14. Kapitel:
Der Wachtelkönig

Immer noch Freitag, 16. September

»Ich kenn die Frau wirklich!«, sagt Petra schon wieder.

»Pscht!«, zischen Tina und Hanna, allerdings völlig unnötig, weil der Lärmpegel der Junggesellenversteigerung sowieso dem einer alarmierten Gänsefamilie mit Nachtwächterzusatzausbildung nahekommt.

»Vielleicht war die mal im Fernsehen. In einer dieser Telenovelas«, mutmaßt Hanna.

»Nee, dafür ist die doch viel zu alt!«, behauptet Tina. »Obwohl – so ein Fernsehstar hier im Ort? Nach den Dreharbeiten für Die Steckrübe ist das gar nicht so ungewöhnlich. Vielleicht werden wir hier alle noch entdeckt!«

»Träum weiter«, sagt Marlies leise. Die anderen gucken sie verwirrt an. Weiß ihre Freundin etwas, was sie nicht ahnen? Es scheint fast so. Das muss mit diesem Typen zusammenhängen, diesem Filmfritzen, mit dem Marlies neulich gesehen wurde. Hochinteressant, das Thema, aber leider ist die Informationslage so schlecht. Marlies weiß die Überwachungstechnik zu geschickt auszutricksen. »Und jetzt kreisen wir sie ein.« Schneidiger hätte auch Leutnant Müller-Meersack keine Anordnung geben können. Marlies' Freundinnen nicken artig, schauen in Richtung der Unbekannten – und sehen: nichts.

»Verdammt, jetzt ist sie weg!«, sagt Petra und deutet auf den Platz in der hinteren Reihe. Walter und Helmut sind ebenfalls verschwunden. »Ich habe da so ein komisches Gefühl ...«

»Mit der Frau stimmt etwas nicht«, sagt Hanna. »Wir sollten sie verfolgen.«

Die anderen drei stimmen zu. »Hier ist ja sowieso langsam die Luft raus. Jetzt kommen nur noch die Ladenhüter«, beschwert sich Tina über das spärlicher werdende Angebot der Junggesellenversteigerung. »Selbst das Häkelkränzchen ist schon gegangen.«

Die vier drängeln sich durch die erfolgreichen Bieterinnen und ihre Beute und durch die anderen Damen, die keinen Mann ersteigert haben und den Frust des ausbleibenden Shopping-Highs gekonnt mit Alkohol zu kompensieren wissen. Kurz bevor sie den Raum verlässt, hört Marlies, dass Wilma den Zuschlag für Zitterkalle bekommt.

***

»So, meine Süßen, ich habe eine kleine Überraschung für euch!«, sagt die fremde Frau zu Helmut und Walter und drückt die beiden auf die Rückbank ihres Golf GTI, was sie sich gerne gefallen lassen.

»Ich liebe Überraschungen«, seufzt Helmut. Walter ist gedanklich noch auf der Bühne, im Rampenlicht, und barfuß. Doch wozu braucht ein echter Star wie er Schuhe?

Die Frau zieht zwei breite, schwarze Samtbänder aus ihrer Manteltasche und verbindet Helmut und Walter die Augen.

Wie aufregend, denkt Helmut und seufzt vor Wonne. Walter nimmt gar nicht so recht wahr, was mit ihm geschieht.

Dann wird es kalt an Helmuts Handgelenken und etwas macht klick.

»Ähhh, was soll das jetzt?«, fragt er verunsichert.

Noch ein Klick und auch Walter trägt Handschellen.

»Das macht es doch gleich viel spannender, nicht wahr?«, säuselt die Frau. Eine rhetorische Frage. Helmut und Walter wüssten eh nicht, was sie darauf antworten sollten. Einerseits: ja. Andererseits – na, man wird sehen. Oder eben nicht, wegen des Samtbandes vor den Augen. Aber was soll ihnen schon passieren? Sie hoffen, jeder für sich und insgeheim, auf ein erotisches Abenteuer.

***

Als Petra, Tina, Marlies und Hanna endlich durch den girlandengeschmückten Ausgang nach draußen stürmen, sehen sie nur noch einen Golf GTI vom Parkplatz fahren.

»Und nun?«, sagt Hanna zu den anderen. Sie sehen den kleiner werdenden Rücklichtern hinterher.

»Die ist doch vor uns weggelaufen. Die kennt uns auch. Bestimmt führt die was im Schilde«, sagt Petra.

»Jaja, du Verschwörungstheoretikerin. Wahrscheinlich will sie Walter und Helmut in einen Harem verkaufen«, lästert Tina.

»Das müssen wir verhindern!«, empört sich Petra, vom Jagdfieber gepackt.

»Na, das werden die Jungs uns aber übel nehmen«, gibt Hanna zu bedenken.

»Darauf können wir leider keine Rücksicht nehmen«, erklärt Tina. »Wir überprüfen erst mal die Überwachungskameras. Wir müssen systematisch vorgehen.«

Sie fahren zu Tina nach Hause, Tina öffnet den Laptop und klickt durch die einzelnen Kameras. In den meisten Schlafzimmern des Dorfes herrscht Ruhe. Auf den Ausfallstraßen ist nichts los. Überhaupt: Es ist nirgendwo etwas zu sehen. Die vier starren ein wenig ratlos auf den Bildschirm

»Moment«, ruft Petra. »Da war was!« Sie zeigt nach oben links. »Da, beim Wäldchen! Da fährt ein Auto vorbei!«

»Vorbei?«, fragen die anderen fassungslos.

»Vorbei?«, wiederholt Tina noch mal völlig ungläubig.

Der Waldrand an der Grenze zum Nachbardorf ist als Open-Air-Liebesnest bekannt, als Parkplatz d'amour. Davon abgesehen, herrscht dort kein Verkehr. Da fährt man nicht einfach so vorbei.

Die Augen folgen ihrem Finger und sehen gerade noch, wie das Bild in sich zusammenschnurrt und ganz verschwindet. Aus dem Computer steigt eine kleine Rauchwolke.

»Dass der mir hier nicht die Wände verrußt!«, ruft Hanna erschrocken. Die anderen sehen sie streng an.

»Beruhige dich«, sagt Tina, »wir sind hier gar nicht bei dir zuhause.«

»Ach ja«, fällt Hanna ein.

»Die Technik hat noch nie versagt«, wundert sich Marlies. »Und jetzt fällt sie in dem Moment aus, wenn wir sie wirklich brauchen?«

»Mich interessiert viel mehr, wer da gerade vorbeigefahren ist. Das ist doch äußerst verdächtig. Wir müssen diese Frau finden!«, drängt Petra.

