11. Kapitel:
Der neue Heinz
Dienstag, 16. August
Inez von Gravenberg lächelt zufrieden. Sie knipst ihre Schreibtischlampe an und wieder aus. Und wieder an und wieder aus. Sie bewundert die gelungene Form der Glühbirne. Nicht so ein hässlicher Stab wie diese fiesen Energiesparleuchten, die dreist aus jeder Lampe hervorgucken und so den Gesamteindruck stören. Nein, dieser Leuchtkörper ist dezent und harmonisch gerundet.
Sie knipst die Lampe wieder ein und aus. Sie könnte es immer und immer wieder tun. Sie könnte die Lampe auch an- und niemals wieder ausschalten. Die würde einfach immer weiter leuchten, bei minimalem Energieverbrauch. Ihrer Forschungsabteilung ist es gelungen, die ewige Glühbirne zu entwickeln. Schade, denkt Inez von Gravenberg, schade, dass dieses entzückende Wunderwerk nie in Produktion gehen wird. Aber man muss betriebswirtschaftlich denken. Man muss sich die Kundschaft erhalten. Wer erst mal alle seine Lampen mit der ewigen Glühbirne ausgerüstet hat, braucht dann nie wieder eine neue. Zumal der Dauerbrenner auch robust, nahezu unverwüstlich ist. Inez von Gravenberg weiß, dass sie kurzfristig viel Geld damit verdienen könnte. Aber das lockt sie nicht, denn reich ist sie schon. Ein ganzes Marktsegment würde für immer und ewig zerstört werden. Und das kann und will Inez von Gravenberg nicht verantworten. Als Chefin eines internationalen Mischkonzerns muss sie auch an die Zukunft des Unternehmens denken. Deshalb hat sie nur eine kleine Testserie herstellen lassen, für den eigenen Bedarf in der Firmenzentrale.
Bei einem anderen Projekt – ihrem aktuellen Lieblingsprojekt – hat sie weniger Skrupel. Sie will das größte europäische Wellness-Zentrum bauen. Mit Golfplatz, Boutiquenmeile auf der einen und Designer-Outlet-Stores auf der anderen Seite, historischem Ortskern, überdachter Tropen- und Pool-Landschaft, rundum verglaster Biosphärenschauwelt und, und, und ... Nichts, aber auch gar nichts soll fehlen. Es wird wunderbar werden! Eine eigene, perfekte Welt, in der sich jede Frau wohl fühlt. Wie ein Phoenix wird sich die schöne neue Welt aus der Asche ihrer verhassten Vergangenheit erheben.
Mümmel hoppelt durch das Modell des Wellnesstraums. Er lässt ein paar Hasenködel in der Pool-Landschaft fallen und findet eine Möhre im Gucci-Outlet.
»Ja, mein Süßer, das gefällt dir, nicht wahr?«,
säuselt Inez von Gravenberg.
***
»Guck mal, da drüben«, sagt Tina.
Petra sieht in die angegebene Richtung. »Da sitzt Oma Ellerbrock und häkelt«, sagt sie. »Und?«
»Ich meine doch nicht die Ellerbrock – sondern den Mann!«
Petra sieht noch einmal genauer hin. Und tatsächlich: Ein Mann in schwarzem Anzug schreitet den Rasenstreifen eines nicht bebauten Geländes ab und macht sich Notizen auf einem Klemmbrett. »Dass du aber auch nichts anderes als Kerle im Kopf hast«, rügt sie ihre Freundin grinsend.
»Wie?« Tina schüttelt erstaunt den Kopf. Dann begreift sie. »Ach so ... nein, das meine ich nicht. Wobei – der sieht schon ganz schnuckelig aus. Aber darum geht es nicht. Ich kenne den nicht. Du?«
»Nö. Na und?«
»Wie viele Männer gibt es hier im Dorf, die wir nicht kennen?«
Petra überlegt. Also, schon so ein paar ... oder? »Hmm ...«, macht sie. »So viele sind das wirklich nicht. Aber jetzt, wo du's sagst: Mir sind in den letzten paar Tagen immer wieder Leute aufgefallen, die hier wohl neu sind.«
»Und das findest du nicht merkwürdig?«, will Tina wissen.
»Ich glaube, die Operation Frischluftkur steigt
dir langsam zu Kopf«, vermutet Petra. »Wir sind hier immer noch im
Dorf, nicht bei Akte X.«
Auch anderen fällt auf, das etwas vor sich geht. Im Dorf laufen neuerdings überall geschäftige Herren umher und vermessen Straßen und Plätze. Man wundert sich erst, aber auf den Wagen, mit denen die Herren fahren, steht groß Oberflächenentwässerung und im Schaukasten für Bekanntmachungen der Gemeinde hängt ein Zettel: Die Maßnahmen zur Oberflächenentwässerung gehen weiter. Darunter wird genau erklärt, wann was gemacht wird und weshalb, alles in Beamtendeutsch, deshalb eher langweilig und nicht wirklich verständlich. Spannender ist da schon die Ankündigung von Dreharbeiten, die demnächst im Dorf stattfinden sollen.
Einer der fremden Herren wird fast von Zitterkalle mit dem Trecker überfahren. »Was haben Sie auch auf einer Wiese zu suchen?«, ruft er grummelig. »Hier ist ja nun wirklich keine Oberflächenentwässerung nötig.« Der Anzugträger murmelte etwas von »Regenrückhaltebecken« und verschwindet dann schnell in einem Gebüsch. Komisch, denkt Zitterkalle und fährt weiter über die Felder.
