1922
In M. war ich nacheinander Erdarbeiter,
Handlanger in einer Fabrik, Laufbursche und Zeitungsverkäufer. Aber
diese Beschäftigungen dauerten nie lange, und in immer häufigeren
Zwischenräumen reihte ich mich in die große Masse der deutschen
Arbeitslosen ein. Ich nächtigte in Asylen, ich versetzte meine
Taschenuhr, ich lernte hungern. Im Frühjahr 1922 hatte ich
unerhörtes Glück. Es gelang mir, als Handlanger beim Bau einer
Brücke eingestellt zu werden, die voraussichtlich in drei Monaten
fertig sein würde. Während dieser drei Monate war ich also beinahe
sicher, wenn die Mark nicht noch mehr sank, mir eine dritte
Mahlzeit leisten zu können. Zuerst entlud ich Sandwagen, das war
eine ziemlich beschwerliche Arbeit, aber man konnte wenigstens
zwischen zwei Schaufelwürfen verschnaufen. Leider versetzte man
mich nach zwei Tagen an eine Betonmaschine, und von der ersten
Stunde an fragte ich mich voller Angst, ob ich die Kraft besäße, es
auszuhalten. Ein kleiner Wagen brachte uns den Sand und kippte ihn
hinter der Maschine aus; zu viert mußten wir mit unsern Schaufeln
ohne Unterbrechung eine riesige Schraube füttern, die zugleich mit
dem Zement den Sand in den Mischbottich hineinzog. Die
Betonmaschine drehte sich unbarmherzig, man mußte ihr unablässig
Futter hinschütten, es war keine Sekunde zu verlieren; sobald das
Metall der Schraube sichtbar wurde, fing der Meister an zu
schimpfen. Ich hatte das scheußliche Gefühl, in ein Räderwerk
geraten zu sein. Der Elektromotor brummte über unseren Köpfen, der
Kamerad, der ihn bediente -ein gewisser Siebert -, nahm von Zeit zu
Zeit einen Sack Zement, riß ihn auf und schüttete den Inhalt in den
Trichter. Sogleich rieselte Zementstaub auf uns nieder, setzte sich
an uns fest und blendete uns. Ich schaufelte unablässig, das Kreuz
tat mir weh, die Beine zitterten fortwährend, und es gelang mir
nicht, richtig Atem zu holen. Der Meister pfiff, und jemand sagte
halblaut: "Zwölf Uhr fünf. Das Schwein hat uns wieder fünf Minuten
gestohlen."
Ich warf meine Schaufel hin,
machte taumelnd einige Schritte und ließ mich auf einen Kieshaufen
fallen. "Es geht wohl nicht?"
sagte Siebert. "Es geht
schon."
Ich holte mein Mittagbrot
aus der Tasche: Brot mit ein bißchen Schmalz darauf. Ich fing an zu
kauen. Ich empfand Hunger und gleichzeitig Übelkeit. Die Knie
zitterten mir .
Siebert setzte sich neben mich. Er war sehr groß
und mager, er hatte eine lange, spitze Nase, schmale Lippen und
abstehende Ohren. "Siebert", hörte ich eine Stimme, "du mußt dem
Meister sagen, daß Mittag um zwölf Uhr ist."
"Ja, ja, 'Zitronenschale"',
sagte Siebert grinsend. Sie sprachen ganz in meiner Nähe, aber ihre
Stimmen klangen sehr entfernt. "Das Schwein wird seine Uhr
herausziehen und sagen: 'Genau zwölf Uhr, mein Herr'."
Ich blickte auf. Die Sonne
trat aus einer Wolke hervor und beleuchtete die Betonmaschine, die
ein paar Schritte hinter mir stand. Sie war ganz neu, hellrot
angestrichen. Neben ihr stand eine Lore auf Schienen. Davor waren
Schaufeln in den Sand gestoßen. Auf der anderen Seite der
Betonmaschine erhob sich das Förderband, das den frischen Beton bis
zur Brücke beförderte. Mir war übel, ich hatte Ohrensausen, ich sah
alles verschwommen und verzerrt, während ich mein Brot kaute.
Plötzlich fühlte ich Angst aufsteigen, ich senkte die Augen, es war
zu spät; der Wagen, die Betonmaschine, die Schaufeln waren
lächerlich klein geworden, wie Spielzeug, sie fingen an, mit einer
tollen Geschwindigkeit in das Nichts zurückzuweichen; eine
schwindelnde Leere tat sich auf, vor mir und hinter mir war alles
leer, und in dem Leeren lag Erwartung, als ob etwas Furchtbares
hereinbrechen wollte, das viel schrecklicher war als der Tod. Eine
Stimme traf mein Ohr, ich sah meine Hände. Sie waren fest
geschlossen, mein linker Daumen rieb den rechten in seiner ganzen
Länge, ich blickte darauf hin, ich fing an, leise zu zählen: "Eins,
zwei, drei, vier. ..", es war wie ein Krampf, dann löste sich
alles. Rechts neben mir sah ich das große abstehende Ohr Sieberts,
jemand sagte: "Donnerwetter! Weißt du, was dieses Schwein macht?
vor zwölf stellt er seine Uhr fünf Minuten zurück. Warum sagst du
ihm das nicht?"
Die Stimme drang wie durch
dichte Lagen Baumwolle zu mir, aber es war eine Stimme, ich
verstand, was sie sagte, und hörte eifrig zu. "Ach, wenn er nicht
die Frau hätte und das kranke Mädchen!"
Sie saßen da, ich
beobachtete sie und versuchte, mich an ihre Namen zu erinnern.
Siebert, "Zitronenschale", Hugo, und der Kleine neben ihm, der
blasse, braunhaarige, wie hieß er doch ? Eine heftige Übelkeit
befiel mich, ich legte mich der Länge nach auf den Boden. Nach
einer Weile hörte ich: "Essen mußt du, nicht wahr?"
"Ja, ja."
Ich hörte zu, ich klammerte
mich an ihre Stimmen, ich hatte Angst, daß sie schweigen würden.
"Der liebe Gott hätte uns Deutschen keinen Magen machen
sollen."
"Oder aber einen Magen, der
Sand frißt, wie die verdammte Maschine."
Jemand lachte, ich schloß die Augen und dachte:
'Der kleine Braunhaarige heißt Edmund.' Meine Knie zitterten. "Dir
ist wohl nicht gut?"
Ich schlug die Augen auf.
Eine lange, spitze Nase beugte sich über mich. Es war Siebert. Ich
bemühte mich zu lächeln und fühlte, wie die Kruste platzte, die der
Zementstaub und der Schweiß auf meinen Backen gebildet hatten. "Es
geht wieder."
Und ich setzte hinzu: "Danke
schön."
"Das ist gratis", sagte
Siebert. "Zitronenschale"
lachte. Ich schloß wieder
die Augen, ein schriller Pfiff zerriß die Luft, ein paar Sekunden
verstrichen, ich kam nicht hoch, dann fühlte ich, wie mich jemand
an den Schultern rüttelte. "Los, komm!"
sagte Siebert. Schwankend
erhob ich mich, nahm meine Schaufel und sagte halblaut: "Ich
verstehe das nicht. Ich war doch immer kräftig."
"Ach was", sagte
"Zitronenschale", "das hat mit der Kraft nichts zu tun, sondern mit
dem Essen. Wie lange warst du denn arbeitslos ?"
"Vier Wochen."
"Na ja, wie ich sage, es
kommt aufs Essen an. Sieh doch die verdammte Maschine. Wenn du ihr
nichts zu fressen gibst, funktioniert sie auch nicht. Aber die,
Mensch, die wird gepflegt! Die wird gefüttert! Die ist auch Geld
wert."
Siebert senkte den linken
Arm, der Motor brummte, die riesige Schraube zu unseren Füßen fing
an, sich langsam zu drehen. "Zitronenschale"
warf eine Schaufel voll Sand
hinein. "Vorwärts!"
sagte er voller Haß.
"Friß!"
"Da, alte
Hure!"
sagte Edmund.
"Da!"
sagte ,Zitronenschale'.
"Friß! Friß!"
"Friß und
krepiere!"
sagte Edmund. Es regnete
Sand. Ich dachte: 'Edmund, er heißt Edmund.' Es trat Schweigen ein.
Ich warf einen Blick auf "Zitronenschale". Er strich mit dem
Daumenrücken über seine Stirn und schüttelte den Schweiß von der
Hand ab. "Ach was", sagte er bitter, "wir werden
krepieren!"
Meine Arme waren ohne Kraft.
Jedesmal, wenn ich die Schaufel hob, zitterte ich. Ich empfand eine
Leere, ich hörte nichts mehr und fragte mich ängstlich, ob sie wohl
weitersprechen würden. "Hugo", sagte "Zitronenschale". Es war
gerade so, als ob man die Nadel auf eine Grammophonplatte
aufsetzte. Ich horchte, ich wollte die Stimme nicht überhören.
"
Wieviel kostet so eine
Betonmaschine ? "
Hugo spuckte aus. "Ich kaufe
keine."
"Zweitausend Mark", rief
Siebert, während er einen Sack Zement aufriß.
Der Zementstaub flog umher, hüllte uns ein, und
ich mußte husten. "Und was kosten wir denn?"
sagte ,Zitronenschale'. "Das
Stück?"
"Ja."
Ein Schweigen entstand. Aber
war es wirklich ein Schweigen? Sprachen sie wirklich nicht?
"Zwanzig Pfennig."
"Und das ist noch gut
bezahlt", sagte Edmund. "Zitronenschale"
schaufelte wütend drauflos.
"Das kann man wohl sagen."
"
Was kann man
sagen?"
"Daß der Mensch sehr billig
ist."
Ich wiederholte leise: "Daß
der Mensch sehr billig ist", dann hörte ich mit einemmal nichts
mehr. Ich setzte die Schaufel ein, sie stieß an, der Stiel rutschte
mir aus der Hand, ich schlug der Länge nach hin, mein Kopf fiel
nach hinten, und die Sonne erlosch. Jemand sagte: "Steh auf,
Herrgott noch mal!"
