6. Kapitel:
Technischer Fortschritt
Donnerstag, 9. Juni
»Wir hätten das verhindern müssen!«, sagt Hanna. Seit ein paar Tagen flattern ihre Nerven, selbst beim Fensterputzen findet sie keine innere Ruhe. Deshalb hat sie eine Krisensitzung einberufen. Sie trifft sich mit Marlies und Petra bei Tina.
»Wir waren sogar da! Warum haben wir denn nichts gemerkt? Das ist schlimm, schlimm, schlimm!« Erst am übernächsten Tag haben die Damen von diesem schrecklichen Unfall erfahren.
»Er war noch so jung«, sagt Petra, »gerade erst neunzehn.«
»Schade um den hübschen Jungen«, sagt Tina. Hanna wirft ihr einen bösen Blick zu. »So habe ich das nicht gemeint ... Aber was soll man denn machen? Wir sind doch keine Babysitter.«
Marlies muss an Roccos Raupenbahnsturz denken und wird ganz melancholisch. Sie weiß, dass das jetzt überhaupt nicht hierher gehört, kann aber ihre Gedanken nicht wieder einfangen. Dann denkt sie an das Mädchen, von dem ihr Oma Ellerbrock erzählt hat. Wie unglücklich diese Helga jetzt sein muss. Ihr Hals wird eng.
»Ich ... ich will das nicht. Ich kann das nicht dulden!«, erklärt Hanna. Ihre Welt muss sauber und ordentlich sein, deshalb putzt sie auch so viel. Dieser Unfall, der Tod eines jungen Menschen, ist für Hanna wie ein Fleck auf ihrem Weltbild. Am liebsten möchte sie alles Unheil einfach wegschrubben. Dass das nicht geht, hat sie inzwischen begriffen. Deshalb sucht sie nun nach einem anderen Weg. »Wenn wir ein bisschen aufmerksamer gewesen wären, wäre das alles nicht passiert«, behauptet sie.
»Wie denn?«, fragt Tina. »Wir haben doch Monique beschattet. Und wir können schließlich nicht überall sein.«
»Vielleicht können wir das doch«, sagt Hanna.
»Wie das?«, fragen die anderen.
»Mit der Ausrüstung, die uns Edith mitgegeben hat. Wenn wir überall Kameras aufstellen, entgeht uns nichts mehr. Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht? Wir hätten alles überwachen können, den Parkplatz zum Beispiel, und so verhindern können, dass dieser Junge betrunken ins Auto steigt.«
»Hätten wir das?«, fragt Petra.
»Wir hätten zumindest eine Chance gehabt. Das wäre eine wichtige Mission der Operation Frischluftkur gewesen. Wir hätten helfen können!«
Marlies nickt stumm.
»Vielleicht hast du Recht«, sagt Petra nachdenklich. »Die Operation Frischluftkur dümpelt doch irgendwie vor sich hin. Mit unseren herkömmlichen, laienhaften Methoden finden wir nicht so richtig was raus. Monique und die anderen machen immer noch mit uns, was sie wollen. Und was unsere Männer treiben – keine Ahnung. Dabei hat Edith schon angerufen und wollte Details wissen, denn die neuen Seminare gehen jetzt los, und die müssen doch individuell abgestimmt werden.«
»Seht ihr!«, sagt Hanna. Sie verschweigt, dass Heinz, der ja das Männerumerziehungsprogramm schon durchlaufen hat, ihr langsam etwas sonderbar vorkommt.
»Paul hat mir Ohrringe geschenkt.« Tina hält ihre Haare hoch.
»Wow!«, sagen die anderen. Von Tinas Ohrläppchen ergießen sich funkelnde Wasserfälle in Richtung Schultern.
»Echte Brillanten?«, staunt Petra.
»Echter Fake!« zischt Tina böse. »Hier, guckt mal.« Sie nimmt einen der Ohrringe ab und fängt an, damit über den Glastisch zu kratzen. Das macht ein unangenehmes Geräusch, bis Hanna Tinas Hand festhält.
»Was fällt dir ein ...«, ruft Hanna. Es ist zwar nicht ihr Tisch, sondern der von Tina, aber so etwas kann sie trotzdem nicht haben.
