1916

Ich ging an Saal sechs vorüber, bog nach rechts, wendete mich hinter der Apotheke nochmals nach rechts. Dort waren die Offizierszimmer. Ich ging langsamer. Die Tür Rittmeister Günthers stand wie gewöhnlich offen, und ich wußte, daß er auf den Kissen saß, vom Kopf bis zu den Füßen in Verbände gewickelt, den Blick auf den Korridor geheftet. Ich kam an der Tür vorbei, warf ihm einen raschen Blick zu, und er rief mit dröhnender Stimme: "Junge!"
Ich bekam Herzklopfen. "Komm her!"
Ich ließ Eimer, Schürze und Lappen auf dem Korridor und betrat sein Zimmer . "Brenn mir eine Zigarette an."
"Ich, Herr Rittmeister?"
"Du, ja, Dummkopf! Ist sonst noch jemand im Zimmer?"
Und gleichzeitig hob er seine beiden Arme und zeigte mir die Verbände um seine Hände. Ich sagte: "Jawohl, Herr Rittmeister!"
Ich steckte ihm eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Er tat zwei oder drei Züge hintereinander und sagte dann kurz: "Raus!"
Ich nahm vorsichtig die Zigarette aus seinen Lippen und wartete. Der Rittmeister lächelte und sah dabei ins Leere. Soweit ich es bei den Verbänden, die ihn einhüllten, beurteilen konnte, war er ein sehr schöner Mann, und in seinem Lächeln wie in seinen Augen lag etwas Anmaßendes, das mich an Onkel Franz erinnerte. "Rein!"
kommandierte der Rittmeister. Ich steckte ihm die Zigarette wieder zwischen die Lippen. Er zog daran. "Raus!"
Ich nahm ihm abermals die Zigarette aus dem Mund. Er sah mich schweigend einen Augenblick scharf an, dann sagte er: "
Wie heißt du?"
"Rudolf, Herr Rittmeister."
"Nun, Rudolf", sagte er leutselig, "ich sehe, daß du doch nicht so dumm bist wie Paul. Wenn dieses Schwein eine Zigarette anzündet, verbrennt er mindestens die Hälfte. Und obendrein ist er nie da, wenn ich ihn rufe."
Er gab mir ein Zeichen, daß ich ihm die Zigarette zwischen die Lippen stecken sollte, tat einen Zug und sagte: "Raus!"
Er sah mich an. "Und wo haben sie denn dich hergeholt, Bengel?"
"Aus der Schule, Herr Rittmeister."
"Du kannst also schreiben?"
"Ja, Herr Rittmeister."

"Setz dich, ich will dir einen Brief an meine Dragoner diktieren."
Weiter sagte er: "Weißt du, wo meine Dragoner sind?"
"Saal 8, Herr Rittmeister."
"Gut", sagte er befriedigt, "setz dich!"
Ich setzte mich an seinen Tisch, er begann zu diktieren, und ich schrieb. Als er zu Ende war, brachte ich ihm den Brief, er las ihn noch einmal durch, schüttelte den Kopf und befahl mir, mich wieder hinzusetzen, um eine Nachschrift anzufügen. "Rudolf", sagte die Stimme der Oberschwester hinter meinem Rücken, "was machst du hier?"
Ich sprang auf. Sie stand auf der Türschwelle, groß und steif, das blonde Haar glattgestrichen, die Hände vor dem Leib übereinandergelegt, mit strenger, abweisender Miene. "Rudolf", sagte der Rittmeister Günther und sah die Oberschwe-ster hochmütig an, "arbeitet für mich."
"Rudolf", sagte die Oberschwester, ohne ihn anzusehen, "ich habe dir befohlen, Saal zwölf zu reinigen. Ich habe dir hier zu befehlen und sonst niemand."
Rittmeister Günther lächelte. "Meine Gnädige", sagte er mit hochmütiger Höflichkeit, "Rudolf wird Saal zwölf weder heute noch morgen reinigen."
"So!"
sagte die Oberschwester, indem sie sich ihm voll zuwandte, "und darf ich fragen, warum, Herr Rittmeister?"
"Weil er von heute an in meinen Dienst und den der Dragoner übertritt. Paul kann ja den Saal zwölf reinigen, wenn Sie es wünschen, meine Gnädige."
Die Oberschwester richtete sich zu ihrer ganzen Höhe auf und sagte kalt: "Haben Sie sich über Paul zu beklagen, Herr Rittmeister?"
"Gewiß, meine Gnädige, ich habe mich über Paul zu beklagen. Paul hat dreckige Hände und Rudolf saubere. Paul zündet Zigaretten schweinemäßig an und Rudolf richtig. Paul schreibt auch schweinemäßig, und Rudolf schreibt sehr schön. Aus allen diesen Gründen, meine Gnädige, und außerdem, weil er nie da ist, kann Paul sich aufhängen lassen, und Rudolf tritt von jetzt an in meinen Dienst."
Die Augen der Oberschwester funkelten. "Und darf ich fragen, Herr Rittmeister, wer das angeordnet hat?"
"Ich."
"Herr Rittmeister", rief die Oberschwester mit keuchender Brust, "ich möchte, daß Sie ein für allemal begreifen, daß hier nur ich über die Verwendung des Personals zu entscheiden habe."
"So?"
sagte Rittmeister Günther. Und er lächelte mit einer unglaublichen Unverschämtheit, während er seinen Blick langsam über sie hingleiten ließ, als ob er sie auskleidete.

"Rudolf", schrie sie mit vor Wut bebender Stimme, "komm mit! Komm sofort mit!"
"Rudolf", sagte der Rittmeister Günther ruhig, "setz dich!"
Ich sah sie beide an, und eine volle Sekunde lang zögerte ich. "Rudolf!"
schrie die Oberschwester. Der Rittmeister sagte nichts, er lächelte. Er ähnelte Onkel Franz. "Rudolf!"
rief die Oberschwester wütend. Ich setzte mich wieder hin. Sie machte kehrt und verließ das Zimmer . "Ich frage mich", rief der Rittmeister mit dröhnender Stimme, "was diese steife blonde Jungfer im Bett abgeben würde. Nicht viel wahrscheinlich! Wie denkst du darüber, Rudolf?"
Am nächsten Tag änderte die Oberschwester den Dienstplan, und ich wurde zum Dienst bei Rittmeister Günther und seinen Dragonern bestimmt. Eines Morgens, als ich dabei war, in seinem Zimmer Ordnung zu machen, sagte er hinter meinem Rücken: "Ich habe schöne Geschichten von dir gehört."
Ich drehte mich um, er sah mich mit strenger Miene an, mir war die Kehle wie zugeschnürt. "Komm her!"
Ich näherte mich dem Bett. Er drehte sich in den Kissen auf die andere Seite, um mir ins Gesicht zu sehen. "Es scheint, du hast deine Arbeit auf dem Bahnhof dazu benutzt, dich zweimal in Transporte einzuschmuggeln, die an die Front gehen. Ist das wahr?"
"Ja, Herr Rittmeister."
Er sah mich einen Augenblick streng an. "Setz dich!"
Ich hatte mich in seiner Gegenwart nie gesetzt, außer um die Briefe an seine Dragoner zu schreiben, und ich zögerte. "Setz dich, Dummkopf!"
Ich nahm mir einen Stuhl, rückte ihn ans Bett und setzte mich mit klopfendem Herzen. "Nimm eine Zigarette!"
Ich nahm eine Zigarette und hielt sie ihm hin. Er winkte ab. "Sie ist für dich."
Stolz überflutete mich. Ich nahm die Zigarette zwischen meine Lippen, zündete sie an, tat mehrere Züge hintereinander und fing sofort zu husten an. Der Rittmeister sah mir zu und lachte. "Rudolf", sagte er und wurde plötzlich wieder ernst, "ich habe dich beobachtet. Du bist klein, du hast nicht viel Benehmen, du redest nicht. Aber du bist klug, gebildet, und alles, was du tust, tust du, wie es ein guter Deutscher tun muß: gründlich."

Er sagte das in demselben Ton wie Vater, und fast, wie mir schien, mit dessen Stimme. "Dazu bist du mutig und begreifst deine Pflicht gegen das Vaterland."
"Ja, Herr Rittmeister."
Ich fing an zu husten. Er sah mich an und lächelte. "Du kannst die Zigarette weglegen, wenn du willst, Rudolf."
"Danke, Herr Rittmeister ."
Ich legte die Zigarette in den Aschenbecher auf dem Nachttisch, nahm sie dann zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie sorgfältig aus. Er sah mir schweigend zu. Dann hob er seine verbundene Hand und sagte: "Rudolf."
"Ja, Herr Rittmeister."
"Und es ist schön, daß du es nach einem Mißerfolg noch einmal versucht hast."
"Ja, Herr Rittmeister."
"Aber es wäre noch schöner, wenn du Dragoner wärst."
Ich stand verblüfft auf. "Ich, Herr Rittmeister?"
"Setz dich!"
schrie er mich an. "Niemand hat dir befohlen aufzustehen."
Ich stand stramm und sagte: "Jawohl, Herr Rittmeister", und setzte mich wieder . "Nun", sagte ernach einer kleinen Weile, "wie denkst du darüber?"
Ich antwortete mit bebender Stimme: "Herr Rittmeister, ich denke, das wäre ganz einfach wunderbar."
Er sah mich mit vor Stolz funkelnden Augen an, schüttelte den Kopf und wiederholte ein paarmal in verhaltenem Ton : "Ganz einfach wunderbar."
Dann sagte er ernst, bedächtig und fast leise: "Gut, Rudolf, gut."
Das Herz hüpfte mir in der Brust. Ein Schweigen entstand, dann sagte der Rittmeister: "Rudolf, ich habe Auftrag, wenn die Kratzer hier geheilt sind, eine Abteilung aufzustellen."
Er fuhr fort: "Für eine unserer Fronten. Bevor ich von hier weggehe, gebe ich dir die Anschrift der Kaserne, und du meldest dich bei mir. Alles Weitere erledige ich."
"Ja, Herr Rittmeister!"
sagte ich, am ganzen Leibe zitternd. Dann kam mir sofort ein schrecklicher Gedanke. "Herr Rittmeister", stammelte ich, "aber sie werden mich nicht nehmen; ich bin noch nicht sechzehn."
"Ach was!"
sagte der Rittmeister lachend, "das macht nichts! Mit sechzehn ist man alt genug, um zu kämpfen! Das sind ihre idiotischen Gesetze! Aber du brauchst keine Angst zu haben, Rudolf, ich werde das erledigen."
Er richtete sich in den Kissen hoch, seine Augen leuchteten auf, und er rief zur Tür hin: "Guten Tag, mein Schatz!"

