1918

In Deutschland wurde unsere Abteilung von Ort zu Ort geschickt, ohne daß jemand wußte, wer uns zu betreuen hätte, und der Unteroffizier Schrader sagte zu mir: "
Von uns will niemand mehr etwas wissen. Wir sind eine verlorene Abteilung."
Endlich erreichten wir unsern Ausgangspunkt, die kleine Stadt B. Dort beeilte man sich, uns zu demobilisieren, um uns nicht weiterverpflegen zu müssen; man gab uns die Zivilkleider zurück, etwas Geld und einen Fahrschein, damit wir nach Hause zurückkehren konnten. Ich nahm den Zug nach H. Im Abteil kam ich mir in meiner Windjacke und der Hose, die mir jetzt viel zu kurz war, lächerlich vor, und ich ging auf den Gang hinaus. Gleich darauf sah ich von hinten einen großen, mageren, braunen Burschen mit kahlem Schädel, dessen breite Schultern eine abgetragene Jacke zu sprengen drohten. Er drehte sich um; es war Schrader. Er sah mich an, rieb sich seine zerbrochene Nase mit dem Handrücken und brach in ein Gelächter aus. "Du bist es? Wie bist du denn angezogen? Du hast dich wohl als kleiner Junge verkleidet?"
"Du auch."
Er warf einen Blick auf seinen Anzug. "Ich auch."
Seine schwarzen Augenbrauen senkten sich wie ein einziger dicker Strich über seine Augen, er blickte mich einen Augenblick lang an, und sein Gesicht wurde traurig. "
Wir sehen wie zwei magere Clowns aus."
Er trommelte an das Wagenfenster und fuhr fort: "
Wo willst du hin?"
"Nach H."
Er pfiff. "Ich auch. Wohnen deine Eltern dort?"
Die sind tot, aber meine Schwestern und mein Vormund leben da."
"Und was willst du nun machen?"
"Ich weiß nicht."
Er trommelte wieder an die Scheibe, ohne etwas zu sagen. Dann holte er eine Zigarette aus der Tasche, brach sie entzwei und gab die eine Hälfte mir . "Siehst du", sagte er bitter, "man ist hier überflüssig. Man hätte nicht zurückkehren sollen."
Nach einem Schweigen sagte er: "Zum Beispiel da drin sitzt eine kleine Blonde."
Er zeigte mit dem Daumen nach seinem Abteil. "Ein hübsches kleines Ding. Mir gerade gegenüber. Die sah mich an, als ob ich Dreck wäre!"

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Es ist alles Dreck! Das Eiserne Kreuz und alles! Alles ist Dreck!"
Er setzte hinzu: "Deshalb bin ich rausgegangen."
Er tat einen Zug, bog seinen Kopf zu mir herunter und sagte: "
Weißt du, was in Berlin die Zivilisten mit den Offizieren machen, die in Uniform auf der Straße herumlaufen?"
Er blickte mich an und sagte mit verhaltener Wut: "Sie reißen ihnen die Schulterstücke herunter."
Ich fühlte einen Kloß in meinerKehle und sagte: "Bist du sicher?"
Er schüttelte den Kopf, und wir standen eine Weile schweigend da. Dann begann er von neuem : "Also was willst du jetzt machen ?"
.Ich weiß nicht."
Er erwiderte: "Was kannst du denn?"
Ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen, sagte er grinsend: "Streng dich nicht an; ich will für dich antworten: Nichts. Und ich, was kann ich denn? Nichts. Wir können kämpfen, aber es scheint, daß man nicht mehr zu kämpfen braucht. Soll ich dir sagen, was wir sind? Wir sind Arbeitslose."
Er fluchte. "Aber um so besser. Herrgott, ich will lieber mein ganzes Leben lang Arbeitsloser sein als für ihre verdammte Republik arbeiten."
Er legte seine großen Hände auf den Rücken und sah zu, wie die Landschaft vorüberflog. Nach einer Weile zog er ein Stückchen Papier und einen Bleistift aus der Tasche, legte es gegen die Scheibe, kritzelte ein paar Zeilen darauf und hielt mir das Papier hin. "Da, das ist meine Adresse. Wenn du nicht weißt, wohin, brauchst du nur zu mir zu kommen. Ich habe nur ein Zimmer, aber in meiner Bude ist für einen alten Kameraden von der Abteilung Günther immer Platz."
"Bist du sicher, dein Zimmer frei vorzufinden?"
Er fing an zu lachen. "Was das angeht, ja!"
Dann setzte er hinzu: "Meine Wirtin ist eine Witwe."
In H. ging ich sofort zu Onkel Franz. Es war finster, ein feiner Regen fiel, ich hatte keinen Mantel und war vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt. Die Frau von Onkel Franz öffnete. "Ach, du bist es", sagte sie, als ob sie mich erst am Tag vorher gesehen hätte, "komm doch herein."
Sie war eine große, dürre, verdrießlich aussehende Frau mit einem Anflug von Schnurrbart und schwarzen Haaren auf den Wangen. Unter der Lampe im Vorsaal erschien sie mir sehr gealtert. "Deine Schwestern sind da."
Ich sagte: "Und Onkel Franz?"

Sie sah mich von oben herab an und sagte trocken: "In Frankreich gefallen."
Dann setzte sie hinzu: "Nimm hier die Überschuhe. Du machst alles schmutzig."
Sie ging voraus und öffnete die Küchentür. Zwei junge Mädchen saßen da und nähten. Ich wußte, daß es meine Schwestern waren, aber ich hätte sie schwerlich wiedererkannt. "Komm doch herein", sagte meine Tante. Die beiden jungen Mädchen standen auf und sahen mich unbeweglich an. "Das ist euer Bruder Rudolf", sagte meine Tante. Sie kamen näher und drückten mir nacheinander die Hand, ohne ein Wort zu sagen; dann setzten sie sich wieder. "Na, setz dich doch, das kostet nichts", sagte die Tante. Ich setzte mich und betrachtete meine Schwestern. Sie waren sich immer etwas ähnlich gewesen, aber jetzt konnte ich sie überhaupt nicht mehr unterscheiden. Sie hatten wieder zu nähen angefangen und warfen mir von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zu. "Hast du Hunger?"
fragte die Tante. Ihre Stimme klang falsch, und ich sagte: "Nein, Tante."
"
Wir haben schon gegessen, aber wenn du Hunger gehabt hättest. .."
"Danke, Tante."
Es entstand ein neues Schweigen, dann sagte Tante: "Wie schlecht du angezogen bist, Rudolf."
Meine Schwestern hoben die Köpfe und sahen mich an. "Das ist die Windjacke, in der ich fortgegangen bin."
Daraufhin schüttelte die Tante vorwurfsvoll den Kopf und nahm ihre Arbeit wieder auf. Ich fügte hinzu: "Sie haben uns die Uniform nicht lassen wollen, weil es die Kolonialausrüstung war."
Von neuem trat ein Schweigen ein. Tante sagte: "Da bist du nun also."
"Ja, Tante."
"Deine Schwestern sind groß geworden."
"Ja, Tante."
"Du wirst hier alles verändert finden. Das Leben ist sehr hart. Man hat nichts mehr zu essen."
"Ich weiß."
Sie seufzte und machte sich wieder an ihre Arbeit. Meine Schwestern hielten den Kopf gesenkt und nähten, ohne ein Wort zu sagen. So verging eine ganze Weile. Dann plötzlich erstarrte die Stille. Es lag eine Spannung in der Luft, und ich begriff, um was es ging. Meine Tante wartete darauf, daß ich von meiner Mutter sprechen und nach Einzelheiten ihrer Krankheit und ihres Todes fragen sollte. Dann würden meine Schwestern zu weinen anfangen, meine Tante eine pathetische Erzählung loslassen, und ohne mich

irgendwie anzuklagen, würde aus ihrer Erzählung hervorgehen, daß ich es sei, der Mutters Tod verursacht hätte. "Na", sagt die Tante nach eine Weile, "du bist nicht gerade gesprächig, Rudolf."
"Nein, Tante."
"Man sollte nicht glauben, daß du zwei Jahre von zu Hause weg warst."
"Ja, Tante, zwei Jahre."
"Du scheinst dich nicht sehr für uns zu interessieren."
"Doch, Tante."
Mir war die Kehle wie zugeschnürt, ich dachte: ,Jetzt kommt der Augenblick', und sagte: "Ich wollte euch eben fragen. .."
Die drei Frauen hoben den Kopf und sahen mich an. Ich unterbrach meine Rede. In ihrer Erwartung lag etwas Entsetzliches und Freudiges, das mir durch und durch ging, und, ich weiß nicht warum, statt zu sagen: ,Wie ist Mama gestorben?', wie ich beabsichtigt hatte, sagte ich: "Wie ist Onkel Franz gestorben?"
Es entstand ein lastendes Stillschweigen, und meine Schwestern blickten die Tante an. "Sprich mir nicht von diesem Taugenichts", sagte die Tante mit eisiger Stimme. Dann setzte sie hinzu: "Er hatte nur eins im Kopf wie alle Männer. Kämpfen, kämpfen, immer nur kämpfen. ..und den Mädchen nachlaufen!"
Ich stand auf, die Tante sah mich an. "Du gehst schon?"
"Ja."
"Hast du schon eine Wohnung gefunden?"
Ich log. "Ja."
Sie richtete sich auf. "Um so besser. Hier ist es zu eng. Und dann habe ich schon deine Schwestern da. Aber eine Nacht oder zwei hätte es sich einrichten lassen."
"Danke, Tante."
Sie sah mich scharf an und betrachtete meine Kleidung. "Du hast keinen Mantel?"
"Nein, Tante."
Sie überlegte. "Warte. Ich habe vielleicht einen alten Mantel von deinem Onkel."
Sie ging hinaus, und ich blieb mit meinen Schwestern allein. Sie nähten, ohne die Köpfe zu heben. Ich sah sie nacheinander an und sagte: "Wer von euch ist denn Bertha?"
"Ich."
Die, die geantwortet hatte, hob ihr Gesicht, unsere Blicke trafen sich, und sie blickte sofort wieder weg. Man mußte in der Familie nicht gut von mir gesprochen haben. "Da", sagte die Tante, als sie wieder hereinkam, "probier einmal den."
Es war ein abgetragener, fadenscheiniger, mottenlöcheriger grüner Raglanmantel, der für mich viel zu groß war. Ich erinnerte mich nicht, Onkel Franz jemals darin gesehen zu haben. Onkel Franz trug sich in Zivil immer sehr elegant.