Ob er nachher noch auf einen Sprung in den Dorfkrug gehen soll? Vielleicht ist jemand da, der ihm ein paar Bier ausgibt ... obwohl das in letzter Zeit immer seltener vorkommt. Zitterkalle weiß nicht, woran es liegt, aber es kommt immer wieder vor, dass er im Dorfkrug keinen seiner alten Bekannten antrifft. Die scheinen immer seltener dort zu sein. Klara weiß auch nicht, was los ist.
Weil Zitterkalle so in Gedanken versunken ist, übersieht er fast sein zweites potenzielles Opfer des Tages. Ein junger Mann, der mit einem Fernglas am Feldrand hockt, hat den herannahenden Trecker nicht bemerkt (obwohl das fast unmöglich ist, bei dem Lärm, den das altersschwache Ding macht).
»Langsam reicht mir das«, grummelt Zitterkalle. »Ihr Anzug-träger habt hier nichts verloren.« Dann stutzt er. Der junge Mann trägt gar keinen Anzug. Er sieht eher ein bisschen exotisch aus mit seinen merkwürdigen Haaren und den unkonventionell gemusterten Klamotten.
»Tut mir leid«, ruft der Feldrandhocker. »Aber schön, dass ich Sie treffe. Ich würde mich gerne mal mit Ihnen über naturnahes, faunaverträgliches Mähverhalten unterhalten.«
»Schön, schön«, murrt Zitterkalle und öckelt mit seinem Trecker weiter. Er hat keine Zeit, die er verschwenden könnte. Manchmal ist das auch ein Stress im Sommer. Die ganzen Gräber, die er ausheben muss! Bei der Hitze sterben die Leute wie die Fliegen. Und dann noch die Extraschichten bei Salat-Montag. Zum ersten Mal seit zig Jahren hat der keine osteuropäischen Billiglohnkräfte auf seinen Feldern. Niemand weiß so genau warum. Nicht mal Wilma, die immerhin aufklären konnte, wieso Hermann Montag seit einiger Zeit immer aussieht, als habe er gerade in eine Zitrone gebissen: Sein Sohn ist von zuhause ausgezogen, um die Tochter von Puff-Kappel zu heiraten. Mit einem plötzlichen Anflug von Vergnügen tritt Zitterkalle das Gaspedal ganz durch. Er freut sich, wenn junge Menschen glücklich werden. Vielleicht auch deshalb, weil er selbst nicht mehr daran glaubt, dass das bei ihm noch mal was wird.
Hat er eigentlich noch Bier zuhause?
***
Drei der vier Freundinnen haben derweil ganz andere Sorgen. Ihre Männer benehmen sich immer seltsamer.
»Ich weiß auch nicht«, jammert Hanna. »Seit dem Seminar ist er nicht mehr der Alte. Das ist ja einerseits gut, aber andererseits ... na ja ...«
»Aber du wolltest doch, dass er sich ändert«, sagt Petra.
»Ja, aber nicht so«, antwortet Hanna. »Der wirkt ein bisschen wie ferngesteuert.«
Was sie genau damit meint, wird den anderen klar, als sie Hannas akkurat gepflegten Vorgarten verlassen und ins Haus eintreten.
Heinz steht im Flur. Er trägt eine geblümte Kittelschürze, ein Kopftuch und Gummihandschuhe. In der Hand hält er einen Feudel, vor ihm steht ein Eimer mit einer schaumigen Flüssigkeit.
Marlies, Petra und Tina gucken entgeistert erst ihn, dann Hanna an. Heinz putzt?
»Hallo, Schätzchen«, flötet er. »Wie nett, dass du Besuch mitgebracht hast! Aber ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet, sonst hätte ich mich doch ein bisschen zurechtgemacht! Zieht bitte eure Schuhe aus und setzt euch schon mal ins Wohnzimmer, ich mach uns schnell ein paar Schnittchen!
Hanna ignoriert ihren Gatten und scheucht die Freundinnen ins Bügelzimmer.
»War das Heinz?«, fragt Tina irritiert. »Dein Mann, auch bekannt als der alte Kotzbrocken?«
»Ja, ich hab euch doch gesagt, dass der seit dem Seminar ein wenig merkwürdig ist«, sagt Hanna. Ihr ist das Thema unangenehm.
»Merkwürdig ist gut«, kichert Tina. »Der sieht aus wie meine Schwiegermutter ... und klingt auch so.«
»Also, ich finde, er erinnert mich eher – bitte, nimm es mir nicht übel – an, äh ... an Hanna«, sagt Petra. »So, wie sie früher war.«
»Hmpf«, macht Hanna leicht beleidigt. Aber sie weiß genau, dass Petra Recht hat. Immer, wenn sie Heinz anguckt, denkt sie, sie schaut in einen alten Spiegel. Zuerst, direkt nach dem Seminar, fand sie Heinz perfekt. Er war so aufmerksam, so freundlich. Doch dann fing er an zu putzen. Genau wie Hanna. Es gab erste Territorialstreitigkeiten. Ihre Putzmittel verschwanden nach und nach, die von Fresh&Clean schien Heinz zu bevorzugen. Inzwischen ist ihr Mann ein richtiger Putzteufel. Er kommandiert sie nicht herum, nein, das nicht, und er benutzt auch keine Kraftausdrücke mehr. Aber sein Blick ist so seltsam. Er sieht sie an, als wäre sie ein Häufchen Vogelkacke auf dem frisch gedeckten Kaffeetisch. Er guckt verächtlich und doch gleichzeitig leer. Ein wenig, als wäre er eine Art Haushaltsroboter in Heinz-Verpackung. Manchmal ertappt sich Hanna bei dem Wunsch, sie hätte gerne den alten Heinz zurück. Den berechenbaren Macho. Aber das kann sie ja unmöglich vor ihren Freundinnen zugeben.