»Warum eigentlich? Nur weil du so ein Gefühl hast? Ich habe auch Gefühle, aber das interessiert ja keinen ...«, nörgelt Tina.

»Die ist vor uns geflohen. Und sie hat Walter und Helmut entführt«, sagt Petra. Sie möchte die anderen am liebsten schütteln. Merken die denn nicht, dass da irgendetwas faul ist?

»Gekauft. Sie hat Walter und Helmut gekauft. Das ist ein Unterschied«, korrigiert Hanna.

»Aber schon deshalb muss sie etwas zu verbergen haben. Welche rechtschaffene Frau würde Geld für Walter und Helmut ausgeben?«, gibt Marlies zu bedenken.

»Eben!«, ruft Petra. Als Ersatzhandlung schüttelt sie ihr nicht blondes, nicht brünettes Haar. »Ich! Will! Die! Jetzt! Finden!« Sie drängt zum Aufbruch, scheucht die Frauen durch die Diele Richtung Haustür.

»Wohin denn jetzt?«, fragt Hanna.

»Zum Parkplatz d'amour, das ist unsere einzige Spur«, sagt Petra.

***

»Wir müssen uns irgendwie bemerkbar machen«, zischt Walter leise zu Helmut rüber. Der Golf hält, sie haben gehört, wie die Fahrertür zugeschlagen wurde, anscheinend ist ihre neue Besitzerin ausgestiegen.

»Wie denn?«, fragt Helmut, dem die Situation auch langsam unheimlich wird. »Sollen wir um Hilfe rufen?«

»Nein, nein, das wäre völlig verkehrt. Ich dachte an etwas Unauffälliges. Erinnerst du dich an das Märchen von Hänsel und Gretel? Die haben Brotkrumen ausgestreut«, schlägt Walter vor.

»Erstens waren denen nicht die Hände mit Handschellen gefesselt, zweitens haben die Vögel das Brot gefressen, was zeigt, dass es doch keine so gute Idee war, und drittens haben wir gar kein Brot dabei.«

»Und viertens gab es bei dem Märchen ein Happy End. Daraus lernen wir, dass wir zumindest etwas versuchen sollten«, sagt Walter.

»Fünftens ist die Frau, die für uns teures Geld bezahlt hat, keine böse Hexe. Die mag uns!«, behauptet Helmut.

»Aber sicher ist sicher. Ich hab mir etwas überlegt. Wir werfen einen von deinen Schuhen aus dem Autofenster«, sagt Walter und reibt seine kalten Füße aneinander. Septembernächte können in Norddeutschland recht frisch sein.

»Meine Schuhe? Niemals!«

»Es ist aber das Einzige, an das wir herankommen – und worüber wir zweifelsfrei identifiziert werden können.«

»Schmeiß doch deine eigenen Schuhe«, fordert Helmut.

»Ich habe leider gar keine an. Du erinnerst dich an meinen grandiosen Auftritt? Unter diesem Bademantel trage ich immer noch mein Bühnenkostüm – besser gesagt, das, was davon übrig geblieben ist.«

Helmut stöhnt auf. Da sitzt er nun gefesselt auf dem Rücksitz einer latent bedrohlich wirkenden Frau, und neben ihm fordert der fast nackige Walter, er möge sein bestes Paar Schuhe, italienisches Pferdeleder, handgenäht, aus dem Fenster werfen. Genau so hat er sich einen spaßigen Freitagabend immer vorgestellt.

»Los, zieh aus!«, befiehlt Walter und windet sich wie ein Wurm, um das Fenster herunterzukurbeln und dann mit dem Mund Helmuts Schnürsenkel zu öffnen.

»Das ist ja pervers!«, empört sich Helmut, hält aber still. Wer weiß, was die Frau mit ihnen vorhat. Obwohl: Schlimmer kann es kaum noch werden ...

Walter gelingt es gerade noch, den gut geputzten Schuh aus dem Fenster zu schleudern, bevor die Frau zurückkommt. Sie knallt die Fahrertür zu, startet und gibt Gas.

***

Die vier Freundinnen kommen an der Kamera, die das Open-Air-Liebesnest überwacht, an. Es ist kein Auto zu sehen.

»Und nun?« Hanna stapft planlos ein paar Schritte umher.

»Hier sind Reifenspuren. Denen folgen wir einfach!« Petra will nicht nachdenken, sie will jagen. Außerdem gibt es hier nur einen Weg. Der ist mit einem Schlagbaum und einem Schild versehen: Einfahrt verboten! Die Bundesvermögensverwaltung.

»Hier liegt ein Schuh«, ruft Marlies, die den Boden abgesucht hat. Sie nimmt den Schuh in die Hand: Pferdeleder. Handgenäht. »Der muss von Helmut sein.«

»Oha, dann haben die echt ein Problem. Freiwillig würde der doch nie seine Schuhe hergeben«, vermutet Tina.

»Ach, wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung«, glaubt Hanna. »wahrscheinlich ist alles gar nicht so schlimm, wie wir glauben.«

»Oder viel schlimmer«, mutmaßt Marlies.

»Wie meinst du denn das?«, fragen Tina, Petra und Hanna. »Mal ehrlich: Was hat es uns gebracht, dass wir die Nachbarschaft überwacht haben? Sind wir jetzt klüger? Bessere Menschen geworden?« Marlies verschweigt natürlich alles, was mit der Steckrübe zu tun hat. Muss ja immer noch niemand wissen, dass das Buch von ihr ist. »Wir waren so auf uns und das Dorf konzentriert, wir haben gar nicht mehr gemerkt, was um uns herum vorgeht.«

»Was sollte uns denn außerhalb des Dorfes interessieren?«, fragt Hanna ungläubig. »Das Dorf ist unsere Welt. Hier haben wir doch alles, was wir brauchen.«

»Und was ist zum Beispiel mit der Globalisierung?«, fragt Marlies kritisch.

»Die brauchen wir hier nicht. Aber ein Gartenfachmarkt fehlt eigentlich noch. Zu Samen Kröger sind es immerhin sieben Kilometer. Ganz schön weit, wenn man mal nur ein paar neue Dahlien oder etwas Blühpflanzendünger braucht. Aber immerhin haben die auch eine Zooabteilung mit total sexy Schlangen«, bemerkt Tina.

Marlies stöhnt. Eigentlich dachte sie immer, sie sei die Zurückgezogenste von allen. Nun erkennt sie, dass das nicht stimmt. Die anderen merken gar nicht, dass sie sich in einer Seifenblase, in einem kleinen Biotop bewegen. Das kann doch gar nicht gut gehen.

