Prolog
Die heile Welt der anderen war meine Hölle. Und das werden sie mir büßen! Nichts wird mehr sein, wie es einmal war!
Die Frau mit den bösen Gedanken und dem eleganten Schneiderkostüm – eine Maßanfertigung aus Mailand – tritt ans Fenster ihres Büros im zwölften Stockwerk. Büro ist vielleicht etwas untertrieben, der Raum hat die Ausmaße einer großzügig geplanten Schweinezuchtanlage, wenngleich natürlich mit deutlich mehr Raffinesse. Ausgesuchte Designermöbel. Abstrakte Kunst an den Wänden. Ein hochfloriger Teppich schluckt jedes Geräusch.
So urban wie nur möglich sollte der Stararchitekt die Firmenzentrale des internationalen Mischkonzerns bauen. Das war ihr Wunsch, das hat sie entschieden. Sie, die Chefin. Nun steht der kolossale Bau wie ein Monument zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Zur Linken der historische Dom, zur Rechten ein moderner Bahnhof. Darunter eine sechsspurige Hauptverkehrsader.
Es ist eine eigenwillige Konstruktion aus Glas, Eisen und geöltem sibirischem Lärchenholz. Die Form ist einem Kreuzfahrtschiff nachempfunden – auch wenn böse Zungen behaupten, das Gebäude sehe aus wie ein gestrandeter Wal.
Sie genießt den Blick über die Dächer der Stadt, freut sich über die vielen fremden Menschen, die weit unter ihr die Straßen bevölkern. Unbekannte. Über die kann sie denken, was sie will – und die über sie. Das stört sie nicht. Hier, in der Großstadt, ist man tolerant. Vielleicht ist man sich hier auch einfach egal, was manchmal aufs Gleiche hinausläuft. Nicht wie früher, zuhause.
Sie schüttelt sich bei diesem Wort: zuhause. Ein imaginärer Güllegeruch steigt ihr in die Nase. Heimat? Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter.
In den letzten Monaten hat ein Projekt konkrete Formen angenommen, eine Idee, an der sie schon viele, viele Jahre feilt. Nun rollt sie wie in einer Murmelbahn glitzernd und funkelnd hin und her. Es ist an der Zeit, sie ins Ziel zu bringen.
Die Firmenchefin geht zu ihrem Teakholz-Schreibtisch, dessen Platte ganz mit ekrüfarbenem Straußenleder bezogen ist unpraktisch, da hubbelig, aber schön – und drückt einen Knopf der Telefonanlage.
»Sie wünschen?«, knistert es aus dem Apparat. Die Klangqualität ist nicht überragend, dafür ist das Modell ein designpreisgekröntes Original aus den Sechzigern.
»Schicken Sie mir Edith!«
»Ja, Frau von Gravenberg. Gerne.«
»Und sagen Sie alle Termine für die nächsten zwei Stunden ab.«
»Aber ... Entschuldigen Sie bitte ... In einer Stunde soll Mr. Takashi zu Ihnen kommen. Die Sache mit der Streikniederschlagung in Fernost.«
»Habe ich mich unklar ausgedrückt?« Ihre Stimme muss nicht kalt werden, um eisig zu klingen.
»Entschuldigen Sie bitte.« Die Sekretärin ahnt, dass sie sich sonst sehr schnell zu den Streikenden in den Billiglohnländern gesellen kann. Ihre Chefin ist für vieles bekannt. Nicht aber dafür, dass sie Fehler toleriert. Oder Widerspruch. Oder überhaupt irgendetwas, was nicht zu ihrer vollsten Zufriedenheit läuft. »Keine Termine in den nächsten zwei Stunden.«
Inez von Gravenberg öffnet die obere Schublade ihres Schreibtisches. Dort, neben dem kleinen Telefonbuch, in dem sich die Geheimnummern der einflussreichsten Menschen der Welt finden, und einem aufwendig mit Brillanten verzierten Brieföffner aus Gold, den sie von einem arabischen Scheich bekam, als sie eine ihrer Fabriken in seinem Emirat eröffnete, liegt immer etwas Besonderes bereit. Etwas, was für sie wichtiger ist als jeder neue Multi-Millionen-Dollar-Deal. Sie zieht eine Mohrrübe hervor.
