allem Priester zu werden."
Ich schlug mit der Faust auf
den Tisch und heulte auf: "Schweig!"
Nach einer Weile drehte sich
Schrader um, sein rechter Ellenbogen hob sich langsam, und durch
die Stille erklang wieder das leise Kratzen.
Frau Lippmann brauchte nicht die acht Tage
abzuwarten, die sie uns Aufschub gewährt hatte. Zwei Tage nach
unserer Entlassung stürmte Schrader ins Zimmer und schrie wie ein
Verrückter: "Los, Mensch, los! Es werden Freiwillige für die
Freikorps gesucht!"
Drei Tage später verließen
wir H., neu eingekleidet und mit Waffen ausgerüstet Frau Lippmann
weinte sehr. Sie begleitete uns auf den. Bahnhof, sie schwenkte auf
dem Bahnsteig ihr Taschentuch, und Schrader, der hinter dem Fenster
des Abteils stand, sagte zwischen den Zähnen: "Sie war verrückt,
aber sie war nicht übel."
Ich saß auf der Bank, der
Zug ruckte an, ich betrachtete meine Uniform und hatte das Gefühl,
daß ich wieder zu leben anfing.
Man wies uns an den Grenzschutz in W ., zur
Abteilung Roßbach. Oberleutnant Roßbach gefiel uns. Er war hoch
aufgeschossen, sein aschblondes Haar lichtete sich auf der Stirn
schon etwas. Er hielt sich steif, wie andere Offiziere, aber
zugleich lag in seinen Bewegungen eine gewisse Anmut. Er verzehrte
sich vor Ungeduld, und wir auch. In W. war nichts zu tun. Man
wartete auf Befehle, und die Befehle kamen nicht. Von Zeit zu Zeit
hörte man, was in Lettland vorging, und man beneidete die deutschen
Freikorps, die gegen die Bolschewisten kämpften. Gegen Ende Mai
erfuhr man, daß sie Riga eingenommen hatten, und zum erstenmal
hörte man von Leutnant Albert Leo Schlageter, der an der Spitze
einer Handvoll Männer als erster in die Stadt eingedrungen war .
Die Einnahme von Riga war die letzte große Tat der "Baltikumer".
Bald kamen die ersten Schlappen, und Roßbach erklärte uns das
falsche Spiel Englands. Solange die Bolschewisten die baltischen
Provinzen besetzt hielten, hatte es trotz des Waffenstillstands die
Augen vor der Anwesenheit deutscher Truppen in Lettland
verschlossen. Und die "Herren im Gehrock"
in der deutschen Republik
verschlossen sie auch. Als aber einmal die Bolschewisten geschlagen
waren, merkte England "mit Erstaunen", daß die
"Baltikumer"
im Grunde eine flagrante
Verletzung des Waffenstillstands darstellten. Unter seinem Druck
rief die deutsche Republik die "Baltikumer"
zurück. Aber die kamen
nicht. Merkwürdig, sie verwandelten sich in ein Korps
weißrussischer Freiwilliger. Es schien sogar, daß sie anfingen,
russisch zu singen. Ein Gelächter brach los, und Schrader klatschte
sich auf die Schenkel. Kurz darauf erfuhren wir mit Bestürzung, daß
die "Herren im Gehrock"
den Vertrag von Versailles
unterzeichnet hatten. Aber Roßbach berührte dies mit keinem Wort.
Die Nachricht schien ihn überhaupt nicht zu betreffen. Er sagte
nur, das wahre Deutschland wäre nicht in Weimar, sondern überall,
Wo deutsche Männer weiterkämpften. Leider wurden die Nachrichten
über die "Baltikumer"
immer schlimmer. England
hatte die Litauer und Letten gegen sie bewaffnet. Sein Gold floß in
Strömen, seine Flotte ankerte vor Riga und hißte die lettische
Flagge, um auf unsere Truppen schießen zu können. Gegen Mitte
November sagte uns Roßbach, daß die "Baltikumer"
uns die Ehre erwiesen, uns
zu Hilfe zu rufen. Dann machte er eine Pause und fragte uns, ob es
uns gleichgültig wäre, von den "Herren im Gehrock"
als Rebellen angesehen zu
werden. Wir lächelten, und Roßbach sagte, er zwänge keinen und
diejenigen, die es wollten, könnten zurückbleiben. Niemand muckste
sich, Roßbach sah uns an, und seine blauen Augen strahlten vor
Stolz.
