8. Kapitel:
Die Steckrübe

Schnell klappt Marlies das Buch zu. Ihr Gesicht changiert in den leuchtenden Rot- und Rosatönen des Covers. Dann blättert sie wieder zu der Seite, bei der sie die Lektüre abgebrochen hat und liest weiter. So arbeitet sie sich im Stop-and-go-Verfahren durch das Buch, das Evelyn ihr zum Geburtstag geschenkt hat. »Du liest doch gerne«, hat ihre Kollegin gesagt und ihr einen hübschen kleinen Karton in die Hand gedrückt. Ja, Marlies liest gerne. Harmlose Heftchen, mit viel Liebe und immer mit Happy End. Gerne auch ein bisschen Erotik, aber nicht zu explizit. Dieses Muster setzt sich in Marlies' Tagträumen fort.

Doch hier wird nicht abgeblendet. Zwischen dem harten, pink-rot-gemusterten Schutzumschlag geht es dermaßen zur Sache, dass Marlies zwischendurch immer eine Runde Luft holen und ihr gerötetes Gesicht kühlen muss. Verstohlen sieht sie sich um und fragt sich: Beobachtet mich jemand? Obwohl das eher unwahrscheinlich ist, denn erstens ist sie in ihrem Schlafzimmer, das Rollo ist heruntergezogen und die Tür abgeschlossen. Zweitens befindet sich sämtliches Überwachungsgerät in den Händen der Teilnehmerinnen der Aktion Frischluftkur und ist an verschiedenen von Marlies mit ausgewählten Stellen des Dorfes im Einsatz. Marlies' Schlafzimmer ist seit der Liebesnacht von Romeo und Jule wieder überwachungsfreie Zone, da ist sie sich sicher.

Obwohl Marlies so innerlich aufgewühlt ist, muss sie immer weiter lesen. Es ist wie ein Zwang. Atemlos und mit glühenden Wangen saugt sie die Geschichte einer muslimischen Frau in sich auf, die ihre Sexualität befreit und dadurch erblüht. Wie kann das sein?, fragt sich Marlies. Was sich diese Frau alles traut! Und: Vielleicht kann ich das auch? Zuerst aber muss sie sich eine andere Frage stellen. Bin ich unterdrückt? Die klare Antwort: Ja. Bloß: Durch wen? Wer unterdrückt mich? Marlies grübelt, rätselt, verdächtigt alle möglichen Leute, von ihrer Mutter bis zur Vorsitzenden des Landfrauenvereins und kommt dann zum Schluss: Ich selbst, Marlies, unterdrücke mich! Ich muss mich von mir selbst befreien! Zumindest innerlich. Nach außen hin muss das ja keiner merken.

Nun braucht ihre innere Befreiung irgendein Ventil. Sie versucht es mit Tagträumen. Das ist sowieso ihre Lieblingsbeschäftigung, noch vor Lesen. Bislang hat sie in ihren Träumen immer dort abgeblendet, wo die ersten Hüllen fielen und der Körperkontakt über einen Kuss hinausging. Doch neulich, auf der Heimfahrt des Landfrauenausflugs von Du & Deine Welt, da ist sie ein Stück weiter gegangen. Da ging es zur Sache. Im Dunkeln zwar, aber immerhin.

In Marlies brodelt es. Ihre Tagträume werden klarer, deutlicher. Die wollen nach draußen. Sie hat inzwischen das Gefühl, stünden ihr ihre indiskreten Gedanken ins Gesicht geschrieben, als wäre ihre Stirn ein Flachbildschirm, auf dem die sündigen Szenen für alle sichtbar gezeigt werden. Marlies schneidet sich die Haare selbst, denn zu Monique hat sie aus verschiedenen Gründen kein Vertrauen, und stylt sie sich zum Pony, der ihr bis in die Augen hängt und so viel wie möglich von ihrem Gesicht verdeckt. Das ist schwierig, denn Marlies' Haare sind dünn wie schlecht gegossener Schnittlauch. Langsam wird es kritisch.

Sie greift wieder zu ihren Kitschromanen, möglichst harmlosen. Sie liest von Ärzten und Krankenschwestern und wie die sich kennenlernen. Sie taucht in Welten voller Grafen und Sekretärinnen und gehauchten Küssen und zarten Andeutungen ein. Aber das reicht ihr nicht mehr. Immer zieht es sie zurück zu dem scharfen Buch. Sie liest es noch mal. Und noch einmal. Und wieder. Kurzfristige Linderung verschaffen die Prospekte der Bundeswehr, das schwere Gerät beruhigt Marlies' erhitztes Gemüt. Doch bald fängt es wieder an zu brennen.