»Mümmel? Mümmel!« Ihre Stimme verfällt in einen bezaubernden Singsang. »Ja, wo ist denn mein kleines Schatzischnuckelchen?«
Vom anderen Ende des Raumes kommt ein weißes
Kaninchen herbeigehoppelt.
***
Fast verpasst Edith die Abfahrt von der sechsspurigen Schnellstraße, über die man direkt in die Tiefgarage der Firmenzentrale gelangt. Sonst kann sie sich hundertprozentig auf ihr Navigationssystem verlassen, doch sie vergisst immer, dass die Tiefgarage von der Software nicht angezeigt wird. Die Chefin soll ein Vermögen für diese direkte Zufahrt ausgegeben haben und dafür, dass sie nirgendwo verzeichnet ist.
Im letzten Moment tritt Edith auf die Bremse und reißt das Steuer herum. Das lässt ihren Adrenalinspiegel nach oben schießen. Gut so! Edith liebt das Abenteuer und stellt sich nur zu gerne vor, sie wäre James Bond bei einer heißen Verfolgungsfahrt.
Ein weiteres Mal müssen die Bremsen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, als der Wagen auf einen Stellplatz schießt und millimetergenau vor der Wand zum Stehen kommt. Edith steigt aus und geht einen mit brasilianischem Schiefer ausgekleideten Tunnel entlang bis zum Fahrstuhl. Das spezielle Beleuchtungskonzept lässt den Gang gleißend hell und trotzdem sehr finster erscheinen.
Im Fahrstuhl singt Frank Sinatra New York, New York. »I can make it everywhere«, summt Edith, passiert das biometrische Erkennungssystem und geht achtlos an einer der zahlreichen Videoinstallationen vorbei, die es überall in der Firmenzentrale zu bewundern gibt. Auf sieben Monitoren schlagen die sieben Weltmeere ihre Wellen. Ein beeindruckender Anblick. Aber nicht für Edith.
Edith ist Außendienstmitarbeiterin für besondere Aufgaben der Teilsektion Germany-32-B. Das bedeutet, dass sie innovative Produkte im Markt platziert. Sie ist gespannt: Was wird sie diesmal erwarten? Ein tolles neues Putzmittel? Eine revolutionäre Augencreme? Oder endlich wieder einmal bahnbrechende Technologie zur Gewinnung erneuerbarer Energien?
Edith ist gespannt – und ehrgeizig. Sie freut sich auf eine neue Herausforderung. Nachdem sie, obwohl selber erst zweiunddreißig, von ihrem Ehemann mit einer Jüngeren (aber keinesfalls Hübscheren) betrogen wurde, hat sie ihre ganze Energie in die Arbeit gesteckt und innerhalb des Konzerns Karriere gemacht. All die Lügen und Heimlichkeiten in ihrer Ehe haben sie zwar bestens auf den beruflichen Aufstieg vorbereitet, aber auch so angewidert, dass sie inzwischen in allen Männern potenzielle Feinde sieht. Umso mehr genießt sie es, dass sie mit zahlreichen Produkten, für die sie zuständig ist, ihren ganz besonderen Radikalfeminismus ausleben kann.
Ihr Mann kam Monate später reumütig zu ihr
zurückgekrochen. Sie hat ihm einen Tritt gegeben (nicht nur einen
symbolischen) und ihn zum Teufel gejagt, besser gesagt zu seiner
Mutter, aber das kommt aufs Gleiche hinaus. Sie schüttelt sich
innerlich, wenn sie an ihn denkt, und das kommt leider immer wieder
vor. Doch dafür ist kein Platz mehr in ihrem Leben. Edith hebt das
Kinn und zieht die Schultern selbstbewusst nach hinten. Jetzt wird
gearbeitet und die Welt verbessert, mit lauter schönen neuen
Produkten.