"Danke, Tante."
Ich zog ihn an. "Man müßte ihn kürzer machen lassen."
"Ja, Tante."
"Er ist noch gut, weißt du. Wenn du ihn schonst, geht er noch lange."
Sie lächelte. Sie sah stolz und gerührt aus. Sie hatte mir einen Mantel geschenkt. Ich hatte nicht von der Mutter gesprochen, und trotzdem hatte sie mir einen Mantel geschenkt. Alles Unrecht war auf meiner Seite. "Bist du zufrieden?"
"Ja, Tante."
"
Willst du wirklich keine Tasse Kaffee?"
"Nein, Tante."
"Du kannst noch ein bißchen bleiben, wenn du willst, Rudolf."
"Danke, Tante. Ich muß gehen."
"Na, ich halte dich nicht."
Bertha und Gerda standen auf und gaben mir die Hand. Sie waren beide etwas größer als ich. "Besuch uns wieder, wann du willst", sagte Tante. Ich stand auf der Schwelle der Küche mitten zwischen den drei Frauen. Die Schultern des Mantels fielen mir auf die Oberarme herunter, und meine Hände verschwanden in den Ärmeln. Plötzlich erschienen mir die drei Frauen sehr groß, eine von ihnen drehte den Kopf zur Seite, es gab einen Knacks, und ich hatte den Eindruck, als berührten ihre Füße nicht mehr den Boden, sondern tanzten in der Luft wie die der gehängten Araber in Es Salt. Dann verwischten sich ihre Gesichter, die Mauern der Küche schwanden, eine erstarrte, eiskalte Wüste tat sich vor mir auf, und in der unermeßlichen Weite waren, soweit der Blick reichte, nur Puppen zu sehen, die in der Luft hingen und sich unablässig drehten. "Na", sagte eine Stimme, "hörst du denn nicht? Ich habe gesagt, du kannst wiederkommen, wann du willst."
Ich sagte: "Danke", und schritt schnell der Vorsaaltür zu. Die Schöße des Mantels schlugen fast an meine Fersen. Meine Schwestern blieben in der Küche. Meine Tante begleitete mich. "Morgen früh", sagte sie, "mußt du Doktor Vogel aufsuchen. Gleich morgen. Versäume das nicht."
"Nein, Tante."
"Dann auf Wiedersehen, Rudolf."
Sie öffnete die Tür. Ihre Hand lag hart und kalt in der meinen. "Du bist also froh, den Mantel zu haben?"
"Sehr froh, Tante."
Ich stand wieder auf der Straße. Die Tante schloß sofort die Tür, und ich hörte, wie sie drinnen den Riegel vorschob. Ich blieb unter der Tür stehen, ich hörte ihre Schritte verklingen, und es war gerade so, als ob ich noch im Hause wäre. Ich sah förmlich Tante die Küchentür aufmachen, sich hinsetzen und ihre Arbeit aufnehmen, und das Ticktack der Wanduhr klang in der Stille frostig und hart. Nach einer Weile würde Tante meine Schwestern anblicken und kopfschüttelnd

sagen: "Er hat nicht einmal von seiner Mutter gesprochen!"
Meine Schwestern würden zu weinen anfangen, Tante würde sich ein paar Tränen abwischen, und alle drei würden zusammen glücklich sein. Die Nacht war kalt, es fiel ein leichter, feiner Regen, ich kannte den Weg nicht genau und brauchte eine halbe Stunde, um zu der Adresse zu gelangen, die mir Schrader gegeben hatte. Ich klopfte, und nach einer Weile öffnete eine Frau. Sie war groß, blond und hatte einen starken Busen. "Frau Lippmann?"
"Das bin ich."
"Ich möchte Unteroffizier Schrader sprechen."
Sie blickte auf meinen Mantel und fragte barsch: "In welcher Angelegenheit ? "
"Ich bin ein Freund von ihm."
"Sie sind ein Freund von ihm?"
Sie musterte mich noch einmal und sagte: "Treten Sie ein."
Ich trat ein, und wieder betrachtete sie meinen Mantel. "Folgen Sie mir."
Ich folgte ihr über einen langen Korridor. Sie klopfte an eine Tür, öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten, und sagte mit zusammengekniffenen Lippen: "Ein Freund von Ihnen, Herr Schrader."
Schrader war in Hemdsärmeln. Er drehte sich verblüfft um.

"Du bist es! Schon! Komm doch herein! Was machst du denn für ein Gesicht! Und der Mantel! Wo hast du bloß den Fetzen her? Komm herein! Frau Lippmann, ich stelle Ihnen den Unteroffizier Lang von der Abteilung Günther vor. Einen deutschen Helden, Frau Lippmann!"
Frau Lippmann nickte mir zu, gab mir aber nicht die Hand. "Aber so komm doch herein!"
sagte Schrader mit plötzlich ausbrechender Lustigkeit. "Komm doch herein! Und Sie auch, Frau Lippmann! Und zieh erst mal diesen Fetzen aus. So siehst du viel besser aus. Frau Lippmann! Frau Lippmann!"
Frau Lippmann girrte: "Ja, Herr Schrader."
"Frau Lippmann, lieben Sie mich?"
"Ach", sagte Frau Lippmann mit einem verzückten Blick, "was Sie für Sachen sagen, Herr Schrader! Und noch dazu vor Ihrem Freund!"
"
Wenn Sie mich lieben, dann holen Sie mir sofort Bier und belegte Brote. ..was Sie kriegen können. ..für den Jungen hier, für mich und auch für Sie, Frau Lippmann. Wenigstens wenn Sie mir die Ehre antun, mit mir zu speisen."
Er zog seine dichten Augenbrauen hoch, blinzelte ihr schelmisch zu, umschlang sie und machte mit ihr pfeifend einige Walzerschritte durchs Zimmer. "Ach, Herr Schrader", sagte Frau Lippmann mit einem girrenden Lachen, "
ich bin doch viel zu alt zum Walzertanzen. "

"Was? Zu alt?"
sagte Schrader. "Kennen Sie denn nicht das französische Sprichwort?"
Er flüsterte ihr einige Worte ins Ohr, und sie schüttelte sich vor Lachen. Er ließ sie los. "Und dann, hören Sie zu, Frau Lippmann, bringen Sie eine Matratze für den Jungen. Er wird heute abend hier schlafen."
Frau Lippmann hörte auf zu lachen und kniff die Lippen zusammen. "Hier?"
"Los, los!"
sagte Schrader. "Er ist eine Waise, er kann doch nicht auf der Straße schlafen. Herrgott, er ist ein deutscher Held! Frau Lippmann, für einen deutschen Helden muß man auch etwas tun können!"
Sie verzog schmollend den Mund, und er fing an zu schreien: "Frau Lippmann! Frau Lippmann! Wenn Sie sich weigern, weiß ich nicht, was ich mit Ihnen mache."
Er nahm sie in seine Arme, hob sie wie eine Feder hoch und begann mit ihr im Zimmer herumzulaufen, während er rief: "Sie holt der Wolf! Sie holt der Wolf!"
"Ach, Sie sind ja verrückt, Herr Schrader!"
sagte sie und lachte dabei wie ein kleines Mädchen. "Los, mein Schatz!"
sagte er und setzte sie zu Boden, recht derb, wie mir schien. "Los, meine Liebe! Los!"
"Aber nur Ihnen zu Gefallen, Herr Schrader."
Und als sie durch die Tür ging, gab er ihr einen tüchtigen Klaps auf den Hintern. "Aber Herr Schrader!"
sagte sie, und man hörte ihr girrendes Lachen auf dem Korridor verklingen. Nach einer Weile kam sie wieder. Wir tranken Bier und aßen Schmalzbrote, und Schrader überredete Frau Lippmann, uns Schnaps und noch mehr Bier zu bringen. Wir tranken weiter, Schrader redete unaufhörlich, die Witwe wurde immer röter und girrte immer mehr . Gegen elf Uhr zog sich Schrader mit ihr zurück; nach einer halben Stunde kam er mit einer Handvoll Zigaretten allein wieder . "Da", sagte er mit düsterer Miene, während er mir die Hälfte davon auf die Matratze warf, "man muß für einen deutschen Helden etwas tun können."
Am folgenden Nachmittag begab ich mich zu Doktor Vogel. Ich nannte dem Dienstmädchen meinen Namen, sie kam nach einer kleinen Weile zurück und sagte mir, der Herr Doktor würde mich gleich empfangen. Ich wartete etwa eine Dreiviertelstunde im Salon. Die Geschäfte des Doktor Vogel mußten seit dem Krieg gut gegangen sein, denn das Zimmer war so luxuriös geworden, daß ich es gar nicht wiedererkannte. Endlich kam das Dienstmädchen zurück und führte mich in das Arbeitszimmer. Doktor Vogel saß hinter einem riesigen leeren

Schreibtisch. Er war dick geworden und ergraut, aber sein Gesicht war immer noch schön. Er blickte auf meinen Mantel, winkte mir, näher zu kommen, drückte mir mit eisiger Miene die Hand und wies auf den Sessel. "Nun Rudolf", sagte er und legte seine beiden Hände flach auf den Tisch, "da bist du also."
"Ja, Herr Doktor Vogel."
Er sah mich eine ganze Weile an. Sein Körper und seine Hände zeigten keine Bewegung. Sein Gesicht mit den kraftvollen, regelmäßigen Zügen, das Gesicht eines römischen Kaisers, wie Vater sagte, sah wie eine schöne starre Maske aus, in deren Schutz seine graublauen Augen sich unaufhörlich bewegten und umherhuschten. "Rudolf", sagte er mit seiner tiefen, melodisch klingenden Stimme, "ich will dir keinen Vorwurf machen."
Er machte eine Pause und sah mich an. "Nein, Rudolf", wiederholte er mit Nachdruck, "ich will dir keinen Vorwurf machen. Was du getan hast, kann niemand ungeschehen machen. Die Verantwortung, die du trägst, ist schwer genug; ich brauche wohl nichts weiter hinzuzufügen. Übrigens habe ich dir ja geschrieben, wie ich über dein Ausreißen denke und über die nicht wiedergutzumachenden Folgen, die es hatte."
Er hob mit schmerzlicher Miene den Kopf und setzte hinzu: "Ich glaube, ich habe damit genug gesagt."
Er hob leicht die rechte Hand "Was geschehen ist, ist geschehen. Es handelt sich jetzt um deine Zukunft."
Er blickte mich mit ernster Miene an, als erwarte er eine Antwort, aber ich sagte nichts. Er beugte den Kopf leicht vornüber und schien sich zu sammeln. "Du kennst den Willen deines Vaters. Ich bin jetzt der Vollstrecker seines Willens. Ich habe deinem Vater versprochen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, in moralischer wie in materieller Hinsicht, um die Durchführung zu sichern."
Er hob den Kopf wieder und blickte mir in die Augen. "Rudolf, ich muß dir jetzt eine Frage vorlegen. Hast du die Absicht, den Willen deines Vater zu achten?"
Es entstand ein Schweigen, er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, und ich sagte: "Nein."
Doktor Vogel schloß für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, aber kein Muskel seines Gesichts bewegte sich. "Rudolf", sagte er in ernstem Ton, "der Wille eines Toten ist heilig."
Ich antwortete nicht darauf. "Du weißt sehr gut", fuhr er fort, "daß dein Vater in diesem Punkt selbst durch ein Gelübde gebunden war."