Ich drehte mich um. Die kleine blonde Schwester, die ihn pflegte, war da. Ich wusch mir am Waschtisch die Hände und half ihr, die Verbände des Rittmeisters abzunehmen. Das dauerte eine Weile, und während der ganzen Zeit hörte der Rittmeister, der gegen Schmerz unempfindlich zu sein schien, nicht auf zu lachen und zu scherzen. Schließlich fing die Schwester an, ihn von neuem wie eine Mumie in seine Verbände einzuwickeln. Mit seiner verbundenen Hand hob er ihr Gesicht hoch und fragte sie in halb ernstem, halb scherzhaftem Ton, wann sie sich entschließen würde, mit ihm zu schlafen. "Ach! Ich will aber nicht, Herr Rittmeister", sagte sie. "
Warum nicht?"
sagte er und sah sie spitzbübisch an. "Gefalle ich Ihnen nicht?"
"Doch, doch, Herr Rittmeister!"
sagte sie lachend. "Sie sind ein sehr schöner Mann."
Dann setzte sie mit völlig ernsthafter Miene hinzu: "Das ist doch Sünde."
"Ach was!"
sagte er ärgerlich. "Sünde! Dummes Zeug!"
Und bis zum Schluß tat er den Mund nicht mehr auf. Als sie gegangen war, drehte er sich mit wütendem Gesicht zu mir um. "Hast du's gehört, Rudolf? Diese kleine Gans! Hat so schöne Brüstchen und glaubt noch an Sünde. Herrgott, Sünde, was für eine Torheit! Das setzen ihnen die Pfaffen in den Kopf. Sünde! So betrügt man unsere biederen Deutschen. Diese Schweine hängen ihnen Sünden an, und unsere biederen Deutschen zahlen ihnen dafür Geld. Und je mehr diese Läuse ihnen das Blut aussaugen, um so zufriedener sind unsere Dummköpfe. Es sind Läuse, Rudolf, Läuse! Sie sind schlimmer als die Juden. Ich wünschte, ich hätte sie alle hier in meiner Hand; Herrgott, sie würden eine böse Viertelstunde erleben. Sünde! Man ist kaum geboren, da ist sie schon da. Man ist schon mit einer belastet. Von der Geburt an heißt es: Auf die Knie! So verdummen sie unsere biederen Deutschen. Mit Hilfe der Furcht! Die armen Idioten sind so feige geworden, daß sie nicht einmal mehr zu küssen wagen. Statt dessen rutschen sie auf den Knien, die Idioten, beten und schlagen sich an die Brust: 'Verzeihung, Herr! ...Verzeihung, Herr!"' Er ahmte so treffend einen Gläubigen nach, der seine Sünde bekennt, daß ich für den Bruchteil einer Sekunde Vater vor mir zu sehen glaubte. "Zum Donnerwetter! Welch eine Dummheit! Es gibt nur eine Sünde, Rudolf! Hör mir gut zu! Und das ist: kein guter Deutscher zu sein. Das ist Sünde. Ich, Rittmeister Günther, bin ein guter Deutscher. Was Deutschland mir zu tun befiehlt, das tue ich. Was meine deutschen Vorgesetzten mir zu tun befehlen, das tue ich. Und damit basta! Aber ich will nicht, daß diese Läuse mir das Blut aussaugen."

Er hatte sich halb aus den Kissen erhoben und seinen mächtigen Oberkörper mir zugedreht; seine Augen schossen Blitze. Noch nie war er mir schöner erschienen. Nach einer Weile wollte er aufstehen und, auf meine Schulter gestützt, ein paar Schritte im Zimmer auf und ab gehen, Er hatte wieder gute Laune und lachte über jede Kleinigkeit. "Sag mal, Rudolf, was reden sie denn hier von mir?"
"Hier im Lazarett?"
"Ja, du Dummkopf, im Lazarett. Wo glaubst du denn, daß wir sind?"
Ich überlegte sorgfältig. "Sie sagen, daß Sie ein echter deutscher Held sind, Herr Rittmeister."
"So, so! Sagen sie das? Und was noch?"
"Daß Sie so lustig sind, Herr Rittmeister."
"Und weiter?"
"Und die Frauen sagen, Sie wären. .."
"Was?"
"Darf ich es wiederholen, Herr Rittmeister?"
"Natürlich, Dummkopf."
". ..ein ganz Gerissener."
"So, so! Sie haben nicht unrecht. Ich werde es ihnen beweisen."
"Und dann sagen sie, daß Sie sonderbar wären."
"Und weiter?"
"Sie sagen auch, daß Sie Ihre Leute lieben."
Das war genau das, was man sagte, und ich glaubte ihm eine Freude zu machen, indem ich es wiederholte, aber sein Gesicht verdüsterte sich. "Quatsch! Dummes Zeug! Ich liebe meine Leute! Da sieht man ihre blöde Sentimentalität! Sie müssen überall die Liebe hineinbringen. Hör zu, Rudolf, ich liebe meine Leute nicht, ich nehme mich ihrer an, das ist etwas anderes. Ich nehme mich ihrer an, weil es Dragoner sind und ich Dragoneroffizier bin, und Deutschland braucht Dragoner. Das ist alles."
"Aber sie sagen, als der kleine Erich starb, hätten Sie seiner Frau die Hälfte Ihres Soldes geschickt."
"Ja, ja", sagte der Rittmeister augenzwinkernd, "und außerdem einen schönen Brief, in dem ich das Lob dieses kleinen Dreckfinken und Drückebergers, der nicht einmal richtig reiten konnte, in allen Tonarten gesungen habe. Und warum tat ich das, Rudolf? Weil ich Erich liebte? Ach! Überleg doch mal, Rudolf! Der kleine Dreckfink war tot: Er war also kein Dragoner mehr. Nein, wenn ich das getan habe, so darum, damit jeder im Dorf meinen Brief lesen und sagen sollte: ,Unser Erich war ein deutscher Held, und sein Offizier ist ein deutscher Offizier!"' Er blieb stehen und schaute mir in die Augen. "Des guten Beispiels halber, verstehst du? Wenn du eines Tages Offizier wirst, denke daran: an das Geld, an den Brief und alles. So

muß man es machen, genau so! Des Beispiels halber, Rudolf, um Deutschlands willen."
Er stellte sich vor mich hin, legte mir plötzlich seine beiden verbundenen Hände auf die Schultern und zog mich an sich. "Rudolf!"
"Jawohl, Herr Rittmeister."
Er sah auf mich herunter und versenkte seinen Blick in meinen. "Hör gut zu!"
"Jawohl, Herr Rittmeister."
Er drückte mich an sich und sagte betont und laut: "Für mich gibt's nur eine Kirche, und die heißt Deutschland."
Ein Schauer überlief mich von Kopf bis zu den Füßen. Ich sagte mit bebender Stimme: "Jawohl, Herr Rittmeister!"
Er beugte sich zu mir herab und preßte mich unbarmherzig an sich. "Meine Kirche heißt Deutschland. Wiederhole das!"
"Meine Kirche heißt Deutschland"
"Lauter."
Ich wiederholte mit Donnerstimme: "Meine Kirche heißt Deutschland."
"Gut so, Rudolf."
Er ließ mich los und ging ohne meine Hilfe wieder zu Bett. Nach einem Weilchen schloß er die Augen und befahl mir durch einen Wink zu gehen. Bevor ich das Zimmer verließ, nahm ich aus dem Aschenbecher rasch die Zigarette, die er mir gegeben hatte, und als ich auf dem Korridor war, steckte ich sie in meine Brieftasche. Als ich an disem Abend nach Hause kam, war es halb acht durch. Mutter und meine beiden Schwestern saßen schon am Tisch. Sie warteten auf mich. Ich blieb auf der Schwelle stehen und ließ meinen Blick langsam über sie hingleiten. "Guten Abend, Rudolf", sagte Mutter, und gleich darauf sagten es meine Schwestern als ihr Echo. Ich setzte mich. Mutter trug die Suppe auf. Ich setzte den Löffel an die Lippen, und sogleich taten es mir alle nach. Als wir die Suppe gegessen hatten, brachte Mutter eine große Schüssel Kartoffeln herein und stellte sie auf den Tisch. "Immer wieder Kartoffeln!"
sagte Bertha und schob ihren Teller verdrießlich zurück. Ich sah sie an. "Bertha, im Schützengraben haben sie nicht einmal alle Tage Kartoffeln."
Bertha wurde rot, aber dann erwiderte sie: "Was weißt du davon! Du warst doch nicht dort."
Ich legte die Gabel auf den Tisch und sah sie an.