Ich schlug die Augen auf,
alles um mich herum war undeutlich, das gelbe, verwitterte Gesicht
von "Zitronenschale"
tanzte vor meinen Augen.
"Der Meister ist da. Steh auf!"
Eine Stimme sagte: "Er wird
dich entlassen."
Sie schaufelten alle wie die
Verrückten. Ich sah ihnen zu, aber ich konnte mich nicht bewegen.
"Machen wir!"
sagte Siebert und hob die
linke Hand. Der Motor hörte auf zu brummen, und
"Zitronenschale"
setzte sich still neben
mich. Der Kies knirschte hinter ihm, und ich sah, wie im Nebel, vor
meinem Gesicht die glänzenden schwarzen Stiefel des Meisters. "Was
ist los?"
"Eine Störung", sagte
Sieberts Stimme. Edmund setzte sich und sagte ganz leise: "Dreh ihm
den Rücken zu! Du siehst ganz weiß aus."
"Immer noch?"
"Ein schlechter
Kontakt."
"Schnell, Mensch,
schnell!"
"Noch zwei
Minuten."
Ein Schweigen entstand, der
Kies knirschte, und Hugo sagte halblaut: "Auf Wiedersehen,
Schweinehund."
"Da", sagte Sieberts Stimme,
"trink mal!"
Der Schnaps floß in meine
Kehle. "Siebert", sagte Hugo, "ich fühle mich auch ganz
schwach."
"Friß Sand."
Es gelang mir aufzustehen.
"Geht es wieder?"
sagte
"Zitronenschale".
Ich nickte und sagte: "Es war wirklich ein
Glück, daß es eine Störung gab."
Sie fingen laut an zu
lachen, und ich sah sie alle nacheinander verwirrt an. "Junge,
Junge", rief "Zitronenschale", "du bist noch dümmer als der
Meister."
Ich blickte Siebert an. "Du
hast das gemacht?"
"Zitronenschale"
drehte sich zu Siebert um
und sagte mit komischem Erstaunen: "Du hast das
gemacht?"
Das Gelächter verdoppelte
sich. Siebert lächelte mit seinen dünnen Lippen und schüttelte den
Kopf. Ich sagte schroff: "Das war unrecht von dir."
Das Lachen verstummte. Hugo,
Edmund und "Zitronenschale"
sahen mich an.
"Zitronenschale"
sagte mit verhaltener Wut:
"Und wenn ich dir jetzt die Schaufel in die Fresse schlage, hätte
ich da unrecht?"
"Schweinehund", sagte
Edmund. Es entstand ein Schweigen, dann sagte Siebert: "Genug. Er
hat recht. Wenn wir das richtige Regierungssystem hätten, brauchte
man das nicht zu machen."
"Mit deinem System", sagte
"Zitronenschale", "du weißt, was ich davon halte."
Siebert lachte und sah mich
an. "Störung beseitigt?"
"Vorwärts!"
sagte
"Zitronenschale"
wütend, "vorwärts! Keine
Minute verloren! Man könnte dem Chef unrecht tun."
"Na, geht's?"
sagte Siebert und blickte
mich an. Ich nickte, er senkte den linken Arm, der Motor brummte,
und die Schraube zu unsern Füßen fing wieder an, sich mit
unerbittlicher Langsamkeit zu drehen.
An den folgenden
Tagen vermehrten sich meine Krisenzustände. Aber es zeigte sich
darin eine beachtenswerte Veränderung. Die Dinge blieben, was sie
waren. Es gab keine Leere mehr, sondern nur eine Erwartung. Wenn
man ein Orchester hört und die Trommel sich vernehmen läßt, liegt
für uns in dem scharfen, dumpfen Schlag etwas Geheimnisvolles,
Drohendes, Feierliches. Genauso empfand ich. Der ganze Tag war für
mich mit Trommelwirbeln ausgefüllt. Etwas Furchtbares kündigte sich
an, in meiner Kehle steckte ein Kloß, und ich wartete, wartete in
wilder Angst auf etwas, das nicht kam. Die Trommelschläge hörten
auf, ich hatte den Eindruck, von einem Alpdruck zu erwachen, und
plötzlich war es mir, als wäre die Welt nicht mehr wirklich. Man
hatte hinter meinem Rücken die Dinge verändert, sie trugen alle
eine Maske. Ich blickte mich voller
Mißtrauen und Angst um. Die Sonne, die meine
Schaufel glänzen ließ, log. Der Sand log. Die rote Betonmaschine
log. Und in diesen Lügen steckte ein grausamer Sinn. Alles
verschwor sich gegen mich. Eine drückende Stille senkte sich herab.
Ich beobachtete die Kameraden, ihre Lippen bewegten sich, ich
vernahm kein einziges Wort, aber ich verstand sehr gut, daß sie
absichtlich ihre Lippen bewegten, ohne zu sprechen, um mich glauben
zu machen, ich sei verrückt. Ich hatte Lust, ihnen zuzurufen: ,Ich
durchschaue euer Spiel, ihr Schweinehunde!, Ich öffnete schon den
Mund, aber plötzlich flüsterte mir eine Stimme etwas ins Ohr, die
dumpf und abgehackt klang, die Stimme meines Vaters. Acht Stunden
täglich handhabte ich die Schaufel. Sogar nachts im Traum handhabte
ich sie. Oft träumte ich, daß ich nicht schnell genug schaufelte,
das glänzende blanke Metall der Schraube erschien, der Meister fing
an zu schimpfen. In Schweiß gebadet, wachte ich auf, die Hände um
einen unsichtbaren Stiel gekrampft. Manchmal sagte ich mir: "Du
bist jetzt zur Schaufel geworden. Du bist eine Schaufel."
So vergingen die Tage, und
ich faßte den Entschluß, mich zu töten. Ich bestimmte dazu den
Sonnabend, denn um essen zu können, hatte ich Siebert auf meinen
künftigen Lohn hinangeborgt, und ich wollte meine Schulden
zurückzahlen, ehe ich starb. Der Sonnabend kam, und ich bezahlte
meine Schulden. Mir blieb noch so viel, daß ich drei Tage davon
leben konnte, wenn ich sehr bescheiden war. Ich entschloß mich,
alles gleich am selben Tag auszugeben und mich vor dem Tode
wenigstens noch einmal satt zu essen. Ich benutzte die Straßenbahn,
und bevor ich in meine Kammer hinaufstieg, kaufte ich Speck, Brot
und eine Schachtel Zigaretten. Ich stieg die fünf Treppen hoch,
öffnete die Tür und dachte daran, daß Frühling war. Die Sonne fiel
schräg durch das kleine, weit offenstehende Fenster herein, und zum
erstenmal seit einem Monat sah ich mich in meinem Zimmer um. Da
waren eine Matratze auf einem Holzgestell, ein Tisch aus rohem
Holz, ein Waschbecken und ein Schrank. Die Wände waren schwarz von
Schmutz. Ich hatte sie abgewaschen, aber das hatte nichts genützt.
Man hätte sie abschwaben müssen. Ich hatte einen Versuch gemacht,
aber nicht die Kraft gehabt, damit fortzufahren. Ich legte mein
Paket auf den Tisch, fegte mein Zimmer aus, ging dann auf den Flur
hinaus, um an dem Etagenhahn Wasser zu holen, kehrte zurück und
wusch mir Gesicht und Hände. Ich ging wieder hinaus, um das
schmutzige Wasser auszugießen, und als ich ins Zimmer zurückkam,
trennte ich die Naht meiner Matratze zehn Zentimeter breit auf,
fuhr mit der Hand in die Öffnung und holte meine Mauserpistole
heraus.
Ich entfernte die Lappen, in die sie gewickelt
war, untersuchte das Magazin, zog die Sicherung zurück und legte
dann die Waffe auf den Tisch. Den Tisch rückte ich vor das Fenster,
um die Sonne zu genießen, und setzte mich. Ich schnitt acht
ziemlich dünne Scheiben Brot und legte auf jede ein viel dickeres
Stück Speck. Ich kaute ohne Hast, methodisch. Während des Essens
betrachtete ich die in Reih und Glied auf dem Tisch liegenden Brot
und Speckschnitten, und jedesmal, wenn ich eine nahm, zählte ich
die noch übrigen. Die Sonne beleuchtete meine Hände, und im Gesicht
fühlte ich ihre Wärme. Ich war in Hemdsärmeln, ich dachte an
nichts, ich war glücklich, essen zu können. Als ich fertig war, las
ich die Krumen auf dem Tisch zusammen und warf sie in einen alten
Marmeladeneimer, der mir als Mülltonne diente. Dann wusch ich mir
die Hände. Da ich keine Seife hatte, rieb ich sie lange in der
Hoffnung, das Fett entfernen zu können. Ich dachte: ,Du hast die
Schaufel gut eingefettet, und jetzt willst du sie zerbrechen.' Und
ich weiß nicht, warum, ich hatte Lust zu lachen. Ich trocknete mir
die Hände an einem alten zerfetzten Hemd, das ich an einen Nagel
gehängt hatte und das mir als Handtuch diente. Dann ging ich zum
Tisch zurück, brannte mir eine Zigarette an und stellte mich ans
Fenster . Die Sonne schien auf die Schieferdächer. Ich tat einen
Zug aus der Zigarette, stieß den Rauch zum Teil wieder aus und
atmete gierig den Duft ein. Ich reckte mich, stellte mich fest auf
die Beine, auf einmal fühlte ich sie fest und kräftig unter mir,
und plötzlich sah ich mich in einem Film: Ich stand am Fenster, ich
rauchte, ich blickte auf die Dächer. Wenn dann die Zigarette
aufgeraucht sein würde, würde ich die Pistole nehmen, sie an die
Schläfe setzen, und alles würde vorbei sein. Da klopfte es zweimal
an meine Tür, ich blickte auf die Pistole auf dem Tisch, aber bevor
ich Zeit gehabt hätte, sie zu verstecken, ging die Tür auf. Es war
Siebert. Er blieb auf der Schwelle stehen und grüßte durch
Handanlegen. Ich ging ihm rasch entgegen und stellte mich vor den
Tisch. Er sagte: "Stör ich dich auch nicht?"
"Nein."
"Ich wollte dir bloß einmal
guten Tag sagen."