»Paul ist in letzter Zeit auch immer so ... wie soll ich sagen«, fängt Tina plötzlich an, »eigenartig.«
»Wie – eigenartig?«, fragt Petra. Sollen doch die anderen reden. Wird sie etwa auch zugeben müssen, dass Henning sie mit seiner neuen Aufmerksamkeit fast erdrückt? Ständig heißt es Schatzi hier und Schatzi da und was machst du gerade? Vorbei ist es mit ihrer Ruhe. Alles will Henning mit ihr zusammen machen, noch nicht mal mehr den Müll bringt er alleine raus. Immer öfter schleicht sich Petra aus dem Haus, um seinem Liebesgesäusel zu entkommen.
»Was ist mit Paul?«, fragt jetzt auch Hanna.
»Na ja«, windet sich Tina. »Er hat keine Kopfschmerzen mehr.«
»Das ist doch gut«, sagt Petra.
»Du verstehst mich nicht. Er hat nie Kopfschmerzen!« Petra, Marlies und Hanna sehen Tina an. Ihr Blick sagt eindeutig: Ja, und?
»Er will immer!«, empört sich Tina. »Wo er geht und steht. Ich kann noch nicht mal mehr in Ruhe Möhren schrabben. Ständig winkt er mit seinem Zaunpfahl!«
»Aber genau das wolltest du doch!«, entgegnen Petra und Hanna. Marlies grinst in sich hinein. Sie denkt an ihre neue Liebe, die Schreiberei, und dass sie froh ist, dass dabei kein Mann im Spiel ist. Man sieht ja, was das für Folgen haben kann.
»Ja, natürlich wollte ich das. Aber es ist doch das Schlimmste, was einem passieren kann: Dass die eigenen geheimen Wünsche wahr werden! Bei zu viel Realität bleibt die ganze Fantasie auf der Strecke.«
Die anderen müssen kichern.
»Außerdem hat er immer so ein kleines Fläschchen dabei, an dem schnüffelt er. Ich konnte noch nicht erkennen, was genau draufsteht. Sieht zwar aus wie Reinigungsmittel«, fügt Tina hinzu, »aber ich befürchte, das ist irgend so eine Sexdroge.«
»So etwas hat Henning auch«, wundert sich Petra. »Allerdings will der nur vierundzwanzig Stunden Dauerkuscheln.«
»Kleines Fläschchen? Heinz habe ich nicht mehr ohne große Putzmittelflaschen gesehen, seit er vom Seminar zurückgekommen ist«, empört sich Hanna.
»Also, wenn ihr mich fragt: Da ist etwas schiefgelaufen«, sagt Marlies. »Und wir müssen herausfinden, was es ist.«
Die anderen gucken sie verwirrt an. Früher hat Marlies nie etwas gesagt. Damit hatte man sich arrangiert. Aber neuerdings gibt ihre ehemals stumme Freundin Dinge von sich, die darauf rückschließen lassen, dass sie eine eigene Meinung hat.
Und dass sie noch dazu Dinge bemerkt, die sonst
nie jemandem auffallen. Das ist fast noch unheimlicher als das
merkwürdige Verhalten der Männer.
***
»Hallo, das ist der Anschluss von Marlies. Ich bin zurzeit nicht zuhause. Bitte hinterlasst eine Nachricht nach dem Piep, ich rufe garantiert zurück.«
Von wegen! Edith ist frustriert: Marlies reagiert nicht auf die Aufforderungen, in die Firmenzentrale zum The-new-me-Kurs zu kommen. Deshalb hat Edith sich schon einen Rüffel von Inez von Gravenberg eingehandelt. Dabei war Marlies eine so viel versprechende Kandidatin. Nach dem ersten Zwischenbericht an Frau von Gravenberg hat diese gesagt: »Diese Marlies, mit der habe ich etwas vor. Edith, es war eine blendende Idee von Ihnen, ihr dieses The-new-me-Seminar vorzuschlagen. Marlies nehmen wir in eine unserer Spezial-Fortbildungen rein. Und wenn sie sich da gut macht, haben Sie bald eine Assistentin.«
Das Lob hat Edith stolz gemacht. Sie hat die
kleinen Schultern noch straffer nach hinten gereckt und sich den
glatten Pagenkopf ein wenig glatter gestrichen. Doch nun gelingt es
ihr einfach nicht, Marlies zu diesem Seminar zu bewegen. Sie soll
ja schließlich freiwillig kommen. Auf all die verlockenden
Einladungen reagiert sie einfach nicht. Zunächst hat Edith gedacht,
das kleine Mauerblümchen wäre zu schüchtern, um den
Anrufbeantworter abzuhören. Aber die neu aufgenommene Bandansage
beweist, dass Marlies offensichtlich keine Angst vor dem Umgang mit
der Technik hat. Überhaupt scheint sie weniger ängstlich und
schüchtern zu sein.
***
Marlies sammelt die Seminareinladungen in einer Schublade. Wer weiß, denkt sie, vielleicht brauche ich das irgendwann ja doch noch mal. Aber im Moment möchte sie auf gar keinen Fall ein anderer Mensch werden oder ein neues Ich entdecken. Jedenfalls nicht mit fremder Hilfe, zweifelhafter noch dazu. Sie spürt, dass sie schon auf dem richtigen Weg ist. Auf dem Weg zu sich selbst. Vielleicht sollte sie Edith das klipp und klar sagen? Die kommt ja morgen ins Dorf, weil Hanna, Tina und Petra mit ihr über das merkwürdige Verhalten ihrer Männer sprechen wollen.