Als sie das verbotene Buch, wie sie es insgeheim nennt, zum achtzehnten Mal liest – sie hat ihm inzwischen einen unauffälligen Schutzumschlag gehäkelt –, hat sie eine Idee. Schreiben! Sie kann ja auch alles aufschreiben. Und sich genau auf die gleiche Weise befreien wie diese ihr unbekannte, fremde und doch so vertraute Autorin. Okay, die Norddeutsche Tiefebene ist nicht der Orient, doch auch hier gibt es verwirrende Gerüche, flirrende Farben und Körper, die vor unbezähmbarer Lust triefen. Da ist sich Marlies ganz sicher. Man muss nur genau hinsehen.

Marlies überlegt, ob sie sich zum Schreiben einen Computer kaufen soll. Aber das scheint ihr zu professionell. Außerdem würden bestimmt alle fragen, was sie mit einem Computer will. Und sie kann ja gar nicht damit umgehen. Ihr Cousin würde ihr das vielleicht zeigen. Sie bezweifelt jedoch, dass Ulf mit einem Computer noch etwas anderes anfangen kann, als mit Ballerspielen herumzudaddeln. Nein, also kein Computer.

Marlies sucht bei ihren Eltern auf dem Dachboden, dort müsste noch eine Schreibmaschine stehen. Sie findet: einen Kasten voller Lego, viele verstaubte Lampen, zwei paar Langlaufskier (sie hat ihre Eltern noch nie auf Langlaufskiern gesehen, auch niemanden sonst hier im Dorf), diverse orthopädische Geräte, die in Teenagerjahren zur Korrektur ihrer Haltungsschäden angewandt wurden, einen Stapel Mein-schöner-Garten-Hefte und, endlich, die alte Adler-Maschine. Es ist sogar noch ein Blatt Papier eingespannt. Probeweise tippt Marlies auf das E und das N und das D und wieder das E. ENDE. Das E klemmt, sie verstaucht sich fast den Finger. Auf dem Papier ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich braucht sie ein neues Farbband.

»Was machst du denn da oben?«, ruft ihre Mutter. Marlies wird sofort knallrot im Gesicht.

»Och, nichts«, ruft sie mit ertappt-piepsiger Stimme zurück. Sie hört, wie ihre Mutter beginnt, die wackelige Ausziehleiter zu erklimmen und greift sich schnell eins der Garten-Hefte. »Ich suche nur nach Anregungen ...«, sagt sie und steckt den Kopf in ein tiefrot leuchtendes Calla-Beet.

»Du kannst mir mal lieber beim Buchsbaum-Schneiden helfen«, befiehlt ihre Mutter.

Mit einer kleinen Gartenschere in der Hand schnippelt Marlies wenig später an der Buchsbaumhecke herum, die den Vorgarten der Eltern säumt. An den Ecken lässt sie kleine, rundliche Säulen stehen, die einen gewissen phallischen Charakter nicht verleugnen können. Marlies entwickelt ungeahnte Freude an der Handarbeit.

Also keine Schreibmaschine, überlegt sie. Lieber mit der Hand schreiben. Da ist erstens die Materialbeschaffung unverfänglicher – ein paar alte leere Schulhefte hat sie noch im Schrank liegen –, es lässt sich zweitens überall praktizieren (auch unauffällig unter der Bettdecke), macht nicht so viel Lärm und ist viel sinnlicher. Findet Marlies jedenfalls. Sie hat mal einen Artikel über Grafologie gelesen und seitdem stark an ihren Unterlängen gearbeitet, die viel über die Sexualität verraten sollen. Der Schwung von Marlies' kleinem g ist sehr ausladend, was angeblich einladend wirkt. Wenn sie bei Knurres Preisschilder schreiben muss, hält sie sich etwas zurück.