***

Die Junggesellenbesitzerin hat inzwischen ihr Ziel erreicht. Sie scheucht Walter und Helmut aus dem Auto und in einen unterirdischen Gewölbekomplex, was diese zwar nicht sehen, aber fühlen können.

»Brrr, ist das kalt hier«, beschwert sich Walter.

»Und es riecht so komisch«, stimmt Helmut zu und begräbt die letzte verbleibende Hoffnung auf ein erotisches Abenteuer.

»Männer!«, bemerkt die Entführerin verächtlich. »Männer sind Waschlappen. Und ihr seid wohl zwei besonders weichgespülte Exemplare!« Die Frau drückt ihnen Mikrofasertücher auf den Mund und befiehlt: »Atmen!«

Die Tücher riechen sehr penetrant nach Putzmittel und künstlichem Orangenaroma, und das, wo Walter doch gar keine Zitrusfrüchte mag. Aber was bleibt ihnen übrig: Sie atmen.

Und erstaunlicherweise hebt dies ganz plötzlich ihre Laune.

»Können wir noch etwas für Sie tun?«, fragen beide eifrig, als die Tücher Mund und Nase wieder freigeben.

***

Hanna, Tina, Marlies und Petra zerren und ziehen am Schlagbaum. »Das Ding geht nicht auf«, jammert Tina. »Vielleicht brauchen wir doch einen Schlüssel?«

»Wir gehen zu Fuß!«, beschließt Petra, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

Die Reifenspuren führen am Waldrand entlang. »Ist es noch weit?«, fragt Tina nach ungefähr fünfhundert Metern.

»Woher sollen wir das denn wissen?«, zischt Petra.

»Puh«, sagt Tina. »Meine Schuhe sind nicht für unwegsames Gelände gemacht. Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mindestens meine Lackstiefel angezogen. Die sind nämlich abwischbar.« Sie trägt Riemchensandaletten aus lila Satin.

»Das erinnert mich ein bisschen an die Nachtwanderung, die wir bei der Konfirmanden-Freizeit gemacht haben. Da haben wir uns immer Schauergeschichten erzählt«, sagt Hanna.

»Die von dem Paar mit der Autopanne? Wo die Frau im Wagen bleibt und der Mann Hilfe holen will, und dann hört sie irgendwann ein dumpfes Bumm-Bumm, und das ist ein Irrer, der ihren Mann geköpft hat und damit auf das Autodach schlägt?«, fragt Marlies.

»Igitt, nein, das ist ja scheußlich!«, kreischt Hanna entsetzt.

»Ob Helmut und Walter wohl noch ihre Köpfe haben?«, fragt Tina.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagt Petra.»Ach, nun hört aber auf!« Hanna schüttelt sich.

»Psst!«, macht Marlies. »Habt ihr das gehört?«

Die anderen zucken erschreckt zusammen und horchen auf ein dumpfes Bumm-Bumm. Als sie das nicht hören, fragt Tina: Was?«

»Na, dieses Kreek-Kreek. Als würde jemand mit einem Fingernagel einen Kamm bearbeiten.«

»Vielleicht ist das ein Hilferuf von Walter und Helmut. Walter kann doch auf dem Kamm spielen und Helmut hat eigentlich immer einen dabei«, sagt Tina.

Sie lauschen. Da ist es wieder: Kreek-Kreek.

»Ein neuer Klingelton?«, mutmaßt Tina.

»Nein, das ist der Wachtelkönig«, sagt Hanna. »Habt ihr damals in Sach- und Naturkunde nicht aufgepasst? Der Wachtelkönig, lateinisch Crex crex, ist etwas größer als Wachteln. Manchmal ist er auf dem Heimzug aus den Überwinterungsgebieten gemeinsam mit diesen zu sehen. Deshalb dachten die Leute, er sei der König der Wachteln, eben der Wachtelkönig. Treffender ist da die Bezeichnung Wiesenralle: Der Wachtelkönig ist eine Ralle und lebt auf der Wiese«, doziert sie. »Ich kann sogar noch das Gedicht von Eugen Roth auswendig: Die Wiesenralle, Knarrer,  Schnärz, / Kommt erst im Mai anstatt im März«, legt sie los. »Als Wachtelkönig, als crex-crex, / Hat sie viel Namen, beinah sechs./ Ihr Nest macht sie im grünen Gras, / Als wäre sie der Osterhas.« Hanna legt eine kurze Kunstpause ein und sammelt sich für die dramatische Entwicklung, die nun kommen soll. »Die Kinderliebe lässt zu fest / Sie manchmal sitzen auf dem Nest: / Den Bauern merkt sie erst zu spät.« Hanna atmet bedeutungsschwanger. »Drum wird sie oft mit abgemäht.«

»Wie grausam! Das arme Vögelein«, schluchzt Tina.

»Aber das passt auch auf uns«, sagt Marlies.

»Wie bitte?«, antworten ihre Freundinnen wie aus einem Munde.

»Wir haben doch gar keine Kinder«, wirft Hanna ein.

»Aber wir sind wie welche«, entgegnet Marlies. »Wir haben die letzten Monate damit vergeudet, unsere Nachbarn auszukundschaften. Dabei müssen wir den Bauern – oder wen auch immer – übersehen haben. Und dafür zahlen Walter und Heinrich jetzt vielleicht.« Marlies schluckt. Nicht nur, weil sie so viele Sätze hintereinander lange nicht gesprochen hat – außer natürlich mit ihrem Regisseur –, sondern auch, weil ihr bewusst wird, dass sie gerade einer irgendwie gearteten größeren Wahrheit auf die Schliche gekommen ist. »Und nun weiter. Bevor wir auch noch abgemäht werden.«

Still, jede mit ihrer Furcht allein, begleitet vom unmelodisch knarrenden Ruf des Wachtelkönigs, gehen sie weiter, bis sie an ein großes Metalltor gelangen. Rechts und links an das Tor schließt eine hohe Mauer an, die mit Stacheldraht garniert ist. »Das ehemalige Nato-Munitionsdepot«, sagt Hanna. »Sollte das nicht ein Gefangenenlager für Taliban-Kämpfer werden?«

»Das hatten die sich im Gemeinderat so schön überlegt, um den Tourismus anzukurbeln. Aussichtsplattformen wollten sie bauen, rund um das Gefangenenlager. Und die Taliban hätten auch gleich den Bauern bei der Spargelernte helfen können. Aber irgendwie ist nichts daraus geworden«, sagt Petra. Sie rüttelt am Tor. Es ist verschlossen.