»Macht euch keine Gedanken, das ist vollkommen normal. Ein integraler Bestandteil des Seminars, so ein bisschen wie Hausaufgaben, die von den Männern noch erledigt werden müssen. Gehört alles zum Aufmerksamkeits- und Feinmotoriktraining«, erklärt Edith. »Die sogenannten Soft Skills, also die femininen Seiten der Seminarteilnehmer, werden gestärkt, um die Harmonie zwischen den Geschlechtern zu fördern. Eure Männer loten gerade ihre innere Frau aus. Und wenn sie damit fertig sind, werden sie wieder wie früher ... nur eben besser. Ausgeglichener. Vollkommener.«
Die Freundinnen nicken. Was soll man dagegen schon sagen.
»Aber die Männer sind so seltsam«, begehrt Hanna doch noch einmal auf. »Wie ferngesteuert.« Sie kann sich ja schlecht darüber beklagen, dass Heinz putzt.
»Phasenweise kann es bei der Aneignung der Soft Skills zu Überreaktionen kommen, dem sogenanntem Overachievement. Das ist aber, wie gesagt, vorübergehend. Ich hake auch gerne mal bei unserem Seminarzentrum in Bielefeld nach«, beruhigt Edith die Freundinnen.
Trotzdem bleiben die vier ein wenig misstrauisch zurück.
»Bielefeld. Sie hat Bielefeld gesagt«, sagt Petra.
»Na und?«, fragt Tina.
»Ich habe neulich im Fernsehen eine sehr interessante Sendung gesehen. Da hieß es, Bielefeld sei nur erfunden. Eine Schein-Stadt. In Wirklichkeit gibt es Bielefeld gar nicht«, sagt Petra.
»Du sollst nicht immer so viel Privatsender gucken«, mahnt Hanna.
»Das war im Ersten Programm«, verteidigt sich Petra. »Und: Kennst du jemanden aus Bielefeld?«
»Natürlich kenne ich niemanden aus Bielefeld«, antwortet Hanna.
»Siehst du!«, triumphiert Petra.
»Niemand von uns kennt jemanden aus Bielefeld«, meldet sich Marlies ruhig zu Wort.
»Ja, genau!«, ruft Petra.
»Wir kennen doch sowieso kaum Leute außerhalb des Dorfes – und der Nachbardörfer vielleicht noch. Uns könnte man auch erzählen, dass es München nicht gibt. Kennt eine von euch jemanden aus München?«, fragt Marlies in die Runde. Sie verschweigt lieber, dass ihr Verlag dort ansässig ist.
Kopfschütteln.
»Siehst du«, übernimmt Hanna wieder. »Du wirst doch nicht an solche verschwurbelte Verschwörungstheorie glauben? Außerdem ist es doch völlig egal ob es Bielefeld nun gibt oder nicht.«
»Das sagst du so. Die armen Bielefelder sehen das bestimmt anders«, sagt Petra etwas mürrisch.
»Wie sollen die das schon sehen – die gibt es doch gar nicht.«
Die Erheiterung kann über eins nicht hinwegtäuschen: Edith wird den Freundinnen langsam suspekt. Sie weiß auf alles immer viel zu schnell eine Antwort, meistens eine, die sie nicht ganz verstehen. Aber sie trauen sich auch nicht, nachzufragen und sich diese Blöße zu geben. Außerdem haben sie Edith so viel zu verdanken: die ganze Überwachungstechnik, ihr neues Selbstbewusstsein, seit sie wissen, dass Monique und ihr Hofstaat auch nur mit Wasser kochen. Das tolle Gefühl, über alles Bescheid zu wissen. Ja, manchmal kommen sie sich schon wie frisch dem Schaum entstiegene Göttinnen vor, die das Geschehen in ihrer kleinen Welt überwachen und, wenn es nötig ist, mit gütiger Hand eingreifen.
Hanna und Tina sind immer noch glücklich darüber, die Liebe von Romeo und Jule gerettet zu haben. Tina entdeckt dadurch eine neue Berufung: ein Liebesengel will sie sein, eine geschickte Kupplerin im Dienste Amors. Die Püschel-Knies des Dorfes. Sie hat auch schon eine Kartei mit potenziellen Vermittlungskandidaten angelegt. Ihre neue Spezialrubrik Externe Neuzugänge macht ihr ein wenig Sorgen. Die wird immer voller, doch über diese Oberflächenentwässerungstypen ist einfach nicht genug herauszukriegen. Die Größe und das Alter kann sie einigermaßen schätzen. Aber welche Hobbys haben sie? Vorlieben, Abneigungen? Nichts. Bislang hat sie nur Fotos, noch nicht mal Namen. Das kommt ihr langsam seltsam vor.
Viel mehr ist über den jungen Mann, der seit ein paar Tagen bei Gunde Helmrichs zu Besuch ist, auch nicht herauszufinden. Angeblich ist er ihr Großneffe. Er interessiert sich sehr für die Natur und hockt oft mit einem Fernglas am Feldrand herum und macht sich Notizen. Ansonsten ist er eher still und unauffällig. Er heißt Thomas, ist Mitte zwanzig und trägt Cargo-Hosen, in deren unzähligen Taschen man den halben Hausstand seiner angeblichen Großtante verstauen könnte, dazu T-Shirts in Farbe und Muster einer Femsehbildstörung. Seine dunklen Haare sind zu Dreadlocks verzwirbelt und nach oben zu einem Zopf gebunden, der seinem Kopf das Aussehen einer Ananas gibt. Der Junge mit den immer ein wenig verträumt schauenden Augen will, so hat Tina erfahren, Wale retten und das Absterben des Great Barrier Reefs in Australien aufhalten. Warum er aber ins Dorf gekommen ist, wo die Walpopulation ähnlich gering ist wie das Vorkommen von Korallenbänken, erfuhr Tina durch Zufall von Gunde Helmrichs, als sie Marlies bei Knurres besuchen wollte: Thomas interessiert sich für das Brutverhalten des Wachtelkönigs, jenes eher unscheinbaren Geflügels, das ums Dorf herum immer wieder gehört wird. Wesentlich ergiebiger als diese Information sind die Erkenntnisse über Thomas' Musikgeschmack: Mit einem alten Walkman hört er abends Kassetten von George Michael und die weitgehend unbekannte Jazzplatte von Nana Mouskouri.