Marlies setzt sich auf ihr Sofa, zieht die Beine an, legt das erste Schulheft auf die Knie und schlägt es auf. Die Seiten sind kariert – leere Felder, die darauf warten, gefüllt zu werden. Das Koordinatensystem ihres Lebens soll sich hier entfalten. Marlies starrt auf die Seite. Die Seite starrt zurück. Jedes einzelne Kästchen grinst sie hämisch an: Was willst du denn?, scheinen die Quadrate ihr hämisch zuzurufen. Oh nein, denkt Marlies eingeschüchtert, jetzt muss ich mich schon von einem Schulheft beschimpfen lassen. Obwohl, überlegt sie sich dann, das war ja eigentlich gar keine Beschimpfung. Das war eine Frage. Die haben mich nur gefragt, was ich will. Der Ton war nicht gerade nett, aber Schulheftkaros haben vielleicht nicht so viel Sinn für Sprachmelodie. Ich sollte mich nicht einschüchtern lassen, denkt Marlies. Nicht von einem leeren Heft. Trotzdem springt sie erst mal auf und spitzt ihren Bleistift an. So bewaffnet traut sie sich und schreibt das erste Wort: Ich. Dann noch mal: Ich. Ich. Ich. Komisch, denkt sie, meine Hand zittert gar nicht. Ein wenig peinlich ist es ihr schon, sich so in den Mittelpunkt zu stellen. Aber die Kästchen sind ruhig, und es fühlt sich auch irgendwie gut an.

Marlies knibbelt ein wenig an dem Radiergummi, das am Bleistiftende befestigt ist. Ich könnte das ja wieder ausradieren. Hmm. Der Bleistift kommt ihr plötzlich so provisorisch vor. So vergänglich. So unangemessen. Sie steht auf, öffnet eine Schublade und findet ihren alten Pelikano-Füller und eine Packung Patronen. Sie lädt den Füller wie eine Waffe. Ihre Waffe. Ihre 45er Magnum. Jetzt fühlt sie sich sicher. Sie setzt sich hin und schreibt einfach los. Den ersten Satz. Den ersten Absatz. Die erste Seite. Noch eine. Und noch eine. Und zehn, zwanzig, dreißig weitere. Es ist, als würde die Sprache, die Marlies so lange wie einen kühlschrankharten Klotz Butter in sich aufbewahrt hat, anfangen zu schmelzen. Geschmeidig rinnt sie nun aus ihr heraus, manchmal so kochend heiß, dass es spritzt.

Marlies schreibt all das, was sie nie gesagt hat. Wie ein stimmgewaltiger Gefangenenchor versuchen sich die Worte zwischen den Gittern des Schulheftrasters Gehör zu verschaffen. Sie sind ein bisschen beleidigt, kommen sie doch vom Regen in die Traufe, von der stillen Marlies in das noch stillere Heftchen. Aber immerhin: Endlich mal raus!

Ihre freien Abende vergehen wie im Flug. Marlies schreibt über Demütigungen im Schulbus, misslungene Ablösungsversuche von ihren Eltern, Intrigen im Landfrauenverein. Und über Männer. Das gefällt ihr gut. Da rutschen die Unterlängen immer weit in die nächste Zeile.

In ihren kleinen, dreckigen Heften, wie sie ihr schriftliches Selbstbefreiungsprojekt nennt, hält sie sich nicht zurück. Mit nichts. Zunächst hat sie vor, das Ganze völlig autobiografisch zu halten. Doch dann merkt sie schnell: Dafür hat sie noch gar nicht genug erlebt. Das nicht so spannende erste Mal, dann fast was mit Rocco von der Raupenbahn – ach, Rocco, Marlies spürt immer noch dieses Kribbeln in Dick- und Dünndarm, wenn sie nur an ihn denkt – und beinahe etwas mit dem feschen Leutnant Müller-Meersack im Panzer. Nach diesen drei Szenen droht Marlies der Stoff auszugehen. Hmm, denkt sie, vielleicht reicht das jetzt mit der Selbstbefreiung, vielleicht ist es jetzt genug. Doch inzwischen ist das Schreiben für sie fast zu einer Sucht geworden. Das gefällt ihr noch besser als Lesen oder Tagträumen. In jeder freien Minute schreibt Marlies, schwungvoll lässt sie die Feder ihres Pelikano-Schulfüllers über das linierte Papier kreisen. Und das soll jetzt schon wieder vorbei sein? Nein! Marlies will weiter schreiben. Sie denkt nach: Es gibt vier Möglichkeiten:

  1. Sie denkt sich Geschichten aus.
  2. Sie erlebt etwas, das sie aufschreiben könnte.
  3. Andere erzählen, was sie erlebt haben, und sie schreibt es auf.
  4. Sie beobachtet andere dabei, wie sie etwas erleben, das sie dann aufschreibt.

Zunächst versucht sie es mit Punkt eins. Doch das Ergebnis ist unbefriedigend: Zu sehr ähneln die Geschichten den billigen Kitschromanen, zu schüchtern ist ihre Fantasie, zu schwach ihre Vorstellungskraft. Dafür, stellt Marlies fest, ist sie noch nicht befreit genug. Dafür ist die Selbstzensur noch zu stark. Sie braucht etwas Konkreteres.