Ich antwortete nicht, er
wartete eine Sekunde, dann schloß er die Tür und trat einen Schritt
ins Zimmer herein. "Deine Wirtin war sehr überrascht, als ich nach
dir fragte."
"Ich bekomme nie
Besuch."
"So?"
sagte er. Er lächelte, seine
spitze Nase schien noch länger zu werden, und seine großen Ohren
schienen noch mehr abzustehen. Er tat noch
einen Schritt vorwärts, sah sich im Zimmer um
und zog eine Grimasse. Dann warf er mir einen Blick zu und wandte
sich zum Fenster . Ich ging um den Tisch herum und stellte mich
zwischen ihn und den Tisch. Er steckte die Hände in die Taschen und
sah auf die Dächer hinaus. "Du hast wenigstens Aussicht."
"Ja."
Er war viel größer als ich,
meine Augen waren in Höhe seines Nackens. "Ein bißchen kalt im
Winter, nicht?"
"Ich weiß nicht. Ich wohne
erst seit zwei Monaten hier."
Er machte auf den Hacken
kehrt und stand mir nun gegenüber . Sein Blick ging über meinen
Kopf hinweg, und er hörte auf zu lächeln. "Hallo!"
sagte er. Ich machte eine
Bewegung, er schob mich mit der flachen Hand sacht zur Seite und
ergriff die Pistole. Ich sagte eindringlich: "
Vorsicht! Sie ist
geladen."
Er warf mir einen scharfen
Blick zu, nahm die Waffe und untersuchte das Magazin. Er sah mich
fest an. "Und sie ist nicht gesichert."
Ein Schweigen entstand, und
er fuhr fort: "Ist das deine Gewohnheit, eine geladene Pistole auf
dem Tisch liegen zu haben?"
Ich antwortete nicht, er
legte die Waffe hin und setzte sich auf den Tisch. Ich setzte mich
auch. "Ich habe dich aufgesucht, weil ich etwas nicht
verstehe."
Ich schwieg, und nach einer
Weile begann er wieder: "
Warum hast du mir deine
Schulden auf einen Schlag bezahlen wollen?"
"Ich habe nicht gern
Schulden."
"Du hättest die Hälfte
bezahlen können. Und die andere Hälfte nächste Woche. Ich habe dir
doch gesagt, daß es mir nichts ausmachen würde."
"Ich schleppe nicht gern
Schulden mit mir herum."
Er sah mich an.
"So!"
sagte er lächelnd. "Du
schleppst nicht gern Schulden mit dir herum, und jetzt hast du
gerade noch so viel übrig, daß du drei Tage zu essen hast, aber die
Woche hat sieben Tage, mein Herr."
Ich antwortete nicht, sein
Blick glitt über den Tisch, er zog plötzlich die Brauen hoch, und
seine Lippen wurden noch dünner . "Mit Zigaretten zwei
Tage."
Er nahm die Schachtel,
betrachtete sie aufmerksam und pfiff. "Du läßt dir nichts
abgehen."
Ich antwortete nicht, und er
fuhr in sarkastischem Ton fort: "Hat dir vielleicht dein Vormund
eine Postanweisung geschickt?"
Ich wandte den Kopf, sah ins
Leere und sagte schroff und hastig: "Das geht dich alles nichts
an."
"Gewiß, mein Herr, das geht mich nichts
an."
Ich drehte ihm das Gesicht
zu. Er sah mich fest an. "Selbstverständlich geht mich das nichts
an. Du willst um jeden Preis bezahlen, was du mir schuldest: Das
geht mich nichts an. Du hast nur noch drei Tage zu essen: Das geht
mich nichts an. Du kaufst Zigaretten wie ein Millionär: Das geht
mich nichts an. Du hast eine geladene Pistole auf deinem Tisch
liegen: Und auch das geht mich nichts an."
Er sah mich fest an. Ich
wandte den Kopf weg, aber ich fühlte seinen Blick auf mir ruhen. Es
war, als ob Vater mich angeblickt hätte. Ich steckte meine Hände
unter den Stuhl, preßte meine Knie zusammen und fragte mich
besorgt, ob ich nicht anfangen würde zu zittern. Das Schweigen
dauerte eine ganze Weile, dann sagte Siebert mit verhaltener Wut:
"Du willst dich umbringen."
Ich machte eine heftige
Anstrengung und sagte: "Das ist meine Sache."
Er sprang auf, packte mich
mit beiden Händen vorn am Hemd, hob mich vom Stuhl auf und
schüttelte mich. "Du Schweinehund", zischte er, "du willst dich
umbringen."
Seine Blicke brannten, ich
drehte den Kopf weg, ich fing an zu zittern und wiederholte leise:
"Das ist meine Sache."
"Nein!"
schrie er auf, während er
mich schüttelte, "das ist nicht deine Sache, du Schweinehund. Und
was wird aus Deutschland?"
Ich senkte den Kopf und
sagte: "Deutschland ist futsch."
Ich fühlte, wie Sieberts
Finger mein Hemd losließen, und wußte, was geschehen würde. Ich hob
den rechten Arm, aber es war zu spät. Seine Hand klatschte mit
voller Wucht auf meine Backe. Der Schlag war so kräftig, daß ich
taumelte. Sieberts Linke erwischte mich beim Hemd, und er ohrfeigte
mich von neuern. Dann stieß er mich zurück, und ich fiel auf den
Stuhl. Meine Backen brannten, in meinem Kopf drehte sich alles, ich
fragte mich, ob ich nicht vom Stuhl aufstehen und mich auf ihn
stürzen sollte. Ich rührte mich aber nicht, eine ganze Sekunde
verstrich, Siebert stand vor mir, eine glückliche Betäubung
überfiel mich. Siebert sah mich an, seine Augen funkelten, und ich
sah, wie seine Kinnmuskeln sich bewegten.
"Schweinehund!"
sagte er. Er vergrub seine
Hände in den Taschen, fing an, im Zimmer herumzulaufen, und schrie
aus vollem Halse: "Nein! Nein! Nein!"
Dann sah er mich wieder mit
flammenden Augen an. "Du!"
schrie er. "Du! Du, ein
alter Freikorpsmann!"
Er drehte sich so wütend um,
daß ich glaubte, er wolle sich auf mich stürzen.
"Hör zu! Deutschland ist nicht futsch! Nur ein
Schweinehund von einem Juden kann sagen, daß es futsch ist. Der
Krieg geht weiter, verstehst du? Sogar nach dieser Schweinerei, dem
Diktat von Versailles, geht er weiter!"
Er fing von neuem an, wie
ein Irrer im Zimmer herumzulaufen. "Herrgott", schrie er, "das ist
doch klar."
Er rang nach Worten, seine
Kiefernmuskeln bewegten sich unaufhörlich, er ballte die Fäuste und
fing plötzlich an zu schreien: "Es ist klar! Es ist
klar!"
"Da", sagte er und zog eine
Zeitung aus der Tasche, "ich bin kein Redner, da drin steht es
schwarz auf weiß."
Er fuchtelte mir mit der
Zeitung vor der Nase herum. "Deutschland wird zahlen! Das haben sie
sich so gedacht. Sie wollen uns unsre ganze Kohle nehmen. Das haben
sie sich jetzt ausgedacht. Sieh hier, da steht es schwarz auf weiß.
Sie wollen Deutschland vernichten."
Und plötzlich fing er an zu
brüllen: "Und du, du Schweinehund, willst dir das Leben
nehmen."
Er schwenkte die Zeitung in
seiner rechten Hand und schlug sie mir ins Gesicht. "Da", rief er,
"lies! Lies! Lies laut!"
Er zeigte mit zitterndem
Finger auf einen Artikel, und ich fing an zu lesen. "Nein,
Deutschland ist nicht besiegt. .."
"Steh auf,
Schweinehund!"
rief Siebert. "Steh auf,
wenn du von Deutschland sprichst!"
Ich stand auf. "Deutschland
ist nicht besiegt. Deutschland wird siegen. Der Krieg ist noch
nicht zu Ende. Er hat nur andere Formen angenommen. Die Armee ist
auf ein Nichts reduziert, und die Freikorps sind aufgelöst. Aber
jeder deutsche Mann, mit oder ohne Uniform, muß sich noch als
Soldat betrachten. Mehr als je wird an seinen Mut, an seine
unbeugsame Entschlossenheit appelliert. Wer keinen Anteil am
Schicksal des Vaterlandes nimmt, verrät es. Wer sich der
Verzweiflung hingibt, desertiert angesichts des Feindes. Die
Pflicht jedes deutschen Mannes ist, für das deutsche Volk und das
deutsche Blut zu kämpfen und zu sterben, wo immer er
steht."
"Donnerwetter", sagte
Siebert, "man könnte glauben, das wäre für dich
geschrieben."
Niedergeschmettert blickte
ich auf die Zeitung. Es war wahr: Das war für mich geschrieben.
"Das ist doch klar", sagte Siebert, "du bist Soldat. Du bist immer
noch Soldat. Was kommt es auf die Uniform an? Du bist
Soldat!"
Mein Herz begann heftig in
der Brust zu schlagen, und ich stand unbeweglich da, wie
angenagelt. Siebert sah mich aufmerksam an, dann lächelte er,
Freude überzog sein Gesicht, er schlang seine Arme um meine
Schultern, es lief mir warm über den Rücken, und er schrie wie ein
Irrer: "Das ist doch klar!"
Ich sagte leise: "Laß mich!"
"Du lieber Gott", sagte er,
"du wirst doch nicht ohnmächtig werden?"
"Laß mich!"
Ich setzte mich, nahm den
Kopf in die Hände und sagte: "Ich schäme mich,
Siebert."