Kurz: Thomas ist genau das, worauf Tina gewartet hat. Endlich ein passender Kandidat für – nein, nicht für Marlies. Die ist in letzter Zeit so selbstbewusst geworden. Und als Tina ihr vor einer Woche einen brandheißen Kandidaten aus ihrer Kartei andiente – selbstständiger Wintergartenmonteur, solide Bausparverträge, romantische Neigungen (bewiesen durch Kuscheltiere auf dem Bett, mit denen er jeden Abend redet), nur ein winzig kleiner Sprachfehler – sagte Marlies doch glatt: »Ach, nöö, danke.« Da kann Tina nichts machen.
Ihr anderes Sorgenkind ist Kai, der schwule Feuerwehrmann. Nicht, dass der Betreffende etwas davon wüsste, dass er ein Sorgenkind ist, Tina ist sehr diskret. Niemand außer ihren Freundinnen weiß von der Kartei und ihren Bemühungen, Ehen oder zumindest eheähnliche Gemeinschaften zu stiften.
Kai hat sie schon unzählige Dates vermittelt, ihn mit den hübschesten, intelligentesten, witzigsten Mädchen des Dorfes zusammentreffen lassen. Kein Erfolg. Sie hat ihn bei Schulmädchen als Nachhilfelehrer eingesetzt, ihn zum Rasenmähen bei einer Geschiedenen geschickt, alle Altersklassen durchprobiert, nichts hat funktioniert. Kai war immer höflich, hat sich immer gut angestellt, die Kundinnen (Tina nennt alle Leute in ihrer Kartei Kunden, im Gespräch mit ihren Freundinnen rutscht ihr aber auch schon mal Patienten raus) waren stets zufrieden, aber es hat niemals gefunkt.
Als sie alles weibliche Pulver ihrer Kartei verschossen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass die Regenbogenfahne in Kais Zimmer nicht nur ein dekoratives Element und die T-Shirts mit Aufdrucken wie Nobody knows I'm gay mehr als nur modischer Schnickschnack sind. Tina irritierte dies zunächst. Es erschien ihr seltsam, dass ein Mann einen anderen Mann lieben kann, denn sie vertritt eher die Gegensätze-ziehen-sich-an-Theorie. Und in ihren Augen sind Männer doch im Grunde genommen alle gleich. Letztlich ist aber nicht Kais Orientierung das Problem, sondern die Tatsache, dass die Vermutlich-schwul/lesbisch-Kategorie ihrer Kartei schlecht bestückt ist. Unter lesbisch führt sie bloß Frau Grötke aus dem Landfrauen-Häkelkränzchen, aber auch nur, weil die immer sagt: »Die Männer können mir alle gestohlen bleiben.« Und bei schwul findet man nur Helmut, weil er sich heimlich die Haare färbt, und Paul, ihr eigener Mann, weil sie dem inzwischen alles zutraut. Sie wird ihn natürlich nicht vermitteln und hat ihn eigentlich nur mit aufgenommen, damit diese Rubrik nicht so leer aussieht.
Weil sich in ihrer Kartei also nichts Passendes fand, hat sie es auf gut Glück mit ein paar anderen Jungs von der Feuerwehr versucht. Sie hat zweideutige Notizen verfasst, die sie Kai zuspielte (im Fälschen von Handschriften ist sie inzwischen ein Ass), Viererverabredungen organisiert, bei denen die Mädchen kurzfristig ausgeschaltet wurden (die Dosierung und Verabreichung der K.o.-Tropfen beherrscht sie wie keine Zweite). Doch damit hat sie Kai nur zu unglücklichen, da unerwiderten Schwärmereien verleitet. Diesmal muss also alles richtig laufen.
Um Thomas zu testen, lässt sie die attraktivsten Kandidatinnen aus der Kartei auf ihn los. Selbst Monique und ihrem Hofstaat spielt sie ihn in die aufwendig, aber leider nicht geschmackvoll manikürten Finger ( in Moniques Salon sind gerade Nail-Art-Days). Thomas, der Neuzugang, lässt die ungewohnten Reize, die auf ihn einprasseln, locker abperlen. Er wirkt wie imprägniert.
Für den ultimativen Abschlusstest hat sie Paul zwangsverpflichtet und ihn in einer neuen, hautengen Jeans und einem schmal geschnittenen, dafür weit geöffneten Hemd durch Knurres Kramerlädchen flanieren lassen. (Ihm gegenüber hat sie behauptet, das würde sie total scharf machen.) Marlies wäre vor Schreck fast in die Kühltheke gefallen, als Paul wie ein Dressman auf dem Laufsteg an ihr vorbeistolzierte. Etliche Landfrauen haben sich mehr als interessiert nach ihm umgesehen (die Namen hat Tina natürlich zur weiteren Recherche notiert). Und auch Thomas' Blick wurde von Pauls sportgestähltem Gesäß angezogen.
»Der interessiert sich zwar nicht für Frauen, aber eindeutig nicht nur für Wiesenrallen und Wachtelkönige«, verkündet Tina ihren Freundinnen beim nächsten Treffen.
»Das ist dasselbe«, korrigiert Petra.
»Äh ... wie bitte?«
»Wiesenralle ist nur ein anderer Name für Wachtelkönig. Man kann auch Knarrer oder Schnärz zu ihr sagen.«
»Ich sag da gar nichts zu, die Biester interessieren mich nicht. Ich will, dass Thomas sich in Kai verliebt! Und umgekehrt natürlich auch, sonst bringt das ja nichts.«
Marlies ist erleichtert, dass Tina mit anderen Patienten beschäftigt ist.