"Bertha", sagte ich, "ich habe zweimal versucht, an die Front zu gehen. Sie haben mich nicht gewollt. Inzwischen arbeite ich täglich zwei Stunden in einem Lazarett."
Ich machte eine Pause und sprach dann betont und laut: "Das tue ich für Deutschland. Und du, Bertha, was tust du für Deutschland?"
"Bertha", sagte Mutter, "du solltest dich schämen. .."
Ich unterbrach sie. "Bitte, Mutter!"
Sie schwieg. Ich wandte mich wieder an Bertha, sah sie fest an und wiederholte, ohne die Stimme zu erheben: "Bertha, was tust du für Deutschland?"
Bertha fing an zu weinen, und bis zum Nachtisch fiel kein Wort mehr. Als Mutter aufstehen wollte, um abzudecken, sagte ich: "Mutter..."
Sie setzte sich wieder, und ich sah sie an. "Ich hab' mir's überlegt. Vielleicht wäre es besser, das gemeinsame Abendgebet wegzulassen. Jeder könnte in seinem Zimmer beten."
Mutter sah mich an. "Du hast doch nein gesagt, Rudolf."
"Ich hab' mir's überlegt."
Es entstand ein Schweigen, und Mutter sagte: "Wie du willst, Rudolf."
Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, besann sich aber. Sie fing an, mit meinen Schwestern den Tisch abzuräumen. Ich blieb sitzen, ohne mich zu rühren. Als sie wieder aus der Küche hereinkamen, sagte ich: "Mutter. .."
"Ja, Rudolf."
"Von jetzt an werde ich mit euch zusammen frühstücken."
Ich fühlte, daß meine Schwestern mich anstarrten. Ich drehte mich zu ihnen um. Sie schlugen sofort die Augen nieder. Mutter setzte mechanisch das Glas, das sie in die Hand genommen hatte, wieder auf den Tisch. Auch sie hatte die Augen gesenkt. Nach einem Weilchen sagte sie: "Du standest bis jetzt um fünf Uhr auf, Rudolf."
"Ja, Mutter."
"Und du willst es nicht mehr?"
"Nein, Mutter."
Ich setzte hinzu: "Ich werde von jetzt an um sieben Uhr aufstehen."
Mutter rührte sich nicht, sie war nur etwas bleich geworden, und ihre Hand schob das Glas auf dem Tisch hin und her. Zögernd fragte sie: "Um sieben Uhr, ist das nicht zu spät, Rudolf?"
Ich sah sie an. "Nein, Mutter. Ich gehe von hier aus direkt in die Schule."
Ich betonte das "direkt". Mutter blinzelte, sagte aber nichts. Ich fuhr fort: "Ich fühle mich etwas müde."
Mutters Gesicht hellte sich auf.

"Natürlich", sagte sie hastig, und als ob diese Bemerkung sie von . einer großen Last befreit hätte: "Natürlich, bei der Arbeit, die du leistest ..."
Ich unterbrach sie. "Also abgemacht?"
Sie nickte zustimmend, ich sagte: "Gute Nacht", wartete, bis alle mir darauf geantwortet hatten, und ging in mein Zimmer . Ich schlug mein Geometriebuch auf und begann, meine Aufgabe für den nächsten Tag durchzugehen. Es gelang mir nur schlecht, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Ich legte das Buch auf den Tisch, nahm meine Schuhe und fing an, sie zu wichsen. Nach einem Weilchen glänzten sie, und ich empfand Befriedigung darüber. Ich stellte sie sorgfältig ans Fußende meines Bettes, wobei ich darauf achtgab, daß die Absätze auf einer Linie des Fußbodens standen. Dann stellte ich mich vor den Spiegelschrank, und als ob eine,Stimme mir den Befehl gegeben hätte, stand ich plötzlich stramm. Fast eine Minute lang studierte und korrigierte ich geduldig meine Haltung, und als sie wirklich vollkommen war, blickte ich in den Spiegel, sah mir in die Augen: und langsam, deutlich, ohne eine Silbe auszulassen, genauso, wie Vater es tat, wenn er betete, sprach ich die Worte: "Meine Kirche heißt Deutschland."
Danach zog ich mich aus, legte mich ins Bett, nahm die Zeitung vom Stuhl und fing an, die Kriegsnachrichten von der ersten bis zur letzten Zeile zu lesen. Auf dem Bahnhof schlug es neun Uhr. Ich faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Stuhl und streckte mich in meinem Bett aus, mit offenen Augen, aber bereit, sie zu schließen, sobald Mutter in mein Zimmer käme, um das Licht zu löschen. Ich hörte die Tür meiner Schwestern leicht knarren, dann Mutter mit weichen Schritten an meiner Tür vorbeigehen. Mutters Tür knarrte ebenfalls, der Riegel scharrte, Mutter fing hinter der Wand an zu husten, dann wurde es still. Ich wartete noch unbeweglich eine Minute lang. Dann nahm ich wieder die Zeitung zur Hand, schlug sie auf und fing wieder an zu lesen. Nach einer Weile sah ich nach der Uhr. Es war halb zehn. Ich legte die Zeitung weg, stand auf und löschte das Licht. Am 1. August 1916 trat ich, nachdem ich zum drittenmal von zu Hause ausgerissen war, dank Rittmeister Günther beim Dragonerregiment 23 in B. ein. Ich war fünfzehn Jahre und acht Monate alt. Die Ausbildung ging schnell. Ich war klein, aber kräftig genug für meine Größe und hielt die Anstrengungen des Dienstes rühmlich aus. Ich hatte einen großen Vorteil vor den anderen Rekruten: Ich konnte schon reiten, da ich mehrere Ferien auf einem Gut in Mecklenburg zugebracht hatte. Und vor allem liebte ich die Pferde. Es war nicht nur das Vergnügen am Reiten. Es machte mir Freude, sie zu sehen, sie zu pflegen, ihren Geruch einzuatmen, um sie zu sein. In der Kaserne stand ich bald im Ruf, gefällig zu sein, weil ich gern die Stallwache meiner Kameraden zu meiner hinzu übernahm. Aber darin lag keinerlei Verdienst. Ich war lieber mit Tieren zusammen. Das geregelte Kasernenleben war gleichfalls für mich eine große Quelle des Vergnügens. Ich glaubte zu wissen, was geregelter Betrieb war, weil zu Hause unsere Stunden genau eingeteilt waren. Aber es war doch nicht ganz dasselbe. Zu Hause gab es hin und wieder noch unausgefüllte Zeiten, leere Augenblicke. In der Kaserne war die Regelung wahrhaft vollkommen. Die Behandlung der Waffen entzückte mich besonders. Ich hätte gewünscht, auf diese Weise das ganze Leben so in Stücke zerlegen zu können. Morgens, gleich nach dem Wecken, trieb ich ein kleines Spiel, das ich erfunden und durchgebildet hatte, wobei ich darauf achtete, daß kein Kamerad es merkte. Beim Aufstehen zerlegte ich meine Bewegungen: erstens die Decke zurückwerfen, zweitens die Beine heben, drittens sie auf den Boden fallen lassen, viertens stehen. Dieses kleine Spiel verschaffte mir ein Gefühl der Befriedigung und Sicherheit, und während der ganzen Dauer der Ausbildung unterließ ich es kein einziges Mal. Ich glaube sogar, ich hätte es den ganzen Tag über auf alle meine Bewegungen ausgedehnt, wenn ich nicht gefürchtet hätte, daß man es auf die Dauer merken würde. Rittmeister Günther wiederholte unaufhörlich mit frohlockender Miene, wir kämen "anderswohin, Herrgott! anderswohin", aber die Pessimisten sagten, seine fröhliche Laune sei im Grunde alberne Angeberei, und wir wären sicher für Rußland bestimmt. Eines Morgens jedoch erhielten wir Befehl, uns auf Kammer zu begeben, um neue Uniformen zu fassen. Wir traten in Reihe vor der Tür an, und als die ersten mit dem neuen Bündel wieder herauskamen, sahen wir, daß Khakisachen und ein Tropenhelm darin waren. Sofort lief ein Wort wie ein Schauer durch die ganze Reihe, und schließlich platzte es wie eine Bombe als Zeichen der Freude und Erleichterung heraus: "Türkei!"
Dann kam lächelnd Rittmeister Günther, und der Orden Pour le mérité, den er eben erhalten hatte, glitzerte an seinem Hals. Er hielt einen Dragoner an, zeigte uns Stück für Stück der Ausrüstung und bemerkte, daß darin Tausende von Mark steckten. Als er zu der kurzen Hose kam, faltete er sie auseinander, ließ sie lustig in der Luft tanzen und sagte, die Armee verwandle uns in kleine Jungen, damit wir den Engländern nicht zuviel Angst einjagten. Die Dragoner fingen an zu lachen, und einer sagte, die kleinen Jungen würden sie zum Laufen bringen. Rittmeister Günther sagte: "Jawohl, mein Herr!"
und setzte hinzu, diese Nichtstuer von Engländern verbrächten an den Ufern des Nils ihre Zeit damit, Tee zu trinken und Fußball zu spielen, aber bei Gott!, wir würden ihnen zeigen, daß Ägypten weder eine Teestube noch ein Fußballplatz sei. Als wir in Konstantinopel ankamen, leitete man uns nicht, wie uns gesagt worden war, nach Palästina, sondern in den Irak. In Bagdad verließen wir den Zug, die Abteilung stieg in den Sattel, und wir erreichten in kurzen Tagemärschen ein kleines elendes Nest mit langen, niedrigen Lehmhütten, das Fellalieh hieß. Dort waren wenige primitive Befestigungsanlagen, und etwa zweihundert Meter von dem türkischen Lager entfernt schlugen wir unseres auf. Eine Woche nach unserer Ankunft griffen die Engländer täglich bei wunderbar klarem Wetter nach starker Artillerievorbereitung mit Hindutruppen an. Gegen Mittag nahm der Unteroffizier drei Mann, Schmitz, Becker und mich, und ein Maschinengewehr mit. Er führte uns ganz weit vor, auf den rechten Flügel unserer Truppe, in ein vereinzeltes Grabenstück, das nur wenig tief in den Sand eingegraben war. vor uns lag eine riesige Ebene mit kleinen Palmengruppen hier und da. Die Sturmgräben der Hindus verliefen fast parallel zu uns. Sie waren vollständig einzusehen. Wir brachten das Maschinengewehr in Stellung, und der Unteroffizier sagte trocken: "
Wenn einer am Leben bleibt, bringt er das Maschinengewehr zurück."
Schmitz drehte sich zu mir um, seine dicken Backen waren bleich, und er sagte durch die Zähne: "Hast du das gehört?"
"Becker!"
sagte der Unteroffizier. Becker setzte sich hinter das Maschinengewehr, er preßte die Lippen zusammen, und der Unteroffizier sagte: "Feuer frei!"
Ein paar Sekunden später krepierten um uns herum kleine Granaten und Becker kippte der Länge nach rückwärts um. Sein Gesicht war weggerissen. "Schmitz!"
sagte der Unteroffizier und machte eine kleine Bewegung mit der Hand. Schmitz zog Beckers Körper nach hinten. Seine Wangen zitterten. "Los, Mensch!"
schrie der Unteroffizier. Schmitz nahm hinter dem Maschinengewehr Platz und fing an zu schießen. Schweiß rann ihm an den Backen herunter. Der Unteroffizier entfernte sich einige Meter nach rechts, ohne sich die Mühe zu nehmen, dabei in Deckung zu gehen. Schmitz fluchte zwischen den Zähnen. Es gab einen harten Krach, ein Sandregen ging auf uns nieder, und als wir den Kopf hoben, war der Unteroffizier verschwunden. Schmitz sagte: "Ich werde mal nachsehen."
Er kroch hin. Ich bemerkte, daß an seinen Stiefelsohlen mehrere Zwecken fehlten. Einige Sekunden verstrichen. Schmitz erschien wieder, sein Gesicht war grau, und er sagte mit tonloser Stimme: "In Stücke zerrissen."