Und eine köstliche
Erleichterung überkam mich. "Ach was!"
sagte Siebert verlegen. Er
drehte mir den Rücken zu, nahm eine Zigarette, brannte sie an und
stellte sich ans Fenster; ein langes Schweigen folgte, dann stand
ich auf, setzte mich an den Tisch und ergriff mit zitternder Hand
die Zeitung. Ich sah nach dem Titel. Es war der "Völkische
Beobachter". Auf der ersten Seite sprang mir eine Karikatur in die
Augen. Sie stellte den internationalen Juden dar, der dabei war,
Deutschland zu erwürgen. Ich betrachtete fast zerstreut die
Einzelheiten im Gesicht des Juden, und plötzlich war mir, als
erhielte ich einen Stoß von unerhörter Heftigkeit. Ich erkannte
ihn, ich erkannte diese wulstigen Augen, diese gebogene lange Nase,
diese weichen Backen, diese verhaßten, abstoßenden Züge. Ich hatte
sie einst oft genug auf dem Stich, den mein Vater mit Reißnägeln an
der Klosettür befestigt hatte, betrachtet. Mir ging ein blendendes
Licht auf. Ich begriff jetzt alles. Das war er. Der Instinkt meiner
Kindheit hatte mich nicht getäuscht. Ich hatte recht gehabt, ihn zu
hassen. Mein einziger Irrtum war gewesen, auf die Versicherung der
Priester hin zu glauben, daß es ein unsichtbarer Geist sei, den man
nur durch Gebet bekämpfen könne, durch Klagelieder oder kultische
Gebräuche. Aber jetzt begriff ich, daß er sehr wirklich, sehr
lebendig war, daß man ihm auf der Straße begegnete. Der Teufel war
nicht der Teufel, der Teufel war der Jude. Ich stand auf, ein
Schauer überlief mich vom Kopf bis zu den Füßen. Meine Zigarette
verbrannte mir die Finger. Ich warf sie weg. Dann steckte ich meine
zitternden Hände in die Taschen, stellte mich ans Fenster und
atmete mit vollen Lungen. Ich fühlte Sieberts Arm an meinem, und
seine Kraft ging in mich über. Sieberts beide Hände lagen auf der
Schutzstange. Er sah mich nicht an, rührte sich nicht. Rechts von
mir ging die Sonne in einer Orgie von Blut unter. Ich drehte mich
um, ergriff meine Pistole, hob sie langsam bis zur Horizontalen und
zielte auf die Sonne. "Das ist eine gute Waffe", sagte Siebert, und
seine Stimme klang zart und verhalten. Ich sagte leise: "Ja", und
legte die Pistole auf den Tisch zurück. Im nächsten Augenblick
ergriff ich sie wieder. Ihr Kolben lag schwer und vertraut in
meiner hohlen Hand, sie sah hart und wirklich aus, ihr Gewicht
lastete in der Hand, und ich dachte: 'Ich bin Soldat. Was kommt es
auf die Uniform an? Ich bin Soldat.'
Der nächste Tag war ein Sonntag, und ich mußte
bis zum Montag warten, um nach der Arbeit auf das Standesamt gehen
zu können. Hinter der Schranke unterhielt sich ein Beamter mit
einem kleinen Kinnbärtchen und Stahlbrille mit einem weißhaarigen
Mann. Ich wartete, bis er zu Ende war, und sagte: "Ich bitte um
Änderung im Personenstandsregister ."
Der Beamte mit der
Stahlbrille sagte, ohne mich anzusehen: "Worum handelt es
sich?"
"Um
Kirchenaustritt."
Die beiden Männer blickten
gleichzeitig auf. Dann wandte sich der Beamte mit der Brille zu
seinem Kollegen um und schüttelte leicht den Kopf. Dann sah er
wieder mich an. "Unter welcher Konfession waren Sie
eingetragen?"
"Katholisch."
"Und Sie sind nicht mehr
katholisch?"
"Nein."
"Welche Religion wollen Sie
eintragen lassen?"
"Keine."
Der Beamte blickte den
Weißhaarigen an und schüttelte den Kopf. "Warum haben Sie bei der
letzten Volkszählung keine Erklärung in diesem Sinne
abgegeben?"
"Ich bin nicht mitgezählt
worden."
"Warum nicht?"
"Ich war in Kurland in einem
Freikorps."
Der Weißhaarige nahm ein
Lineal und gab sich damit leichte Schläge auf die innere Fläche
seiner linken Hand. Der Beamte sagte: "Das ist vollkommen
vorschriftswidrig. Sie hätten eine Erklärung abgeben müssen. Und
jetzt sind Sie im Nachteil."
"In den Freikorps wurde
keine Zählung vorgenommen."
Der Beamte schüttelte mit
ärgerlichem Gesicht den Kopf. "Ich werde diese Sache melden. Das
ist unzulässig. Eine Volkszählung ist ganz allgemein. Selbst die
Herren von den Freikorps waren davon nicht
ausgenommen."
Es entstand ein Schweigen,
bis ich sagte: "Ich bin im Jahre 1916 mitgezählt
worden."
Der Beamte sah mich an,
seine Brillengläser blitzten. "Und warum sind Sie damals als
Katholik eingetragen worden?"
"Meine Eltern haben es
eintragen lassen."
"
Wie alt waren Sie
da?"
"Sechzehn
Jahre."
Er blickte mich an. "Sie
sind also zweiundzwanzig Jahre alt."
Er seufzte, wandte sich zu
seinem Kollegen, und beide schüttelten den Kopf. "Und jetzt",
fragte nochmals der Beamte, "sind Sie nicht mehr katholisch ?
"
"Nein."
Er schob seine Brille auf
die Stirn. "Warum nicht?"
Ich war der Meinung, daß er seine Befugnisse
überschritt, indem er diese Frage stellte, und sagte hastig und
scharf: "Meine philosophischen Überzeugungen haben sich
geändert."
Der Beamte sah seinen
Kollegen an und flüsterte ihm zu: "Seine philosophischen
Überzeugungen haben sich geändert!"
Der Weißhaarige zog die
Augenbrauen hoch, öffnete den Mund ein wenig und schüttelte den
Kopf. Der Beamte wandte sich wieder zu mir. "Nun, dann warten Sie
die nächste Volkszählung ab, um Ihren Kirchenaustritt zu
vollziehen."
"Ich möchte nicht zwei Jahre
warten."
"Warum nicht?"
Da ich nicht antwortete,
fuhr er fort, als ob er die Unterhaltung beenden wollte: "Sie
sehen, es ist nicht so eilig."
Ich sah ein, daß ich für
meine Eile einen verwaltungstechnischen Grund angeben mußte, und
sagte: "Ich sehe keinen Grund, daß ich noch zwei Jahre lang
Kirchensteuern bezahlen soll, da ich keiner Kirche mehr
angehöre."
Der Beamte richtete sich in
seinem Stuhl auf, sah seinen Kollegen an, und seine Augen fingen
wieder an, hinter den Brillengläsern zu blitzen. "Sicher, sicher,
mein Herr, werden Sie zwei Jahre lang keine Kirchensteuer zu zahlen
haben, aber die Vorschrift sagt ausdrücklich ...", er machte eine
Pause und zeigte mit dem Finger auf mich, ". ..daß Sie eine
Ausgleichsabgabe zu zahlen haben, die höher ist als die
Kirchensteuer. "
Er lehnte sich in seinem
Stuhl zurück und betrachtete mich mit triumphierender Miene. Der
Weißhaarige lächelte. Ich sagte barsch: "Das ist mir ganz
gleichgültig."
Die Brillengläser des
Beamten blitzten wieder, er kniff die Lippen zusammen und blickte
seinen Kollegen an. Dann beugte er sich hinunter, zog eine
Schublade auf, entnahm ihr drei Formulare und legte sie -oder
vielmehr: warf sie auf die Tafel. Ich nahm die Formulare und füllte
sie sorgfältig aus. Als ich damit fertig war, reichte ich sie dem
Beamten. Er warf einen Blick darauf, machte eine Pause und las dann
mit einem Grinsen laut vor: "Konfessionslos, aber gottgläubig. Das
sind Sie also?"
"Ja."
Er warf seinem Kollegen
einen Blick zu. "Das sind. ..Ihre neuen philosophischen
Überzeugungen?"
"Ja."
"Es ist gut", sagte er und
faltete die Blätter zusammen. Ich grüßte mit einem Kopfnicken. Er
geruhte nicht, mich zu sehen. Er sah seinen Kollegen an. Ich machte
kehrt und wandte mich dem Ausgang zu. Ich hörte, wie er hinter
meinem Rücken murmelte: "Wieder einer von der neuen
Sippschaft."
Auf der Straße zog ich den "Völkischen
Beobachter"
aus der Tasche und
vergewisserte mich der Adresse. Es war ziemlich weit, aber die
Straßenbahn zu benutzen, kam nicht in Frage. Ich lief ungefähr eine
Dreiviertelstunde. Ich war ganz außer Atem. Am Abend vorher hatte
ich auf eine Mahlzeit verzichten müssen. Zu Mittag hatte mir
Siebert die Hälfte seines Brots gegeben und mir ein paar Mark
geliehen. Als ich die Baustelle verließ, hatte ich mir ein Stück
Brot gekauft. Aber der Hunger fing wieder an zu bohren, und die
Beine wurden schwach. Die Geschäftsstelle der Partei lag im ersten
Stock. Ich klingelte, die Tür wurde ein Stück geöffnet, und ein
braunhaariger junger Mann zeigte sich in der Öffnung. Seine
schwarzen Augen blickten aufmerksam. "Sie wünschen?"
"Ich will mich einschreiben
lassen."
Die Tür öffnete sich etwas
weiter. Hinter dem jungen Braunhaarigen sah ich den Rücken eines
andern jungen Mannes, der an einem Fenster stand. Die Sonne legte
einen roten Strahlenkranz um seinen Kopf. Es vergingen einige
Sekunden, dann drehte sich der Rothaarige um, machte ein Zeichen
mit dem Daumen und sagte: "In Ordnung."
Die Tür wurde jetzt
vollständig geöffnet, und ich trat ein. Etwa zehn junge Leute im
Braunhemd blickten mich an. Der junge Braunhaarige nahm mich am Arm
und sagte mit außerordentlich sanfter und höflicher Stimme: "Bitte,
kommen Sie."