»Und nun?«, fragt Hanna.

»Ich glaube, da ist jetzt eine Champignonfarm drin«, sagt Petra.

»Nee, Chicoree, hab ich gehört«, widerspricht Tina. »Von Salatbauer Montag.«

»Ich meinte eigentlich: Was machen wir nun?«, fragt Hanna noch einmal.

»Folgt mir«, sagt Tina. »Es gibt einen Geheimeingang.«

»Woher weißt du das?«, fragt Petra.

»Ich hatte doch mal was mit einem aus der Friedensinitiative. Nur ganz kurz.« Tina ist das ein wenig peinlich.

»Mit einem dieser langhaarigen Jesuslatschenträger?«, empört sich Hanna.

»Ja«, antwortet Tina, »das waren doch ganz andere Zeiten damals. Die Jungs aus dem Dorf waren alle gerade beim Bund. Was sollte ich denn machen? Es war so langweilig. Und immerhin weiß ich jetzt, wie wir da reinkommen.«

»Nee, bevor ich durch so einen össeligen Öko-Geheimgang krieche, klingele ich lieber«, sagt Hanna und drückt, bevor ihre Freundinnen sie davon abhalten können, auf den Knopf neben dem Tor.

Eine Sekunde später schwingt es auf. Dahinter kommt eine Gestalt zum Vorschein.

Edith!

»Auf euch habe ich gewartet«, sagt sie freundlich. »Ich habe da ein wunderbares Angebot für euch, weil ihr mir so gute Dienste geleistet habt. Kommt doch herein!«

Tina, Petra, Hanna und Marlies sind baff.

»Danke, eigentlich brauchen wir gar nichts mehr«, sagt ausgerechnet Hanna, die sonst immer für ein Putzmittelschnäppchen zu haben ist.

»Kommt doch erst mal rein und hört, was ich euch zu sagen habe. Käffchen?«, fragt Edith charmant. »Ich möchte euch auch jemanden vorstellen.«

»Du bist es!«, ruft Petra aus. »Du bist die fremde Frau, die Helmut und Walter entführt hat!«

»Entführt?«, fragt Edith scheinheilig. »Wovon redet ihr? Ich habe die beiden ersteigert. Lustig, so eine Junggesellenversteigerung. Tolle Stimmung!«

»Wo sind sie?«, fragt Petra scharf. »Wo hast du sie versteckt?«

»Keine Sorge, es geht ihnen gut«, versucht Edith die vier Landfrauen zu beruhigen. »Ich wusste ja gar nicht, dass die beiden euch so am Herzen liegen.«

»Tun sie auch nicht«, sagt Tina. »Woher wusstest du eigentlich, dass wir dir folgen?«

»Ach«, sagt Edith, zögert kurz, entscheidet sich aber angesichts der in Kürze bevorstehenden Enthüllungen, ihr betrieblich auferlegtes Schweigegelübde schon ein wenig zu lockern. »Ich habe meine eigene kleine Kamera in den Laptop eingebaut, den Tina so gerne benutzt.«

»Du hast ... was?«

»Und ich bin mit allen euren Kameras vernetzt. Gute Arbeit übrigens, die habt ihr perfekt platziert! Jetzt wissen wir über das ganze Dorf Bescheid, dass hat uns bei der Vorbereitung unseres neuen Projektes sehr geholfen.«

»Euer Projekt?«, fragt Hanna.

»Ja. Dazu habe ich – besser gesagt: hat meine Chefin – gleich ein paar tolle Neuigkeiten für euch.«

Edith ist absurderweise fest davon überzeugt, dass die vier von dem, was sie gleich erfahren sollen, hellauf begeistert sein werden. Übersteigerter Optimismus und fehlgeleitete Euphorie, eine erste Nebenwirkung des ständigen Putzmittelmissbrauchs.

Sie führt Tina, Petra, Hanna und Marlies treppab in die Katakomben und bringt sie in einen Raum, der so gar nicht aussieht, wie man sich das Innere eines Bunkers vorstellt. Es könnte eher die Lobby eines Designhotels sein, inklusive indirekter Beleuchtung, Cocktailsesselchen, Natursteinkamin, einer Bar aus Mooreiche und einem Wasserbecken, in dem Kois schwimmen.

»Ganz schön schick!«, staunen die Landfrauen. Aber sie sind alarmiert. Edith hatte Zugriff auf alle Kameras? Das klingt gar nicht gut.

»Meine Chefin liebt das Besondere«, sagt Edith. »Und das ist erst der Anfang!«

»Der Anfang wovon?«, fragt Marlies misstrauisch.

***

Mümmel zittert. Er fühlt sich trotz der extra für ihn angefertigten Reisetasche von Louis Vuitton im Auto nicht so recht wohl. Vielleicht überträgt sich auch die Nervosität und die Anspannung seines Frauchens auf ihn.

Inez von Gravenberg ist aufgeregt. Die Arbeit der letzten Wochen hat tiefe Ringe um ihre Augen gezeichnet. Aber bald steht der Umsetzung ihres Planes nichts mehr im Weg. Sie hat Teile des ehemaligen Nato-Depots angemietet und Edith gebeten, dort schon mal Büro und Konferenzräume einzurichten. Für die weitere Durchführung wird sie eine Schaltzentrale vor Ort benötigen, dafür liegt das Depot ideal.

Die noch fehlenden Unterschriften wird sie heute bekommen, das hat ihr ihre Sonderbeauftragte Edith zugesagt. Und sie hat ihr neue, motivierte Mitarbeiterinnen versprochen. Vor allem diese Marlies, für die Inez von Gravenberg sich schon länger interessiert, die jedoch nie zu den Seminaren gekommen ist. Das alles sind gute Gründe, an den Ort zurückzukehren, von dem sie vor Jahrzehnten geflohen ist. »Es ist an der Zeit«, sagt sie leise.

Die Mischkonzernchefin steuert ihr Mercedes-Coupé auf den Parkplatz des Munitionsdepots. Sie nimmt die Tasche mit Mümmel, schiebt ihr Hütchen zurecht und geht hinein. Ihre Schlangenlederpumps klackern auf der steinernen Treppe, die in die Tiefe führt. Sie geht direkt in ihr neues Büro, das eine exakte Nachbildung ihres Reiches in der Konzernzentrale ist. Mit einer Ausnahme: Statt eines Fensters gibt es hier einen riesigen Plasmabildschirm. Und ein größeres Modell des Wellness-Ressorts nimmt einen beachtlichen Teil des Fußbodens ein. Mümmel wirkt erleichtert, als er das sieht. Inez von Gravenberg befreit ihn aus seinem Louis-Vuitton-Täschchen, setzt sich in ihren Eames-Chair, nimmt Mümmel auf dem Schoß und gibt ihm eine Möhre. Mümmel ratzelt die begeistert weg.