Und da ich nichts sagte, setzte er hinzu: "Durch ein heiliges Gelübde."
Ich schwieg noch immer, und nach einer Weile begann er wieder: "Deine Seele ist verhärtet, Rudolf, und ohne Zweifel darf man darin die Folge deines Vergehens erblicken. Aber du wirst sehen, Rudolf, die Vorsehung wendet wirklich die Dinge zum Guten. Denn während sie, um dich zu strafen, aus deinem Herzen eine Wüste machte, legte sie gleichzeitig sozusagen das Heilmittel neben das Übel und schuf günstige Bedingungen für deine Erlösung. -Rudolf", fuhr er nach einer Weile fort, "als du deine Mutter im Stich ließest, ging das Geschäft gut, eure finanzielle Lage war gut. ..oder wenigstens", fuhr er mit hochmütiger Miene fort, "befriedigend. Beim Tod deiner Mutter habe ich einen Geschäftsführer eingesetzt. Er ist ein arbeitsamer Mensch und ein guter Katholik. Er ist über jeden Verdacht erhaben. Aber die Geschäfte gehen wirklich sehr schlecht, und was der Laden jetzt einbringt, reicht kaum aus, um die Pension für deine Schwestern zu bezahlen."
Er faltete die Hände. "Bisher habe ich diese peinliche Lage beklagt, aber heute merke ich, daß das, was ich für ein ungerechtes Unglück hielt, in der Tat nur eine verhüllte Wohltat war. Ja, Rudolf, die Vorsehung wendet die Dinge zum Guten, und ihr Wille scheint mir sehr klar zu sein: Sie bestimmt deinen Weg."
Er machte eine Pause und sah mich an. "Rudolf", fuhr er lauter fort, "du mußt wissen, daß es für dich gegenwärtig nur eine Möglichkeit gibt, zu studieren, eine einzige, nämlich als Student der Theologie mit einem bischöflichen Stipendium in einem Internat. Was du darüber hinaus notwendig brauchst, werde ich dir persönlich als Vorschuß geben."
Seine blauen Augen fingen plötzlich an zu glänzen, anscheinend ohne sein Wissen, aber sofort senkte er die Lider. Dann legte er seine gepflegten Hände flach auf den Tisch und wartete. Ich betrachtete sein schönes, gefühlloses Gesicht und fing an, ihn aus Leibeskräften zu hassen. Er begann wieder: "Nun, Rudolf?"
Ich schluckte meinen Speichel hinunter und sagte: "Können Sie mir nicht für ein anderes Studium als das theologische Vorschuß geben?"
"Rudolf! Rudolf!"
sagte er mit einem halben Lächeln, "wie kannst du so etwas von mir verlangen? Wie kannst du von mir verlangen, dir dabei zu helfen, deinem Vater ungehorsam zu sein, wo ich der Vollstrecker seines Letzten Willens bin?"
Darauf war nichts zu erwidern. Ich stand auf. Er sagte milde: "Setz dich, Rudolf, ich bin noch nicht zu Ende."

Ich setzte mich wieder. "Du bist in heller Empörung, Rudolf", sagte er mit einem Ton von Trauer in seiner schönen, tiefen Stimme, "und willst den Wink, den dir die Vorsehung gibt, nicht sehen. Und der Wink ist doch so deutlich. Indem sie dich vernichtet, indem sie dich in die Armut stürzt, zeigt sie dir den einzig möglichen Weg, den sie für dich wünscht, den dein Vater für dich gewählt hat. .."
Darauf antwortete ich ebensowenig. Doktor Vogel legte die Hände übereinander, beugte sich leicht vor und sagte, während er mich durchdringend ansah: "Bist du sicher, Rudolf, daß dieser Weg nicht der für dich richtige ist?"
Dann senkte er die Stimme und sagte mild, fast liebevoll: "Bist du sicher, daß du nicht zum Priester geschaffen bist? Prüfe dich, Rudolf! Regt sich in dir nichts, das dich zum Leben eines Priesters beruft?"
Er hob seinen schönen weißen Kopf. "Hast du kein Verlangen, Priester zu werden? -Nun, du antwortest nicht, Rudolf", sagte er nach einer Weile, "und ich weiß, daß es einst dein Traum war, Offizier zu werden. Aber du weißt doch selbst, Rudolf, es gibt kein deutsches Heer mehr. Überlege doch, was kannst du also jetzt machen? Ich begreife dich nicht."
Er machte eine Pause, und da ich noch immer nicht antwortete, wiederholte er leicht ungeduldig: "Ich begreife dich nicht. Was hält dich denn davon ab, Priester zu werden?"
Ich sagte: "Mein Vater."
Doktor Vogel wurde dunkelrot, seine Augen funkelten, er erhob sich zu seiner ganzen Größe und schrie: "Rudolf!"
Ich stand meinerseits auf. Er sagte mit erstickter Stimme: "Du kannst gehen."
Ich schritt in meinem viel zu langen Mantel durch das ganze Zimmer. An der Tür angekommen, hörte ich seine Stimme: "Rudolf!"
Ich drehte mich um. Er saß an seinem Schreibtisch, die Hände flach vor sich auf der Tischplatte. Sein schönes Gesicht war wieder geglättet. "Überleg es dir! Du kannst wiederkommen, wann du willst. Meine Vorschläge bleiben unverändert."
Ich sagte: "Danke, Herr Vogel."
Und ich ging hinaus. Auf der Straße ging ein leichter eisiger Regen nieder, ich schlug den Kragen meines Mantels hoch und dachte: ,Nun gut! Das ist vorbei. Das ist endgültig vorbei.' Ich lief aufs Geratewohl drauflos, ein Auto streifte mich, der Chauffeur fluchte, und ich merkte, daß ich, wie ein Soldat unter Waffen, auf dem Fahrdamm marschierte. Ich ging auf den Fußweg zurück und setzte meinen Weg fort. Ich kam in eine belebte Gegend, junge Mächen überholten mich lachend und drehten sich meines Mantels wegen um. Ein offener Lastwagen fuhr vorüber. Er war vollgestopft mit Soldaten und mit Arbeitern in ihrer Arbeitskleidung. Alle trugen sie ein Gewehr und eine rote Armbinde. Sie sangen die Internationale. Aus der Menge heraus stimmte man im Chor ein. Ein dürres Männchen, barhäuptig, mit geschwollenem Gesicht, überholte mich. Er trug eine feldgraue Uniform, und an der dunkleren Färbung des Stoffes an den Schultern erkannte ich, daß ihm die Abzeichen seines Ranges abgerissen worden waren. Ein anderer Lastwagen fuhr vorüber, voller Arbeiter, sie schwenkten Gewehre und riefen: "Hoch Liebknecht!"
Die Menge etwiderte im Chor: "Liebknecht! Liebknecht!"
Sie war jetzt so dicht, daß ich nicht weiter konnte. Eine plötzliche Gegenströmung warf mich beinahe um, ich hielt mich am Arm meines rechten Nachbarn fest und sagte: "Entschuldigen Sie bitte!"
Der Mann hob den Kopf, er war ziemlich alt, sehr ordentlich gekleidet, und seine Augen blickten traurig. Er sagte: "Keine Ursache."
Die Menge rückte weiter, ich fiel wieder gegen ihn und fragte: "
Wer ist Liebknecht?"
Er warf mir einen mißtrauischen Blick zu, sah sich um und schlug die Augen nieder, ohne zu antworten. Dann hörte man Schüsse, alle Fenster wurden geschlossen, und die Menge fing an zu laufen. Sie zog mich mit vorwärts, ich bemerkte rechts eine Seitenstraße, drängte mich durch, erreichte sie und rannte hinein. Nach fünf Minuten merkte ich, daß ich in einem Labyrinth enger Straßen war, die ich nicht kannte. Ich ging aufs Geratewohl eine von ihnen entlang. Der Regen hatte aufgehört. Da rief eine Stimme: "Du! Der Judenjunge da!"
Ich drehte mich um. Zehn Meter entfernt von mir, in einer Seitenstraße, sah ich einen Trupp Soldaten und einen Unteroffizier. "Du da!"
"Ich?"
"Ja, du!"
Ich schrie wütend: "Ich bin kein Jude."
"Ach was!"
sagte der Unteroffizier. "Nur ein Jude trägt so einen Mantel."
Die Soldaten fingen an zu lachen, während sie mich musterten. Ich zitterte vor Wut. "Ich verbitte mir, daß man mich einen Juden nennt."
"Sachte, Kerl!"
sagte der Unteroffizier. "Mit wem glaubst du, daß du sprichst? Komm mal ein bißchen näher und zeig deine Papiere."
Ich ging hin, nahm Haltung an und sagte: "Unteroffizier Lang, Dragonerregiment 28. Asienkorps."
Der Unteroffizier runzelte die Stirn und sagte kurz: "Deine Papiere."
Ich reichte sie ihm. Er prüfte sie lange und mißtrauisch, dann hellte sich sein Gesicht auf, und er gab mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken. "Entschuldige, Dragoner! Aber du verstehst, dein Mantel. Du sahst so komisch aus. Wie ein Spartakist."