Er führte mich an einen
kleinen Tisch, ich setzte mich. Er gab mir ein Formular, und ich
begann es auszufüllen Als ich damit fertig war, reichte ich dem
jungen Mann das Formular, er nahm es und ging, sich zwischen den
Tischen hindurchschlängelnd, damit nach hinten. Seine Bewegungen
waren lebhaft und graziös. Er verschwand durch eine graugestrichene
Tür . Ich sah mich um. Der Raum war groß und hell. Mit seinen
Kartothekschränken, seinen Schreibtischen und seinen zwei
Schreibmaschinen ließ er auf den ersten Blick an ein beliebiges
Kontor denken. Aber die Atmosphäre war nicht die eines Kontors. Die
jungen Leute trugen alle ein braunes Hemd, Koppel und Stiefel. Sie
rauchten und unterhielten sich. Einer las eine Zeitung. Die anderen
taten nichts Besonderes, und doch schienen sie keine Müßiggänger zu
sein. Es sah aus, als warteten sie. Ich stand auf. Es lag so etwas
wie eine Spannung in der Luft. Ich betrachtete die jungen Männer im
Braunhemd. Keiner von ihnen schien auf mich achtzugeben, und
dennoch hatte ich den Eindruck, daß nicht eine meiner Bewegungen
ihnen entging. Ich trat ans Fenster, lehnte meine Stirn an die
Scheibe, und eine Sekunde lang zog es mir schmerzhaft durch den
Magen. .
"Schönes Wetter, nicht wahr?"
Ich wandte den Kopf, der
junge Rothaarige stand neben mir, so nahe, daß sein Arm meine Hüfte
berührte. Er lächelte übers ganze Gesicht, zutraulich, aber seine
Augen blickten ernst und wachsam. Ich sagte: "Ja", und sah auf die
Straße hinab. Unten auf dem Gehsteig schritt ein schmächtiger
junger Mann im Braunhemd auf und ab. Durch sein Gesicht zog sich
eine Narbe. Ich hatte ihn bei meinem Eintreten nicht bemerkt. Auf
der gegenüberliegenden Seite standen zwei junge Leute vor einem
Schaufenster. Von Zeit zu Zeit drehten sie sich um und warfen ihrem
Kameraden gegenüber einen Blick zu. Nach einer Weile zog sich mir
der Magen zusammen, und ich fühlte Leere im Kopf. Ich dachte, es
wäre besser zu sitzen, und machte kehrt. Sofort war wieder die
Spannung in der Luft. Ich blickte die jungen Männer der Reihe nach
an. Keiner hatte die Augen auf mich gerichtet. Ich hatte keine
Zeit, mich zu setzen. Die kleine graue Tür im Hintergrund ging
plötzlich auf, der junge Braunhaarige erschien, trat mit einer
raschen, graziösen Bewegung zur Seite, und ein etwa vierzigjähriger
Mann tauchte auf. Er war klein, untersetzt, Apoplektiker. Die
jungen Leute knallten die Hacken zusammen und erhoben den rechten
Arm. Der untersetzte Mann erhob den Arm seinerseits, ließ ihn
wieder sinken, blieb unbeweglich auf der Schwelle stehen und
musterte mich mit einem raschen, scharfen Blick, wie wenn er in
seinem Gedächtnis nachforschte, ob er mich schon einmal gesehen
hätte. Seine mächtige Brust schwellte das Braunhemd, er trug das
Haar sehr kurz geschnitten, und seine Augen verschwanden unter
geschwollenen Augenlidern. Er kam näher. Sein Schritt war schwer,
fast stampfend. Als er zwei Meter vor mir war, lösten sich zwei
junge Leute aus der Gruppe und stellten sich, ohne ein Wort zu
sagen, neben mich. "Freddie?"
sagte der untersetzte Mann.
Der junge Braunhaarige knallte die Hacken zusammen. "Hier,
Obersturmführer."
"Das Formular."
Freddie gab ihm das
Formular. Der Obersturmführer nahm es in seine riesige Faust und
legte den Zeigefinger der anderen Hand darauf. "Lang?"
Ich stand stramm und sagte:
"Jawohl', Herr Obersturmführer."
Sein kurzer, dicker, an der
Spitze klobiger Finger lief über die Zeilen des Formulars. Dann hob
er den Kopf und sah mich an. Die Schwellungen an seinen Augen
ließen nur eine dünne Spalte frei. Er sah träge und schläfrig aus.
"Wo arbeiten Sie?"
"Bei der Firma
Lingenfelser."
"Ist einer Ihrer Kameraden
dort in der Partei?"
"Einer, glaube
ich."
"Sie wissen es aber nicht
sicher?"
"Nein, aber er liest den
,Völkischen Beobachter."
"Wie heißt er?"
"Siebert."
Der Obersturmführer wandte sich zu Freddie um.
Er drehte dabei nicht den Hals, sondern den ganzen Oberkörper, als
sei sein Hals an den Schultern angeschweißt. "Stell es fest!"
Freddie setzte sich an einen
Tisch und sah in einer Kartei nach. Der Obersturmführer legte
wieder seinen dicken Zeigefinger auf das Formular .
"Türkei?"
"Jawohl, Herr
Obersturmführer."
.."Mit wem?"
"Herrn Rittmeister
Günther."
Freddie erhob sich. "Siebert ist
Mitglied."
Der dicke Zeigefinger
übersprang mehrere Zeilen. "Aha! Freikorps!"
Und mit einem Mal sah er
nicht mehr schläfrig aus. "Bei wem?"
"Oberleutnant
Roßbach."
Der Obersturmführer
lächelte, seine Augen blitzten durch die Spalten hindurch, und er
steckte genießerisch die Zungenspitze hervor. "Im Baltikum, an der
Ruhr, in Oberschlesien?"
"Auf allen drei
Schauplätzen."
"Gut!"
Er klopfte mir auf die
Schulter. Die beiden jungen Leute, die mich flankierten, entfernten
sich und setzten sich wieder. Der Obersturmführer drehte seinen
Körper zu Freddie um. "Schreib seinen vorläufigen Ausweis
aus."
Seine Augenspalten verengten
sich. Er sah wieder schläfrig aus. "Sie sind zuerst SA-Anwärter;
dann, wenn wir es für zweckmäßig halten, leisten Sie den Eid auf
den Führer und werden in die SA aufgenommen. Haben Sie Geld, sich
eine Uniform zu kaufen?"
"Leider nein."
"Warum nicht?"
"Vor einer Woche war ich
noch arbeitslos."
Der Obersturmführer drehte
seinen Körper nach dem Fenster hin. "Otto!"
Der junge Rothaarige drehte
sich um seine Achse, eilte leicht hinkend herbei und schlug die
Hacken zusammen. Sein hageres, mit Sommersprossen übersätes Gesicht
war zu einem Lächeln verzogen. "Du gibst ihm die Uniform von
Heinrich."
Ono hörte auf zu lächeln,
sein Gesicht wurde ernst und traurig, und er sagte: "Die Uniform
von Heinrich wird ihm zu groß sein."
Der Obersturmführer zuckte
die Achseln. "Er kann sie kleiner machen."
Im Zimmer entstand ein
Schweigen. Der Obersturmführer ließ seinen Blick über die jungen
Leute schweifen und sagte mit lauter Stimme: "Ein Freikorpsmann hat
das Recht, die Uniform von Heinrich zu tragen."
Freddie reichte ihm eine gefaltete Karte. Er
öffnete sie, warf einen Blick hinein, schloß sie und übergab sie
mir. "Augenblicklich hast du Befehl, bei deiner Firma zu
bleiben."
Ich bemerkte voller Glück,
daß er "du"
zu mir sagte. "Gib Otto
deine Adresse. Er wird dir die Uniform von Heinrich
bringen."
Der Obersturmführer machte
kehrt, dann besann er sich und drehte sich noch einmal mir zu. "Ein
Freikorpsmann hat sicher eine Waffe?"
"Eine
Mauserpistole."
"Wo hast du sie
versteckt?"
"In meinem
Strohsack."
Er hob seine mächtigen
Schultern. "Kindlich."
Er drehte seinen Oberkörper
der Gruppe der jungen Leute zu, blinzelte und sagte: "Strohsäcke
stellen für die Schupos kein Versteck dar."
Die jungen Leute fingen an
zu lachen, er stand unbewegt da. Als das Gelächter aufhörte, fuhr
er fort: "Otto wird dir zeigen, wie man sie
versteckt."
Freddie berührte mich am
Arm. "Zu Otto kannst du Vertrauen haben. Seinen Revolver hat er so
gut versteckt, daß er ihn selber nicht mehr finden
kann."
Die jungen Leute fingen
wieder an zu lachen, und diesmal stimmte der Obersturmführer ein.
Dann packte er mit seiner mächtigen Tatze Freddie im Genick und
drückte ihn mehrere Male nach vorn, wozu er auf französisch sagte:
"Petite canaille! Petite canaille!"
Freddie begann sich zu
winden, um sich loszumachen, aber ohne sich sehr anzustrengen.
"Petite canaille! Petite canaille!"
sagte der Obersturmführer,
und sein Gesicht lief rot an. Schließlich schleuderte er Freddie
mit einem einzigen Stoß in die Arme Ottos, der infolge des Anpralls
beinahe gefallen wäre. Die jungen Leute brachen in lautes Gelächter
aus. "Achtung!"
rief der Obersturmführer.
Und alle standen unbeweglich. Der Obersturmführer legte seine Hand
auf meine Schulter, sein Gesicht wurde ernst, und er sagte: "SA-
Anwärter!"
Er machte eine Pause, und
ich stand stramm. "Der Führer erwartet von dir unbegrenzte
Hingabe."
Ich sagte: "Jawohl, Herr
Obersturmführer."
Der Obersturmführer ließ
mich los, trat einen Schritt zurück, stand stramm, hob den rechten
Arm und rief mit lauter Stimme: "Heil Hitler!"
Die jungen Leute erstarrten
mit erhobenem Arm. Dann riefen sie unisono mit rauher und lauter
Stimme, wobei sie die Silben dehnten: "Heil Hitler!"
Ihre Stimmen
klangen in meiner Brust mächtig wider. Ich empfand ein tiefes
Gefühl des Friedens. Ich hatte meinen Weg gefunden. Er lag gerade
und klar vor mir. Die Pflicht wartete auf mich in jedem Augenblick
meines Lebens.