Die Konzernchefin entspannt sich etwas. Bald, bald, wird alles so sein, wie sie es sich schon so lange vorstellt. Ihr Triumph steht kurz bevor. Sie drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage.

»Edith, Sie können jetzt mit den Damen hereinkommen!«

***

Edith führt Tina, Petra, Hanna und Marlies in das Büro ihrer Chefin. Die vier gucken skeptisch, Edith kann sich gar nicht erklären, warum. Das wird sich wohl gleich ändern, denkt sie.

»Setzen Sie sich«, fordert Inez von Gravenberg die Landfrauen auf. Sie wartet, bis alle Platz genommen haben, dann betätigt sie die Fernbedienung. Es wird dunkel, auf dem Plasmabildschirm startet ein Film.

»Wellcome die einzigartige Wellness-Erlebnis-Welt mit historischem Ortskern. Authentisch, luxuriös, unübertroffen. Wellcome ist das größte Luxusressort in Europa«, tönt eine melodische Männerstimme aus dem Off. Dazu sieht man zunächst Luftaufnahmen einer Landschaft, die den Landfrauen sehr bekannt vorkommt. Dann ein paar Häuser, die den Landfrauen bestens vertraut sind.

»Sag mal, das ist doch das Haus von Elsbeth Merken aus dem Häkelkränzchen«, flüstert Tina zu Hanna.

»Ein historischer Ortskern verleiht Wellcome einen ursprünglich gewachsenen Charakter«, sagt die Stimme.

Computeranimierte Frauen mit seligem Gesichtsausdruck laufen durch Wellcome, erholen sich an Pools, spielen Golf, shoppen in Design-Outlets.

»Komisch, das sieht irgendwie aus wie ...« Marlies bringt es nicht über die Lippen.

»Wellcome. Träume werden wahr!« Der Film ist zu Ende, Inez von Gravenberg macht wieder Licht. Zufrieden mit ihrer Vorführung streichelt sie Mümmel. »Ja, sagen Sie es ruhig«, fordert sie Marlies auf.

»Nein!«, ruft Marlies, ein Wort, das sie in letzter Zeit für sich entdeckt hat.

»Das sieht aus wie unser Dorf«, sagt dafür Tina.

»Bravo! Das haben Sie gut erkannt!«, lobt Inez von Gravenberg. »Das ist das Dorf. Allerdings nicht mehr ihr Dorf, sondern meins. Und es wird bald kein Dorf mehr sein, sondern Wellcome, das schönste und größte Wellness-Golf-Luxusressort Europas. Es wird einfach wunderbar!«

Die Landfrauen nicken überrumpelt. Damit haben sie nun wirklich nicht gerechnet. Ebenso wenig mit dem Angebot, das die Konzernchefin ihnen nun macht: »Da Sie bislang so gute Arbeit geleistet haben – Edith hat Sie immer in den höchsten Tönen gelobt –, würde ich Ihnen gerne ein paar Posten im höheren Management meiner Firma anbieten. Sie müssten natürlich entsprechende Traineeprogramme durchlaufen, aber dann stehen Ihnen alle Türen offen.«

»Was meinen Sie mit: bislang gute Arbeit geleistet?«, fragt Tina erstaunt. »Was haben wir denn getan?«

»Ja, das wissen Sie natürlich nicht, ich hatte Edith angewiesen zu schweigen. Die Kameras. Darüber habe ich alle nötigen Informationen bekommen, die es mir ermöglicht haben, das Dorf Stück für Stück aufzukaufen. Ein Angebot hier, eine kleine, sagen wir mal ... Aufforderung da. Und dann natürlich Ihre Männer in den Seminaren. Die haben alles unterschrieben, die ganzen Kaufverträge und Abtretungsurkunden. So haben Sie mir geholfen, meinen Traum wahr werden zu lassen. Noch zwei Unterschriften und der Deal ist perfekt. Die Abriss- und die Bautrupps stehen schon bereit.«

»Sie wollen unser Dorf abreißen und dort ein Wellness-Dings bauen?« Hanna begreift langsam, worum es geht.

»Nicht ganz abreißen, der historische Ortskern bleibt erhalten. Die Leute müssen natürlich raus.« Frau von Gravenberg lächelt diabolisch.

»Wohin?«, fragt Tina entgeistert.

»Tja, das ist nun wirklich nicht mein Problem.« Die Firmenchefin sieht sehr zufrieden aus – im Gegensatz zu Hanna, Tina, Petra und Marlies. »Keine Sorge, meine Damen, Sie können natürlich bleiben. Im Wellcome-Ressort wird es für Sie großzügige, mit allem Komfort ausgestattete Dienstwohnungen geben. Ich habe die Arbeitsverträge schon vorbereitet. Edith, führen Sie Ihre neuen Kolleginnen bitte ins Foyer, damit sie die in Ruhe durchsehen können! Und holen Sie mir die beiden Herren für die letzten beiden Unterschriften.«

***

Leicht benommen lassen sich Petra, Tina und Hanna wieder in die Cocktailsesselchen des Foyers plumpsen. Diese Nachrichten müssen sie erst mal sacken lassen. Sie halten Verträge aus kostbarem, handgeschöpftem Papier in den Händen. Nur Marlies bleibt angespannt stehen und nimmt auch den Vertrag nicht an.

Edith legt ihn auf das Beistelltischchen und eilt los, Helmut und Walter holen. Die beiden hat sie provisorisch in einem noch nicht renovierten und aufgestylten Teil des Nato-Depots zwischengeparkt.

»Klingt nach einem guten Angebot«, sagt Tina, die ein wenig in ihren Unterlagen geblättert hat. »Hunderttausend im Jahr, dreiunddreißig Tage Urlaub, Dienstwagen.«

»Hunderttausend Euro?«, fragt Petra entgeistert. »Das ist viel.«

»Sieht wirklich schick aus hier«, bemerkt Hanna, die sich noch mal umgesehen hat. »Und so sauber.«

Ganz klar: Die Landfrauen stehen unter Schock. Bis auf Marlies.