"Hat nichts zu sagen."
"Und was machst du denn hier?"
"Ich gehe spazieren."
Die Soldaten lachten, und einer rief: "Das ist kein Wetter zum Spazierengehen."
"Er hat recht", sagte der Unteroffizier, "geh nach Hause! Es wird gleich Krawall geben."
Ich sah ihn an. vor kaum zwei Tagen trug ich auch Uniform, hatte Männer zu befehlen und Vorgesetzte, die mir Befehle gaben. Ich erinnerte mich an die Rufe der Menge und fragte: "Kannst du mir sagen, wer Liebknecht ist?"
Die Soldaten platzten laut heraus, und der Unteroffizier lächelte. "
Wie", sagte er, "das weißt du nicht? Wo kommst du denn her?"
"Aus der Türkei."
"Ach richtig!"
sagte der Unteroffizier. "Liebknecht", sagte ein kleiner Soldat, "ist der neue Kaiser."
Und alle fingen an zu lachen. Dann sah mich ein großer Blonder mit einem groben Gesicht prüfend an und sagte langsam, mit starkem bayrischen Akzent: "Liebknecht, das ist der Schweinehund, wegen dem wir hier stehen."
Der Unteroffizier sah mich lächelnd an und sagte: "Los, geh nach Hause!"
"Und wenn du Liebknecht triffst", rief der kleine braune Soldat, "sag ihm, wir warten auf ihn."
Und er schwenkte sein Gewehr. Seine Kameraden lachten. Es war das Lachen von Soldaten, frei und fröhlich. Ich entfernte mich, ich hörte ihr Gelächter schwächer werden, und das Herz krampfte sich mir zusammen. Ich war in Zivil, ich hatte eine Bleibe bei Schrader, keinen Beruf und in der Tasche gerade so viel, um acht Tage leben zu können. Ich fand wieder ins Stadtzentrum zurück und war überrascht, es so belebt zu sehen. Die Läden waren geschlossen, aber in den Straßen wimmelte es von Menschen, der Verkehr war sehr stark, und niemand hätte denken können, daß zehn Minuten vorher geschossen worden war. Ich ging mechanisch geradeaus, und plötzlich trat die Krise ein. Eine Frau ging ganz nahe an mir vorbei. Sie lachte. Sie machte dabei den Mund weit auf, ich sah ihr rosiges Zahnfleisch, ihre glänzenden Zähne, die mir riesig erschienen, Furcht würgte mich, die Gesichter der Passanten glitten ohne Unterlaß an mir vorbei, wurden größer und schwanden wieder, und plötzlich waren es nur noch Kreise; Augen, Nase, Mund, Farbe, alles verschwamm, es waren nur noch weißliche Kreise wie die Augen von Blinden, sie schwollen an, wenn sie auf mich zukarnen, wie zitterndes Gallert, sie wurden noch größer und berührten fast mein Gesicht, ich bebte vor Entsetzen und Abscheu, es gab einen harten Klang, alles verschwand, und dann tauchte zehn

Schritt vor mir ein anderer weißer, milchiger Kreis auf und kam, größer werdend, auf mich zu. Ich schloß die Augen, blieb stehen, von Furcht gelähmt, und eine Hand preßte mir die Kehle zu, wie um mich zu erwürgen. Mir strömte der Schweiß herunter, ich holte tief Atem und Wurde allmählich ruhiger. Ich fing wieder an, ziellos weiterzulaufen, immer geradeaus. Die Gegenstände sahen fahl und verschwommen aus. Plötzlich blieb ich wider Willen stehen, wie wenn jemand mir "Halt!"
zugerufen hätte. Mir gegenüber war ein steinerner Torbogen, und unter dem Torbogen stand ein sehr schönes schmiedeeisernes Gittertor offen. Ich ging über die Straße, durch das Gittertor und die Stufen hinauf. Ein vertrautes derbes Gesicht erschien, und eine Stimme sagte: "Was wollen Sie?"
Ich blieb stehen, blickte umher, alles war verschwommen und grau wie in einem Traum, und ich sagte mit einer Stimme wie von weit her: "Ich möchte Pater Thaler sprechen."
"Der ist nicht mehr da."
Ich wiederholte: "Nicht mehr da?"
"Nein."
Ich fuhr fort: "Ich bin ein alter Schüler."
"Es schien mir auch so", sagte die Stimme. "Warten Sie mal, sind Sie nicht der Kleine, der mit sechzehnJahren sich freiwillig meldete?"
"Ja."
"Mit sechzehn Jahren!"
sagte die Stimme. Ein Schweigen entstand. Alles war grau und gestaltlos. Das Gesicht des Mannes schien über mir zu schweben wie ein Ballon. Von neuem ergriff mich Furcht, ich wandte die Augen weg und sagte: "Darf ich eintreten und einmal herumgehen?"
"Gewiß. Die Schüler haben Unterricht."
Ich sagte: "Danke", und trat ein. Ich ging über den Hof der Unterklassen, dann über den der Mittelklassen, und endlich kam ich in meinen Hof. Ich überquerte ihn in der Diagonale. Ich sah vor mir eine Steinbank. Es war die Bank, auf die man Hans Werner gelegt hatte. Ich schlug einen Bogen, um sie zu meiden, setzte meinen Weg fort, erreichte die KapeIlmauer, dann machte ich kehrt, stellte meine Hacken an den Fuß der Mauer und ging los, meine Schritte zählend. So verging eine ganze Weile, und mir war, als hätte mich jemand sanft und kräftig in seine Arme genommen und wiegte mich.

Gerade zu dem Zeitpunkt, als wir nur noch ein paar Pfennige besaßen, fand Schrader für uns beide eine Anstellung in einer kleinen Fabrik, die Metallschränke herstellte. Schrader wurde in die

Malerwerkstatt gesteckt, was ihm täglich einen halben Liter Magermilch eintrug. Die Arbeit, die man mir anvertraute, war leicht. Ich nahm die Schranktüren eine nach der anderen und schlug mit einem Hammer einen kleinen Stahlbolzen in die Türbänder ein, um ihnen die richtige Form für die Angeln zu geben. Einen Schlag auf den Kopf des Bolzens, damit er hineinging, zwei kleine Schläge von der Seite, damit er Spiel bekam, und dann zog ich ihn mit der linken Hand heraus. Ich legte immer vier Türen übereinander auf die Werkbank. Wenn eine Tür fertig war, ließ ich sie hinuntergleiten und lehnte sie an einen Pfeiler. Wenn alle vier Türen fertig waren, trug ich sie an einen anderen Pfeiler, links neben dem Monteur, der sie in die Angeln der Schränke einsetzte. Da die Türen ziemlich schwer waren, trug ich anfangs immer nur eine. Aber nach einer Stunde befahl mir der Meister, zwei auf einmal zu nehmen, um Zeit zu sparen. Ich gehorchte, aber da fing die Schwierigkeit an. Der Monteur -ein Alter namens Karl -kam viel weniger schnell voran als ich, weil er, nachdem er die Türen eingehängt hatte, noch die schweren, sperrigen Schränke mit der Hand fortbewegen und auf die Karren laden mußte, die sie in die Malerwerkstatt brachten. Ich hatte also einen Vorsprung vor ihm, und die Türen, die ich durchgesehen hatte, fingen an, sich an seinem Pfeiler zu häufen. Der Meister merkte es und sagte dem alten Karl, er solle schneller machen. Der strengte sich an, aber selbst dann gelang es ihm nicht, mitzukommen, und jedesmal, wenn ich neue Türen brachte, brummte er: "Langsam, Mensch, langsam!"
Aber ich sah nicht, wie ich langsamer machen könnte, wenn ich zwei Türen auf einmal trug. Schließlich wurde der Stapel Türen beim alten Karl immer größer, der Meister kam und machte in schrofferem Ton wieder eine Bemerkung. Karl beschleunigte sein Tempo, er wurde ganz rot und schwitzte, aber es half alles nichts. Als die Sirene ertönte, hatte sich sein Rückstand nicht vermindert. Dann wusch ich mir im Waschraum Hände und Gesicht. Der alte Karl stand neben mir. Er war ein großer, magerer, braunhaariger, bedächtiger Preuße. Er mochte fünfzig Jahre alt sein. Er sagte zu mir: "Warte auf mich am Ausgang. Ich habe mit dir zu reden."
Ich nickte, zog meinen Mantel an, gab beim Pförter meine Marke ab und ging durchs Tor. Der alte Karl wartete schon auf mich. Er winkte mir, ich folgte ihm, wir gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander, dann blieb er stehen und sah mir ins Gesicht. "Hör mal, Junge, ich habe nichts gegen dich, aber so kann das nicht weitergehen. Du bringst mich in Verzug."
Er sah mich an und wiederholte: "Du bringst mich in Verzug. Und wenn ich im Verzug bin, kann mir die Gewerkschaft nicht helfen."

Ich sagte nichts, und er fuhr fort: "Du scheinst das nicht zu verstehen. Weißt du, was geschieht, wenn ich in Verzug gerate?"
"Nein."
"Zuerst Vorhaltungen, dann Abzüge und schließlich. ..", er ließ seine Finger knacken, ". ..Rausschmiß!"
Ein Schweigen entstand, dann sagte ich: "Ich kann doch nichts dafür. Ich hab' gemacht, was der Meister gesagt hat."
Er sah mich eine Weile an. "Arbeitest du das erste Mal in einer Fabrik?"
"Ja."
"Und vorher, wo warst du da?"
"Beim Heer."
"Freiwillig gemeldet?"
"Ja."
Er schüttelte den Kopf und fuhr fort: "Hör mal, du mußt langsamer machen."
"Aber ich kann doch nicht langsamer machen. Sie haben doch selbst gesehen. .."
"Zuerst mal", unterbrach mich der alte Karl, "sag nicht Sie zu mir! Was sind das für Manieren?"
Er fuhrfort: "Mit dem Kameraden, der vor dir da war, ging alles gut. Und der hatte auch Anweisung, mir zwei Türen auf einmal zu bringen."
Er brannte sich eine alte, schwarze, schartige Pfeife an "Wie viele von den Türbändern, die du einpaßt, meinst du, sind so eng, daß es schwer ist, den Bolzen wieder herauszukriegen?"
Ich überlegte. "Einer von fünfzehn oder zwanzig."
"Und da verlierst du Zeit?"
"Ja."
"Na hör mal, es gibt doch auch Türbänder, in die der Bolzen ohne Hammer wie geschmiert reingeht?"
"Ja."
"Und da sparst du Zeit?"
"Ja."
"Gut. Hör jetzt gut zu, Junge. Morgen wird von zehn Türbändern eins schwer gehen."
Ich sah ihn verdutzt an. Er sagte: "
Verstehst du das nicht?"
Ich sagte zögernd: "Sie wollen damit sagen, daß ich so tun soll, als ob ich in einem von zehn Fällen Mühe hätte, den Bolzen herauszuziehen?"
"Ganz richtig!"
sagte er befriedigt. "Aber das ist noch nicht alles. Wenn du weite Türbänder hast, mußt du den Bolzen mit dem Hammer einschlagen und mit dem Hammer wieder herausklopfen. Verstanden? Sogar, wenn er wie geschmiert hineingeht. Du wirst sehen, alles wird gutgehen. Aber du mußt gleich morgen damit anfangen, denn heute habe ich schon fünf Schränke mehr montiert. Einmal geht das. Die Kameraden in der Malerwerkstatt haben es fertiggebracht, sie anzupinseln. Aber wenn das so weitergeht, wird das nicht mehr möglich sein. Der Meister wird es merken, und wenn er es merkt, dann ist es aus. Er muß dann jeden Tag seine fünf