»Nichts passiert«, beruhigt Tina sie. »Die sind nicht echt.« Und tatsächlich: Auf dem Tisch liegen lauter kleine Brösel, aber die Tischplatte scheint noch intakt zu sein.
Hanna zückt einen Putzlappen. Schmutz und
Unglück, Dreck und Unfälle – das ist für sie alles dasselbe. Das
darf nicht sein, das muss entfernt werden, schnell und gründlich.
»Also: Her mit den Kameras! Wir werden die Operation Frischluftkur
professioneller aufziehen.«
Eine halbe Stunde später sitzen sie vor den Koffern, die sie schnell von zuhause geholt haben. Marlies ist ein wenig enttäuscht. Sie hatte den Inhalt viel eindrucksvoller, militaristischer, gefährlich wirkender in Erinnerung.
Hanna nimmt sich die Gebrauchsanleitung vor. »Warnhinweise«, liest sie. »Nichtbeachtung kann zu tödlichen Schäden führen.«
»Tödlich für wen?«, fragt Tina.
»Nur mit einem trockenen Tuch abwischen«, liest Hanna und wischt die Kameras schon mal mit einem trockenen Tuch ab.
»Das ist alles?«, fragt Petra.
»Nee, hier steht noch ganz viel. Aber das klingt so kompliziert.«
»Ach, Quatsch«, sagt Tina, »schwieriger als ein Vibrator sind die bestimmt auch nicht zu bedienen. Gib mal her!« Sie nimmt sich eine der kleinen, glubschäugigen Kameras, fummelt ein wenig daran herum, guckt noch mal kurz in die Anleitung, klappt den von Edith mitgelieferten Laptop auf, murmelt etwas von »Überkopfmontage nicht möglich«, legt eine Batterie in die Fernbedienung und sagt: »Ich hab's!«
»Toll!«, sagt Petra bewundernd.
»Du hast einen Vibrator?«, fragt Hanna.
»Ist doch jetzt egal«, meldet sich Marlies zu Wort. »Zeig mal, wie die Kamera funktioniert!«
Tina klickt wie Edith auf dem Laptop herum. Ein Bild baut sich auf: Es ist Marlies, auf die Tina die Kamera gerichtet hat. »Na also, geht doch!«
»Und wo sollen die Kameras hin?«, fragt Petra.
»Gute Frage«, sagt Tina. »Wenn ich wüsste, wo Paul fremdgeht, wäre ich ja schon ein gutes Stück weiter.«
»Am besten überall«, schlägt Hanna vor.
»Und in allen Schlafzimmern!«, fordert Tina.
»Na ja«, bemerkt Petra, »wir haben nur, lass mal sehen, zwei, vier, acht Kameras.«
»Pro Koffer«, sagt Marlies.
»Okay, dann an allen zentralen Verkehrsknotenpunkten und auf dem Parkplatz vom Schädel«, sagt Hanna.
»Und was machen wir mit den Mikrofonen? Wie ein Auto klingt, das weiß ich«, sagt Tina.
»Ist doch ganz einfach: Wo erfährt man denn, was im Dorf los ist?«, fragt Hanna und liefert gleich die Antwort: »Im Salon von Monique. Und vielleicht noch in Knurres Kramerlädchen.«
Marlies schüttelt sich bei dem Gedanken, bei der Arbeit gefilmt zu werden.
»Ja, genau, in Moniques Salon! Und bei Knurres!«, stimmt Tina zu. »Und in der Sparkasse! Es ist immer gut, zu wissen, was die Leute so auf ihrem Konto haben.«
»Und da marschieren wir einfach so rein, schrauben eine Kamera unter die Decke und gehen wieder?« Petra guckt skeptisch.
»Nein, ein wenig unauffälliger sollten wir das
schon machen«, antwortet Hanna.
Die Montage der Außenkameras verläuft ohne Probleme und fast frei von Zwischenfällen. Einmal kommt eine der älteren Landfrauen aus dem Häkelkränzchen mit ihrem Hackenporsche vorbei. Damit hatten Marlies und ihre Freundinnen nicht gerechnet, denn es ist kurz vor Mitternacht.