Wir setzten uns in Marsch, und die deutsche
Regierung sandte eine Abteilung des Heeres, um uns aufzuhalten.
Aber die Abteilung war schlecht ausgesucht worden; sie vereinigte
sich mit uns. Kurze Zeit später fand das erste Treffen statt.
Litauische Truppen stellten sich uns entgegen. In weniger als einer
Stunde waren sie weggefegt. Am Abend lagerten wir auf litauischem
Boden und sangen: "Wir sind die letzten deutschen Männer, die am
Feind geblieben sind."
Das war das Lied der
"Baltikumer". Wir kannten den Text schon seit mehreren Monaten.
Aber an diesem Abend fühlten wir zum erstenmal, daß wir das Recht
hatten, es zu singen. Einige Tage später bahnte sich die Abteilung
Roßbach einen Weg durch die lettischen Truppen und befreite die in
Thorensberg eingeschlossene deutsche Besatzung. Aber gleich darauf
begann der Rückzug. Schnee fiel unaufhörlich auf die Steppen und
Sümpfe Kurlands, es wehte ein eisiger Wind, wir kämpften Tag und
Nacht, und ich weiß nicht, was Leutnant von Ritterbach gedacht
haben würde, wenn er gesehen hätte, daß wir die Letten genauso
behandelten, wie die Türken die Araber behandelt hatten. Wir
zündeten Dörfer an, wir plünderten Gutshöfe, wir fällten Bäume, wir
machten keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten,
zwischen Männern und Frauen, zwischen Erwachsenen und Kindern.
Alles, was lettisch war, war dem Tode geweiht. Wenn man einen
Gutshof eingenommen und seine Bewohner niedergemetzelt hatte, warf
man die Leichen in den Brunnen und ein paar Handgranaten darauf; am
Abend schaffte man dann alle Möbel auf den Hof und machte damit ein
Freudenfeuer; die Flammen stiegen hoch und hell über dem Schnee
empor. Schrader sagte leise zu mir: "Das mag ich gar nicht", ich
antwortete nichts, ich sah zu, wie die Möbel sich schwärzten und in
den Flammen zusammenschrumpften, und ich hatte das Gefühl, daß die
Dinge sehr wirklich waren, da man sie zerstören konnte. Die
Abteilung Roßbach war zusammengeschmolzen, wir gingen immer weiter
zurück. Bei Mitau, Anfang November, fand in einem Wald ein blutiger
Kampf statt, dann hörten die Letten auf, uns zuzusetzen, es
herrschte eine kurze Zeit Ruhe, kaum daß noch ein paar Kugeln
pfiffen. Schrader stand auf und lehnte sich an eine Tanne. Er
lächelte müde, schob seinen Helm nach hinten und sagte: "Herrgott!
Das bißchen Leben gefällt mir doch."
In demselben Augenblick
beugte er sich leicht vornüber, sah mich überrascht an, ging
langsam in die Knie, senkte verlegen die Augen und brach zusammen.
Ich kniete bei ihm nieder und legte ihn auf den Rücken. Er hatte
ein winzig kleines Loch in der linken Brust und kaum ein paar
Tropfen Blut auf seiner Bluse.