Schränke mehr kriegen! Und da ich das nicht aushalte, würde ich rausfliegen."
Er zündete seine Pfeife wieder an. "Hast du verstanden? Gleich morgen."
Es entstand ein Schweigen, und ich sagte: "Das kann ich nicht machen."
Er zuckte die Achseln. "Mußt vor dem Meister keine Angst haben, Junge. Der Kamerad, der vor dir da war, hat das fünf Jahre lang so gemacht, und niemand hat es gemerkt."
"Ich habe keine Angst vorm Meister."
Der alte Karl sah mich erstaunt an. "Warum willst du dann nicht?"
Ich sah ihm offen ins Gesicht und sagte: "Das ist Sabotage."
Der alte Karl wurde dunkelrot, und seine Augen blitzten vor Zorn. "Hör mal, Junge, du bist hier nicht mehr beim Militär! Sabotage! Meine Fresse! Ich bin ein guter Arbeiter, ich hab' noch nie Sabotage getrieben."
Er blieb stehen, er konnte nicht weitersprechen. Er preßte die Pfeife in der rechten Hand, und seine Finger wurden ganz weiß. Nach einer Weile sah er mich an und sagte leise: "Das ist keine Sabotage, Junge, das ist Solidarität."
Ich erwiderte nichts darauf, und er fuhr fort: "Überleg doch. Beim Militär gibt es Vorgesetzte und Befehle und sonst nichts. Aber hier gibt es auch Kameraden. Und wenn du nicht auf Kameraden Rücksicht nimmst, wirst du nie ein Arbeiter werden."
Er drehte mir den Rücken zu und ging davon. Ich kehrte zu Frau Lippmann zurück und traf Schrader in seinem Zimmer beim Rasieren an. Schrader rasierte sich immer abends. Beim Eintreten sah ich eine Halbliterflasche Magermilch auf dem Tisch stehen, die man ihm in der Fabrik gegeben hatte. Sie war noch halb voll. "Da", sagte Schrader, indem er sich umdrehte und mit dem Rasiermesser darauf zeigte, "das ist für dich."
Ich blickte auf die Flasche. Die Milch sah bläulich aus, aber es war immerhin Milch. Ich wandte den Kopf. "Nein, Schrader, danke."
Er drehte sich abermals zu mir um. "Ich will keine mehr."
Ich nahm eine halbe Zigarette aus der Tasche und brannte sie mir an. "Nein, Schrader, das ist deine Milch. Das ist für dich Arznei."
"Hör mir bloß einer diesen Idioten an!"
rief Schrader und hob sein Rasiermesser gen Himmel. "
Wenn ich dir sage, daß ich keine mehr will! Los, trink, Dummkopf!"
"Kommt nicht in Frage."

Er brummte: "Verdammter bayrischer Dickschädel", dann entblößte er seinen Oberkörper, beugte sich über das Waschbecken und wusch sich unter vielem Prusten. Ich setzte mich und rauchte weiter. Die Milchflasche stand vor mir. Nach einer Weile setzte ich mich schräg zu ihr, um sie nicht mehr zu sehen. "Was hat dir der alte Karl gesagt?"
fragte Schrader, während er sich den Rücken mit dem Handtuch abtrocknete. Ich erzählte ihm alles. Als ich zu Ende war, warf er den Kopf nach hinten, seine wuchtige Kinnlade schob sich vor, und er fing an zu lachen. "Ach, so ist das also!"
rief er. "In der Malerwerkstatt stöhnen sie alle, daß der alte Karl ihnen zu viele Schränke schickte. Und es war gar nicht der alte Karl, sondern du warst's! Es war der kleine Rudolf!"
Er zog sein Hemd wieder an, aber ohne es in die Hose zu stecken, und setzte sich. "Und du wirst jetzt tun, was dir der alte Karl gesagt hat, nicht?"
"Kommt nicht in Frage."
Er sah mich an, und die schwarze Linie seiner Augenbrauen senkte sich auf die Augen herunter . "Und warum kommt es nicht in Frage?"
"Ich werde dafür bezahlt, diese Arbeit zu verrichten, und meine Pflicht ist es, sie gut zu verrichten."
"Quatsch!"
sagte Schrader. "Du machst sie gut, aber du wirst schlecht bezahlt. Bist du dir klar darüber, daß sie wegen dir den alten Karl rausschmeißen werden?"
Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch und fuhr fort: "Und es ist doch klar, daß der alte Karl nicht zum Meister hingehen und sagen kann: 'Sehen Sie, mit dem Burschen, der vor Rudolf da war, haben wir fünf Jahr lang Beschiß gemacht, und so und so ist das zugegangen."' Er sah mich an, und da ich nichts sagte, setzte er hinzu: "Er sitzt eklig in der Klemme, der alte Karl. Wenn du ihm nicht hilfst, fliegt er."
"Dafür kann ich nichts."
Er rieb seine gebrochene Nase mit dem Handrücken. "Und wenn er fliegt, werden die Kameraden in der Fabrik dich schief ansehen."
"Dafür kann ich doch nichts."
"Doch, du kannst was dafür ."
Es entstand ein Schweigen und dann sagte ich: "Ich tu' meine Pflicht."
"Deine Pflicht!"
schrie Schrader und sprang auf, daß die Schöße seines Hemdes um ihn herumflogen. "
Willst du wissen, wohin deine Pflicht dich führt? Dazu, daß täglich fünf Schränke mehr gemacht

werden, damit der alte Säcke mehr Geld in seine Tasche kriegt, die schon zum Platzen voll sind. Hast du heute früh den alten Säcke in seinem Mercedes kommen sehen? Mit seiner Fresse wie ein rosa Ferkel und seinem Wanst! Da kannst du sicher sein, daß der nicht auf einer Pritsche schläft. Und die Milch in seinem Morgenkaffee ist auch keine Magermilch, bestimmt nicht. Ich will dir sagen, was die Folge deiner verfluchten 'Pflicht' ist, Rudolf: daß der alte Karl auf der Straße liegt und der alte Säcke mehr verdient."
Ich wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte, und sagte: "Solche Erwägungen stelle ich nicht an. Für mich ist die Frage klar. Man stellt mir eine Aufgabe, und meine Pflicht ist es, sie gut und gründlich auszuführen."
Schrader ging mit bestürzter Miene ein paar Schritte im Zimmer hin und her, dann trat er wieder an den Tisch. .Der alte Karl hat fünf Kinder."
Ein Schweigen entstand, und ich sagte sehr schnell, schroff und ohne ihn anzusehen: "Das spielt dabei keine Rolle."
"Zum Donnerwetter!"
schrie Schrader und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Du bist widerlich."
Ich stand auf, verbarg meine zitternden Hände in den Taschen und sagte: "Wenn ich dir widerlich bin, kann ich ja gehen."
Schrader sah mich an, und sein Zorn verebbte augenblicklich. "Wahrhaftig, Rudolf", sagte er mit seiner gewöhnlichen Stimme, "manchmal frage ich mich, ob du nicht verrückt bist."
Er steckte die Schöße seines Hemdes in die Hose, ging zum Schrank und kam mit Brot, Schmalz und Bier zurück. Er setzte alles auf den Tisch. "Zu Tisch! Zu Tisch!"
sagte er mit gekünstelter Heiterkeit. Ich setzte mich wieder. Er strich ein Brot und gab es mir herüber . Dann machte er eins für sich und fing an zu essen. Als er damit fertig war, goß er sich ein Glas Bier ein, brannte sich eine halbe Zigarette an, klappte sein Messer zusammen und steckte es in die Tasche. Er sah traurig und müde aus. "Tja", sagte er nach einer Weile, "so ist das im Zivilleben. Du steckst im Dreck bis an den Hals, und niemand ist da, der dir Befehle gibt. Niemand, der dir sagt, was du tun sollst. Du mußt immer alles selber entscheiden."
Ich dachte einen Augenblick darüber nach und war der Meinung, daß er recht hätte. Als ich am nächsten Morgen meine Arbeit wieder anfing, ging ich beim alten Karl vorbei, er lächelte mir zu und sagte in herzlichem Ton: "Na, Junge?"
Ich sagte ihm guten Tag und begab mich an meine Werkbank. Meine Knie waren weich, und Schweiß lief mir zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter. Ich legte vier Türen auf einander. Die Halle fing an zu vibrieren vom Gekreisch der Maschinen, die das Blech zerschnitten. Ich nahm meinen kleinen Stahlbolzen, meinen Hammer und machte mich an die Arbeit. Ich stieß zunächst auf schwierige Türbänder, ich verlor etwas Zeit, und als ich die vier ersten Türen zu Karl brachte, lächelte er mich wieder an und flüsterte mir zu: "So klappt es, Junge!"
Ich wurde rot und antwortete nicht. Die nächsten Türen waren gleichfalls schwierig, und ich hoffte schon, daß an diesem und den folgenden Tagen alle so sein würden und daß auf diese Weise kein Problem entstünde. Aber nach einer Stunde gab es keine Schwierigkeiten mehr, die Türbänder waren so weit, daß ich den Hammer nicht mehr zu benutzen brauchte, um den Bolzen einzuführen. Ich fühlte, wie mir wieder Schweiß über den Rücken lief. Ich zwang mich, das Denken auszuschalten. Nach ein paar Minuten löste sich etwas in mir, und ich fing an, blindlings, mit der Perfektion einer Maschine, draufloszuarbeiten. Nach Verlauf einer Stunde stand jemand vor meiner Werkbank; ich blickte nicht auf. Ich sah, wie eine Hand über meine Türen strich, die Hand hielt eine kleine schwarze, ausgebrochene Pfeife, die Pfeife klopfte zweimal hart auf das Metall, und ich hörte die Stimme des alten Karl, der sagte: "Was fällt dir denn ein?"
Ich legte den Bolzen an die Öffnung des Türbands, stieß zu, und er ging ohne Schwierigkeiten hinein. Ich zog ihn sofort wieder heraus und legte ihn an das zweite Türband. Auch da ging er leicht hinein. Ich zog ihn rasch heraus, und immer, ohne aufzublicken, ließ ich eine Tür hinuntergleiten und lehnte sie gegen den Pfeiler. Die Hand, in der die Pfeife lag, war noch immer da. Sie zitterte leicht. Dann war plötzlich nichts mehr da, und ich hörte Schritte, die sich entfernten. Die Maschinen ließen die weite Halle vibrieren, ich arbeitete unablässig, ich war tätig und innerlich unbeteiligt, ich hatte kaum das Empfinden, dazusein. Der Karren der Malerwerkstatt kam knarrend an, die Räder kreischten auf dem Zement, und ich hörte den Fahrer wütend zu Karl sagen: "Was fällt dir denn ein? Hat dich Säcke am Reingewinn beteiligt?"
Stille trat ein, ich hielt die Augen gesenkt und sah nur, wie Karls Pfeife sich hob und auf mich zeigte. Nach einer Weile knarrte der Karren von neuern, ein Schatten glitt an meiner Werkbank vorbei, und die Stimme des Meisters klang deutlich und barsch durch das Zittern der Maschinen: "Ich verstehe das nicht! Was haben Sie denn? Schlafen Sie?"
-"Bleiben Sie bloß zehn Minuten bei mir", sagte die Stimme Karls, "und Sie werden sehen, ob ich schlafe."
Wieder trat Stille ein, der Schatten kam wieder an meiner Werkbank vorbei, und ich hörte den alten Karl leise fluchen. Der Meister kam eine halbe Stunde später noch einmal, aber diesmal konnte ich nicht verstehen, was er sagte.