»Ja ja, die moderne Handytechnik«, sagt die ältere Landfrau, als sie sieht, dass die jüngeren mit einer Leiter an einem Laternenpfahl zugange sind. »Haben Sie keine Angst vor Elektrosmog?«
»Nööö«, antworten Tina, Petra und Hanna, Marlies schüttelt nur den Kopf.
»Meint ihr, die hat was gemerkt?«, fragt Tina, nachdem die ältere Dame wieder weg ist.
»Ach, was soll die denn gemerkt haben?«, fragt
Petra. »Wir waren doch ganz unauffällig. Außerdem war das eine alte
Dame. Das ist doch die Freundin von Elsbeth Merkens, oder?
Wahrscheinlich ist die schon senil und denkt, sie könne jetzt noch
irgendwo Strickwolle kaufen.«
Die Kamera in Knurres Laden einzuschleusen ist
leicht. Marlies wird dazu verdonnert, sie beim nächsten
Regaleinräumen einfach mit wegzupacken. Als sie an der Fleischtheke
aushelfen muss, ergibt sich eine gute Gelegenheit, Kamera und
Mikrofon in einer Deko-Blutwurst zu verstecken. Sie ist froh, dass
sie direkt danach ihren freien Nachmittag hat.
In Moniques Salon sind gerade Ayurveda-Wochen. »Die dreitausendfünfhundert Jahre alte Heilkunst jetzt auch hier im Dorf. Monique bietet wirklich immer die allerneuesten Trends an«, spöttelt Tina.
Harmonie-Behandlung, ca. 30 Minuten, 45 Euro, steht auf dem Schild. Es gibt auch die Tiefenentspannung, ca. 45 Minuten, 60 Euro.
»Boah, ist das teuer«, sagt Hanna. »Dafür bekommt man ja das komplette Fresh&Clean-Wonderclean-Extrapaket mit Mikrofasertüchern in drei Sondergrößen.«
»Aber das hast du schon. Doppelt sogar«, grinst Petra. »Ein wenig Entspannung täte uns allen ganz gut.«
»Wenn Monique an mir rummacht, kann ich mich bestimmt nicht entspannen«, sagt Tina.
»Aber eine muss jetzt einen Termin ausmachen. Wenigstens zum Schein. Damit wir einen Grund haben, da reinzugehen und die Kamera zu montieren«, stellt Petra fest. Marlies guckt zu Boden, Tina zeigt auf ihre Tasche, was so viel bedeutet wie: Ich muss die Kamera installieren, den Termin macht bitte schön eine von euch. Hanna fährt mit dem Finger am Rahmen des Schaufensters entlang, der natürlich nicht einwandfrei geputzt ist.
»Okay, ich mach's«, sagt Petra. »Aber ihr kommt mit!«
Nacheinander betreten sie den Salon. Die polyphone Türglocke macht »Ohmmmmmm«. Die Luft ist so intensiv von einem Duft erfüllt, dass man meint, sie sei kurz vorm Gelieren. Monique kommt ihnen in einem Bauchtanz-Kostüm entgegen.
»Ich finde das ein wenig überinterpretiert«, zischt Tina Marlies leise zu. Monique bekommt das zum Glück nicht mit, weil an ihrem prachtvoll verzierten BH viele kleine Glöckchen erstaunlich laut bimmeln.
»Meine Lieben!«, ruft Monique, »schön, dass ihr da seid! Was kann ich für euch tun? Wie ihr vielleicht gehört habt, haben wir hier gerade Ayurveda-Wochen. Ich kann euch wunderbare Angebote machen, eure Haut wird sich traumhaft anfühlen und die Cellulitis geht auch weg!«
»Das heißt Cellulite, ist ja schließlich keine Krankheit«, korrigiert Tina. Das hat Monique, die einen Augenblick still stand, gehört.
»Kommt darauf an, ob man es hat oder nicht«, stichelt sie zurück, reißt sich dann aber sofort wieder zusammen, sie will ja ihre Kundschaft nicht vergraulen. Die Ayurveda-Wochen laufen noch nicht so gut, wie sie sich das erhofft hat. Ihre treue Gefolgschaft aus dem Ideenkreis Junger Landfrauen hat bislang eher zögerlich reagiert, noch zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an das Brazilian-Waxing-Special.