»Sagt mal, seid ihr noch bei Trost?«, fragt sie. »Die will unser Dorf niederwalzen! Sie will unsere kleine Welt zerstören.«

Tina sieht sie erstaunt an. »Aber ... aber ich dachte immer, du bist hier im Dorf nicht glücklich?«

Marlies macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das hat nichts miteinander zu tun. Es geht um die Welt, in der wir aufgewachsen sind. All die Orte, die uns was bedeuten, werden verschwinden! Dann werden wir den Badeteich, das Feuerwehrhaus und Knurres Kramerlädchen bald nur noch von vergilbten Fotos kennen. Wir werden heimatlos werden. Der Landfrauenverein, der Schützenverein, die liebevoll angelegten Gärten – alles wird zerstört werden.«

Hanna schluchzt auf. Tina und Petra zittern Tränen der Rührung in den Augen.

Marlies spricht weiter: »Erinnert ihr euch, wie es war, als Zitterkalle mit seinem Trecker im Teich einbrach und Wilma ihn retten wollte? Wo sonst könnte so etwas passieren? Gut, wir mussten erst lernen, uns zu behaupten, und das war nicht immer leicht. Aber haben Monique und ihr Hofstaat uns nicht auch zum Lachen gebracht? Hatten wir nicht mit allen anderen Landfrauen Spaß? Sind wir nicht an ihnen gewachsen? Und wo sonst wäre ich damit durchgekommen, vor lauter Schüchternheit kaum ein Wort zu sagen? Das war nur im Dorf möglich. Das Dorf, das ist doch wie unsere Familie. Mit lauter schrulligen Verwandten, die wir uns alle nicht ausgesucht haben, die wir aber dennoch auf die eine oder andere Weise lieben. Dafür müssen wir kämpfen!«

»Genau!«, ruft Petra. »Wir dürfen uns nicht kaufen lassen.«

»Wir retten das Dorf!«, stimmt Tina ein.

»Ja!«, sagt Hanna. »Aber wie?«

»Wir gehen da jetzt rein und verhindern, dass Walter und Helmut unterschreiben. Na los, los!« Marlies stürmt voran, Tina, Petra und Hanna folgen ihr.

***

Helmut und Walter sitzen am Schreibtisch von Inez von Gravenberg. Fasziniert starren sie die elegante Frau an. Sie würden alles für sie tun: Drachen köpfen, Gärten umgraben, Schaumwein aus ihren Pumps trinken ... Die Fresh&Clean-Dämpfe haben sie willig und gefügig gemacht. Edith nimmt ihnen die Handschellen ab, damit sie die Abtretungserklärungen für ihr Land unterschreiben können. Ohne zu zögern greifen Helmut und Walter nach den bereitliegenden Füllfederhaltern.

Ein grelles »Nein, tut das nicht« dringt von fern an ihre Ohren, aber das scheint aus einer anderen Galaxie zu kommen.

Die Frau mit dem Hütchen und dem Schleier nickt aufmunternd, die daneben – die, die sogar bereit war, Geld für sie auszugeben – auch. Sieht doch nach einem tollen Abenteuer aus, zwei Frauen, für jeden eine, und dann gleich so elegante. Walter und Helmut sind überzeugt, die Fahrkarte ins Paradies gelöst zu haben.

»Halt! Ihr dürft nicht ...« Marlies, Tina, Petra und Hanna stürzen sich auf Walter und Helmut – doch es ist zu spät. Sie haben schon unterschrieben.

Jetzt ist alles verloren.

Inez von Gravenberg schiebt die Papiere auf ihrem Schreibtisch zusammen. »Vielen Dank, meine Herren! Und die Damen? Haben Sie es sich überlegt? Möchten Sie auch unterschreiben?«

»Nein!«, brüllen die vier Landfrauen gleichzeitig. »Sie dürfen das Dorf nicht abreißen!«

»Und ob. Ich werde gleich meinen Bauleiter verständigen.«

»Sie haben sich die Kaufverträge erschlichen. Die sind nicht rechtskräftig«, fällt Tina ein.

»Alles wasserdicht. Ich habe hervorragende Anwälte«, schmettert Inez von Gravenberg den Einwurf ab.

»Sie werden niemals eine Baugenehmigung bekommen«, versucht es Petra.

»Natürlich werde ich das. Ich schaffe Arbeitsplätze. Genau das, was die Region braucht«, flötet die Konzernchefin. »Man wird mich lieben.«

»Man wird Sie hassen!«, droht Hanna.

Im Gesicht ihres Gegenübers verändert sich etwas. »Ist mir egal! Ich hasse alle Dorfbewohner!«, zischt Inez von Gravenberg. Verbitterung und Erschöpfung liegen in ihrer Stimme. Sie fingert in ihrer Schublade nach einer Möhre für Mümmel, der sich irritiert in das Modell des Thalasso-Tempels zurückgezogen hat.

Den Landfrauen fallen keine Argumente mehr ein. Irgendwann muss ja auch Schluss sein mit den rationalen Betrachtungen dieses Wahnsinns. »Wir werden Sie stoppen!«, rufen sie in letzter Verzweiflung.

Inez von Gravenberg greift zum Telefon. Sie will ihren Bauleiter anrufen, das Startsignal für Bagger und Abrissbirnen geben.

Die Landfrauen sehen ihr Dorf schon in Schutt und Asche liegen. Und das ist alles unsere Schuld, denken sie. Wir haben die Geheimnisse des Dorfes dem Feind verraten, wir hatten keinen Respekt vor den anderen, wir wollten alles wissen und haben damit alles kaputt gemacht. Wir haben das Dorf auf dem Gewissen. Weil wir so naiv waren. Weil wir uns nur für unseren Mini-Kosmos interessiert haben. Weil wir Schicksal spielen wollten. Weil wir Göttinnen sein wollten.

»Kein Mensch kann mich stoppen!«, frohlockt Inez von Gravenberg.

»Nein, ein Mensch vielleicht nicht«, sagt eine feine, ein wenig nach Mürbeteig klingende Stimme. »Aber der Wachtelkönig.«

Inez von Gravenberg fällt vor Schreck der Telefonhörer aus der Hand. Dann wird es dunkel. Auf dem Plasmabildschirm sieht man einen possierlichen Vogel, der über eine Wiese stolziert. Dazu doziert die gleiche melodiöse Stimme wie im Wellcome-Imagefilm: »Der Wachtelkönig hat ein beigefarbenes Gefieder und einen sehr lauten, kratzenden Ruf, um Weibchen anzulocken und das eigene Revier zu kennzeichnen. Der wissenschaftliche Name Crex crex weist lautmalerisch auf die wenig melodiöse Stimme des Vogels hin. Wie viele seiner Verwandten ist der Wachtelkönig in seinem Bestand stark gefährdet ...«

Inez von Gravenberg sucht ihre Fernbedienung, findet diese aber nicht. Sie stolpert, Hut und Schleier verrutschen. Endlich gelingt ihr der Griff nach der Schreibtischlampe, sie knipst die ewige Glühlampe an. »Was zum Teufel geht hier vor?«, ruft sie genervt.