Nachher hatte ich eine ganze Weile den Eindruck, daß die Augen des alten Karl mich nicht losließen. Ich warf ihm einen raschen Blick zu. Es war nicht der Fall. Er drehte mir den Rücken zu, sein Nacken war gerötet, sein Haar schweißverklebt, und er arbeitete wie ein Verrückter. Es lehnten jetzt so viele Türen an seinem Pfeiler, daß sie ihn in seinen Bewegungen behinderten. Die Sirene kündete die Mittagspause an, die Maschinen blieben stehen, und Stimmengewirr erfüllte die Halle. Ich ging mir die Hände waschen, wartete auf Schrader und begab mich dann mit ihm zur Kantine. Sein Gesicht war starr, und er sagte, ohne mich anzusehen: "In der Malerwerkstatt sind sie wütend."
Als ich die Tür der Kantine öffnete, hörten die lauten Unterhaltungen sofort auf, und ich fühlte, daß alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ich sah niemanden an, ging geradewegs auf einen Tisch zu, Schrader folgte mir, und allmählich fingen die Unterhaltungen wieder an. Die Kantine war ein großer, heller, sauberer Raum mit kleinen rotgestrichenen Tischen und einem Strauß künstlicher Nelken auf jedem Tisch. Schrader setzte sich neben mich, und nach einer Weile stand an einem Nebentisch ein lang aufgeschossener, abgemagerter Arbeiter auf, den ich "Zigarettenpapier"
hatte nennen hören, und setzte sich uns gegenüber. Schrader hob den Kopf und sah ihn scharf an. "Zigarettenpapier"
winkte leicht zum Gruß, und ohne ein Wort zu sagen oder uns anzusehen, fing er an zu essen. Die Kantinenwirtin kam mit Bechern und schenkte Tee ein. Mein Gegenüber drehte den Oberkörper zu ihr um, und ich verstand jetzt, warum man ihn "Zigarettenpapier"
nannte. Er war groß und breit, aber wenn man seinen Körper von der Seite sah, hatte man den Eindruck, daß es ihm an Dicke fehle. Ich aß und blickte über seinen Kopf hinweg geradeaus. Mitten auf der ockerfarbenen Wand mir gegenüber war ein großer rechteckiger Fleck in einem etwas dunkleren Ocker, und auf den Fleck sah ich hin. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick zu Schrader . Er aß mit gesenktem Kopf, und die schwarze Linie seiner Augenbrauen verdeckte seine Augen. "Junge", sagte "Zigarettenpapier". Ich sah ihn an. Seine Augen waren farblos. Er lächelte.

"Du arbeitest zum erstenmal in einer Fabrik?"

"Ja."
"Wo warst du denn vorher?"
Aus seinem Ton ging hervor, daß er es schon wußte. "Dragonerunteroffizier."
"Unteroffizier?"
sagte "Zigarettenpapier", und pfiff durch die Zähne. Schrader hob den Kopf und sagte barsch: "Ich auch."
"Zigarettenpapier"
lächelte und umspannte seinen Becher mit beiden

Händen. Ich hob den Kopf und sah auf den großen rechteckigen Fleck an der Wand. Ich hörte Schrader sein Messer zusammenklappen, und an dem Stoß seines Ellenbogens gegen meine Hüfte merkte ich, daß er es in die Tasche steckte. "Junge", sagte "Zigarettenpapier", "der alte Karl ist ein guter Kamerad, und wir hätten es nicht gern, wenn er rausgeschmissen würde."
Ich blickte ihn an. Sein aufreizendes Lächeln erschien wieder, und plötzlich kam mich die Lust an, ihm meinen Becher Tee ins Gesicht zu gießen. "Und wenn er rausgeschmissen wird", sagte "Zigarettenpapier", ohne sein Lächeln aufzugeben, "bist du dran schuld."
Ich sah auf den rechteckigen Fleck an der Wand, stellte fest, daß dort früher ein Bild gehangen hatte, und fragte mich, warum man es wohl weggenommen hatte. Schrader stieß mich mit dem Ellenbogen an und ich hörte mich antworten: "Und?"
"Das ist ganz einfach", sagte "Zigarettenpapier", "du machst, was der alte Karl gesagt hat."
Schrader spielte auf dem Tisch mit den Fingerspitzen Klavier, und ich sagte: "Nein."
Schrader hörte auf, Klavier zu spielen, und legte beide Hände flach auf den Tisch. Ich sah "Zigarettenpapier"
nicht an, aber ich fühlte, daß er lächelte. "Schweinehund", sagte er leise. Und plötzlich begriff ich: Es war kein Gemälde gewesen, das man von der Wand abgenommen hatte. Es war das Bild des Kaisers gewesen. In der nächsten Sekunde gab es ein klatschendes Geräusch, und im Saal entstand Totenstille. Schrader stand auf und packte mich am Arm. "Du bist verrückt!"
schrie er. "Zigarettenpapier"
stand da und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. Ich hatte ihm meinen Becher Tee ins Gesicht gegossen. Er sah mich an, seine Augen funkelten, er stand von seinem Stuhl auf und kam auf mich zu. Ich rührte mich nicht. Schraders Arm bewegte sich zweimal nacheinander blitzartig an mir vorbei, zwei dumpfe Schläge waren zu hören, und "Zigarettenpapier"
wälzte sich auf dem Boden. Alle standen auf, ein grollendes Gemurr erhob sich, und mir war, als ob der ganze Saal über uns zusammenschlüge. Ich sah, wie Schraders Hände sich um seinen Stuhl krampften. Die Stimme des alten Karl rief: "Laßt sie rausgehen!"
Und mit einemmal öffnete sich für uns ein Weg zur Tür hin. Schrader nahm mich beim Arm und zog mich mit sich fort. Schrader ging in den Waschraum, um sich die Hände zu waschen. Seine Fingergelenke bluteten. Ich brannte mir einen

Zigarettenstummel an. Als Schrader fertig war, hielt ich ihm den Stummel hin. Er tat ein paar Züge und gab ihn mir wieder. Die Fabriksirene ertönte, aber wir warteten noch ein paar Minuten, ehe wir hinausgingen. Schrader machte einen Umweg, um mich in die Halle zu bringen. Ich stieß die Tür auf und blieb bestürzt stehen. Die Halle war völlig leer. Schrader sah mich an und schüttelte den Kopf. Ich ging an meinen Platz, und nach einem Weilchen verließ mich Schrader. Ich legte vier Türen auf meine Werkbank und fing an, die Türbänder zu weiten. Dann trug ich immer zwei Türen auf einmal an den Pfeiler des alten Karl. Ich sah auf meine Uhr. Die Sirene war vor zehn Minuten ertönt. Die riesige Halle war leer. Die Glastür im Hintergrund öffnete sich, der Meister steckte den Kopf herein und rief: "Zur Direktion!"
Ich legte den kleinen Stahlbolzen und den Hammer auf die Werkbank und ging. An der Tür zur Direktion traf ich Schrader. Er schob mich vor sich her, und ich öffnete die Tür. Ein kleiner Büroangestellter mit einem Rattengesicht stand hinter einem Zahltisch. Er sah uns an, als wir kamen, und rieb sich die Hände. "Sie sind entlassen!"
sagte er leicht lächelnd. "Warum?"
fragte Schrader. "
Tätlichkeiten gegen einen Kameraden."
Schraders Brauen senkten sich über seine Augen. "So schnell!"
"Der Arbeiterrat!"
sagte das Rattengesicht grinsend. "Sofortige Entlassung oder Streik."
"Und Säcke hat nachgegeben?"
"Ja, ja, Herr Säcke hat nachgegeben."
Er legte zwei Umschläge auf den Tisch. "Da ist die Abrechnung. Anderthalb Tage."
Dann wiederholte er: "Ja, ja, Herr Säcke hat nachgegeben."
Er blickte sich um und sagte dann leise: "Du glaubst wohl, wir sind noch in der guten alten Zeit?"
Dann fuhr er im gleichen Ton fort: "Da hat also ,Zigarettenpapier' eins in die Fresse gekriegt?"
"Zwei", sagte Schrader. Das Rattengesicht blickte sich wieder um und flüsterte: "Da ist dem Schweinehund von Spartakisten recht geschehen."
Und er blinzelte Schrader zu. "Wir sitzen im Dreck", sagte er. "So weit haben wir es gebracht. Im dicksten Dreck!"
"Da hast du recht", sagte Schrader . "Aber warte nur", sagte das Rattengesicht und blinzelte von neuem, "nicht immer werden diese Herren oben und wir unten sein."
"Heil!"
sagte Schrader.

Auf der Straße empfing uns derselbe leichte, eisige Regen, der schon seit acht Tagen fiel. Schweigend gingen wir ein paar Schritte, dann sagte ich: "Du hättest nicht dazwischentreten müssen."
"Laß doch", sagte Schrader. Er rieb sich mit dem Handrücken seine gebrochene Nase. "Meiner Meinung nach ist es viel besser so."
Wir kamen in sein Zimmer. Nach einem Weilchen hörten wir auf dem Korridor den Schritt der Frau Lippmann. Schrader ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Zuerst hörte man Lachen, knallende Geräusche und das bekannte Girren. Dann steigerte sich die Stimme der Frau Lippmann. Es war kein Girren mehr. Sie war kreischend und schneidend. "Nein! Nein! Nein! Das habe ich satt. Wenn ihr nicht innerhalb von acht Tagen Arbeit findet, muß dein Freund gehen."
Ich hörte Schrader fluchen, und dann steigerte er seinerseits seine tiefe Stimme: "Dann gehe ich auch!"
Darauf wurde es still. Frau Lippmann sprach lange und leise; dann brach sie plötzlich in ein hysterisches Lachen aus und rief mit gellender Stimme: "Also gut! Abgemacht, Herr Schrader, Sie ziehen aus!"
Schrader kam ins Zimmer zurück und knallte die Tür zu. Er war rot im Gesicht, und seine Augen funkelten vor Zorn. Er setzte sich aufs Bett und sah mich an. "Weißt du, was die verdammte Hexe zu mir gesagt hat?"
"Ich hab' es gehört."
Er stand auf. "Dieses Luder!"
sagte er mit erhobenen Armen. "Dieses Luder! Nicht einmal ihr Bauch ist dankbar."
Dieser Scherz schockierte mich, und ich fühlte, daß ich errötete. Schrader sah mich von der Seite an, sein Gesicht hellte sich wieder auf, er zog sein Hemd aus, nahm seinen Rasierpinsel und begann, sich unter Pfeifen die Backen einzuseifen. Dann nahm er sein Rasiermesser und hielt seinen Ellenbogen genau in Höhe der Schultern. Er hörte auf zu pfeifen, und ich vernahm das beharrliche Kratzen der Klinge auf der Haut. Nach einer Minute drehte er sich um, mit hocherhobenem Pinsel. Sein Gesicht, mit Ausnahme der Nase und Augen, war ein einziger weißer Schaum, und er sagte: "Sag mal, du scheinst dich nicht viel um Frauen zu kümmern?"
Darauf war ich nicht gefaßt, und ich sagte, ohne zu überlegen: "Nein."
Sofort aber dachte ich ängstlich: 'Jetzt wird er mich sicher ausfragen.' "Warum?"
sagte Schrader. Ich blickte weg. "Ich weiß nicht."
Er fing von neuem an, den Schaum auf seinem Gesicht zu verteilen. "Ja, ja", sagte er, "aber du hast es trotzdem versucht, nicht wahr?"