Dann fuhr er leise fort, wie wenn der Unteroffizier ihn noch hören könnte: "Der Esel! Aufrecht in die Granaten hineinzulaufen! Was dachte der sich bloß? Daß sie einen Bogen um ihn machen würden?"
Er setzte sich wieder hinter das Maschinengewehr, ohne zu schießen und ohne sich zu bewegen. Man hörte das Artilleriefeuer ziemlich weit entfernt auf unserm linken Flügel, aber seitdem unser Maschinengewehr schwieg, deckte uns der Feind nicht mehr zu. Es war seltsam, daß es in unserer Ecke so ruhig war, während die übrige Front unter Feuer lag. Schmitz nahm eine Handvoll Sand in die Hand, ließ ihn zwischen den Fingern durchlaufen und sagte angewidert: "Und dafür kämpfen wir!"
Er legte behutsam seine Backe an das Maschinengewehr, aber statt zu schießen, warf er mir einen Seitenblick zu und sagte: "
Wenn man jetzt. .."
Ich schaute ihn an. Er saß nach vorn übergebeugt, seine dicke runde Backe lag am Maschinengewehr, sein Puppengesicht war zur Hälfte mir zugewandt. "Schließlich", sagte er, "haben wir unsere Pflicht getan."
Er fuhr fort: "
Wir haben keinen Befehl."
Da ich immer noch schwieg, setzte er hinzu: "Der Unteroffizier hat befohlen, das Maschinengewehr zurückzubringen, wenn es Überlebende gibt."
Ich sagte trocken: "Der Unteroffizier hat gesagt: einen Überlebenden."
Schmitz starrte mich an, und seine Porzellanaugen wurden ganz groß. "Junge", sagte er, "du bist ja verrückt. Es liegt nicht der geringste Grund vor, zu warten, bis einer von uns beiden draufgeht."

Ich sah ihn an, ohne zu antworten. "Aber das ist doch Wahnsinn!"
fuhr er fort. "
Wir können ins Lager zurückgehen. Niemand wird uns das übelnehmen. Keiner weiß, was uns der Unteroffizier gesagt hat."
Er schob seinen großen runden Schädel vor und legte seine Hand auf meinen Arm. Ich zog meinen Arm sofort zurück. "Herrgott", sagte er weiter, "ich hab' doch eine Ft:au und drei Kinder!"
Ein Schweigen folgte, dann sagte er entschlossen: "Los! Komm! Ich habe keine Lust, in Stücke zerrissen zu werden. Soviel Diensteifer ist für einen Unteroffizier ganz richtig, aber nicht für uns."
Er legte die Hand an das Maschinengewehr, als ob er es aufheben wollte. Ich legte sofort meine neben seine und sagte: "Du kannst ja gehen, wenn du willst. Ich bleibe hier. Und das Maschinengewehr auch."
Er zog seine Hand zurück und sah mich verstört an. "Aber Mensch", sagte er mit rauher Stimme, "du bist doch vollkommen verrückt.

Wenn ich ohne das Maschinengewehr zurückkomme, erschießen sie mich. Das ist doch klar!"
Plötzlich liefen seine Augen rot an und funkelten, er stieß einen Fluch aus und gab mir mit der Faust einen Stoß vor die Brust. Ich taumelte zurück, er packte das Maschinengewehr mit beiden Händen und hob es auf. Ich griff rasch nach meinem Karabiner, lud und legte auf ihn an. Er blickte mich bestürzt an. "Aber hör mal, hör mal. ..", stammelte er. Ich blieb schweigend und unbeweglich sitzen, die Mündung des Karabiners auf ihn gerichtet. Er ließ langsam das Maschinengewehr nieder, setzte sich wieder dahinter und blickte weg. Ich legte meinen Karabiner über die Knie, die Mündung auf ihn gerichtet, und legte einen neuen Streifen in das Maschinengewehr ein. Schmitz sah mich an, öffnete den Mund, seine Porzellanaugen blinzelten mehrere Male, dann lehnte er seine rundliche Backe an die Waffe und fing wieder an zu schießen. Einige Sekunden später hagelte es um uns herum Granaten, die uns jedesmal mit Sand überschütteten. Das Maschinengewehr fing an zu rauchen, und ich sagte: "Halt!"
Schmitz hörte mit Schießen auf und sah mich an. Ich ließ meine rechte Hand auf dem Karabiner liegen, ergriff mit der linken meine Feldflasche, machte sie mit den Zähnen auf und goß den Inhalt über den Lauf. Sobald das Wasser aud das Metall traf, verdampfte es mit Gezisch. Der Feind schoß nicht mehr her. Schmitz war in sich zusammengesunken. Er sah mir zu,ohne etwas zu sagen. Schweiß rieselte langsam zu beiden Seiten seines Mundes herunter Er sagte schüchtern: "Laß mich gehen!"
Ich schüttelte verneinend den Kopf. Er strich mit der Zunge über seine Lippen, wandte die Augen weg und sagte mit tonloser Stimme: "Ich lass' dir das Maschinengewehr da. Laß mich gehen."
"Du kannst gehen, wenn du willst. Ohne deinen Karabiner."
Er öffnete den Mund und sah mich an. "Du bist verrückt! Ich brauche ihn für den Fall, daß sie mich erschießen wollen."
Da ich schwieg, fuhr er fort: "Warum denn ohne Karabiner?"
"Ich will nicht, daß du mich hinterrücks erschießt, dann zurückkommst und das Maschinengewehr holst."
Er sah mich an. "Ich schwöre dir, daß ich daran nicht gedacht habe."
Er blickte beiseite und sagte mit der leisen, flehenden Stimme eines Kindes: "Laß mich gehen!"
Ich legte wieder einen neuen Streifen ein, es knackte, er hob den Kopf und sah mich an. Dann, ohne ein Wort zu sagen, lehnte er seine runde Backe an die Waffe und schoß. Es regnete wieder Granaten. Sie schlugen mit hartem Krachen hinter uns ein, und jedesmal klatschte der Sand schaufelweise auf unsere Rücken. Mit ganz gewöhnlicher Stimme sagte Schmitz: "Ich sitze schlecht."
Er hob wieder den Kopf, rückte sich zurecht, warf dann plötzlich die Arme in die Luft wie ein Hanswurst und fiel auf mich drauf. Ich drehte ihn um. Er hatte mitten in der Brust ein großes schwarzes Loch, und ich war von seinem Blut überströmt. Schmitz war groß und schwer, und es machte mir viel Mühe, ihn nach hinten zu ziehen. Als ich es geschafft hatte, nahm ich seine Feldflasche und die von Becker, goß beide über dem Maschinengewehr aus und wartete. Das Maschinengewehr war noch zu heiß zum Schießen. Ich betrachtete Schmitz. Er lag der Länge nach auf dem Rücken. Seine halbgeschlossenen Augen gaben ihm das Aussehen jener Puppen, die ihre Augen öffnen, wenn man sie aufsetzt. Ich schleppte das Maschinengewehr zweihundert Meter höher in ein engeres und etwas tieferes Loch, machte es fertig und legte meine Backe daran. Ich fühlte mich allein, das Maschinengewehr glänzte zwischen meinen Beinen, und ein Gefühl der Befriedigung überkam mich. In etwa achthundert Meter Entfernung sah ich plötzlich Hindus sich mit einer Langsamkeit vom Boden erheben, die mir komisch vorkam, und in leichtem Laufschritt in langer Reihe, fast parallel zu mir, vorgehen. Ich sah deutlich ihre langen, dürren Beine sich bewegen. Hinter ihnentauchte eine zweite Linie auf, dann eine dritte. Ich hatte sie alle im Längenfeuer. Ich zielte etwas vor die erste Reihe und drückte auf den Abzug. Während des Schießens verlegte ich das Feuer von vorn nach hinten, dann wieder nach vorn und noch einmal nach hinten. Dann stoppte ich. Genau in diesem Augenblick fühlte ich so etwas wie einen heftigen Faustschlag gegen die linke Schulter. Ich fiel nach hinten, aber ich setzte mich sofort wieder auf. Ich blickte auf meine Schulter, sie war mit Blut befleckt, ich fühlte keinen Schmerz, aber ich konnte den Arm nicht bewegen. Ich nahm ein Verbandspäckchen in die rechte Hand, riß es mit den Zähnen auf und schob es zwischen Bluse und Schulter. Sogar bei der Berührung fühlte ich nichts. Ich überlegte und dachte, es wäre jetzt der gegebene Augenblick, sich zurückzuziehen und das Maschinengewehr mitzunehmen. Während des Zurückkriechens sah ich auf einer Anhöhe vor einer Gruppe Palmen vier oder fünf Hindureiter halten. Ihre dünnen hochstehenden Lanzen zeichneten sich am Himmel ab. Ich brachte vorsichtig mein Maschinengewehr in Stellung und mähte sie nieder .