»Und wie willst du das machen?«, fragt Hanna skeptisch. »Hast du einen Plan?«
»Natürlich!« Tina grinst zufrieden. »Kai will doch immer Menschen retten.«
»Genau wie ich!«, nickt Hanna.
»Also werde ich ihm die Gelegenheit dazu geben. Und Gefahr ist ein guter Katalysator für romantische Gefühle.«
»An was denkst du?«, fragt Petra skeptisch.
»An eine brennende Scheune, aus der Kai den bewusstlosen Thomas auf seinen starken Armen hinausträgt ...«
»Oh nein, das wirst du nicht tun!«, mahnt Hanna.
»Dann vielleicht ein reißender Fluss, aus dem Kai Thomas rettet, beide fast nackt – oder meinetwegen auch ganz –, Haut an Haut, eng umschlungen ...«
»Wir haben hier nur den Badeteich«, erinnert sie Hanna. »Zitterkalle wäre im Winter zwar fast darin abgesoffen, aber im Sommer ist da noch nie was passiert. Das soll auch so bleiben.«
»Aber wie wäre es mit ...«
Petra schaltet sich ein: »Vielleicht könntest du ihn von wild gewordenen Wachtelkönigen attackieren lassen, wie in dem Film Die Vögel?«
»Kommt gar nicht in Frage!«, sagt Hanna. »Eine Fahrradpanne ist das Gefährlichste, was ich dir gestatte. Nachher passiert noch was.«
»Gute Idee! Ich denke an gerissene Ketten, verbogene Lenker, Sturzfahrten ohne Bremse ...« Tina malt es sich in ihrem Kopf aus.
»Fahrradpanne, sagte ich«, erinnert Hanna sie. »Nicht Fahrradunfall. Ein platter Reifen ist okay. Aber nichts, während er fährt.«
»Nur ein platter Reifen?« Tina ist enttäuscht.
»Na ja. Besser als nichts. Dann probiere ich es mal
damit.«
Tina robbt, mit einem grasgrünen Sommerkleid und ein paar Ästen in den Haaren kunstvoll getarnt, an Thomas' Fahrrad heran, das ein paar Meter von ihm entfernt in einem Graben liegt. Während der Nichtsahnende die Felder vor sich mit dem Fernglas überwacht (Tina hat ihm über Marlies, die sich erst gewunden hat, und Gunde Helmrichs das Gerücht zugespielt, dass hier besonders viele Wachtelkönige anzutreffen sind), sticht sie mit einer spitzen Nadel in den Schlauch des hinteren Reifens, damit die Luft entweichen kann.
Als Thomas ein paar Stunden später vom Feldrand zu seiner Großtante radeln will, entdeckt er den Platten. Er nimmt sein Flickzeug aus der Satteltasche und repariert den Reifen. Genau drei Minuten bevor Kai wie jeden Nachmittag auf dem Weg nach Hause an dieser Stelle vorbeikommt, radelt er davon.
»Ach nein, das Flickzeug, daran habe ich ja gar nicht gedacht«, ärgert sich Tina, als sie ihren missglückten Kupplungsversuch auf dem Bildschirm beobachtet.
»Na, wenigstens ist nichts Schlimmes passiert«, atmet Hanna erleichtert auf.
»Ich probiere es einfach noch mal.«
Am nächsten Tag präpariert sie nicht nur den Reifen, sie entfernt auch das Flickzeug und alles, was Werkzeug ähnlich sieht.
Thomas entdeckt den Platten, findet sein Flickzeug nicht, wundert sich ... und lässt sich von Zitterkalle mitnehmen, der zufällig mit Trecker und Anhänger vorbeikommt.
Tina tobt.
»Sonst kriegt Zitterkalle doch auch nichts auf die Reihe, aber hier den barmherzigen Samariter spielen!«, regt sie sich auf.
»Du bist doch nur sauer, weil er dir den schönen Plan vermasselt hat«, grinst Petra.
»Gut, dass nichts passiert ist«, sagt Hanna.
Tina probiert es noch einmal. Thomas schiebt das Rad nach Hause zu seiner Großtante. Einfach so. Scheint ihm gar nichts auszumachen. Und Kai hat ausgerechnet an diesem Nachmittag eine spontan angesetzte Feuerwehrübung.
»Ich glaube, du musst das irgendwie anders anpacken«, sagt Petra.
Tina nickt. Langsam glaubt sie das auch. »Vielleicht ein klitzekleiner Unfall?«, fragt sie in Richtung Hanna.
»Nein, auf keinen Fall!« Hanna bleibt streng.
»Infostand!«, murmelt Marlies. Die anderen schauen sie fragend an. »Kai macht doch gerne Infostände zum Thema Sicherheit im Straßenverkehr.«
»Das ist super!«, jubelt Tina. »Ich werde ihn mit Informationen über die Notwendigkeit des Tragens von Fahrradhelmen versorgen und ihn dann einen Stand an der Strecke aufbauen lassen, die Thomas immer nimmt.«
»Mitten in den Wiesen? Am Feldrand? Das macht der nie!«, glaubt Petra.
»Wenn der Auftrag von Ortsbrandmeister Sörens kommt, dann schon. Ich fädele das ein«, sagt Tina.
Drei Tage später baut Kai seinen selbst gezimmerten Infostand auf dem staubigen Feldweg auf. Er glaubt, das sei ein Testlauf für Du & Deine Welt, und wenn er gut ist, darf er im nächsten Jahr bei der Messe dabei sein – als Aussteller. Ein paar Fahrradhelme hat er auch dabei, eine Firma hat ihm überraschend angeboten, ihn damit auszustatten. Tina hat an alles gedacht (und Edith ein bisschen unter Druck gesetzt).