»Ja, das hätte ich gerne«, sagt Petra mutig.
»Was, Cellulitis?«, fragt Monique verwirrt.
»Cellulite«, ätzt Tina.
»Nein, natürlich nicht!« ruft Petra leicht verwirrt.
»Ayurveda«, rettet Hanna die Situation. »Wir hätten gerne Ayurveda.«
»Alle?«, fragt Monique. »Ich kann euch da die Harmonie-Behandlung anbieten, mit Stirnguss. Zuerst muss ich aber euer Dosha bestimmen.« Sie will nach Marlies' Handgelenk greifen, aber die ist schneller und versteckt ihre Arme auf dem Rücken.
»Ähem ... Ich wollte eigentlich nur einen Termin ausmachen«, sagt Petra.
Tina sieht sich inzwischen im Salon um. Es gibt einen mit Mosaikfliesen beklebten Empfangstresen, zur Linken einen Wartebereich mit den üblichen Lesezirkel-Heftchen und einer bodennahen Sitzgruppe. Im rechten Teil des Raumes stehen zwei Frisierstühle vor Spiegeln, drumherum Trockenhauben und zwei Waschbecken zum Haarewaschen. Vom hinteren Teil des Raumes ist ein Bereich mit Sichtschutzwänden aus Bast aus dem Baumarkt und einem schillernden Plastikperlenvorhang abgetrennt.
»Da habt ihr aber Glück!«, jubelt Monique. »Es ist gerade ein Termin frei geworden! Ihr könnt gleich dableiben! Dann mache ich euch auch noch eine Synchronmassage.«
»Eigentlich wollte nur ich ...«, sagt Petra vorsichtig.
»Im Doppelpack mache ich euch einen Sonderpreis. Außerdem geht die Synchronmassage nur zu zweit. Und sonst ist auch nichts mehr frei, seht selbst.« Monique setzt alles auf eine Karte. Zum Beweis, dass sie völlig ausgebucht ist, schlägt sie schnell ihren präparierten Kalender auf, in den sie fiktive Termine mit Victoria Beckham und Pamela Anderson eingetragen hat – ihr Geheimcode für: Mal in Ruhe die Bunte durchblättern.
Marlies beherrscht mal wieder die Kunst des Unsichtbarmachens, sie tut so, als sei sie gar nicht da und wird deshalb auch nicht bemerkt. Tina gibt Hanna einen Schubs, als Zeichen, dass sie sich freiwillig melden soll. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Hanna sagt sofort: »Okay, dann sind wir beide dabei. Und die anderen ...«
»... setzen sich so lange ganz entspannt in die Lounge«, ordnet Monique an, ohne dabei Petra und Hanna aus den Augen zu lassen.
»Wohin?«, fragt Tina überrascht.
»Die Lounge. Dort!« Monique deutet auf die Sitzecke. Tina und Marlies gehen bereitwillig hinüber.
Im Lounge-Bereich tummelt sich zwischen bunt bestickten Sofa- und Bodenkissen und einer Mikro-Hi-Fi-Anlage, die den Raum mit Urwaldgeräuschen beschallt, eine größere Sippe Diddl-Mäuse. Ein paar von ihnen haben es auch schon auf die Vitrine mit den Pflegeprodukten geschafft.
Tina überlegt, ob die Kamera hier gut aufgehoben ist. Auf der Vitrine? Zu auffällig, da könnte sie bemerkt werden, Monique arrangiert sicher ihre Diddl-Mäuse häufig neu, sie ist immerhin der Typ dafür.
»Müssen wir nicht erst vorher nach Hause und uns umziehen?«, fragt Petra.
»Nein, ihr müsst euch höchstens für die Massage ein wenig frei machen. Keine Sorge, der einzige Mann im Raum ist Siegfried, mein Maskottchen.« Monique zeigt auf einen Plüsch-Ara, der auf einem Trapez befestigt ist, das über dem Empfangstresen von der Decke baumelt. Siegfried hat von dort einen tollen Überblick. Genau der richtige Platz für die Kamera, denkt Marlies.