Darauf kam der Befehl zum Angriff, wir stießen
vor, das Gefecht dauerte den ganzen Tag, dann zogen wir uns zurück,
und am Abend lagerten wir wieder im Wald. Kameraden, die
zurückgeblieben waren, um die Stellung vorzubereiten, teilten mir
mit, daß sie Schrader begraben hätten. Die Leiche war gefroren, und
da sie die Beine nicht hatten biegen können, hatten sie ihn im
Sitzen begraben. Sie übergaben mir seine Erkennungsmarke. Kalt und
glänzend lag sie in meiner hohlen Hand. An den folgenden Tagen,
während wir zurückgingen, dachte ich viel an Schrader. Ich sah ihn
unbeweglich unter der Erde sitzen. Und manchmal sah ich ihn im
Traum, wie er verzweifelt versuchte, sich aufzurichten und die
harte, eiskalte Erde über seinem Kopf zu sprengen. Trotzdem litt
ich nicht sehr darunter, ihn nicht mehr an meiner Seite zu sehen.
Die "Baltikumer"
kehrten in kleinen
Tagemärschen nach Ostpreußen zurück. Die deutsche Republik wollte
uns verzeihen, daß wir für Deutschland gekämpft hatten. Sie
schickte uns nach S. in Garnison. Und es war wieder dasselbe wie in
W. Wir hatten nichts zu tun. Man wartete. Schließlich brach, wie
zur Belohnung, der Tag des Kampfes an. Die Bergarbeiter an der
Ruhr, von Juden und Spartakisten aufgehetzt, traten in den Streik,
der Streik wurde zum Aufruhr, und man schickte uns hin, ihn zu
unterdrücken. Die Spartakisten waren ziemlich gut mit leichten
Waffen ausgerüstet, sie kämpften tapfer und waren Meister im
Straßenkampf. Aber der Kampf war für sie hoffnungslos, wir besaßen
Kanonen und Minenwerfer, sie wurden unerbittlich
zusammengeschlagen; jeder, der eine rote Armbinde trug, wurde
unverzüglich erschossen. Es kam nicht selten vor, daß wir unter den
gefangenen Spartakisten ehemalige Kameraden aus den Freikorps
entdeckten, die durch die jüdische Propaganda irregeführt worden
waren. Ende April traf ich in Düsseldorf unter einem Dutzend roter
Arbeiter, die ich zu bewachen hatte, einen gewissen Henckel wieder,
der in Thorensberg und in Mitau an meiner Seite gekämpft hatte. Er
lehnte mit seinen Kameraden an einer Mauer, der Verband, den er um
den Kopf trug, war blutbefleckt, und er sah sehr bleich aus. Ich
sprach ihn nicht an, und es war mir unmöglich zu sehen, ob er mich
erkannt hatte. Der Leutnant kam auf seinem Motorrad an, sprang ab
und überflog die Gruppe mit einem Blick, ohne sich ihr zu nähern.
Die Arbeiter saßen längs einer Mauer, regungslos, schweigend, die
Hände auf den Knien. Nur ihre Augen zeigten Leben. Sie waren auf
den Leutnant gerichtet. Ich eilte herbei und bat um Befehle. Der
Leutnant preßte die Lippen zusammen und sagte: "Wie
gewöhnlich."
Ich teilte ihm mit, daß ein
ehemaliger "Baltikumer"
dabei sei. Er fluchte
zwischen den Zähnen und verlangte, ich solle ihn ihm bezeichnen.
Ich wollte auf Henckel nicht mit der Hand zeigen und sagte: "Der
mit dem Kopfverband."
Der Leutnant sah ihn an und rief leise: "Das ist
doch Henckel!"
Nach einer Weile schüttelte
er den Kopf und sagte rasch: "
Wie schade! Ein so guter
Soldat!"