Nun steht er da und wartet. Niemand kommt. Aber Kai ist geduldig. Zwei Herren von der Oberflächenentwässerung gehen vorbei.
»Hallo, Sie, entschuldigen Sie bitte, dürfte ich Sie kurz über Sicherheit beim Fahrradfahren informieren?«, fragt Kai.
Die Herren gucken streng. »Siehst du hier irgendwo ein Fahrrad?«, fragt einer zurück.
Muss ja nichts heißen. »Nein, aber ...«
»Nichts aber!«, herrscht ihn der eine Mann an. Unangenehme Zeitgenossen. Kai gibt auf und lässt sie weitergehen.
Ein Mädchen, circa zehn Jahre alt, radelt vorbei. Sie ist auf dem Weg zum Ponyhof und trägt schon ihren Reithelm. Die ist gut ausgerüstet, da besteht kein Beratungsbedarf. Kai seufzt und setzt sich neben seinen Stand. Er kommt sich ein wenig dämlich vor, hier mitten in der Pampa Beratungsgespräche führen zu wollen. Überhaupt, diese ganzen Verkehrssicherheitssachen gehen ihm manchmal ziemlich auf die Nerven. Aber was soll er machen? Er braucht etwas, für das er anerkannt wird. Für ihn als einzigen bekennenden Homosexuellen ist es hier im Dorf nicht leicht. Offiziell hat natürlich niemand ein Problem mit ihm. Und nach einem Jahr hat sich sogar der erste Kamerad von der Freiwilligen Feuerwehr wieder mit ihm unter die Dusche getraut. Aber das ist keine Akzeptanz, nur ein Hinnehmen. Oder sogar noch weniger. Die meisten Leute hier blenden die für sie unliebsame Information einfach aus. Bestes Beispiel: seine Mutter. Die versucht immer noch, ihn an die Frau zu bringen. Und manchmal, wenn er sich einsam und allein fühlt, denkt Kai fast, dass das die beste Lösung wäre. Dann würde dieser stumme Druck, der von allen Seiten auf ihn einwirkt, weichen. Dann würden ihn die Leute endlich akzeptieren. Zwar nicht so, wie er ist ... aber so, wie sie ihn haben wollen.
Kai muss an dieses Lied denken, I am what I am von Gloria Gaynor. It's my world / That I want to have a little pride in / My world / And it's not a place I have to hide in, singt sie. Ach ja? Kai merkt, wie sein Hals eng wird, als würde ihm jemand eine Schlinge darum legen. Frau Gaynor hat offensichtlich nie in einem Dorf gelebt.
Eine halbe Stunde passiert gar nichts. Dann kommt Thomas. Er lässt sich gerne von Kai anhalten.
»Hey, so eine Aktion hier, finde ich gut!«, lobt er. »Habe ich auch schon mal gemacht. Aber für Kröten.«
»Für Geld?«, fragt Kai irritiert. Er mustert sein Gegenüber. Der sieht ziemlich wild aus. Also, exotisch. So würde er nie auf die Straße gehen. Nicht auszudenken, was die Nachbarn sagen würden! Die sehen bei diesem Fremden sicher nur die merkwürdigen Haare und schrägen Klamotten und wissen schon, was sie über ihn zu denken haben. Und weiterzuerzählen.
Aber seine Augen, schießt es Kai durch den Kopf, die bemerkt wahrscheinlich niemand. Schöne Augen. Sanfte Augen.
»Nee, für richtige, echte Kröten. Damit die Tunnel bekommen und nicht alle platt gefahren werden. Die brauchen echte Überlebenschancen«, klärt Thomas ihn auf.
»Und damit du eine echte Überlebenschance
hast«, greift Kai das Thema geschickt auf, »würde ich dir dringend
zu einem Fahrradhelm raten.« Er hält einen engagierten Vortrag über
Knautschzonen, die weder das Fahrrad noch der Kopf haben und
skizziert drastisch, was alles passieren kann. Er redet und redet.
Und hat dabei doch eigentlich einen ganz anderen Gedanken. Er
schickt ein Stoßgebet gen Himmel: Mach,
dass der Mann mit den schönen Augen nicht weggeht. Mach, dass er
sich für einen dämlichen Schutzhelm interessiert und ich ihn noch
ein bisschen ansehen kann!
***
Thomas lauscht gebannt. Der ist wie ich noch vor ein paar Jahren, denkt er. Idealistisch, bedingungslos an die Sache glaubend. In ihm sieht er die Glut lodern, die er in sich selbst fast zu kalter Asche hat werden lassen. Er wollte wieder zu sich selbst finden, deshalb hat er diesen Auftrag hier auf dem Land angenommen. Eine gemächliche Sache, genau das richtige, um mal abzuschalten. Dass er sich als Verwandter einer netten älteren Dame ausgeben muss, findet er zwar merkwürdig, aber was soll's. Viel wichtiger ist ihm, wieder zu sich zu finden. Und das geht auf dem Land angeblich so gut. Weil es hier so friedlich ist und nichts gibt, was einen ablenkt. Nun wird er schon seit zwei Wochen von nichts abgelenkt. Das hat ihn allerdings auch nicht weitergebracht.
Doch jetzt steht dieser Junge vor ihm. Und Thomas fühlt sich, trotz seiner Dreadlocks und seiner Klamotten, wie ein Greis. Älter als die Damen aus dem Landfrauen-Häkelkränzchen, die bei seiner Wirtin ein und aus gehen.