»Aber jetzt bestimme ich erst mal eure Doshas!« Monique packt erst Petra, dann Hanna am Handgelenk, zwickt beide in die Hüften und sieht ihnen tief in die Augen. »Hanna, du bist Pitta, und Petra, du bist eine Mischung aus Vata und Kapha. Ihr solltet beide mehr auf eure Chronohygiene achten.«
Die Freundinnen sind beeindruckt von diesen Fachkenntnissen. Monique schafft es immer wieder, sie einzuschüchtern. Sie wagen nicht zu fragen, was das alles bedeutet.
Während Monique Hanna und Petra hinter den Perlenvorhang in ihr Bast-Kabuff verschleppt, deutet Marlies möglichst unauffällig auf den Papagei. Tina nickt. Sie warten, bis Monique nicht mehr zu sehen ist, dann nimmt Marlies Siegfried vorsichtig vom Trapez.
»Hallo, Schatzi! Hallo, Schatzi«, krächzt der Papagei heiser. Marlies lässt ihn vor Schreck fallen.
»Hallo, Schatzi! Hallo, Schatzi!«, flötet Monique zurück. »Ja, der Siegfried, das ist schon ein Süßer. Der weiß, wie man mit Frauen umgeht.« Dann verliert ihre Stimme alle Weichheit. »Und ihr: hinlegen!«, befiehlt sie Hanna und Petra.« Um den weiteren Verlauf der Aktion nicht zu gefährden, tun die beiden, was von ihnen verlangt wird.
»Ist der etwa echt?«, flüstert Tina.
Marlies schüttelt den Kopf und zeigt auf die Papageienfüße. Die sind eindeutig aus Filz.
»Vielleicht Prothesen«, vermutet Tina.
»Ihr werdet gleich tiefe Entspannung spüren und ganz ruhig werden«, befiehlt Monique. Man hört sie mit Küchengeräten klappern.
Marlies holt ein Taschenmesser aus der Tasche und schlitzt den Plüsch-Ara einfach auf. Tina unterdrückt einen Entsetzensschrei. Das wäre gar nicht nötig gewesen, weil im gleichen Moment ein Empörungsschrei aus der provisorischen Kabine dringt.
Hanna schnappt nach Luft und versucht, sich den Schmierfilm aus den Augen zu reiben. Monique hat mit Schwung einen Messbecher Sonnenblumenöl über ihrem Kopf ausgegossen.
»Huch, das war wohl ein bisschen viel. Den Stirnguss muss ich noch ein wenig üben. Ich hole schnell was zum Abtupfen.« Monique schießt aus der Kabine hervor, Marlies kann gerade noch den niedergemetzelten Siegfried hinter ihrem Rücken verstecken. Monique rennt mit einer Küchenrolle und einem Handtuch zurück zu Hanna hinter die Bastwand.
»Und, fühlst du dich jetzt total entspannt?«, fragt sie.
»Geht so«, antwortet Hanna.
»Bei Pitta-Typen kommt das manchmal nicht so gut an«, räumt Monique ein. »Aber bei dir wird das sicher ein voller Erfolg. Ich muss nur noch schnell etwas Öl erwärmen.«
Tina und Marlies pulen Siegfrieds holzwollene Innereien heraus, als Monique wieder hinter der Wand hervorgeschossen kommt. Sie verstecken sich schnell hinter dem Empfangstresen. Monique sieht sich suchend um. Entweder hat sie vergessen, was sie gerade tun wollte oder sie hat etwas bemerkt.
»Was wollte ich noch?«, fragt sie sich selbst. In letzter Zeit, genauer gesagt, seit sie sich nachts häufig mit dem Flexi-Stab-Trainer trifft, ist zwar ihre Tiefenmuskulatur straff, ihr Gehirn jedoch wie ausgeleiert.