"Ja, einmal, in Damaskus."
"Und?"
Da ich nicht antwortete, fing er wieder an: "
Wie sitzt du denn da auf deinem Stuhl! Wie ein toter Hering! Und siehst ins Leere! Antworte doch! Erzähle doch von dem einen Mal! Hat es dir Spaß gemacht, ja oder nein?"
"Ja."
"Na also."
Ich gab mir einen Ruck und sagte: "Es hat mich nicht zur Wiederholung veranlaßt."
Er erstarrte, den Rasierpinsel in der Hand. "Weshalb denn nicht? War sie unsympathisch?"
,,O nein."
"Hatte sie einen Geruch an sich?"
"Nein."
"So sprich doch! War sie vielleicht nicht hübsch?"
"Doch. ..ich glaube."
"Du glaubst!"
sagte Schrader lachend. Dann fuhr er fort: "Was ist denn schiefgegangen?"
Ein Schweigen trat ein, dann wiederholte er: "Los, sprich doch!"
"Na ja", sagte ich verlegen, "ich mußte mit ihr die ganze Zeit reden. Ich fand das ermüdend."
Schrader sah mich an, machte ganz große Augen, sperrte den Mund auf und brach in ein Gelächter aus. "Herrgott!"
sagte er. "Du bist doch ein komischer kleiner Hering, Rudolf."
In mir flammte plötzlich Zorn auf, und ich sagte: "Schweig!"
"Ach, du bist komisch, Rudolf", rief Schrader, noch lauter lachend, "und soll ich dir was sagen, Rudolf? Ich frage mich, ob du nicht besser getan hättest, trotz allem Priester zu werden."
Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und heulte auf: "Schweig!"
Nach einer Weile drehte sich Schrader um, sein rechter Ellenbogen hob sich langsam, und durch die Stille erklang wieder das leise Kratzen.

Frau Lippmann brauchte nicht die acht Tage abzuwarten, die sie uns Aufschub gewährt hatte. Zwei Tage nach unserer Entlassung stürmte Schrader ins Zimmer und schrie wie ein Verrückter: "Los, Mensch, los! Es werden Freiwillige für die Freikorps gesucht!"
Drei Tage später verließen wir H., neu eingekleidet und mit Waffen ausgerüstet Frau Lippmann weinte sehr. Sie begleitete uns auf den. Bahnhof, sie schwenkte auf dem Bahnsteig ihr Taschentuch, und Schrader, der hinter dem Fenster des Abteils stand, sagte zwischen den Zähnen: "Sie war verrückt, aber sie war nicht übel."
Ich saß auf der Bank, der Zug ruckte an, ich betrachtete meine Uniform und hatte das Gefühl, daß ich wieder zu leben anfing.

Man wies uns an den Grenzschutz in W ., zur Abteilung Roßbach. Oberleutnant Roßbach gefiel uns. Er war hoch aufgeschossen, sein aschblondes Haar lichtete sich auf der Stirn schon etwas. Er hielt sich steif, wie andere Offiziere, aber zugleich lag in seinen Bewegungen eine gewisse Anmut. Er verzehrte sich vor Ungeduld, und wir auch. In W. war nichts zu tun. Man wartete auf Befehle, und die Befehle kamen nicht. Von Zeit zu Zeit hörte man, was in Lettland vorging, und man beneidete die deutschen Freikorps, die gegen die Bolschewisten kämpften. Gegen Ende Mai erfuhr man, daß sie Riga eingenommen hatten, und zum erstenmal hörte man von Leutnant Albert Leo Schlageter, der an der Spitze einer Handvoll Männer als erster in die Stadt eingedrungen war . Die Einnahme von Riga war die letzte große Tat der "Baltikumer". Bald kamen die ersten Schlappen, und Roßbach erklärte uns das falsche Spiel Englands. Solange die Bolschewisten die baltischen Provinzen besetzt hielten, hatte es trotz des Waffenstillstands die Augen vor der Anwesenheit deutscher Truppen in Lettland verschlossen. Und die "Herren im Gehrock"
in der deutschen Republik verschlossen sie auch. Als aber einmal die Bolschewisten geschlagen waren, merkte England "mit Erstaunen", daß die "Baltikumer"
im Grunde eine flagrante Verletzung des Waffenstillstands darstellten. Unter seinem Druck rief die deutsche Republik die "Baltikumer"
zurück. Aber die kamen nicht. Merkwürdig, sie verwandelten sich in ein Korps weißrussischer Freiwilliger. Es schien sogar, daß sie anfingen, russisch zu singen. Ein Gelächter brach los, und Schrader klatschte sich auf die Schenkel. Kurz darauf erfuhren wir mit Bestürzung, daß die "Herren im Gehrock"
den Vertrag von Versailles unterzeichnet hatten. Aber Roßbach berührte dies mit keinem Wort. Die Nachricht schien ihn überhaupt nicht zu betreffen. Er sagte nur, das wahre Deutschland wäre nicht in Weimar, sondern überall, Wo deutsche Männer weiterkämpften. Leider wurden die Nachrichten über die "Baltikumer"
immer schlimmer. England hatte die Litauer und Letten gegen sie bewaffnet. Sein Gold floß in Strömen, seine Flotte ankerte vor Riga und hißte die lettische Flagge, um auf unsere Truppen schießen zu können. Gegen Mitte November sagte uns Roßbach, daß die "Baltikumer"
uns die Ehre erwiesen, uns zu Hilfe zu rufen. Dann machte er eine Pause und fragte uns, ob es uns gleichgültig wäre, von den "Herren im Gehrock"
als Rebellen angesehen zu werden. Wir lächelten, und Roßbach sagte, er zwänge keinen und diejenigen, die es wollten, könnten zurückbleiben. Niemand muckste sich, Roßbach sah uns an, und seine blauen Augen strahlten vor Stolz.

Wir setzten uns in Marsch, und die deutsche Regierung sandte eine Abteilung des Heeres, um uns aufzuhalten. Aber die Abteilung war schlecht ausgesucht worden; sie vereinigte sich mit uns. Kurze Zeit später fand das erste Treffen statt. Litauische Truppen stellten sich uns entgegen. In weniger als einer Stunde waren sie weggefegt. Am Abend lagerten wir auf litauischem Boden und sangen: "Wir sind die letzten deutschen Männer, die am Feind geblieben sind."
Das war das Lied der "Baltikumer". Wir kannten den Text schon seit mehreren Monaten. Aber an diesem Abend fühlten wir zum erstenmal, daß wir das Recht hatten, es zu singen. Einige Tage später bahnte sich die Abteilung Roßbach einen Weg durch die lettischen Truppen und befreite die in Thorensberg eingeschlossene deutsche Besatzung. Aber gleich darauf begann der Rückzug. Schnee fiel unaufhörlich auf die Steppen und Sümpfe Kurlands, es wehte ein eisiger Wind, wir kämpften Tag und Nacht, und ich weiß nicht, was Leutnant von Ritterbach gedacht haben würde, wenn er gesehen hätte, daß wir die Letten genauso behandelten, wie die Türken die Araber behandelt hatten. Wir zündeten Dörfer an, wir plünderten Gutshöfe, wir fällten Bäume, wir machten keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten, zwischen Männern und Frauen, zwischen Erwachsenen und Kindern. Alles, was lettisch war, war dem Tode geweiht. Wenn man einen Gutshof eingenommen und seine Bewohner niedergemetzelt hatte, warf man die Leichen in den Brunnen und ein paar Handgranaten darauf; am Abend schaffte man dann alle Möbel auf den Hof und machte damit ein Freudenfeuer; die Flammen stiegen hoch und hell über dem Schnee empor. Schrader sagte leise zu mir: "Das mag ich gar nicht", ich antwortete nichts, ich sah zu, wie die Möbel sich schwärzten und in den Flammen zusammenschrumpften, und ich hatte das Gefühl, daß die Dinge sehr wirklich waren, da man sie zerstören konnte. Die Abteilung Roßbach war zusammengeschmolzen, wir gingen immer weiter zurück. Bei Mitau, Anfang November, fand in einem Wald ein blutiger Kampf statt, dann hörten die Letten auf, uns zuzusetzen, es herrschte eine kurze Zeit Ruhe, kaum daß noch ein paar Kugeln pfiffen. Schrader stand auf und lehnte sich an eine Tanne. Er lächelte müde, schob seinen Helm nach hinten und sagte: "Herrgott! Das bißchen Leben gefällt mir doch."
In demselben Augenblick beugte er sich leicht vornüber, sah mich überrascht an, ging langsam in die Knie, senkte verlegen die Augen und brach zusammen. Ich kniete bei ihm nieder und legte ihn auf den Rücken. Er hatte ein winzig kleines Loch in der linken Brust und kaum ein paar Tropfen Blut auf seiner Bluse.