Dann legte ich noch ein paar hundert Meter in Richtung auf unsere Linien zurück, aber kurz bevor ich dort ankam, muß ich ohnmächtig geworden sein, denn ich erinnere mich an nichts mehr .

Nach meiner Genesung erhielt ich das Eiserne Kreuz und wurde an die Front in Palästina, nach Birseba, geschickt. Aber dort blieb ich nicht lange, ich kriegte Malaria und wurde sofort nach Damaskus verfrachtet. Im Lazarett von Damaskus lag ich eine Zeitlang ohne Besinnung, und meine erste deutliche Erinnerung ist ein blondes Gesicht, das sich über mich beugte. "Fühlst du dich wohl, mein Junge?"
sagte eine muntere Stimme. "Ja, Fräulein."
"Nicht Fräulein", sagte die Stimme, "Vera. Für die deutschen Soldaten bin ich Vera. Und jetzt aufgepaßt."
Zwei frische und starke Hände glitten unter meinen Körper und hoben mich hoch. Alles war verworren, eine Frau trug mich, ich hörte das Keuchen ihres Atems, und ganz nahe vor meinen Augen sah ich große Schweißtropfen über ihren Hals perlen. Ich fühlte, daß ich auf ein Bett gelegt wurde. "So, und nun", sagte die muntere Stimme, "wollen wir es ausnutzen, daß Baby mal weniger Fieber hat, und es waschen. .."
Ich fühlte, wie ich ausgekleidet wurde; eine weiche Hand strich über meinen Körper, ein rauher Stoff kratzte mich, und dann lag ich wieder erfrischt mit halboffenen Augen in den Kissen. Ich wandte langsam den Kopf, denn mir tat der Nacken weh, und sah, daß ich in einem kleinen Zimmer war . "Na, mein Junge? Fühlst du dich wohl?"
"Ja, Fräulein."
"Vera, für die deutschen Soldaten Vera."
Eine rote Hand hob meinen Nacken, klopfte mein Kissen auf und legte meinen Kopf wieder behutsam auf den frischen Bezug. "Es macht dir doch nichts aus, in einem Zimmer allein zu sein? Weißt du, warum man dich hierher gelegt hat?"
"Nein, Vera."
"Weil du in der Nacht, wenn du irre redest, so viel Lärm machst, daß deine Nachbarn nicht schlafen können."
Sie fing an zu lachen und beugte sich über mich, um mich zuzudecken. Die Haut ihres Halses war rot, als käme sie eben aus dem Bad, ihr Blondhaar war glatt und nach hinten gestrichen, und sie roch gut nach Toilettenseife. "Wie heißt du?"
"Rudolf Lang."

"Schön, ich werde dich Rudolf nennen. Erlaubt es der Herr Dragoner?"
"Bitte ja, Vera."
"Für einen Dragoner bist du sehr höflich, Rudolf. Wie alt bist du denn?"
"Sechzehneinhalb."
"Gott im Himmel! Sechzehn Jahre."
"Und einhalb."
Sie fing an zu lachen. "Das halbe Jahr dürfen wir nicht vergessen, Rudolf. Das halbe ist wichtig, nicht wahr?"
Sie sah mich lächelnd an. "Wo bist du her?"
"Aus Bayern."
"Aus Bayern? Ach! In Bayern sind sie schwer von Begriff! Bist du auch schwer von Begriff?"
"Ich weiß nicht."
Sie lachte noch immer und strich mir mit dem Handrücken über die Wange. Dann sah sie mich ernst an und sagte mit einem Seufzer: "Sechzehn Jahre, drei Verwundungen und Malaria!"
Dann setzte sie hinzu: "Bist du sicher, daß du nicht schwer von Begriff bist, Rudolf?"
"Ich weiß nicht, Vera."
Sie lachte. "So. Es ist sehr einfach, zu antworten: 'Ich weiß nicht, Vera.' Du weißt es nicht, und da antwortest du: 'Ich weiß nicht, Vera.' Wenn du es wüßtest, würdest du antworten: ,Ja, Vera' oder ,Nein, Vera.' Nicht wahr?"
"Ja, Vera."
Sie lachte wieder. "Aber du darfst nicht soviel sprechen. Man könnte fast meinen, das Fieber steigt wieder. Du siehst ganz rot aus, Rudolf. Bis zum Abend, Baby."
Sie trat ein paar Schritte zur Tür hin, dann drehte sie sich lächelnd um. "Sag mal, Rudolf, wem hast du denn das Bein zerbrochen?"
Ich richtete mich auf. Das Herz klopfte mir, und ich blickte sie verwirrt an. "Aber was hast du denn?"
sagte sie erschrocken und kam mit lebhaften Schritten an mein Bett. "Los, leg dich wieder hin. Was bedeutet das denn? Du erzählst davon die ganze Zeit in deinen Fieberträumen. Los, leg dich wieder hin!"
Sie faßte mich an den Schultern und zwang mich, mich wieder auszustrecken. Dann setzte sich jemand auf mein Bett und legte mir die Hand auf die Stirn. "Na?"
sagte eine Stimme. "Geht es jetzt besser? Was macht das mir aus, wenn du zehntausend Menschen das Bein brichst?"
Das Zimmer schien sich um mich zu drehen, und ich sah, daß Vera am Kopfende saß, Vera mit ihrer roten Haut, ihrem glatten Haar und

dem Geruch von Toilettenseife. Ich wandte den Kopf, um sie besser zu sehen, aber plötzlich verschwand sie in einem rötlichen Nebel. "Vera!“ –"Ja?"
"Sind Sie es?"
"Ich bin es. Ja, ich bin es, dummer Kerl. Ich bin es. Vera. Leg dich hin."
"An dem gebrochenen Bein war ich nicht schuld, Vera, das war der Schnee."
"Ich weiß, ich weiß, du hast es oft genug gesagt. Beruhige dich!"
Ich fühlte, wie zwei große kühle Hände meine Handgelenke faßten. "Genug davon! Sonst steigt das Fieber."
"Es war nicht meine Schuld, Vera."
"Ich weiß, ich weiß."
Ich fühlte frische Lippen ganz nah an meinem Ohr. "Es war nicht deine Schuld, hörst du?"
sagte eine Stimme. "Ja."
Jemand legte mir die Hand auf die Stirn und ließ sie eine Weile darauf liegen. "Schlaf jetzt, Rudolf!"
Mir war es, als ergriffe eine Hand den Bettpfosten und rüttelte daran. "Na?"
sagte eine Stimme, und ich schlug die Augen auf. "Sind Sie es, Vera?"
"Ja, ja. Sei jetzt still."
"Jemand rüttelt am Bett."
"Es ist nichts."
"Warum rüttelt man am Bett?"
Ein blonder Kopf neigte sich über mich, und ich roch den Duft von Toilettenseife. "Sind Sie es, Vera?"
"Ich bin es, Baby ."
"Bleiben Sie noch ein bißchen da, bitte,Vera!"
Ich vernahm ein helles Lachen, dann wurde es dunkel um mich, ein eisiger Hauch wehte mich an, und ein Schwindel packte mich. "Vera! Vera! Vera!"
Ich hörte von weitem eine Stimme: "Ja, mein Junge?"
"Es war nicht meine Schuld."
"Nein, nein, mein Schäfchen! Es war nicht deine Schuld. Und jetzt genug davon."
Ganz laut drang die Stimme an mein Ohr, wie ein Befehl: "Genug davon!"
Und ich dachte mit unsagbarer Befriedigung: ,Das ist ein Befehl.' Es wurde dunkel um mich, ich vernahm wirres Stimmengemurmel, und als ich die Augen aufschlug, war das Zimmer völlig in Dunkelheit getaucht, und jemand, den ich nicht sehen konnte, bewegte unaufhörlich das Fußende meines Bettes. Ich schrie laut: "Bewegt doch nicht mein Bett!"
Es trat tiefe Stille ein, dann erhob sich am Kopfende meines Bettes Vater, ganz in Schwarz gekleidet, und sah mich mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen fest an.