»Gib Küsschen! Gib Küsschen!«, fordert Siegfrieds nun fast schlaffe Hülle hinterm Tresen. Tina hat schon wieder aus Versehen den Sprachmechanismus ausgelöst. »Öl!«, ruft Petra laut. »Du wolltest Öl holen!«
»Ach, stimmt ja«, fällt Monique ein. Sie holt eine Flasche Salatöl aus einem Schrank und füllt den Inhalt in den Messbecher, den sie noch in der Hand hat.
Sie läuft wieder zurück und befiehlt Petra: »Augen zu! Entspannen!«
Tina setzt derweil Kamera und Mikrofon in Siegfried ein. Kaum ist sie fertig, zieht Marlies ein kleines Nähset aus ihrer Tasche und schließt mit beherzten Stichen die Bauchwunde. Tina sieht ihr anerkennend dabei zu, das hat sie ihrem Mauerblümchen gar nicht zugetraut. »Hab ich immer dabei«, flüstert Marlies.
»Aber wohin jetzt mit der Holzwolle? Mit Siegfrieds Gedärm?« Ein Mülleimer ist nicht zu sehen.
Marlies zeigt auf einen Kanister mit Dauerwell-Flüssigkeit. Tina stopft die Holzwolle hinein. Sie löst sich sofort auf. »Uuuuahhhh!«, wispert Tina bei dem Anblick der chemischen Reaktion.
Siegfried guckt auch ein wenig komisch. Das eingesetzte Kameraobjektiv verleiht seinem Blick etwas Durchdringendes. Wenigstens sagt er nichts.
Monique kommt wieder durch den Perlenvorhang, sie zieht Petra und Hanna hinter sich her, die aussehen, als hätten sie dringend drei bis vier Haarwäschen und jeweils eine neue Frisur nötig. Ihre Gesichter glänzen wie Speckschwarten, schmierige Schlieren überziehen ihre Kleidung.
»So, und jetzt setzt euch und genießt die völlige Losgelöstheit«, befiehlt Monique. »Legt aber was drunter, nicht, dass ihr mir hier noch die Polster verschmiert!« Sie streckt Marlies und Petra Handtücher entgegen. »Ich werde euch inzwischen die Grundlagen des Bauchtanzes vorführen. Merkt euch die Schritte!« Sie schnappt sich die Fernbedienung für die Stereoanlage und drückt auf einen Knopf. Orientalische Klänge kämpfen sich durch die Duftschwaden. Monique kreist mit den Hüften, kommt dabei Siegfrieds verlassenem Trapez immer näher. Tina versucht, hinter ihrem Rücken den Vogel wieder zu platzieren, aber die Kamera darin hat seinen Schwerpunkt verändert, er kippt immer wieder nach vorn. Jedes Mal, wenn sie ihn fast aufgerichtet hat, vollführt die begeisterte Bauchtänzerin eine ekstatische Drehung genau in Tinas Richtung. Die Glöckchen an Moniques Kostüm bimmeln wie wild. Der Vogel beugt sich nach vorne, es sieht aus, als würde er beifällig nicken.
»Ja, Siegfried, das gefällt dir, was?«, gurrt Monique. Sie scheint die Veränderung des Papageis nicht bemerkt zu haben. Noch nicht.
»Komisch, warum sagst du denn gar nichts?«, fragt sie plötzlich. »Du sagst doch sonst immer was.«
Verdammt, der Sprachmechanismus, denkt Tina. Den hat Marlies wohl irgendwie abgeschaltet. Sie packt Siegfried am Hals. »Hey, was machst du da mit meinem Süßen?«, fragt Monique.
Die Musik geht aus.
»Also, ich ...«
»Sind meine Foliensträhnchen nicht bald fertig?«, meldet sich eine Stimme aus den Tiefen des Lounge-Bereiches. Monique und die Frischluftfreundinnen fahren erschrocken zusammen.
Eine zierliche ältere Dame, Mitglied des Häkelkränzchens, sitzt halb versunken zwischen Polstern, Kissen und Diddl-Mäusen. Sie lässt das Lesezirkel-Exemplar von Meine Familie und ich sinken und guckt ein wenig vorwurfsvoll. Auf dem Kopf sieht sie aus wie ein Alien, mit lauter Antennen.