Aber es ist nicht nur die Begeisterung, die der Junge ausstrahlt, oder sein – zugegebenermaßen ausgesprochen ansprechendes – Aussehen, das Thomas hier, auf dieser verlassenen Landstraße, das Gefühl vermittelt, in einen Schwarm Schmetterlinge geraten zu sein. Thomas will diesen Jungen – nein, korrigiert er sich, diesen Mann – kennenlernen. Er möchte ihm nahe kommen, um sich vielleicht endlich nicht länger selbst fern zu sein.
Thomas lässt sich von Kai einen Fahrradhelm aufschwatzen.
»Warte, ich zeige dir, wie man ihn richtig einstellt«, sagt Kai und stellt sich neben Thomas. Der nimmt den Helm und setzt ihn sich auf den Kopf. Passt nicht, stellt er fest, sein Ananas-Zopf ist im Weg.
»Tja ... also ... scheint wohl doch nicht für
mich gedacht zu sein«, sagt Thomas etwas unsicher.
***
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, flucht Tina vor dem Bildschirm. »Ich habe nicht an seine Haare gedacht!« Sie muss sich eingestehen, dass ihr Plan vielleicht doch nicht ganz ausgereift ist. Dabei sah es doch so gut aus – die Blicke, die sich die beiden Männer zugeworfen haben, sprachen Bände!
Petra und Hanna kleben förmlich vor dem
Bildschirm. Marlies macht sich unauffällig Notizen.
***
»Nimm doch einfach das Zopfgummi raus«, sagt Kai.
»Was soll ich?« Thomas ist erstaunt.
»Das Zopfgummi rausnehmen«, sagt Kai. Und dann sprudelt es plötzlich aus ihm heraus: »Was nicht passt, kann man sich passend machen, weißt du? Ist nicht immer einfach, aber es geht, wenn man genau weiß, was man will und sich nicht reinreden lässt. Und ... also ... äh ... das Gummi ist ja nun kein richtiger Hinderungsgrund.«
Thomas zieht mit einem Ruck das Zopfgummi raus und schüttelt seine Haare zurecht.
»So siehst du noch besser aus«, sagt Kai. Im nächsten Moment möchte er sich am liebsten die Zunge abbeißen. Zu oft hat er einem anderen Mann ein unbedachtes Kompliment gemacht und dafür eine rüde Reaktion geerntet.
Aber Thomas lächelt nur und setzt den Helm auf. Kai stellt ihn richtig ein. »Danke«, sagt Thomas. Er würde gerne noch etwas sagen, nur, um nicht weiterfahren zu müssen.
»Da nicht für.«
Die beiden sehen sich an. Sie wissen nicht, was
sie sagen sollen.
***
»Macht schon!«, brüllt Tina den Bildschirm an.
Hanna und Petra haben sich an den Händen gegriffen und drücken sie
so fest sie können. Marlies ist aufgesprungen und läuft wie ein
gefangener Panther in seinem Käfig auf und ab.
***
»Ich muss dann weiter«, murmelt Thomas und denkt: Bitte, frag mich, ob wir uns wiedersehen können, zu einem Sicherheitstraining im Straßenverkehr oder irgendetwas anderem.
»Und ich breche hier so langsam meine Zelte ab, ist ja nicht viel los«, krächzt Kai. Vielleicht bietet er mir an, dabei zu helfen, hofft er inständig.
»Na dann«, sagt Thomas, steigt auf sein Rad und
fährt langsam los.
***
Tina fummelt unter dem Tisch eine kleine Box hervor.
»Was machst du da?«, fragt Hanna. Sie ist ein wenig misstrauisch.
»Och, nichts«, antwortet Tina – und drückt auf
einen Knopf.
***
Direkt unter Thomas Lenker gibt es einen Knall. Die Radgabel bricht. Thomas stürzt nach vorne, direkt auf einen Wackerstein am Wegesrand.
Kai stößt einen entsetzten Schrei aus, rennt zu ihm und wirft sich neben ihm auf die Knie. »Ist dir was passiert? Soll ich einen Rettungswagen rufen? Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht!«
»Geht schon«, sagt Thomas leicht benommen.
»Gut, dass du den Helm aufhattest«, sagt Kai.
»Ich glaube, damit hast du mir das Leben gerettet.«
»Nun übertreib mal nicht«, wehrt Kai errötend ab.
»Doch«, sagt Thomas leise.
Und dann sagt er, ohne lange zu überlegen und abzuwägen: »Aber meinetwegen darfst du mir gerne zeigen, was du beim Erste-Hilfe-Kurs gelernt hast.« Er schließt die Augen und täuscht eine Ohnmacht vor.
Kai lächelt. Er bringt Thomas sanft in die stabile Seitenlage.
»Hmm, daran könnte ich mich gewöhnen«, nuschelt Thomas. »Willst du dich nicht dazulegen?«
»Und wenn jetzt jemand kommt?« Kai findet den Gedanken verlockend, traut sich aber nicht.
»Wir könnten uns ja unauffällig ins Feld rollen
lassen und tun, als wären wir eingeschlafen«, schlägt Thomas vor.
Gemeinsam kullern sie ins Maisfeld.
***
»Wie süüüüüüß«, juchzen Tina und ihre Freundinnen. Es ist ihnen sogar egal, dass Kai und Thomas aus dem Radius der Überwachungskamera hinausgekullert sind.
»Das ist ja noch mal gut gegangen«, atmet Petra auf.
»Ja, nicht wahr?« Tina ist stolz, sie möchte Bestätigung.
»Aber mach das nie wieder!«, sagt Hanna.
»Was?«, fragt Tina unschuldig.
»Du hast das Fahrrad gesprengt, ich hab's genau gesehen«, sagt Hanna.
»Für die Liebe muss man auch mal etwas wagen«, sagt Tina.