Wochen vergingen, Monate, und trotz der schweren
Arbeit an der Betonmaschine, des Sturzes der Mark und des Hungers
war ich glücklich. Abends, sobald ich die Baustelle verlassen
hatte, beeilte ich mich, meine Uniform anzuziehen, ich ging in die
Geschäftsstelle des Sturms, und mein wahres Leben begann.
Unaufhörlich gab es Kämpfe mit den Kommunisten. Wir sprengten ihre
Versammlungen und sie die unsern. Wir stürmten ihre Lokale, und sie
griffen uns ihrerseits an. Es vergingen kaum ein paar Wochen ohne
Schlägereien. Obwohl wir grundsätzlich beiderseits ohne Waffen
waren, kam es nicht selten vor, daß man im Verlauf des Handgemenges
einen Revolver knallen hörte. Heinrich, dessen Uniform ich trug,
war durch einen Schuß mitten ins Herz getötet worden, und ich hatte
meinem Braunhemd die beiden Löcher stopfen müssen, welche die Kugel
gerissen hatte. Der 11. Januar war für die Kämpfer der Partei ein
entscheidendes Datum. Die Regierung des Präsidenten Poincaré ließ
die Ruhr besetzen. Sie schickte "eine einfache Abordnung von
Ingenieuren"
hin eine Abordnung, die von
sechzigtausend Soldaten begleitet war, aber deren Ziele, nach einem
Ausdruck, der unter uns sehr beliebt wurde, "rein
friedliche"
waren. In ganz Deutschland
flammte die Entrüstung auf gleich einer Fackel. Der Führer hatte
immer behauptet, daß den Alliierten das Diktat von Versailles nicht
genüge und daß sie früher oder später Deutschland den Gnadenstoß
versetzen wollten. Dieses Ereignis gab ihm recht, die
Anhängerschaft der Partei vervielfachte sich, sie erreichte nach
einem Monat eine noch nicht dagewesene Ziffer, und die
wirtschaftliche Katastrophe, die dann über unser unglückliches Land
hereinbrach, beschleunigte nur noch den wunderbaren Aufschwung der
Bewegung. Der Obersturmführer sagte öfter lächelnd, in Anbetracht
der Lage der Dinge müßte die Partei dem Präsidenten Poincaré ein
Standbild errichten. Bald erfuhren wir, daß der französische
Eindringling an der Ruhr auf einen viel weniger passiven Widerstand
traf, als ihn der Reichskanzler Cuno proklamiert hatte. Die
Sabotage an Güterzügen, welche die deutsche Kohle nach Frankreich
verschleppten, wurde in ungeheurem Maßstab organisiert, Brücken
wurden gesprengt, Lokomotiven sprangen aus den Schienen,
Weichenanlagen wurden zerstört. Im Vergleich zu diesen Heldentaten
und den Gefahren, mit denen sie verbunden waren, verloren unsere
fast täglichen Kämpfe mit den Kommunisten ihren Glanz. Wir wußten,
daß die Partei, neben anderen patriotischen Gruppen, am deutschen
Widerstand an der Ruhr beteiligt war, und wir drei -Siebert, Otto
und ich -baten gleich in den ersten Tagen um einen Geheimauftrag in
der französischen Besatzungszone. Die Antwort kam in Form eines
Befehls. Wir wären in M. nützlich und müßten in M. bleiben.
Wiederum hatte ich, wie in W. beim Freikorps, das Gefühl, in einer
friedlichen Garnison zu verschimmeln, während andere für mich
kämpften. Meine Ungeduld wuchs noch, als ich erfuhr, daß viele der
Kameraden und Führer der Freikorps sich in der Widerstandsbewegung
auszeichneten, namentlich der Leutnant Albert Leo Schlageter. Der
Name Schlageter hatte für einen ehemaligen Angehörigen der
Freikorps Zauberkraft. Er war der Held von Riga. Seine Kühnheit
kannte keine Grenzen, er hatte überall gekämpft, wo man nur kämpfen
konnte. In Oberschlesien war er dreimal von polnischen Gruppen
eingeschlossen gewesen, und dreimal war es ihm gelungen zu
entkommen. Wir erfuhren, daß er es an der Ruhr verschmähte, sich an
den Weichenanlagen zu vergreifen, weil er das für zu leicht hielt,
und lieber vor der Nase der französischen Wachen die
Eisenbahnbrücken zerstörte. Er handele so, sagte er mit Humor, in
"rein friedlicher"
Absicht. Am 23. Mai
versetzte uns eine furchtbare Nachricht in Bestürzung. Nach der
Zerstörung einer Brücke an der Linie von Duisburg nach Düsseldorf
hatten die Franzosen Schlageter verhaftet und erschossen. Einige
Tage später teilte mir eine patriotische Gruppe, die mit der Partei
zusammenarbeitete und aus ehemaligen Roßbach-Leuten bestand, mit,
daß Schlageter von einem gewissen Walter Kadow, einem Schullehrer,
den Franzosen denunziert, und daß ich mit zweien meiner Kameraden
dazu bestimmt worden sei, diesen hinzurichten. Die Hinrichtung fand
in einem Wald bei P. statt. Wir schlugen Kadow mit Knüppeln tot und
vergruben die Leiche. Doch sie wurde kurz darauf von der Polizei
gefunden, wir wurden verhaftet, man machte uns den Prozeß, und ich
wurde ebenso wie meine Kameraden zu zehn Jahren Haft
verurteilt.
Ich verbüßte meine
Strafe im Gefängnis von D. Das Essen dort war schlecht, aber ich
hatte Schlimmeres kennengelernt, als ich arbeitslos war, und mit
den Paketen der Partei stillte ich annähernd meinen Hunger. Die
Arbeit -die meist darin bestand, daß ich auf der Maschine
Militär-Effekten nähen mußte -war sehr viel weniger schwer als
alles, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Ich verrichtete sie
in der Zelle, und allein arbeiten zu können war für mich eine
Erleichterung.
Manchmal hörte ich
während des Spaziergangs Mitgefangene sich leise über die Wärter
beklagen, aber ich glaube, daß sie ihrerseits nicht das Nötige
taten, denn meine Beziehungen waren immer ausgezeichnet. Dazu
gehörte nicht viel Talent. Ich war höflich und willig, ich stellte
keine Fragen, ich verlangte nichts und tat stets sofort alles, was
man mir zu tun befahl. In dem Formular, das ich bei der
Einlieferung ins Gefängnis hatte ausfüllen müssen, hatte ich
angegeben, ich sei konfessionslos, aber gottgläubig. Ich war also
erstaunt, den Besuch des protestantischen Gefängnisgeistlichen zu
erhalten. Er beklagte zuerst, daß ich alle Andachtsübungen
aufgegeben hätte. Dann wollte er wissen, in welcher Lehre ich
erzogen worden sei, und schien recht befriedigt, zu erfahren, daß
es die katholische gewesen war. Danach fragte er mich, ob ich die
Bibel lesen wollte. Ich antwortete bejahend, er gab mir eine und
ging fort. Einen Monat später drehte sich der Schlüssel im Schloß,
und der Pastor erschien. Selbstverständlich stand ich sofort auf,
Er fragte mich, ob ich begonnen hätte, in der Bibel zu lesen, und
ob ich die Lektüre interessant gefunden hätte. Ich antwortete mit
Ja. Dann fragte er mich, ob ich mein Verbrechen bereute. Ich sagte
ihm, daß ich es nicht zu bereuen hätte, denn dieser Kadow wäre ein
Verräter gewesen, und wir hätten die Tat aus Liebe zum Vaterland
ausgeführt. Er bemerkte dagegen, daß nur der Staat das Recht habe,
Verräter zu richten. Ich schwieg, denn ich meinte, hier, wo ich
mich befand, dürfte ich ihm nicht sagen, was ich von der Weimarer
Republik hielt. Aber er verstand mein Schweigen, denn er schüttelte
traurig den Kopf, zitierte einige Bibelverse und ging wieder . Ich
log nicht, als ich dem Pastor antwortete, die Bibel hätte mich
interessiert. Sie bestätigte mir alles, was mein Vater, der
Rittmeister Günther und die Partei mich gelehrt hatten, über die
Juden zu denken. Es war ein Volk, das alles aus Eigennutz tat, das
systematisch die schmutzigsten Listen gebrauchte und das im
täglichen Leben eine ekelhafte Geilheit zeigte. In der Tat, nicht
ohne Unbehagen las ich gewisse dieser Geschichten, in denen
unaufhörlich, oft in den anstößigsten Ausdrücken, von Konkubinen
und Blutschande die Rede war . Im dritten Jahr meines
Gefangenendaseins geschah etwas Außerordentliches: Ich erhielt
einen Brief. Fiebernd zog ich ihn aus dem Umschlag. Er war
unterzeichnet: Doktor Vogel, und er lautete:
"Mein lieber
Rudolf! Obwohl ich mich rechtmäßig von jeder Verpflichtung Dir
gegenüber wegen Deines abscheulichen Betragens als entbunden
betrachten kann, bin ich der Meinung, daß ich es dem Andenken
Deines Vaters schuldig bin, Dich in der Schande, die jetzt Dein Los
ist, nicht im Stich zu lassen, sondern Dir eine helfende Hand zu
reichen und Beleidigungen zu vergessen. Drei Jahre sind vergangen,
seitdem Gott seine Hand schwer auf Dich gelegt hat, damit Du nicht
länger Deine Freiheit benutztest, um Böses zu tun. Diese drei
Jahre, dessen bin ich sicher, werden Dir heilsam gewesen sein. Du
bist Deinen Gewissensbissen ausgesetzt gewesen. Du hast die Last
Deiner Verfehlungen getragen. Ich weiß nichts von diesen
Verfehlungen. Du hast Sorge getragen, mir diese Kenntnis
vorzuenthalten, indem Du jede Beziehung zu mir abbrachst. Aber was
das für ein Leben gewesen sein muß, daß es schließlich zum Mord
führte, welch entsetzliches Beispiel an Faulheit und zügelloser
Sinnenlust es Dir gegeben haben muß, stelle ich mir nicht ohne
tiefe Trauer vor. Es ist stets das Vergnügen -und Vergnügen
niederster Art -, das den jungen Menschen vom harten Weg der
Pflicht und des Gehorsams ablenkt. Aber jetzt, mein lieber Rudolf,
ist die unerbittliche Züchtigung endlich über Dich gekommen. Sie
ist gerecht, und Du fühlst es. Aber Gott in seiner unendlichen
Nachsicht ist bereit, Dir zu verzeihen. Gewiß ist es jetzt nicht
mehr möglich, den heiligen Willen eines Sterbenden buchstäblich
auszuführen, und Deine Schande schließt die Gnade aus, jemals das
erhabene Amt zu versehen, das Dein Vater für Dich gewünscht hatte.