"Rudolf", sagte er in seiner abgerissenen Redeweise, "steh auf und komm -wie du bist."
Dann fing er plötzlich an, mit einer irren Geschwindigkeit in den Raum zurückzuweichen, aber anscheinend ohne sich zu bewegen, und bald war er nur noch eine hochragende Silhouette unter anderen, seine Beine wurden lang und dürr, er war ein Hindu, er fing an, mit ihnen zu rennen; ich saß auf meinem Bett, ein Maschinengewehr zwischen den Beinen, ich schoß auf die Reihen der rennenden Hindus, das Maschinengewehr hüpfte auf der Matratze, und ich dachte: ,Es ist nicht erstaunlich, daß sich das Bett bewegt.' Ich machte die Augen auf, sah Vera vor mir stehen. Sonne durchflutete das Zimmer, und ich sagte: "Ich muß ein bißchen geschlafen haben."
"Ein bißchen?"
sagte Vera. Dann fügte sie hinzu: "Hast du Hunger?"
"Ja, Vera."
"Gut, das ist gut, das Fieber ist heruntergegangen. Du hast noch die ganze Nacht dummesZeug geredet, Baby."
"Ist die Nacht vorbei?"
Sie lachte. "Aber nein, sie ist noch nicht vorbei. Was denkst du denn? Die Sonne hat sich geirrt."
Sie sah mir beim Essen zu, und als ich fertig war, räumte sie ab und beugte sich über mich, um mich zuzudecken. Ich sah ihr glattgestrichenes blondes Haar, ihren leicht geröteten Hals und atmete ihren Seifenduft ein. Als ihr Kopf nahe genug war, schlang ich meine Arme um ihren Hals. Sie versuchte nicht, sich zu befreien. Sie wandte mir das Gesicht zu und sah mich an. "Das sind Dragonermanieren."
Ich machte keinerlei Bewegung. Sie sah mich immer noch an, hörte auf zu lächeln und sagte leise und vorwurfsvoll: "Du auch, Baby?"
Und mit einemmal sah sie traurig und müde aus. Ich fühlte, daß sie etwas sagen wollte, daß ich ihr Rede stehen müßte, und löste sogleich meine Arme. Sie streichelte mir mit dem Handrücken die Wange und sagte kopfschüttelnd: "Natürlich."
Dann setzte sie leise hinzu: "Später", lächelte traurig und ging weg. Ich sah ihr nach. Ich wunderte mich selbst, daß ich es getan hatte. Aber jetzt war der Anfang gemacht, ich konnte nicht mehr zurück. Ich wußte nicht recht, ob es mir Freude machte oder nicht. Am Nachmittag brachte mir Vera Zeitungen und Briefe aus Deutschland. Der eine war von Doktor Vogel. Er hatte drei Monate gebraucht, um mich zu erreichen. Er enthielt die Mitteilung von Mutters Tod. Den gleichen Gegenstand behandelten zwei kurze Briefe von Bertha und Gerda. Sie waren schlecht geschrieben und voller Fehler. Doktor Vogel teilte mir auch mit, daß er künftig unser Vormund sei, daß er meine beiden Schwestern der Obhut von Onkel Franzens Frau anvertraut und unseren Laden einem Geschäftsführer übergeben habe. Was mich beträfe, so verstehe er gewiß die patriotischen Beweggründe, denen ich nachgegeben hätte, indem ich mich freiwillig meldete, aber er mache mich trotzdem darauf aufmerksam, daß meine übereilte Flucht meiner armen Mutter große Sorgen bereitet habe und daß sicherlich diese Flucht, oder besser gesagt: dieses Ausreißen, ihren Zustand verschlimmert und vielleicht ihr Ende beschleunigt habe. Er hoffe wenigstens, daß ich an der Front meine Pflicht täte, aber er erinnere mich auch daran, daß ich nach Beendigung des Krieges noch andere Pflichten zu erfüllen hätte. Ich faltete die Briefe sorgfältig zusammen und legte sie in meine Brieftasche. Dann schlug ich die Zeitungen auf und las alles, was über den Krieg in Frankreich darin stand. Als ich damit fertig war, faltete ich sie zusammen, steckte sie wieder in die Streifbänder und legte sie auf den Stuhl neben meinem Bett. Dann kreuzte ich die Arme und beobachtete durch das Fenster, wie die Strahlen der Sonne auf den flachen Dächern immer länger wurden. Der Abend kam, und ich schlief mit Vera.

Ich kehrte an die Front in Palästina zurück, wurde von neuem verwundet, ausgezeichnet, und nach meiner Rückkehr zur Truppe ernannte man mich trotz meiner Jugend zum Unteroffizier. Kurz darauf wurde die Abteilung Günther der 3. Kavallerie-Division angegliedert, die von dem türkischen Oberst Essad Bey befehligt wurde, und nahm an dem Gegenangriff gegen den Ort Es Salt teil, den arabische Helfershelfer den Engländern ausgeliefert hatten. Der Kampf war zermürbend, wir saßen ab, verbissen uns in den Boden, und nach achtundvierzig Stunden Nahkampf drangen wir endlich in den Ort ein. Am nächsten Tag wurde ich durch dumpfe Schüsse geweckt. Ich verließ die Unterkunft, die Sonne blendete mich, ich lehnte mich an eine Mauer und öffnete meine Augen einen Spalt breit. Ich sah eine weiße, blendende Masse, eine dichtgedrängte Menge von Arabern, unbeweglich, schweigend, mit erhobenen Köpfen. Ich hob meinerseits den Kopf und bemerkte in der Sonne, die sie von hinten beleuchtete, etwa vierzig Araber, die mit verrenkten Köpfen sich wunderlich in der Luft hin und her bewegten, als ob sie barfuß über den Köpfen der Zuschauer tanzten. Dann wurden allmählich die Bewegungen schwächer, ohne aber ganz aufzuhören, sie schaukelten weiter und drehten sich um sich selbst, wobei sie bald ihr Gesicht, bald ihr Profil zeigten. Ich ging ein paar Schritte weiter, der Schatten eines Hauses schnitt ein schwarzes Viereck aus dem blendenden Sonnenlicht heraus, eine köstliche Kühle umfing mich, ich machte die Augen ganz auf, und erst da sah ich die Stricke. Der türkische Dolmetscher Suleiman stand ein wenig abseits, die Arme über der Brust gekreuzt, mit verächtlicher und unzufriedener Miene. Ich näherte mich ihm und deutete auf die Gehängten. "Ach das!"
sagte er stirnrunzelnd. "Das sind die Aufrührer des Emir Faisal."
Ich sah ihn an. ". ..Die Notabeln, die Es Salt den Engländern auslieferten. Ein bescheidenes Beispiel, mein Freund! Seine Exzellenz Dschemal Pascha ist wahrhaftig zu barmherzig! Das Richtige wäre, sie alle aufzuhängen."
"Alle?"
Er blickte mich an und entblößte lautlos seine weißen Zähne. "Alle Araber."
Ich hatte schon viele Tote gesehen, seitdem ich in der Türkei war, aber diese Gehängten machten auf mich einen seltsamen, unangenehmen Eindruck. Ich kehrte ihnen den Rücken zu und ging weg. Am Abend ließ mich Rittmeister Günther rufen. Er saß in seinem Zelt auf einem kleinen Klappstuhl. Ich nahm Stellung und grüßte. Er winkte mir, zu rühren, und spielte weiter mit einem prachtvollen arabischen Dolch mit silbernem Griff, den er in den Händen hin und her drehte. Nach einer Zeit kam Leutnant von Ritterbach. Er war sehr groß und sehr hager, seine schwarzen Augenbrauen zogen sich bis zu den Schläfen hin. Der Rittmeister drückte ihm die Hand und sagte, ohne ihn anzusehen: "Eine verdammte Arbeit für Sie heute abend, Herr Leutnant. Die Türken machen eine Strafexpedition gegen ein arabisches Dorf hier in der Nähe. Es ist ein Dorf, das sich schlecht aufgeführt hat, als die Engländer die Türken aus Es Salt verjagten."
Der Rittmeister warf von Ritterbach einen Seitenblick zu. "Meiner Meinung nach", fuhr der Rittmeister mürrisch fort, "ist es eine Geschichte, die nur die Türken angeht. Aber sie wollen deutsche Beteiligung."
Von Ritterbach verzog hochmütig die Augenbrauen. Der Rittmeister erhob sich ungeduldig, kehrte ihm den Rücken zu und machte im Zelt ein paar Schritte. "Herrgott", sagte er und wandte sich um, "ich bin doch nicht hier, um mich mit den Arabern herumzuschlagen."
Von Ritterbach sagte nichts. Der Rittmeister tat noch ein paar Schritte, machte dann kehrt und fuhr fast gemütlich fort: "Hören Sie zu, Herr Leutnant, Sie nehmen etwa dreißig Mann mit und hier

unsern kleinen Rudolf, und alles, was Sie zu tun haben, ist, das Dorf einzuschließen."
Von Ritterbach sagte: "Zu Befehl, Herr Rittmeister."
Der Rittmeister nahm den arabischen Dolch, ließ ihn in der Scheide spielen und sah Ritterbach von der Seite an. "Ihr Befehl lautet, eine Sperre um das Dorf zu legen und die aufrührerischen Bewohner daran zu hindern, querfeldein zu entwischen. Das ist alles."
Die schwarzen Augenbrauen Ritterbachs verzogen sich nach den Schläfen hin. "Herr Rittmeister. .."
"Ja?"
"Und wenn Frauen unsere Sperre durchbrechen wollen?"
Der Rittmeister sah ihn mißmutig an, schwieg eine Sekunde und bemerkte trocken: "Im Befehl steht darüber nichts."
Von Ritterbach hob das Kinn, und ich sah den Adamsapfel in seinem mageren Hals auf und nieder steigen. "Sind Frauen und Kinder als Aufrührer zu betrachten, Herr Rittmeister?"
Der Rittmeister stand auf. "Herrgott, Herr Leutnant", donnerte er los, "ich habe Ihnen schon gesagt, daß im Befehl darüber nichts steht."
Von Ritterbach erblaßte etwas, straffte sich und sagte mit eisiger Höflichkeit: "Noch eine Frage, Herr Rittmeister. Wenn die Rebellen durchbrechen wollen?"
"Befehlen Sie ihnen zurückzugehen."
"Wenn sie nicht zurückgehen wollen?"
"Herr Leutnant", schrie der Rittmeister, "sind Sie Soldat oder nicht?"
Von Ritterbach tat etwas Unerwartetes: Er lächelte. "Gewiß bin ich Soldat", sagte er bitter . Der Rittmeister winkte ab. Ritterbach grüßte unglaublich steif und ging hinaus. Nicht ein einziges Mal während des Gesprächs, selbst dann nicht, als der Rittmeister von "unserm kleinen Rudolf"
sprach, hatte er geruht, mich anzusehen. "Ach, Rudolf", brummte der Rittmeister, während er ihm nachsah, "diese Junker! Mit ihrem Gehabe! Mit ihrem Dünkel! Und ihr verfluchtes christliches Gewissen! Eines Tages werden wir diese 'Herren von' wegfegen."
Ich erklärte meinen Leuten den Befehl und gegen elf Uhr abends gab Leutnant von Ritterbach das Zeichen zum Aufbruch. Die Nacht war außergewöhnlich hell. Nach einer Viertelstunde Trab stieß Suleiman zu uns, der die Verbindung mit der türkischen Abteilung aufrechterhielt, und teilte uns mit, daß wir jetzt nahe heran wären und er uns zugeteilt sei, um uns zu führen. Tatsächlich leuchteten ein paar Minuten später im