Darauf kam der Befehl zum Angriff, wir stießen vor, das Gefecht dauerte den ganzen Tag, dann zogen wir uns zurück, und am Abend lagerten wir wieder im Wald. Kameraden, die zurückgeblieben waren, um die Stellung vorzubereiten, teilten mir mit, daß sie Schrader begraben hätten. Die Leiche war gefroren, und da sie die Beine nicht hatten biegen können, hatten sie ihn im Sitzen begraben. Sie übergaben mir seine Erkennungsmarke. Kalt und glänzend lag sie in meiner hohlen Hand. An den folgenden Tagen, während wir zurückgingen, dachte ich viel an Schrader. Ich sah ihn unbeweglich unter der Erde sitzen. Und manchmal sah ich ihn im Traum, wie er verzweifelt versuchte, sich aufzurichten und die harte, eiskalte Erde über seinem Kopf zu sprengen. Trotzdem litt ich nicht sehr darunter, ihn nicht mehr an meiner Seite zu sehen. Die "Baltikumer"
kehrten in kleinen Tagemärschen nach Ostpreußen zurück. Die deutsche Republik wollte uns verzeihen, daß wir für Deutschland gekämpft hatten. Sie schickte uns nach S. in Garnison. Und es war wieder dasselbe wie in W. Wir hatten nichts zu tun. Man wartete. Schließlich brach, wie zur Belohnung, der Tag des Kampfes an. Die Bergarbeiter an der Ruhr, von Juden und Spartakisten aufgehetzt, traten in den Streik, der Streik wurde zum Aufruhr, und man schickte uns hin, ihn zu unterdrücken. Die Spartakisten waren ziemlich gut mit leichten Waffen ausgerüstet, sie kämpften tapfer und waren Meister im Straßenkampf. Aber der Kampf war für sie hoffnungslos, wir besaßen Kanonen und Minenwerfer, sie wurden unerbittlich zusammengeschlagen; jeder, der eine rote Armbinde trug, wurde unverzüglich erschossen. Es kam nicht selten vor, daß wir unter den gefangenen Spartakisten ehemalige Kameraden aus den Freikorps entdeckten, die durch die jüdische Propaganda irregeführt worden waren. Ende April traf ich in Düsseldorf unter einem Dutzend roter Arbeiter, die ich zu bewachen hatte, einen gewissen Henckel wieder, der in Thorensberg und in Mitau an meiner Seite gekämpft hatte. Er lehnte mit seinen Kameraden an einer Mauer, der Verband, den er um den Kopf trug, war blutbefleckt, und er sah sehr bleich aus. Ich sprach ihn nicht an, und es war mir unmöglich zu sehen, ob er mich erkannt hatte. Der Leutnant kam auf seinem Motorrad an, sprang ab und überflog die Gruppe mit einem Blick, ohne sich ihr zu nähern. Die Arbeiter saßen längs einer Mauer, regungslos, schweigend, die Hände auf den Knien. Nur ihre Augen zeigten Leben. Sie waren auf den Leutnant gerichtet. Ich eilte herbei und bat um Befehle. Der Leutnant preßte die Lippen zusammen und sagte: "Wie gewöhnlich."
Ich teilte ihm mit, daß ein ehemaliger "Baltikumer"
dabei sei. Er fluchte zwischen den Zähnen und verlangte, ich solle ihn ihm bezeichnen. Ich wollte auf Henckel nicht mit der Hand zeigen und sagte: "Der mit dem Kopfverband."

Der Leutnant sah ihn an und rief leise: "Das ist doch Henckel!"
Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sagte rasch: "
Wie schade! Ein so guter Soldat!"
Dann bestieg er sein Motorrad, ließ den Motor aufbrummen und fuhr los. Die Arbeiter sahen ihm nach. Als er um die Ecke der Straße verschwunden war, standen sie auf, sogar ohne meinen Befehl abzuwarten. Ich stellte zwei Mann an die Spitze der Kolonne, einen auf jede Seite, und ich selbst beschloß den Zug. Henckel ging allein im letzten Glied, gerade vor mir. Ich gab ein Kommando, die Kolonne setzte sich in Bewegung. Ein paar Meter marschierten die Arbeiter mechanisch im Gleichschritt, dann sah ich einige von ihnen fast zur gleichen Zeit den Schritt wechseln, der Marschrhythmus war zum Teufel, und ich begriff, daß sie es absichtlich getan hatten. Der rechte Begleitmann drehte im Marschieren den Oberkörper herum und fragte mich mit einem Blick. Ich zuckte die Achseln. Der Mann lächelte, zuckte seinerseits die Achseln und drehte sich wieder um. Henckel hatte sich etwas zurückfallen lassen. Er marschierte jetzt rechts neben mir auf gleicher Höhe. Er war sehr bleich und blickte vor sich hin. Dann hörte ich jemanden ganz leise summen. Ich wandte den Kopf, Henckels Lippen bewegten sich, ich näherte mich etwas, er warf mir einen raschen Blick zu, seine Lippen bewegten sich von neuem, und ich hörte: "Wir sind die letzten deutschen Männer, die am Feind geblieben sind."
Ich fühlte, daß er mich anblickte, und nahm wieder Abstand. Nach ein paar Metern sah ich von der Seite, wie Henckel nervös das Gesicht hob, es immer mehr nach rechts drehte und nach vorn blickte. Ich blickte in dieselbe Richtung, aber es war nichts zu sehen als eine kleine Straße, die in unsere mündete. Henckel ließ sich immer weiter zurückfallen, er war jetzt hinter mir und summte: "Wir sind die letzten deutschen Männer, die am Feind geblieben sind", mit leiser, bittender Stimme, aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn anzusprechen, um ihm zu sagen, er solle schneller gehen und still sein. In diesem Augenblick kam links von mir mit lautem Geklapper eine Straßenbahn vorbei, mechanisch drehte ich den Kopf hin, und im selben Augenblick hörte ich von rechts das Geräusch des Laufschritts, ich drehte mich um: Henckel lief davon. Er hatte schon fast die Ecke der kleinen Straße erreicht, als ich mein Gewehr hochriß und schoß: Er drehte sich zweimal um sich selbst und fiel auf den Rücken. Ich rief "Halt!", die Kolonne blieb stehen, ich eilte zu Henckel hin, ein Beben lief durch seinen Körper, er sah mich starr an. Ohne anzulegen, schoß ich aus weniger als einem Meter Entfernung noch einmal, ich zielte auf den Kopf, die Kugel schlug auf den Bürgersteig. Zwei Meter von mir entfernt kam aus einem Haus eine Frau. Sie. blieb wie angenagelt mit verstörtem Blick auf der Schwelle stehen.

Ich schoß noch zweimal ohne Erfolg. Schweiß lief mir den Hals herunter, meine Hände zitterten, Henckel starrte mich an. Schließlich setzte ich die Mündung der Waffe an seinen Verband, sagte leise: "Verzeihung, Kamerad!"
und drückte ab. Ich hörte einen gellenden Schrei, ich wandte den Kopf, die Frau hielt ihre schwarzbehandschuhten Hände vor die Augen und schrie wie eine Verrückte. Nach den Kämpfen an der Ruhr schlug ich mich noch in Oberschlesien mit den polnischen Aufständischen herum, die, insgeheim von der Entente unterstützt, Deutschland die Gebiete zu entreißen suchten, welche die Volksabstimmung ihm gelassen hatte. Die Freikorps warfen die Sokols siegreich zurück, und die neue, von der Interalliierten Kommission aufgestellte Demarkationslinie bestätigte den Raumgewinn unserer Truppen. "Die letzten deutschen Männer"
hatten nicht umsonst gekämpft. Doch kurz darauf erfuhren wir, daß die deutsche Republik zum Dank dafür, daß wir die Ostgrenzen verteidigt, einen Spartakistenaufstand unterdrückt und Deutschland zwei Drittel von Oberschlesien erhalten hatten, uns auf die Straße warf. Die Freikorps wurden aufgelöst; Widerspenstige wurden verhaftet und mit Gefängnis bedroht. Ich kehrte nach H. zurück, wurde dort entlassen und erhielt meine Zivilkleider und den Mantel des Onkel Franz zurück. Ich suchte Frau Lippmann auf und teilte ihr den Tod Schraders mit. Sie schluchzte sehr und behielt mich zum Übernachten da. Aber an den folgenden Tagen gewöhnte sie sich an, jeden Augenblick in mein Zimmer zu kommen und mit mir von Schrader zu reden. Wenn sie am Ende war, wischte sie ihre Tränen ab, blieb noch eine Weile, ohne etwas zu sagen, brach dann plötzlich in ein girrendes Gelächter aus und begann mich zu necken. Schließlich behauptete sie, stärker zu sein als ich, und daß sie bei einem Ringkampf mich mit beiden Schultern auf den Boden legen könnte. Da ich die Herausforderung nicht annahm, faßte sie mich um den Leib, ich kämpfte, um mich von ihr frei zu machen, sie drückte fester, wir wälzten uns auf dem Fußboden, ihr Atem wurde schwer, ihr Busen und ihre Schenkel preßten sich an meinen Körper; es ekelte mich an und machte mir gleichzeitig Vergnügen. Endlich gelang es mir, mich frei zu machen, sie stand auch auf, rot und schwitzend, warf mir einen bösen Blick zu, beschimpfte mich, und manchmal versuchte sie sogar, mich zu schlagen. Nach einer Weile geriet ich dann in Zorn, ich schlug zurück, sie klammerte sich an mich, ihr Atem ging immer schneller, sie keuchte, und alles begann wieder von neuem. Eines Abends brachte sie eine Flasche Schnaps und Bier mit. Ich war den ganzen Tag herumgelaufen, um Arbeit zu suchen, ich war traurig und müde. Frau Lippmann holte Fleisch; nach jedem Bissen goß sie mir Bier und Schnaps ein, sie trank mit, und als wir mit Essen fertig waren, fing sie an, von Schrader zu sprechen, zu weinen und Schnaps zu trinken. Gleich darauf schlug sie mir vor, mit ihr zu ringen, sie faßte mich um den Leib und wälzte sich mit mir auf dem Boden herum. Ich forderte sie auf, mein Zimmer zu verlassen. Sie fing an, wie verrückt zu lachen, es wäre ihre Wohnung, und sie würde mir zeigen, ob ich ihr etwas zu sagen hätte. Daraufhin ging das Gebalge wieder los. Dann trank sie wieder Schnaps, füllte auch mein Glas, weinte, sprach von ihrem verstorbenen Mann, von Schrader, von einem anderen Mieter, den sie vor ihm gehabt hätte. Sie sagte immer wieder, Deutschland sei kaputt, alles wäre kaputt, auch die Religion wäre kaputt, es gäbe keine Moral mehr, und die Mark sei nichts mehr wert. Was sie betreffe, so wäre sie mir gut, aber ich hätte überhaupt kein Herz, ich wäre, wie Schrader sagte, ein "toter Hering", er hätte recht gehabt, ich liebte nichts und niemanden, und am nächsten Tag werde sie mich ganz bestimmt hinauswerfen. Darauf traten ihr die Augen aus dem Kopf, und sie schrie: "Raus, mein Herr, raus!"
Dann stürzte sie auf mich los, um mich zu schlagen, sie kratzte und biß. Wir wälzten uns noch einmal auf dem Boden, und sie preßte mich an sich, daß ich fast erstickte. Es drehte sich mir im Kopf, mir war, als kämpfte ich schon stundenlang mit dieser Furie, es war wie ein Alpdruck, ich wußte nicht mehr, wo ich war, noch wer ich war. Schließlich packte mich ein rasender Zorn, ich warf mich auf sie, schlug auf sie ein und nahm sie. Am nächsten Morgen verließ ich in der Dämmerung das Haus wie ein Dieb und sprang in den Zug nach M.