Da bietet sich natürlich an, etwas zu erleben. Aber das hat ja schon vorher nicht geklappt – warum sollte es also jetzt funktionieren? Marlies versucht es, sie strengt sich wirklich an, will sich kopfüber in Abenteuer stürzen. Aber die Abenteuer weichen ihr aus, und immer, wenn Marlies sich gerade stürzen will, zwischen den Regalen bei Knurres beispielsweise, schreckt sie zurück, weil sie Angst hat, hart zu fallen. Besser gesagt: Dass jemand anderes hart fallen wird. Wie Rocco von der Raupenbahn.

Deshalb, so überlegt sie sich, ist es vielleicht ganz geschickt, ihre Erzählungen mit den Intimitäten anderer anzureichern. Nur: Wie soll sie solche Geschichten erfahren? Sie traut sich ja kaum, nach dem Weg zur Toilette zu fragen, wenn sie mal irgendwo eingeladen ist. Da ist es vielleicht besser, die anderen Leute zu beobachten. Das machen sie und ihre Freundinnen im Rahmen der Operation Frischluftkur ja sowieso. Okay, zuerst wollten sie nur herausfinden, warum sich ihre Männer so seltsam benehmen. Und, schockiert von Ritschies tödlichem Unfall, das Dorf sicherer machen. Doch inzwischen hat sich das ganze Projekt irgendwie verselbstständigt, und jetzt wissen Marlies, Tina, Petra und Hanna, was in jedem Haus vorgeht. »Unter jedem Dach ein Ach«, hatte Marlies' Großmutter immer gesagt, doch inzwischen weiß Marlies: Nicht nur ein »Ach«, sondern oft auch ein »Ohhhh«, »Ahhhh« und »Wooooaaaaaah«. Manchmal sogar ein: »Ja, gib's mir, du starker Hengst!« Aber das hatte ihre Großmutter wohl nicht gemeint.

Marlies beginnt, diese kleinen Episoden – quasi ein erfreuliches Nebenprodukt der Operation Frischluftkur – in ihren Heftchen festzuhalten. Natürlich verwendet sie nicht die echten Namen. Und sie nimmt sich auch die künstlerische Freiheit, Details zu verändern, Paarungen neu zusammenzustellen, den Protagonisten neue Sätze in den Mund und andere Körperteile in die Hand zu legen. Die Bilder, die ihr die Überwachungskameras liefern, findet sie höchst inspirierend. Sie schreibt und schreibt und schreibt, ein Schulheft nach dem anderen füllt sie. Heimlich natürlich. Und hochgradig erregt. Immer mit dem Gefühl, etwas streng Verbotenes zu tun.

***

Seit Wochen schreibt Marlies nun schon gegen alle Ungerechtigkeiten an, kämpft still auf ihrem karierten Schlachtfeld für Mindestlöhne und multiple Orgasmen, geißelt Fertighaus-Pfusch und falsche Landfrauenseligkeit. Sie enthüllt nicht nur Leiber, sondern auch, dass Erbsensuppe aus der Dose auf Dorffesten als selbst gemacht verkauft wird. An mögliche Folgen denkt sie nicht. Es tut ihr so gut, das alles rauszulassen.

»Was schreibst du denn da? Darf ich mal lesen?«

Marlies zuckt vor Schreck zusammen. Sie hatte nicht mit Evelyn gerechnet, nicht in der Mittagspause, nicht im Angestelltenaufenthaltsraum von Knurres Kramerlädchen. Nun ist das zwar ein Ort, wo man Supermarktangestellte öfter trifft, aber Evelyn verschläft normalerweise ihre Mittagspausen. Und vielleicht ist Marlies in letzter Zeit auch etwas leichtsinniger geworden? Oft genug ist es ihr gelungen, das Heft noch rechtzeitig zuzuklappen und in eine Zeitschrift zu schieben, den Füller in der Tasche verschwinden zu lassen. Doch Evelyn steht schon genau hinter ihr, schaut über Marlies' Schulter und beginnt zu lesen. Marlies ist wie erstarrt, sie rührt sich nicht. Es wäre ganz leicht, das Heft einfach wegzuziehen oder wenigstens die Hand darüberzulegen, aber Marlies kann nicht. Still verflucht sie ihre gut lesbare Schönschrift.