Mondschein weiße Flecke auf, und die ersten Häuser des Ortes wurden sichtbar. Von Ritterbach befahl mir, mich mit meinen Leuten nach Osten zu wenden, und ließ die andere Gruppe westlich herumreiten. Wenige Sekunden, nachdem ich meine Leute aufgeteilt hatte, traf ich die zweite Gruppe auf der anderen Seite des Dorfes. Kein Hund bellte. Wir warteten einige Minuten, der Trab der türkischen Reiter, die von Süden her kamen, erschütterte den Boden, dann trat Stille ein, ein rauhes Kommando zerriß die Luft, das Geklapper der Hufe setzte wieder ein, ein wildes Geschrei erhob sich, zwei Schüsse wurden abgefeuert, und ein Dragoner links von mir sagte dumpf: "Es geht los."
Die Schreie hörten auf, man hörte noch einen vereinzelten Schuß, und alles war wieder still. Ein Dragoner kam zu mir heran. Er rief: "Herr Unteroffizier, Befehl von Herrn Leutnant: Nach Süden sammeln."
Er setzte hinzu: "Die Türken haben sich im Dorf geirrt."
Ich ritt den Weg in entgegengesetzter Richtung zurück und sammelte meine Leute. Am Dorfeingang war von Ritterbach in lebhaftem Gespräch mit Suleiman begriffen. Ritterbach saß stocksteif auf seinem Pferd, sein fahles Gesicht wurde ganz vom Mond beschienen, er blickte mit Verachtung auf Suleiman herab. Einmal stieg seine Stimme an, und ich hörte deutlich : "
Nein ! ...Nein.! ...Nein !. ..."
Suleiman schoß wie ein Pfeil davon. Einige Sekunden später kam er mit einem türkischen Major wieder, der so groß und dick war, daß sein Pferd sichtlich Mühe hatte, ihn zu tragen. Der türkische Major zog den Säbel und hielt auf türkisch eine lange Rede, wobei er immer seinen Säbel schwang. Von Ritterbach rührte sich nicht mehr als eine Statue. Als der türkische Major seine Rede beendet hatte, erklang Suleimans Stimme in deutscher Sprache, mit großer Zungenfertigkeit, feierlich und schneidend. Ich verstand die Worte: "Major... Ehrenwort ...auf seinen Säbel... nicht das richtige Dorf..."
Daraufhin grüßte von Ritterbach kurz und kam auf uns zu. Er ritt an mich heran und sagte mit eisiger Stimme: "Es liegt ein Irrtum vor. Wir reiten weiter."
Sein Pferd war ganz nahe an meinem, und ich sah in seinen langen braunen Händen die Zügel zittern. Einen Augenblick später fuhr er fort: "Sie nehmen die Spitze. Dieser Suleiman wird Ihnen den Weg zeigen."
Ich sagte: "Zu Befehl, Herr Leutnant."
Er starrte ins Leere vor sich hin, aber plötzlich fing er an, wütend zu schreien: "
Wissen Sie nichts anderes zu sagen als ,Zu Befehl, Herr Leutnant'?"
Nach einer halben Stunde Trab streckte Suleiman vor meiner Brust den Arm aus. Ich hielt.

"Horchen Sie! Man hört die Hunde."
Dann setzte er hinzu: "Diesmal ist es das Dorf der Aufrührer."
Ich schickte einen Dragoner ab, den Leutnant zu benachrichtigen, und nun rollte dasselbe Manöver ab wie vorher, aber diesmal von wütendem Gebell begleitet. Meine Leute begaben sich von selbst auf ihre Plätze. Sie waren mürrisch und schweigsam. Plötzlich erschien eine kleine weiße Gestalt zwischen den Häusern. Die Dragoner rührten sich nicht, aber ich fühlte, wie eine Spannung durch die ganze Reihe lief. Die Gestalt näherte sich uns mit einem seltsamen Geräusch und blieb schließlich stehen. Es war ein Hund. Er fing kläglich an zu heulen und wich vor uns Schritt für Schritt zurück, das Hinterteil flach auf dem Boden. In diesem Augenblick erscholl Geklapper von Hufen, eine Salve Gewehrfeuer und in dem kurzen Schweigen, das darauf folgte, der Schrei einer Frau, gellend, herzzerreißend, endlos. Im nächsten Augenblick knatterten gleichzeitig an allen Ecken Schüsse, dann erhellte ein grelles Licht den Himmel, man hörte dumpfe Schläge, Getrappel, Klageschreie, und unsere Pferde fingen an, unruhig zu werden. Drei Hunde kamen wie der Wirbelwind aus dem Dorf heraus, jagten auf uns zu und hielten plötzlich, fast unter den Füßen unserer Pferde, an. Einer hatte eine große blutige Schnittwunde unter der Schulter. Sie fingen an zu kläffen und Klageschreie auszustoßen wie Kinder. Dann wurde einer von ihnen mit einem Male kühn und flitzte wie ein Pfeil zwischen Bürkels Pferd und meinem durch. Die beiden anderen stürzten sofort hinterher, ich wandte mich im Sattel, um ihnen nachzuschauen, sie machten noch ein paar Sprünge, dann blieben sie plötzlich stehen, setzten sich auf ihr Hinterteil und fingen an, schrecklich zu heulen. Auf einen gellenden Schrei hin drehte ich mich wieder um, aus dem Dorf klangen dumpfe Schläge, und zweimal pfiffen Kugeln über unsere Köpfe. Die Hunde hinter uns heulten entsetzlich, die Pferde wurden unruhig, ich wandte den Kopf nach rechts und sagte: "Bürkel, geben Sie einen Schuß ab, um die Tiere zu verjagen!"
"Auf die Tiere, Herr Unteroffizier?"
Ich sagte scharf: "Aber nein, nicht auf die armen Tiere; schießen Sie in die Luft!"
Bürkel schoß. Aus dem Dorf kam eine Gruppe weißer Gestalten gerannt, den Hang hinunter auf uns zu, eine schrille Frauenstimme erscholl, ich richtete mich im Sattel auf und rief auf arabisch: "
Weg hier!"
Die weißen Gestalten blieben stehen, fluteten zurück, und als sie zögerten, stürzten sich dunkle Gestalten auf sie. Säbel blitzten auf, und dann war alles vorbei. Dreißig Meter vor uns hob sich vom Boden deutlich ein kleines, weißes, unbewegliches Häufchen ab, das nur wenig Platz einnahm. Rechts von mir beleuchtete eine kleine blaue Flamme die Hände und das Gesicht eines Dragoners; ich begriff, daß er nach der Uhr sah, und da dies wahrhaftig nicht wichtig war, rief ich: "Ihr könnt rauchen."
Eine Stimme antwortete freudig: "Schönen Dank!"; kleine rote Punkte leuchteten in der ganzen Linie auf, und die Spannung ließ nach. Die Schreie und das Geheul setzten wieder mit solcher Stärke ein, daß sie das Hundegebell übertönten. Es war unmöglich, Männerund Frauenstimmen zu unterscheiden, sie klangen zugleich schrill und rauh, und als ob ein Choral heruntergeleiert würde. Als es etwas stiller wurde, sagte Bürkel: "Herr Unteroffizier, sehen Sie dort!"
Eine kleine weiße Gestalt kam den Hang herunter auf uns zu, merkwürdig zögernd, und jemand sagte gleichgültig: "Ein Hund."
Die kleine Gestalt wimmerte leise wie ein weinerliches Kind, sie kam mit erstaunlicher Langsamkeit vorwärts und stolperte über Steine. Einmal schien sie zu fallen und mehrere Meter weiterzurollen, dann kam sie wieder auf die Füße. Sie verschwand im Schatten eines Hauses, man verlor sie vollkommen aus den Augen, dann trat sie plötzlich wieder in das Mondlicht heraus. Sie war nun ganz nahe bei uns. Es war ein kleiner Junge von fünf, sechs Jahren, im Hemd, barfuß, mit einer blutigen Wunde am Hals. Er stand vor uns, schwankte ein bißchen auf den Füßen, sah uns mit seinen dunklen Augen an und fing plötzlich mit ungewöhnlich kräftiger Stimme zu schreien an: "Baba! Baba!"
Dann fiel er der Länge nach mit dem Gesicht zu Boden. Bürkel sprang vom Pferd, lief zu ihm hin und kniete nieder. Sein Pferd machte einen Satz zur Seite. Es gelang mir, die Zügel zu fassen, und ich sagte mit scharfer Stimme: "Bürkel!"
Es folgte keine Antwort, und nach einem Weilchen wiederholte ich, ohne die Stimme zu heben: "Bürkel!"
Er erhob sich langsam und kam zu mir her. Er stand neben meinem Pferd, sein dicker Schädel glänzte im Mondlicht, ich sah ihn an und sagte: "Wer hat Ihnen erlaubt, abzusitzen?"
"Niemand, Herr Unteroffizier."
"Habe ich Ihnen den Befehl gegeben, abzusitzen?"
"Nein, Herr Unteroffizier."
"Warum haben Sie es getan?"
Ein Schweigen entstand, dann sagte er: "Ich glaubte es richtig zu machen, Herr Unteroffizier."
"Man darf nicht glauben, Bürkel. Man muß gehorchen."
Er preßte die Lippen zusammen, und ich sah, wie ihm der Schweiß über seine zusammengepreßte Kinnlade herunterlief. Er sagte mühsam: "Jawohl, Herr Unteroffizier."
"Sie werden bestraft werden, Bürkel."