Dann wird sie blass. Das ist gut zu sehen, weil der Schleier, der sonst ihr Gesicht verdeckt, ihr nun im Nacken hängt.

Mitten im Raum stehen fünf ältere Damen: Das Landfrauen-Häkelkränzchen. Wie ungleiche Jacob-Sisters stehen sie da, bereit für ihren großen Auftritt.

Sie sind gut vorbereitet.

»Guten Abend, Hildegard!«, sagt Elsbeth Merken, Wortführerin des Häkelkränzchens, als sie Inez von Gravenberg sieht.

»Ich heiße jetzt Inez«, sagt Hildegard Knuppe alias Inez von Gravenberg.

»Für uns bleibst du aber Hildegard!«

Die Konzernchefin rümpft die Nase. Ist hier wirklich alles so geblieben, wie es immer war? Wird sich hier nie etwas ändern? Ist es dieselbe Hölle, die sie vor Jahrzehnten zurückgelassen hat, die seither vor sich hin blubbert wie ein dicker Eintopf? Es scheint so. Aber damit ist jetzt Schluss!

»Ihr kommt zu spät«, fasst die Konzernchefin kurz ihr Anliegen zusammen. »Das Dorf kommt weg.«

»Das Dorf bleibt!«, erwidert Oma Ellerbrock.

»Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, unserem kleinen Filmchen ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken«, meldet sich Gunde Heimrichs zu Wort, »hättest du erfahren, dass es rund um das Dorf eine Wachtelkönig-Population gibt. Der Wachtelkönig, hierzulande auch bekannt als der Wohnungskiller, steht unter Naturschutz. Wo er nistet, darf nicht gebaut werden. Und er nistet eben überall dort, wo du bauen willst. Hier ist das Gutachten.« Sie zieht einen Hefter aus ihrer selbst gehäkelten Handtasche. Das Gutachten stammt von Thomas, ihrem angeblichen Großneffen, ein Biologe und Umweltschützer, den sie über den Naturschutzbund-Stand auf Du & Deine Welt kennengelernt haben.

Der Plan der Konzernchefin zerbröselt vor ihrem inneren Auge. Vereitelt von einem kleinen Vogel, den man so gut wie nie zu Gesicht bekommt und der sich noch nicht mal die Mühe macht, bei drohender Gefahr wegzufliegen.

»Wir wissen schon sehr lange über dein Vorhaben Bescheid. Nette Idee, so ein Wellness-Ressort. Aber nicht hier! Das Dorf bleibt«, sagt Elsbeth Merkens mit fester Stimme.

»Du bist doch auch hier aufgewachsen, das ist doch nicht nur die Heimat des Wachtelkönigs, es ist auch deine Heimat.« Oma Ellerbrock schlägt versöhnlichere Töne an. »Verbindet dich denn gar nichts mehr damit? Du hast es hier nicht immer leicht gehabt. Das lag auch – nein, vielleicht lag es sogar vor allem an uns. Wir haben lange darüber nachgedacht. Es tut uns leid, was damals passiert ist.«

Elsbeth Merkens und die anderen Damen des Häkelkränzchens gucken ebenfalls schuldbewusst.

»Wir hätten netter zu dir sein müssen, auch mal mit dir reden sollen anstatt uns immer über dich lustig zu machen.«

Die Unterlippe der Konzernchefin zittert. Sie sucht nach einer Möhre, sie will Mümmel bei sich haben.

»Wir hätten dir nicht immer die Tanzpartner ausspannen und unanständige Gerüchte über dich verbreiten dürfen«, gibt Gunde Helmrichs zu.

»Die Scherben im Putzlappen, damals, als du nach dem Feuerwehrball beim Aufräumen geholfen hast, das war auch ein bisschen fies. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du dir gleich eine Sehne durchtrennst«, fährt Elsbeth Merkens fort. Die Damen des Häkelkränzchens sehen ehrlich betroffen aus. Man hätte ihnen diese Gemeinheiten nie zugetraut.

Mümmel verlässt das Wellcome-Modell und kommt auf Inez von Gravenberg zugehoppelt.

»Und die Sache mit deinem weißen Kaninchen, auf das ich in den Ferien aufpassen sollte«, sagt Elsbeth Merkens. »Das war wirklich eine dumme Verwechslung. Ich habe es zu den anderen Stallhasen gesetzt, damit es ein bisschen Gesellschaft hat. Und Opa dachte, es sei der Sonntagsbraten. Der war ja auch schon ein bisschen tüddelig, er hat das nicht böse gemeint. Aber wie ich sehe, hast du jetzt ein neues Karnickel.« Elsbeth Merkens beugt sich zu Mümmel, der ein wenig an ihrem Schuh schnuppert.

»Mümmel!«, kreischt Hildegard-Inez höchst alarmiert.

»Keine Angst, ich tu dem nichts«, sagt Elsbeth Merkens. »Weil wir dich so schlecht behandelt haben, bist du weggelaufen und zur skrupellosen Konzernchefin geworden, die nur auf Rache sinnt. Mal ehrlich: Toll ist das ja auch nicht«, urteilt sie im Namen des Häkelkränzchens. »Damit so etwas nicht wieder passiert, haben wir diese vier« – sie zeigt auf Marlies, Tina, Petra und Hanna – »bei ihrer Entfaltung unterstützt. Wir haben vor allem Marlies geholfen, zu sich selbst zu finden. Das ist uns doch gut gelungen, nicht wahr?«

»Haben Sie?« Marlies ist baff.

»Natürlich. Wer, meinst du, hat Evelyn das Buch zugesteckt, das dich so inspiriert hat?«

»Das waren Sie?«

»Aber natürlich, Kind. Und nicht nur das. Wir haben ein Auge auf euch alle vier gehabt.« Elsbeth Merkens und das Häkelkränzchen lächeln milde. »Über die ganze Operation Frischluftkur waren wir natürlich auch im Bilde, wortwörtlich, wir waren nämlich von Anfang an auch mit allen Kameras verlinkt.«

Marlies, Tina, Petra und Hanna gucken verblüfft. Da dachten sie, sie wissen mehr als alle anderen – und dann ist das genau umgekehrt?