Aber sie traut sich nicht, Evelyn zu stoppen. Vor ihrer Kollegin hatte sie schon immer Respekt. Und außerdem war sie es doch, die ihr das Buch geschenkt hat, das alles auslöste. Marlies windet sich, als Evelyn sich hinsetzt und das Heft einfach an sich nimmt, liest und liest, als wäre sie gar nicht im Raum.

Nach unendlichen Minuten klappt Evelyn das Heft zu und fragt: »Das hast du geschrieben?«

Marlies sagt gar nichts.

»Blöde Frage«, weist sich Evelyn selbst zurecht. »Ich habe ja gesehen, dass du es geschrieben hast. Das ist ... einfach fantastisch! Total spannend und sehr erregend! Erinnert mich ein bisschen an das Buch, dass ich dir geschenkt habe. Nein, halt, das ist aber was ganz Eigenes. Das musst du veröffentlichen! Hast du es schon an einen Verlag geschickt?«

Marlies schüttelt den Kopf. An einen Verlag? Daran hatte sie gar nicht gedacht. Das veröffentlichen? Um Himmels willen! Wer würde das schon drucken wollen? Ist ja nur von ihr, der langweiligen Marlies. Ein paar kleine Hirngespinste.

»Hast du noch mehr davon?«

Marlies, bis auf das Halswirbelgelenk starr wie ein Karnickel, das sich tot stellt, nickt.

»Das muss ich lesen! Ich komme heute Abend bei dir vorbei.«

Marlies traut sich nicht, Evelyn zu widersprechen. Wenn es ihre Freundinnen gewesen wären, dann hätte sie vielleicht etwas gesagt. Aber Evelyn – das ist etwas anderes. Evelyn umgibt etwas Geheimnisvolles, etwas Verruchtes. Sie kenne sich aus mit Männern, munkelt man im Dorf, professionell sogar. Der Mercedes mit dem Großstadt-Kennzeichen, der nachts manchmal vor ihrem Haus hält, das ist ja wohl eindeutig und Beweis genug. Durch die Operation Frischluftkur weiß Marlies natürlich, dass an den Gerüchten nichts dran ist, aber dieses Wissen lindert nichts an dem Bild, was sie von Evelyn hat: das der unendlich selbstbewussten Frau. Manchmal wünscht sich Marlies, sie könnte sich wenigstens wünschen, sie wäre so wie Evelyn. Aber das scheint ihr einfach zu weit weg.

Abends um acht klingelt Evelyn bei Marlies. Diese hat Tee mit exotischem Fruchtaroma gekocht, in Knurres Kramerlädchen sind gerade Karibik-Wochen. Auf dem kleinen runden Tisch im Wohnzimmer liegen, exakt aufeinander gestapelt, siebzehn rote Schulhefte, alle bis zum letzten Blatt mit erregter Kleinmädchenschrift vollgeschrieben.

In den perfekt manikürten Händen ihrer Kollegin sehen die Hefte einfach schäbig aus, findet Marlies. Aber Evelyn blättert und blättert und liest und nickt anerkennend. Man könnte sie glatt für eine Expertin in Sachen Literatur halten statt für eine Supermarktverkäuferin mit zweifelhaftem Privatleben.

»Du bist wirklich begabt«, sagt Evelyn schließlich, als könnte sie das ganz selbstverständlich beurteilen. »Darf ich das mal mitnehmen? Ich möchte es einem Freund zeigen.«

Nein, bloß nicht, will Marlies rufen, aber sie ist so geschmeichelt und gleichzeitig so überrumpelt, dass sie das tut, was sie immer tut: Sie sagt gar nichts.

Evelyn wertet das Schweigen als Zustimmung und verstaut die Hefte in ihrer Umhängetasche. Sie nippt an dem Tee, versucht ein wenig mit Marlies darüber zu plaudern, welche exotischen Früchte man da wohl rausschmecken soll, bei ihr würde sich das immer nur so pelzig auf der Zunge anfühlen.

»Passionsfrucht«, sagt Marlies leise, »das Pelzige ist Passionsfrucht.« Aber das Gespräch kommt nicht richtig in Gang, weil Marlies zu schüchtern ist und Evelyn lieber weiterlesen will.

***

»Möchtest du unter deinem richtigen Namen veröffentlichen?«, fragt Evelyn zwei Wochen später, als Marlies gerade das Kühlregal bei Knurres mit neuen Länder-, Jahreszeiten-und Themen-Jogurts auffüllt. Marlies rutscht fast der Wiener Apfelstrudel-Delikatessquark mit 0,1 % Fett aus der Hand.