Aber es gibt bescheidenere Berufe, in denen Du Deine Verfehlung
begraben könntest und für die man nichts weiter als ein reuiges
Herz verlangt, sowie den festen Willen, Gott zu dienen. Da liegt
jetzt für Dich das Heil, und Dein Vater, der vom Himmel auf Dich
niederschaut, würde nicht anders entschieden haben. Wenn Deine
Reue, wie ich hoffe, Dir die Augen geöffnet hat, wenn Du bereit
bist, Deinen Hochmut zu beugen, auf die Anarchie und Unordnung
Deines Lebens zu verzichten, wird es mir ohne Zweifel möglich sein,
eine Herabsetzung Deiner Strafe zu erlangen. Ich bin nicht ohne
einige Beziehungen, und ich habe eben erfahren, daß es den Eltern
des jungen W. -Deines Mitschuldigen bei dem Verbrechen vor einigen
Monaten gelungen ist, ihn amnestieren zu lassen. Darin liegt für
Dich ein glücklicher Präzedenzfall, den auszunutzen mir zweifellos
möglich sein wird, wenn ich mich vergewissert habe, daß die
Züchtigung Dein verhärtetes Herz aufgebrochen hat und Dich reuig
und lenksam in unsere Arme zurückführen wird. Deine Tante und Deine
Schwestern haben mir keine Botschaft an Dich aufgetragen. Du wirst
verstehen, daß die im tiefsten ehrenhaften Frauen im Augenblick
nicht wünschen, mit einem Sträfling zu tun zu haben. Aber sie
wissen, daß ich Dir schreibe, und beten unaufhörlich, daß Dein Herz
von Reue erfaßt werde. Das ist es auch, was ich Dir aus tiefster
Seele wünsche.
Doktor
Vogel."
Ein Vierteljahr, nachdem ich diesen Brief
erhalten hatte, ging meine Zellentür auf, und der Oberaufseher trat
herein, gefolgt von einem Aufseher, blickte sich prüfend um und
rief mit Stentorstimme: "Zum Herrn Direktor! Schnell!"
Er ließ mich vorausgehen.
Der Aufseher verschloß wieder die Tür, und der Oberaufseher rief:
"Schnell, Mensch, schnell!"
Ich beschleunigte meine
Schritte, wir durchschritten endlose Korridore, mir zitterten die
Beine. Der Oberaufseher war ein ehemaliger aktiver Unteroffizier.
Er ging steif, hielt sich kerzengerade, sein Schnurrbart a la
Wilhelm II. war völlig weiß und gewichst. Er überragte mich um
einen ganzen Kopf, und ich mußte zwei Schritte machen, wenn er
einen machte. Dann ging er etwas langsamer und sagte halblaut:
"Hast du Angst, Dragoner?"
Ich sagte: "Nein, Herr
Oberaufseher."
Wir gingen noch ein paar
Schritte, ich fühlte, daß er mich ansah, und nach einem Weilchen
begann er wieder: "Du brauchst auch keine Angst zu haben. Du hast
nichts Schlimmes getan. Wenn du etwas Schlimmes getan hättest,
wüßte ich es."
Ich sagte: "Danke, Herr
Oberaufseher."
Er ging noch langsamer und
setzte halblaut hinzu: "Hör mal zu! Achte gut auf das, was du dem
Herrn Direktor sagst. Er ist ein sehr gelehrter Mann, aber. ..", er
senkte die Stimme noch mehr, ". ..er ist ein bißchen
..."
Er hob die rechte Hand in
Gürtelhöhe und zeigte abwechselnd den Handrücken und das Innere.
"Und außerdem", fuhr er fort, "ist er etwas. .."
Er legte den Zeigefinger an
seine Stirn und blinzelte mir zu. Ein Schweigen folgte, er
verlangsamte seinen Schritt noch mehr und sagte lauter: "Also gib
gut acht, daß du die Antworten gibst, die er haben
will."
Ich sah ihn an, er blinzelte
mir wieder zu und fuhr fort: "Denn bei ihm weiß man nie, welche
Antworten man geben soll."
Ich sah ihn an, er
schüttelte mit wissender Miene den Kopf, blieb stehen und legte mir
die Hand auf den Arm. "Also zum Beispiel: du glaubst, eine Dummheit
gesagt zu haben. Aber keineswegs. Er ist zufrieden."
Er fügte hinzu: "Und
umgekehrt."
Er setzte seinen Marsch
fort, zupfte lange an seinem Schnurrbart und sagte: "Also gib gut
acht auf deine Antworten!"
Er gab mir einen kleinen
Klaps auf die Schulter, und ich sagte: "
Vielen Dank auch, Herr
Oberaufseher."
Erst kam noch ein langer
Gang, dann trat glänzend gebohnerter Eichenfußboden an die Stelle
der Steinplatten, wir gingen durch eine Doppeltür, und ich hörte
das Geklapper einer Schreibmaschine. Der Oberaufseher ging vor mir,
zog seinen Rock zurecht, klopfte an eine rotgestrichene Tür, trat
ein, stand stramm und rief mit lauter Stimme: "Der Häftling Lang
ist zur Stelle, Herr Direktor."
Eine Stimme sagte: "Lassen
Sie ihn eintreten!"
Der Oberaufseher schob mich
vor sich her. Das Zimmer war sehr hell, und das starke Leuchten der
weißen Wände blendete mich. Nach einer Weile bemerkte ich den
Direktor. Er stand an einem großen Fenster, ein grünes Buch in der
Hand. Er war klein, mager, sehr blaß, hatte eine hohe Stimme und
einen durchdringenden Blick hinter seiner goldenen Brille. Er sah
mich an und sagte: "Lang?", und sein Gesicht zuckte. Der
Oberaufseher stieß mich mit der Hand leicht in den Rücken. Dann
lockerte er den Druck. Ich befand mich etwa einen Meter vor dem
Schreibtisch, der Oberaufseher stand rechts von mir. Hinter dem
Schreibtisch war die Wand vom Boden bis zur Decke mit Büchern
bedeckt. "Aha!"
sagte der Direktor mit
schriller, kreischender Stimme. Dann warf er von der Stelle, wo er
stand, das grüne Buch auf seinen Schreibtisch. Aber er verfehlte
sein Ziel. Das Buch erreichte nur die Ecke des Tisches und fiel zu
Boden. Der Oberaufseher machte eine Bewegung. "Halt!"
rief der Direktor mit
schriller Stimme. Seine Augen, seine Nase, seine Stirn, alles an
ihm bewegte sich. Mit unglaublicher Heftigkeit streckte er seinen
Zeigefinger in Richtung auf den Oberaufseher aus und sagte: "Ich
habe es fallen lassen. Also ist es an mir, es aufzuheben. Ist das
klar?"
"Das ist klar, Herr
Direktor", sagte der Oberaufseher. Der Direktor tänzelte rasch zum
Schreibtisch, hob das Buch auf und legte es neben einen
Aschenbecher, der mit halb aufgerauchten Zigaretten angefüllt war.
Dann zog er die rechte Schulter hoch, sah mich an, nahm ein Lineal
vom Tisch, drehte mir den Rücken zu und fing an, mit rasender
Geschwindigkeit im Zimmer herumzutänzeln "Also, das ist Lang",
sagte er. Ein Schweigen trat ein, und der Oberaufseher rief, meiner
Meinung nach ziemlich unnützerweise: "Jawohl, Herr
Direktor."
"Lang", sagte der Direktor
hinter meinem Rücken, "ich habe hier eine Klage über Sie von Herrn
Doktor Vogel."
Ich hörte, wie er hinter
meinem Rücken mit dem Lineal auf einen weichen Gegenstand schlug.
"Er beklagt sich darüber, daß Sie auf einen Brief von ihm nicht
geantwortet haben, von dem er mir eine Abschrift beigelegt
hat."
Ich schluckte meinen
Speichel hinunter und sagte: "Herr Direktor, Doktor Vogel ist nicht
mehr mein Vormund. Ich bin mündig."
Er stand vor mir und schwang
mit einer Grimasse sein Lineal. "Ist das der Grund, weshalb Sie
nicht auf seinen Brief geantwortet haben?"
"Nein. Herr Direktor. Der
Grund ist, daß ich nicht will, was er will."
"Wenn ich den Brief recht verstehe"
(ein Schlag mit dem Lineal
auf den Schreibtisch), "den Herr Doktor Vogel geschrieben
hat"
(ein Schlag mit dem Lineal
auf die Lehne des Sessels), "einen, ich kann sagen, sehr
interessanten Brief"
(ein Schlag mit dem Lineal
auf die Handfläche), "so war es der Wille Ihres Vaters, daß Sie
Priester würden?"
"Ja, Herr
Direktor."
"
Warum?"
"Er hatte es bei meiner
Geburt der Heiligen Jungfrau gelobt."
Es folgten mehrere Schläge
mit dem Lineal, ein Wasserfall von schrillen Ahas, und er begann
wieder herumzutänzeln. "Und Sie waren nicht
einverstanden?"
"Nein, Herr
Direktor."
Hinter meinem Rücken: "Haben
Sie das Ihrem Vater gesagt?"
"Mein Vater fragte mich nie
nach meiner Meinung."
Ein Schlag mit dem Lineal
auf den Fensterriegel. "Aha!"
Vor mir: "Ist das der Grund,
weshalb Sie konfessionslos geworden sind?"
"Nein, Herr
Direktor."
"Welches ist der wahre Grund?"
"Ich hatte den Eindruck, daß
mein Beichtvater das Beichtgeheimnis verletzt hätte."