»Ach ja, Frau Helmichs ... ja, so langsam, die Einwirkzeit ... Ich glaube, wir können jetzt mal das Ergebnis bestaunen«, stammelt Monique. Sie hat heute wirklich nicht ihren besten Tag.
»Schatzi, Küsschen!«, muntert Siegfried sie auf.
»Und bei euch wollte ich eigentlich noch eine
Ernährungsberatung machen«, sagt Monique mit nachdenklichem Blick
auf Hanna und Petra. »Ach, holen wir nach. Das macht dann erst mal
fünfundsiebzig Euro. Sonderpreis, weil ihr es seid.« Hanna bezahlt
widerspruchslos, sie will einfach nur noch raus hier.
Draußen rennen die Freundinnen los, so schnell es geht. Um die Ecke, um noch eine, noch ein Stück geradeaus. Hinter dem Feuerwehrhaus halten sie an und atmen schwer. Dann fangen sie an zu kichern. Zuerst Tina, dann Petra, schließlich Hanna. Selbst von Marlies kommt eine Art Geräusch. Die Anspannung löst sich und perlt und schäumt giggelnd aus ihnen heraus.
»Was war das denn?«, prustet Petra.
»Die Königin in ihrer natürlichen Umgebung«, spottet Tina.
»Also, Ayurveda habe ich mir immer ganz anders vorgestellt. Ich dachte, das ist so was mit Pflanzen und Feuchtigkeit«, bemerkt Hanna, als sie mal kurz Luft holt.
»Du meinst Aloe vera«, korrigiert Tina. »Und, seid ihr jetzt total entspannt?«
»Ja, irgendwie schon«, jappst Petra.
»Bisschen viel Öl«, kritisiert Hanna die Behandlungsmethoden.
»Und zu wenig Salat«, wirft Marlies ein. Die
anderen sehen sie einen Moment verdattert an. Marlies spricht! Und sie hat einen Witz
gemacht! Grund genug, noch einmal in begeistertes es Gelächter
auszubrechen.
***
Susi, die einzige Sparkassenangestellte, steht kurz vor einer Krise, als die vier vergnügten Freundinnen ihre Filiale betreten. Kundschaft kann sie nur in homöopathischer Dosierung ertragen. Außerdem hat sie gerade etwas ganz anderes zu tun, sie muss den Techniker anrufen, denn der Geldautomat ist schon wieder kaputt. Aber der hat ja doch nie Zeit. Ein wenig wehmütig denkt sie an ihre ehemalige Kollegin Silke zurück. Die hat sich zwar immer wieder an ihren Süßigkeiten vergriffen, ihr dafür aber auch fast die ganze Arbeit abgenommen. Silke musste gehen, als der Geldautomat kam. Seitdem sitzt Susi alleine in der Sparkasse, schutzlos den Anforderungen der täglichen Arbeit ausgesetzt. Und der Geldautomat funktioniert meistens nicht.
Die Freundinnen sind diesmal besser vorbereitet. Tina hat ein Spar- zum Spionierschwein umgerüstet. Das muss jetzt nur noch richtig platziert werden. Susi, das wissen die vier, hortet Sparschweine. Sie liebt sie und rückt nie eins raus. Selbst beim Weltspartag nicht. Bittende Kinderaugen rühren sie kein bisschen, die Schweinchen bleiben da. Jedes hat einen Namen. Im Gegensatz zu Monique würde Susi es sofort merken, wenn man sich an ihren Lieblingen zu schaffen macht.
»Da ist schon eine Kamera«, bemerkt Tina leise, als sie die Sparkasse betreten.
»Aber die ist nicht von uns«, flüstert Petra zurück.
Hinter Susis Schreibtisch thronen die Sparschweine auf einem Regal. Eine kleine Bastion Gemütlichkeit in der neu und modern, kühl-luftig mit mediterranem Flair gestalteten Sparkasse. Die andere Festung im Raum ist nicht etwa der Tresor, sondern Susis Süßigkeiten-Schublade. Seit es keine Panzerscheibe mehr gibt, hat Susi das Gefühl, sie müsste ihre Kalorienbomben vor der Kundschaft sichern.