Dann bestieg er sein
Motorrad, ließ den Motor aufbrummen und fuhr los. Die Arbeiter
sahen ihm nach. Als er um die Ecke der Straße verschwunden war,
standen sie auf, sogar ohne meinen Befehl abzuwarten. Ich stellte
zwei Mann an die Spitze der Kolonne, einen auf jede Seite, und ich
selbst beschloß den Zug. Henckel ging allein im letzten Glied,
gerade vor mir. Ich gab ein Kommando, die Kolonne setzte sich in
Bewegung. Ein paar Meter marschierten die Arbeiter mechanisch im
Gleichschritt, dann sah ich einige von ihnen fast zur gleichen Zeit
den Schritt wechseln, der Marschrhythmus war zum Teufel, und ich
begriff, daß sie es absichtlich getan hatten. Der rechte
Begleitmann drehte im Marschieren den Oberkörper herum und fragte
mich mit einem Blick. Ich zuckte die Achseln. Der Mann lächelte,
zuckte seinerseits die Achseln und drehte sich wieder um. Henckel
hatte sich etwas zurückfallen lassen. Er marschierte jetzt rechts
neben mir auf gleicher Höhe. Er war sehr bleich und blickte vor
sich hin. Dann hörte ich jemanden ganz leise summen. Ich wandte den
Kopf, Henckels Lippen bewegten sich, ich näherte mich etwas, er
warf mir einen raschen Blick zu, seine Lippen bewegten sich von
neuem, und ich hörte: "Wir sind die letzten deutschen Männer, die
am Feind geblieben sind."
Ich fühlte, daß er mich
anblickte, und nahm wieder Abstand. Nach ein paar Metern sah ich
von der Seite, wie Henckel nervös das Gesicht hob, es immer mehr
nach rechts drehte und nach vorn blickte. Ich blickte in dieselbe
Richtung, aber es war nichts zu sehen als eine kleine Straße, die
in unsere mündete. Henckel ließ sich immer weiter zurückfallen, er
war jetzt hinter mir und summte: "Wir sind die letzten deutschen
Männer, die am Feind geblieben sind", mit leiser, bittender Stimme,
aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn anzusprechen, um ihm
zu sagen, er solle schneller gehen und still sein. In diesem
Augenblick kam links von mir mit lautem Geklapper eine Straßenbahn
vorbei, mechanisch drehte ich den Kopf hin, und im selben
Augenblick hörte ich von rechts das Geräusch des Laufschritts, ich
drehte mich um: Henckel lief davon. Er hatte schon fast die Ecke
der kleinen Straße erreicht, als ich mein Gewehr hochriß und schoß:
Er drehte sich zweimal um sich selbst und fiel auf den Rücken. Ich
rief "Halt!", die Kolonne blieb stehen, ich eilte zu Henckel hin,
ein Beben lief durch seinen Körper, er sah mich starr an. Ohne
anzulegen, schoß ich aus weniger als einem Meter Entfernung noch
einmal, ich zielte auf den Kopf, die Kugel schlug auf den
Bürgersteig. Zwei Meter von mir entfernt kam aus einem Haus eine
Frau. Sie. blieb wie angenagelt mit verstörtem Blick auf der
Schwelle stehen.
Ich schoß noch zweimal ohne Erfolg. Schweiß lief
mir den Hals herunter, meine Hände zitterten, Henckel starrte mich
an. Schließlich setzte ich die Mündung der Waffe an seinen Verband,
sagte leise: "Verzeihung, Kamerad!"
und drückte ab. Ich hörte
einen gellenden Schrei, ich wandte den Kopf, die Frau hielt ihre
schwarzbehandschuhten Hände vor die Augen und schrie wie eine
Verrückte. Nach den Kämpfen an der Ruhr schlug ich mich noch in
Oberschlesien mit den polnischen Aufständischen herum, die,
insgeheim von der Entente unterstützt, Deutschland die Gebiete zu
entreißen suchten, welche die Volksabstimmung ihm gelassen hatte.