Ein Schlag mit dem Lineal
auf den Schreibtisch, Grimassen, Gehüpfe. "Wem -nach Ihrer Annahme
-"
(Schlag mit dem Lineal an
das Bücherregal) "hat er es enthüllt?"
"Meinem Vater."
Hinter meinem Rücken: "Und
war das der Fall?"
"Nein, Herr Direktor, es war
nicht der Fall. Aber ich habe es erst später
erfahren."
Immer noch hinter meinem
Rücken: "Aber Sie haben den Glauben nicht
wiedergefunden?"
"Nein, Herr
Direktor."
Ein Scharren mit dem Lineal
auf Holz. Sehr schrille Ahas, und plötzlich laut schreiend:
"Interessant!"
Ein kräftiger Schlag hinter
meinem Rücken auf einen hölzernen Gegenstand
"Oberaufseher!"
Der Oberaufseher sagte, ohne
sich umzudrehen: "Jawohl, Herr Direktor."
"Interessant!"
"Jawohl, Herr
Direktor."
Vor mir: "Ich habe in dem
Brief von Doktor Vogel gelesen. ..", er nahm das Blatt mit den
Fingerspitzen auf und hielt es mit angewiderter Miene weit von sich
weg, ". ..daß er sich anheischig
machte, Ihre Begnadigung zu erwirken"
(Schlag mit dem Lineal auf
den Brief), "wenn Sie auf seine Absichten eingingen. Glauben Sie,
daß er es könnte?"
"Gewiß, Herr Direktor.
Doktor Vogel ist ein Gelehrter und hat viele. .."
Lächeln. Schläge mit dem
Lineal auf den Brief, Gehüpfe. "So! Herr Doktor Vogel ist ein
Gelehrter. Und worin ist denn Herr Doktor Vogel so
gelehrt?"
"In der Medizin, Herr
Direktor."
"So!"
Hinter meinem Rücken: "Ist
Ihnen nicht der Gedanke gekommen, daß Sie vorgeben könnten, sich
dem Doktor Vogel zu unterwerfen, und dann, wenn Sie erst begnadigt
sind, Ihre Freiheit wiedererlangen könnten?"
"Nein, Herr Direktor, der
Gedanke ist mir nicht gekommen."
"Und wie denken Sie jetzt
darüber?"
"Ich werde es nicht
tun."
"Aha!"
Vor mir stehend, das eine
Ende des Lineals auf den Schreibtisch aufgesetzt und mit beiden
Händen auf das andere Ende gestützt: "Warum nicht?"
Ich schwieg eine ganze
Weile, und der Oberaufseher sagte in strengem Ton zu mir:
"Antworten Sie doch dem Herrn Direktor!"
Der Direktor erhob sein
Lineal und sagte energisch: "Lassen Sie ihm Zeit!"
Wieder trat ein Schweigen
ein, und dann sagte ich: "Ich weiß nicht."
Der Direktor zog eine
Grimasse, kniff die Lippen zusammen, warf dem Oberaufseher einen
wütenden Blick zu, schlug mit dem Lineal an eine kleine
Bronzestatue auf dem Schreibtisch und tänzelte dann wieder mit
größter Geschwindigkeit um mich herum. "Kennen Sie außer Herrn
Doktor Vogel jemanden, der Schritte unternehmen könnte, um Ihre
Begnadigung zu erreichen?"
"Nein, Herr
Direktor."
Hinter meinem Rücken
stehend: "
Wissen Sie, daß in Ihrem
Falle die Begnadigung fünf Jahre ausmachen kann ? Sie würden also
fünf statt zehn Jahre abzusitzen haben."
"Ich wußte es nicht, Herr
Direktor."
"Und haben Sie jetzt, da Sie
es wissen, die Absicht, den Brief des Doktor Vogel zu
beantworten?"
"Nein, Herr
Direktor."
"Sie wollen also lieber fünf
Jahre mehr absitzen, als sich den Anschein geben., daß Sie sich dem
Doktor Vogel unterwerfen?"
"Jawohl, Herr
Direktor."
"
Warum?"
"Das hieße ihn
täuschen."
Vor mir stehend, mit ernster
Miene, mit dem Lineal auf mich weisend und seinen durchdringenden
Blick auf mich gerichtet: "Betrachten Sie Herrn Doktor Vogel als
einen Freund?"
"Nein, Herr Direktor."
"Empfinden Sie für ihn
Zuneigung und Achtung?"
"Gewiß nicht, Herr
Direktor."
Ich setzte hinzu: "Doch er
ist ein großer Gelehrter."
"Lassen wir den großen
Gelehrten beiseite."
Dann fuhr er fort: "Lang,
ist es erlaubt, einen Feind des Vaterlandes zu töten?"
"Gewiß, Herr
Direktor."
"Und gegen ihn eine Lüge
anzuwenden?"
"Gewiß, Herr
Direktor."
"Auch die schmutzigste
List?"
"Gewiß, Herr
Direktor."
"Doch gegen Herrn Doktor
Vogel wollen Sie keine List anwenden?"
"Nein, Herr
Direktor."
"Warum nicht?"
"Das ist nicht
dasselbe."
"Warum ist es nicht
dasselbe?"
Ich überlegte und sagte
dann: "Weil es sich nur um mich handelt."
Er sagte "Aha!"
in einem scharfen,
triumphierenden Ton, seine Augen funkelten hinter den
Brillengläsern, er warf das Lineal auf den Tisch, kreuzte die Arme
und sah sehr befriedigt aus. "Lang", sagte er, "Sie sind ein
gefährlicher Mensch."
Der Oberaufseher drehte den
Kopf zu mir und sah mich mit strenger Miene scharf an. "Und wissen
Sie, warum Sie ein gefährlicher Mensch sind?"
"Nein, Herr
Direktor."
"Weil Sie ehrlich
sind."
Seine goldene Brille
funkelte, und er fuhr fort: "Alle ehrlichen Menschen sind
gefährlich. Nur die Lumpen sind harmlos. Und wissen Sie, warum,
Oberaufseher?"
"Nein, Herr
Direktor."
"Möchten Sie es wissen,
Oberaufseher?"
"Jawohl, Herr Direktor, ich
möchte es wissen."
"
Weil die Lumpen nur aus
Eigennutz handeln, das heißt kleinlich."
Er setzte sich, legte die
Arme auf die Seitenlehnen des Sessels und sah von neuem höchst
befriedigt aus. "Lang", begann er wieder, "ich bin froh, daß dieser
Brief des gelehrten Doktor Vogel"
(er nahm ihn mit den
Fingerspitzen auf) "meine Aufmerksamkeit auf Ihren Fall gelenkt
hat. Es ist wenig wahrscheinlich, daß der gelehrte Doktor Vogel
jetzt noch"
(er lächelte) "etwas für Sie
unternimmt. Aber ich dagegen. .."
Er stand auf, hüpfte lebhaft
zum Bücherregal, zog aufs Geradewohl ein Buch heraus und sagte, mir
den Rücken zuwendend: "Zum Beispiel kann ich in Anbetracht Ihrer
guten Führung eine Herabsetzung Ihrer Strafe
beantragen."
Er drehte sich mit
affenartiger Behendigkeit um, stieß mit dem Lineal wie ein Fechter
nach mir, seine Augen blitzten, und plötzlich rief er mit schriller
Stimme: "Und ich werde es tun."
Er stellte das Buch wieder
an seinen Platz, tänzelte zu seinem Schreibtisch, setzte sich, hob
den Blick und schien plötzlich ganz
erstaunt zu sein, uns hier zu sehen. Er machte
eine kleine ungeduldige Bewegung mit der Hand. "Führen Sie den
Gefangenen ab!"
Und ohne Übergang fing er an
zu schreien: "Schnell, schnell, schnell!"
"Vorwärts!"
rief der Oberaufseher. Und
wir verließen das Zimmer fast im Laufschritt. Der Direktor hielt
Wort, obwohl ich noch zwei Jahre warten mußte, bevor ich die
Wirkung spürte. Im Jahre 1929 erfuhr ich, daß meine Strafe auf die
Hälfte herabgesetzt worden war. Und ich verließ das Gefängnis fast
auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem ich eingeliefert worden war .
Ich war sehr gewachsen, und meine Zivilkleider waren abermals zu
klein geworden. Auf jeden Fall war ich sehr froh, daß beinahe schon
Sommer war und die Witterung mild, denn so brauchte ich den Mantel
von Onkel Franz nicht zu tragen. Über meinen Arbeitslohn hinaus
erhielt ich einen Fahrtausweis nach
M. Im Zug ertappte
ich mich dabei, daß ich an meine Zelle dachte, und seltsamerweise
mit Bedauern. Ich hielt mich im Gang des Wagens auf, sah zum
Fenster hinaus, die reifen Felder flogen vorüber, sie wogten leicht
im Sonnenschein, und ich dachte: 'Ich bin frei.' Es war sonderbar,
das zu denken, und daß es letztlich der Brief des Doktor Vogel
gewesen war, dem ich meine Freiheit verdankte Nach einer Weile
setzte ich mich wieder ins Abteil. Meine unbeschäftigten Hände
hingen herab, die Minuten vergingen eine nach der andern, es war
niemand mehr da, der mir sagte, was ich tun sollte, ich langweilte
mich. Ich ging wieder auf den Gang hinaus und sah durchs Fenster.
Die Kornfelder waren sehr schön. Der Wind strich mit leichten
Schauern über sie weg wie über einen See. Im Gefängnis hatte man
mir fünf Zigaretten mitgegeben, aber nichts, um sie anzuzünden. Ich
trat in mein Abteil, bat einen Mitreisenden um Feuer und ging
wieder auf den Gang. Die Zigarette hatte keinen Geschmack, und nach
ein paar Zügen ließ ich das Fenster herunter und warf sie in weitem
Bogen hinaus. Der Wind trieb sie an den Wagen zurück, und eine
Funkengarbe sprühte auf. Dann schloß ich das Fenster wieder und
betrachtete von neuem die Felder . Neben den Feldern sah ich auch
Wiesen in recht gutem Zustand, aber ich sah keine Pferde. Nach
einer Weile dachte ich an die Partei und fühlte mich
glücklich.