»Wie bitte?« Immerhin, sie hat mal was gesagt.

»Möchtest du unter deinem richtigen Namen veröffentlichen oder hättest du lieber ein Pseudonym? Ich würde dir ja zu einem Pseudonym raten. Sonst ist hier im Dorf die Hölle los, und es gibt beim Schützenfest wieder einen Eklat in der Sektbar. Erinnerst du dich noch an die Prügelei zwischen Heiner und dem Bürgermeister um Monique? Aber ich schweife ab: Ein Freund von mir ist Lektor bei einem großen Verlag. Der will das, was du geschrieben hast, veröffentlichen. Als Buch. Den Vertrag schickt er dir zu. Jetzt brauchst du nur noch ein Pseudonym – wenn du denn eins willst.«

Marlies überlegt. Ein Pseudonym. Das klingt nach großer, weiter Welt, nach Erfolg, nach Filmstar, nach Geheimnis. Wie wäre es mit Püschel-Knies? Das hat sie mal irgendwo gelesen, das klang gut. Doch dann fällt ihr ein, dass diese Frau eine Heiratsvermittlerin ist, das geht also nicht. Sie starrt auf die Jogurts. Doch auch dort findet sie nicht die nötige Inspiration. Dann denkt sie an ein Spiel, das sie als Kind immer gespielt hat: Wörter rückwärts lesen. Ein stilles, einsames Spiel, aber ihr hat es viel Spaß gemacht.

»Seilram«, sagt sie.

Evelyn guckt sie verwirrt an. »Seiwas?«

»Seilram«, wiederholt Marlies und erschrickt ein wenig über den Nachdruck in ihrer Stimme.

»Seltsamer Name. Aber du bist hier die Künstlerin.«

Eine Künstlerin? Hat Evelyn das wirklich gesagt? Marlies wird ganz warm, trotz des Kühlregals, in das sie ihre Hände streckt und Jogurts abstellt. So hat sie sich selbst noch nie gesehen. Sie hat doch nur hin und wieder ein wenig aufgeschrieben.

***

Der Buchvertrag, der per Post eintrifft, sieht unspektakulär aus, ein schlichtes Schriftstück, in dem es um Rechte und Pflichten und Prozente und etwas geht, was Verramschen heißt. Marlies unterschreibt.

Wochen später hält sie ihr Buch in der Hand. Die Steckrübe steht auf dem Cover, und: Die intime Geschichte einer Landfrau. Darüber, statt eines Autorennamens, Seilram. Einfach nur Seilram. Marlies fährt mit dem Finger über das Buch, blättert es vorsichtig auf, bleibt an einzelnen Sätzen hängen. Das hat sie geschrieben? Sie kann sich gar nicht daran erinnern. Marlies dreht und wendet das Buch, wundert sich, dass ihre Gedanken sich plötzlich so materialisiert haben.

Aber was soll sie nun damit? Sie stellt das Buch ins Regal, nimmt es schnell wieder heraus und schiebt es unter die Matratze. Dort vergisst sie es. Ihre Matratze ist ziemlich hart und Marlies keine Prinzessin auf der Erbse. Sie vergisst es einfach, weil es ihr so unwirklich und fremd erscheint.

Marlies schreibt weiter ihre Schulhefte voll und fühlt sich gut. Zwar nicht wirklich befreit, aber besser.

***

»Nein«, sagt Marlies. Ihre Stimme klingt entschlossen. Sie überlegt, ob sie noch eine Entschuldigungsfloskel dranhängen soll, wiederholt dann aber nur: »Nein.«

Hanna schaut sie verwirrt an. Was ist denn in Marlies gefahren? Sie hat sie doch nur gebeten, ihr zu helfen, die Terrakottatöpfe auf ihrer Terrasse neu zu arrangieren. Eine Knochenarbeit, zugegeben, aber Marlies hat noch nie abgelehnt.

Hanna kann sich nicht erinnern, dass Marlies ihr je widersprochen hätte. Zugegeben, Marlies sagt so gut wie nie etwas, selbst am Telefon kommt sie selten über ein genuscheltes »Hmmm« hinaus, das immer als Zustimmung gewertet werden kann. Deshalb bittet man sie ja so gerne um den einen oder anderen kleineren oder größeren Gefallen. Und jetzt gleich zweimal »nein« …?Hanna ist so perplex, dass sie nicht weiter nachbohrt und sich wortlos Tina und Petra zuwendet, die gerade die Blühpflanzentrends der Saison diskutieren.