»Hallo 007, da sind Sie ja endlich!«, wird Edith von der Sekretärin begrüßt, als sie das Vorzimmer betritt.
»Moneypenny«, grüßt Edith zurück, ein alter Scherz zwischen den beiden. »Was gibt es Neues? Ist der Weltmarkt in Gefahr?«
»Hach, James!«, säuselt die Sekretärin, dann kichern beide.
Ein Knistern aus dem kleinen Lautsprecher mahnt zur Disziplin. Die Sekretärin drückt auf einen Knopf und meldet: »Edith wäre jetzt da.«
»Sie meinen: Edith ist jetzt da«, weist Frau von Gravenberg sie scharf zurecht. »Schicken Sie sie herein!«
»Um was geht es diesmal?«, flüstert Edith der Sekretärin zu.
»Keine Ahnung. Die Chefin hat diesmal alles an ihrem Computer selbst geschrieben und ausgedruckt. Da war kein Rankommen. Auch ihre Telefongespräche hat sie eigenhändig gewählt.« Die Sekretärin schüttelt missbilligend den Kopf.
»Ungewöhnlich«, murmelt Edith. Dann betritt sie das Prachtbüro.
Inez von Gravenberg sitzt in ihrem Eames-Chair und krault Mümmel, ihr weißes Kaninchen. Auf dem Kopf trägt sie ein Pillbox-Hütchen, ihr Gesicht wird zur Hälfte von einem schwarzen Tüllschleier verdeckt. Sie gibt sich ihren Angestellten nie vollständig zu erkennen, eine Maßnahme, die zum Schutz ihres Privatlebens dient. Edith kennt diesen Anblick, Inez von Gravenberg präsentiert sich ihr nie anders.
»Heute habe ich einen ganz besonderen Auftrag für meine Lieblingsmitarbeiterin«, schmeichelt die Chefin.
»Um was für ein Produkt geht es?«, fragt Edith.
»Diesmal geht es nicht bloß um ein neues Produkt. Es geht um etwas Größeres, Schöneres. Und um ein Dorf.« Inez von Gravenberg schiebt einen großen Umschlag aus handgeschöpftem Büttenpapier über das Straußenleder des Tisches. »Sie werden verstehen, dass es sich um eine delikate Angelegenheit handelt, die der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegt. Hierin finden Sie alle Informationen, die Sie für den Moment brauchen. Sie werden mir regelmäßig persönlich Bericht erstatten, ich werde Ihnen dann weitere Instruktionen geben und Sie mit allem versorgen, was Sie zur Umsetzung des Plans benötigen.«
Edith nimmt den Umschlag und überlegt, ob sie ihn sofort öffnen soll. Sie guckt ihre Chefin fragend an.
»Möchtest du noch ein Möhrchen?«, säuselt diese.
Edith merkt gerade noch rechtzeitig, dass die
Frage nicht ihr, sondern dem Kaninchen gilt und geht, den dicken
Umschlag fest unter den angewinkelten Arm geklemmt.
Edith zieht sich in einen Konferenzraum zurück, lässt sich dort in einen schweren Ledersessel fallen und beginnt, die Unterlagen zu studieren. Ja, denkt sie. Ja, das ist es! Der Auftrag ist ihr wie auf den Leib geschneidert. Eine knifflige Angelegenheit, aber sie hat schon eine Idee, wie das funktionieren könnte.
Zuerst geht sie ins Labor. Dort lässt sie sich ein paar besondere Wirkstoffe zusammenstellen. Dann fährt sie nach Hause, um ganz in Ruhe den ersten Anruf zu machen.