Sie lässt einen Schokoriegel verschwinden, als die vier jungen Landfrauen näher kommen. »Was wollt ihr?«, fragt sie leicht feindselig.
»Ähhh, nichts«, antwortet Petra eingeschüchtert.
»Doch«, korrigiert Hanna. »Wir möchten Geld abheben und überweisen und einzahlen. Auch ins Ausland.«
»Puhhh«, antwortet Susi. »Alles auf einmal? Ich weiß nicht, ob ich das heute noch schaffe. Ist ja bald Feierabend.« Es ist gerade mal drei Uhr.
Hanna und Petra sehen sich ratlos an. So kommen sie nicht weiter.
»Nein, eigentlich wollten wir nur fragen, ob du das für deine Sammlung haben möchtest«, sagt Marlies und zieht das präparierte Sparschwein aus Tinas Tasche.
»Mein Gott, ist das aber niiiiiiiiieeeedlich!«, juchzt Susi.
»Weißt du, ich renoviere bei mir zuhause«, übernimmt Tina, die sofort versteht, was Marlies vor hat, »neue Sachlichkeit, du verstehst? Da ist das Schwein fehl am Platz. Und wenn ich dir damit hier eine kleine Freude machen kann, bei deinem nervenaufreibenden Job ...« Susi nimmt das Spionierschwein und drückt es zärtlich an ihren wogenden Busen.
Marlies fragt sich, warum Frauen wie Monique und Susi ihre Zärtlichkeiten auf leblose Objekte projizieren. Läuft in deren Liebesleben etwa auch etwas schief?
Die nächste Kundin betritt die Filiale. Oma Ellerbrock. Wer sonst? Sie will ihrem Enkel etwas überweisen.
Die vier Freundinnen sehen noch zu, wie Susi das Schwein auf dem Regal drapiert, dann gehen sie. Das heißt, sie rennen nach Hause zu Tina, um dort den Laptop einzuschalten und zu gucken, was die Kameras übertragen.
Im Schönheitssalon Scharfe Schere schreibt Monique gerade neue Namen aus der Bunten in ihren Terminkalender.
Tina schaltet auf die Sparkassen-Kamera um. Oma Ellerbrock beschwert sich massiv, dass Susi immer noch nicht die Kontonummer ihres Enkels auswendig weiß.
»Sagt mal, hat die nicht eben in die Kamera gezwinkert?«, fragt Tina erstaunt. »Da! Sie macht es schon wieder!«
Die vier Freundinnen sehen, wie Oma Ellerbrock mit einem Auge blinzelt. Verschwörerisch? »Grauer Star«, mutmaßt Hanna. »Meine Schwiegermutter hat da auch ihre Last mit.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagt Tina und drückt auf eine Taste auf dem Laptop. »Mal sehen, was sonst noch passiert. Bei Knurres geht gerade ein Pfund gemischtes Hack über die Theke. Gunde Helmrichs, die Fleischereifachverkäuferin, die jeden grüßt, bietet noch ein kleines Nebengeschäft: »Ich hätte da noch ganz junge, zarte Stallhasen. Privat. Könnte ich ihnen heute Abend küchenfertig vorbeibringen«, flüstert sie der Kundin zu.
Die vier klicken sich noch schnell durch die Bilder der Verkehrskameras. Alles friedlich. Hanna ist beruhigt. Aber verglichen mit dem, was man bei den drei anderen Kameras sehen und hören kann – oder könnte –, schneiden Außenkameras auf dem Spannungsbarometer ziemlich schlecht ab. Der Wir-machen-das-Dorf-sicherer-Gedanke gerät ein wenig in den Hintergrund. »Schalt doch noch mal zu Monique«, sagt Hanna so beiläufig wie möglich. Es geht so schnell, als habe Tinas Finger schon über der Taste geschwebt.
Helma, die zweite Vorsitzende der Landfrauen, kommt in den Salon. Sie will eigentlich nur eine Dauerwelle haben, wird aber erst mal von Monique im Rahmen der Ayurveda-Maßnahmen mit Salatöl übergossen. Die Freundinnen amüsieren sich köstlich.
»Vielleicht gehört das doch so?«, fragt Petra.