»Weshalb wir aber eigentlich hier sind«, kommt Oma Ellerbrock endlich zum Kern der Sache: »Wir möchten dich, liebe Hildegard, um Verzeihung bitten. Gibst du uns noch eine Chance?«

Elsbeth Merkens hebt Mümmel auf und gibt ihn der zitternden Hildegard-Inez. »Es ist Zeit für einen Neuanfang. Gemeinsam können wir alle etwas ändern. Komm zurück zu uns, zurück ins Dorf!«

Das Häkelkränzchen nickt bekräftigend.

***

Hildegard-Inez krallt ihre Hände in das weiche Fell des Tieres, als wäre dort ein Rettungsanker oder wenigstens die Antwort versteckt. Das ist zu viel für sie. Erst der ganze Stress im Job, skrupellose Konzernchefin zu sein ist ganz schön anstrengend, dann diese überraschende Konfrontation mit der Vergangenheit und obendrein noch die Aufforderung, zurückzukommen.

Wäre das eine Lösung?

Würde es ihr dann besser gehen?

Sie schließt die Augen und fällt um.

***

»Was ist denn jetzt los?«, fragt Oma Ellerbrock. »Haben wir etwas Falsches gesagt?« Das Häkelkränzchen geht rund um Hildegard-Inez auf die Knie und zieht allerlei Riechsalze und Wundermittel aus den Handtaschen. »Burn-out-Syndrom«, diagnostiziert Elsbeth Merken.

Edith, die die ganze Szene starr verfolgt hat, kann es nicht fassen. Die Arbeit der letzten Monate ist dahin, die Chefin liegt am Boden, und die vier Frauen, die sie schon als künftige Mitarbeiterinnen gesehen hat, zeigen sich plötzlich widerborstig. Das darf nicht sein! Da kann nur eine Dosis Fresh & Clean helfen, das wird alle zur Vernunft bringen. Sie rennt los.

»Halt!« Marlies sprintet ihr sofort hinterher. Tina, Petra und Hanna schauen den beiden immer noch verdattert hinterher.

»Nun mal los«, ruft Oma Ellerbrock. »Wir sind nicht mehr so gut zu Fuß ... und ihr müsst eurer Freundin beistehen.«

Das lassen sich die drei nicht zweimal sagen. Sie laufen los, Tina schleudert sogar ihre Riemchensandaletten von sich, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden.

***

Die Frauen verfolgen Edith durch die dunklen, langen Gänge des Munitionsdepots. In einem Gewölbe, das für die Chicoreezucht genutzt wird, hat Edith die Putzmittel gelagert. Dazwischen stehen noch Kästen mit alten Militärbeständen. Hier ist es nicht mehr so schick wie im renovierten Teil, die Wände und der Boden sind grau und gammelig. Edith fetzt einen Fresh&Clean-Karton auf und greift sich ein paar Flaschen Wonder Orange. In der Hektik rutscht ihr eine aus der Hand. Die Flasche öffnet sich und spritzt etwas Reiniger auf den Chicoree. Es zischt, eine lila Stichflamme schießt hoch, Qualm breitet sich aus. »Nein!«, schreit Edith schrill. Es kommt zu einer bis jetzt unbekannten, leider verheerenden Wechselwirkung zwischen dem Chicoree und dem Putzmittel.

»Zurück!«, ruft Marlies. Sie reißt aus einer der Natokisten ein paar Atemmasken, die sie ihren Freundinnen in Sekundenschnelle über den Kopf zieht. Die langen Filmabende bei Ulf haben sich gelohnt.

Im lila Schein des Feuers kreischt Edith: »Wellness ist die Frauenbewegung von heute, Fango der neue Feminismus! Wir fühlen uns ganz befreit mit Thalasso und Lymphdrainage!« Sie tanzt herum wie Rumpelstilzchen auf Acid. »Und ihr seid dabei! Endlich werdet auch ihr begreifen, worum es im Leben wirklich geht!«

Die jungen Landfrauen schütteln mitleidig den Kopf. Tina findet einen Feuerlöscher und löscht den Chicoree-Putzmittel-Brand. Hanna und Petra nehmen Edith, die plötzlich mit leeren Augen in sich zusammensackt, bei der Hand, führen sie ins Foyer und setzen sie dort in einen Sessel. Edith wehrt sich nicht.

Das Häkelkränzchen ist noch immer mit der Konzernchefin beschäftigt. Die kommt langsam wieder zu sich.

»Vielleicht habt ihr Recht«, sagt sie leise und noch etwas benommen. »Vielleicht ist das wirklich eine gute Idee. Wir könnten noch mal ganz von vorne anfangen.«

Oma Ellerbrock nickt. »Ja, das können wir.« Einen Moment schweigen alle andächtig. Dann fügt sie hinzu: »Und nun komm her, du verrücktes Huhn!« Sie zieht Hildegard-Inez in ihre Arme. Die anderen Damen des Häkelkränzchens schmiegen sich ebenfalls an ihre wiedergefundene Dorfschwester.

Helmut und Walter haben die ganze Szene stumm von ihren Stühlen aus verfolgt. Da verstehe einer die Frauen, denken sie, trauen sich aber nicht, etwas zu sagen oder sich zu bewegen.

Tina reißt sich vom Anblick der kuschelnden Damen los und dreht sich zu den drei anderen um. »Ihr«, sagt sie, »wir ...« Tina fehlen die Worte. Also streckt sie die rechte Hand vor. Die anderen begreifen sofort. Hanna, Petra und Marlies lassen ihre Hände auf die von Tina sinken.

»Wir halten zusammen«, sagt Petra. »Gemeinsam sind wir stark!«

Hanna zieht als Erste ihre Hand zurück und streicht sich verstohlen eine gerührte Träne aus dem Auge. »Jetzt ist wieder alles in Ordnung«, sagt sie sehr zufrieden.

»Nein«, widerspricht Marlies, »noch nicht ganz.«

Die jungen Frauen bringen die Männer nach draußen und schicken sie nach Hause. Barfuß. Dann machen sie sich an die Arbeit: Sie müssen eine Menge Kameras abmontieren. Es ist nicht ganz einfach, in die Sparkasse, Moniques Salon und einige Schlafzimmer vorzudringen – aber im Team schaffen sie es.

Als die Freundinnen in den frühen Morgenstunden endlich fertig sind, sagt Marlies: »So. Jetzt bin ich zufrieden. Jetzt kann ich gehen!«

Tina, Petra und Hanna gucken sich erstaunt an. Marlies will von hier fort? Das Dorf verlassen?

Was für eine verrückte Idee!