Die Freikorps warfen die Sokols siegreich zurück, und die neue, von
der Interalliierten Kommission aufgestellte Demarkationslinie
bestätigte den Raumgewinn unserer Truppen. "Die letzten deutschen
Männer"
hatten nicht umsonst
gekämpft. Doch kurz darauf erfuhren wir, daß die deutsche Republik
zum Dank dafür, daß wir die Ostgrenzen verteidigt, einen
Spartakistenaufstand unterdrückt und Deutschland zwei Drittel von
Oberschlesien erhalten hatten, uns auf die Straße warf. Die
Freikorps wurden aufgelöst; Widerspenstige wurden verhaftet und mit
Gefängnis bedroht. Ich kehrte nach H. zurück, wurde dort entlassen
und erhielt meine Zivilkleider und den Mantel des Onkel Franz
zurück. Ich suchte Frau Lippmann auf und teilte ihr den Tod
Schraders mit. Sie schluchzte sehr und behielt mich zum Übernachten
da. Aber an den folgenden Tagen gewöhnte sie sich an, jeden
Augenblick in mein Zimmer zu kommen und mit mir von Schrader zu
reden. Wenn sie am Ende war, wischte sie ihre Tränen ab, blieb noch
eine Weile, ohne etwas zu sagen, brach dann plötzlich in ein
girrendes Gelächter aus und begann mich zu necken. Schließlich
behauptete sie, stärker zu sein als ich, und daß sie bei einem
Ringkampf mich mit beiden Schultern auf den Boden legen könnte. Da
ich die Herausforderung nicht annahm, faßte sie mich um den Leib,
ich kämpfte, um mich von ihr frei zu machen, sie drückte fester,
wir wälzten uns auf dem Fußboden, ihr Atem wurde schwer, ihr Busen
und ihre Schenkel preßten sich an meinen Körper; es ekelte mich an
und machte mir gleichzeitig Vergnügen. Endlich gelang es mir, mich
frei zu machen, sie stand auch auf, rot und schwitzend, warf mir
einen bösen Blick zu, beschimpfte mich, und manchmal versuchte sie
sogar, mich zu schlagen. Nach einer Weile geriet ich dann in Zorn,
ich schlug zurück, sie klammerte sich an mich, ihr Atem ging immer
schneller, sie keuchte, und alles begann wieder von neuem. Eines
Abends brachte sie eine Flasche Schnaps und Bier mit. Ich war den
ganzen Tag herumgelaufen, um Arbeit zu suchen, ich war traurig und
müde. Frau Lippmann holte Fleisch; nach jedem Bissen goß sie mir
Bier und Schnaps ein, sie trank mit, und als wir mit Essen fertig
waren, fing sie an, von Schrader zu sprechen, zu weinen und Schnaps
zu trinken. Gleich darauf schlug sie mir vor, mit ihr zu ringen,
sie faßte mich um den Leib und wälzte sich mit mir auf dem Boden
herum. Ich forderte sie auf, mein Zimmer zu verlassen. Sie fing an,
wie verrückt zu lachen, es wäre ihre Wohnung, und sie würde mir
zeigen, ob ich ihr etwas zu sagen hätte. Daraufhin ging das Gebalge
wieder los. Dann trank sie wieder Schnaps, füllte auch mein Glas,
weinte, sprach von ihrem verstorbenen Mann, von Schrader, von einem
anderen Mieter, den sie vor ihm gehabt hätte. Sie sagte immer
wieder, Deutschland sei kaputt, alles wäre kaputt, auch die
Religion wäre kaputt, es gäbe keine Moral mehr, und die Mark sei
nichts mehr wert. Was sie betreffe, so wäre sie mir gut, aber ich
hätte überhaupt kein Herz, ich wäre, wie Schrader sagte, ein "toter
Hering", er hätte recht gehabt, ich liebte nichts und niemanden,
und am nächsten Tag werde sie mich ganz bestimmt hinauswerfen.
Darauf traten ihr die Augen aus dem Kopf, und sie schrie: "Raus,
mein Herr, raus!"
Dann stürzte sie auf mich
los, um mich zu schlagen, sie kratzte und biß. Wir wälzten uns noch
einmal auf dem Boden, und sie preßte mich an sich, daß ich fast
erstickte. Es drehte sich mir im Kopf, mir war, als kämpfte ich
schon stundenlang mit dieser Furie, es war wie ein Alpdruck, ich
wußte nicht mehr, wo ich war, noch wer ich war. Schließlich packte
mich ein rasender Zorn, ich warf mich auf sie, schlug auf sie ein
und nahm sie. Am nächsten Morgen verließ ich in der Dämmerung das
Haus wie ein Dieb und sprang in den Zug nach M.