Schweigen. Ich fühlte die Spannung unter den Männern und sagte: "Sitzen Sie wieder auf."
Bürkel sah mich wohl für eine Sekunde lang an. Der Schweiß floß ihm über das Kinn. Er sah verstört aus. "Herr Unteroffizier, ich habe einen kleinen Jungen in demselben Alter."
"Sitzen Sie wieder auf, Bürkel."
Er nahm mir die Zügel aus der Hand und schwang sich in den Sattel. Nach einer Weile sah ich eine brennende Zigarette einen leuchtenden Streifen durch die Nacht ziehen und dann funkensprühend zu Boden fallen. In der nächsten Sekunde folgte eine zweite, dann wieder eine, noch eine, und so weiter, die ganze Linie entlang. Und ich begriff, daß meine Leute mich haßten.

"Nach dem Kriege", sagte Suleiman in der Mittagspause, "werden wir die Araber genauso ausrotten, wie wir unsere armenischen Untertanen ausgerottet haben. Und aus dem gleichen Grunde."
Selbst unter dem Zelt war die Glut der Sonne unterträglich. Ich stützte mich auf die Ellenbogen auf, und gleich waren meine Handflächen feucht. "Aus welchem Grunde?"
Suleiman antwortete rasch und in lehrhaftem Ton: "In der Türkei ist kein Platz für Araber und Türken."
Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin und fing plötzlich an zu lächeln. "Das versuchte gestern abend unser dicker Major Ihrem Leutnant von Ritterbach begreiflich zu machen. Glücklicherweise versteht Ihr Leutnant kein Türkisch. .."
Er machte eine Pause. ". ..denn er hätte keinesfalls begriffen, daß man, weil die Aufrührer klugerweise aus ihrem Dorf verschwunden waren, ganz einfach das nächste arabische Dorf ausrottete. .."
Ich sah ihn mit offenem Mund an. Er fing an zu lachen, es war ein schrilles, weibisches Lachen. Seine Schultern zuckten dabei, er wiegte seinen Oberkörper vor und zurück, und jedesmal, wenn er nach vorn kam, schlug er mit beiden Händen auf den Boden. Allmählich beruhigte er sich, brannte sich eine Zigarette an, blies den Rauch durch die Nase und sagte: "Da sehen Sie, was ein guter Dolmetscher wert ist."
Ich erwiderte nach einer Weile: "Aber dieses Dorf war doch unschuldig."
Er schüttelte den Kopf. "Mein Lieber, das verstehen Sie nicht! Das Dorf war arabisch. Also war es nicht unschuldig. .."
Dabei fletschte er seine weißen Zähne. "

Wissen Sie, das ist interessant, Ihren Einwand hat man einst unter ähnlichen Umständen unserm Propheten Mohammed gemacht. .."
Er nahm die Zigarette aus dem Mund, seine Gesichtszüge veränderten sich, und er sagte ernst und andächtig: "Der Friede Allahs sei mit ihm!"
Dann fuhr er fort: "Und unser Prophet Mohammed antwortete: ,Wenn du von einem Floh gestochen wirst, tötest du sie da nicht alle?", Wie es meine Pflicht war, berichtete ich noch am seIben Abend Rittmeister Günther, was mir Suleiman erzählt hatte. Er lachte eine ganze Weile, wiederholte dann mehrere Male mit entzücktem Gesicht die Worte des Propheten über die Flöhe. Ich begriff, daß er die Sache als einen guten Streich ansah, den die Türken "diesem Idioten von Ritterbach"
gespielt hatten. Ich weiß nicht, ob er sich nachher den Spaß gemacht hat, alles dem Leutnant weiterzuerzählen, aber auf jeden Fall war das ohne Bedeutung, denn zwei Tage später ließ sich Ritterbach törichterund unnützerweise vor meinen Augen töten, und man hätte wirklich denken können, er habe es absichtlich getan, denn ausgerechnet an diesem Tage hatte er seine sämtlichen Orden und seine eleganteste Uniform angelegt. Ich ließ ihn in sein Zelt schaffen, Rittmeister Günther holen und blieb mit dem Unteroffizier Schrader zu Häupten der Leiche stehen. Nach kurzer Zeit kam der Rittmeister, nahm Aufstellung zu Füßen des Betts, salutierte, schickte Schrader hinaus und fragte mich, wie es gekommen sei. Ich berichtete es mit allen Einzelheiten. Er runzelte die Stirn, und als ich zu Ende war, fing er an, im Zelt hin und her zu gehen, wobei er hinter dem Rücken die Hände aufund zumachte. Dann blieb er stehen, betrachtete mit unzufriedener Miene den Leichnam und brummelte zwischen den Zähnen: "Wer hätte gedacht, daß dieser Idiot. .."
Dann warf er mir einen flüchtigen Blick zu und schwieg. Am nächsten Tag fand ein Unternehmen statt, und danach hielt uns der Rittmeister eine kleine Rede. Ich fand, daß es eine schöne Rede war und gewiß für die Moral der Leute nützlich, aber daß vielleicht der Rittmeister Ritterbach mehr Lob spendete, als dieser verdiente.

Am 19. September 1918 griffen die Engländer mit starken Kräften an, und die Front brach zusammen. Die Türken flohen nach Norden, man hielt in Damaskus an, aber es war nur ein kurzer Aufschub, und wir mußten weiter bis Aleppo zurückgehen. Anfang Oktober wurde unsere Abteilung nach Adana befördert, am Golf von Alexandrette; wir verbrachten dort untätig einige Tage, und Suleiman erhielt für seine Tapferkeit während des Rückzugs das Eiserne Kreuz.

Gegen Ende Oktober brach in den Dörfern um Adana herum die Cholera aus, erreichte dann allmählich den Ort selbst, und am 28. Oktober wurde Rittmeister Günther binnen weniger Stunden von ihr hingerafft. Das war ein trauriges Ende für einen Helden. Ich bewunderte Rittmeister Günther, dank ihm hatte ich ins Heer eintreten können, aber an diesem und an den folgenden Tagen wunderte ich mich, daß sein Tod keine größere Wirkung auf mich ausübte. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß die Frage, ob ich ihn liebte oder nicht, nicht mehr in Betracht kam als zum Beispiel in bezug auf Vera. Am Abend des 31. Oktober erfuhren wir, daß die Türkei mit der Entente einen Waffenstillstand abgeschlossen hatte. "Die Türkei hat kapituliert", sagte mir Suleiman beschämt, "und Deutschland kämpft noch!"
Den Befehl über die Abteilung Günther erhielt Hauptmann Graf Reckow, und der Rückmarsch in die Heimat begann. Wir schlugen uns langsam über den Balkan nach Deutschland durch. Der Marsch war sehr beschwerlich, weil wir nur mit unsern leichten Kolonialuniformen bekleidet waren und die Kälte, die für die Jahreszeit ungewöhnlich lebhaft war, große Verheerungen unter uns anrichtete. In Mazedonien, am 12. November, an einem grauen, regnerischen Morgen, als wir aus einem elenden Dorf heraus waren, in dem wir die Nacht zugebracht hatten, befahl Hauptmann Graf Reckow, zu halten und auf der linken Straßenseite Front zu machen. Er selbst begab sich auf ein umgepflügtes Feld und ritt so weit zurück, daß er auch die beiden Flügel der Kolonne übersehen konnte. Eine ganze Weile schwieg er. In sich zusammengefallen, saß er im Sattel, und sein Schimmel sowie seine zerschlissene Uniform bildeten einen hellen Fleck gegen die dunkle Erde. Endlich hob er den Kopf, machte mit der rechten Hand eine kleine Bewegung und sagte mit ungewöhnlich schwacher und tonloser Stimme: "Deutschland hat kapituliert."
Ein guter Teil der Leute hörte es gar nicht, und es entstand von einem Ende der Kolonne zum andern eine Bewegung und ein Getuschel. Mit seiner gewöhnlichen Stimme rief von Reckow: "Ruhe!"
Es trat Stille ein, und er wiederholte, kaum lauter als vorher: "Deutschland hat kapituliert."
Darauf gab er seinem Pferd die Sporen, setzte sich wieder an die Spitze der Kolonne, und man hörte nur noch das Klappern der Hufe. Ich sah geradeaus vor mich hin, und mir war, als ob sich unter meinen Füßen plötzlich ein großes schwarzes Loch geöffnet hätte. Nach ein paar Minuten stimmte jemand "Siegreich wolln wir Frankreich schlagen"
an, einige Dragoner sangen im Chor wild drauflos, der Regen fiel heftiger, die Pferdehufe klapperten dazu in verkehrtem Rhythmus, und plötzlich wurden der Regen und der Wind so heftig, daß der Gesang immer schwächer wurde, sich verzettelte und erstarb. Hinterher war es schlimmer, als wenn man nicht gesungen hätte.