3. Kapitel:
Du & Deine Welt
Montag, 4. April
Es wird Frühling. Das Eis auf dem Badeteich ist getaut, die Sonne scheint. Überall im Dorf beginnen die Pflanzen zu sprießen. Zweiunddreißig Kilometer entfernt entsteigen dreiundvierzig aufgeregte Frauen dem Bus mit der Aufschrift Grell-Reisen – Rein ins Glück und wieder zurück. Sie sind zwischen vierundzwanzig und siebenundachtzig Jahre alt und je nach Generationszugehörigkeit mit großen Broschen oder üppigem Modeschmuck geschmückt. Sie tragen geräumige braune Lederhandtaschen oder City-Shopper aus Glanzpolyester mit Kunstlederhenkel am Arm, auf dem Kopf silberne Kurzhaar-Pudeldauerwelle oder aufwendige Blondlockenfrisuren. Dazu kombinieren sie modische Windbreaker in Erdfarben oder Jäckchen im Fake-Chanel-Look mit ausgefransten Kanten und Bequemschuhe mit Lackeinsätzen oder halbhohe Pumps, ebenfalls mit Lackeinsätzen. Kurz: Sie haben sich alle stadtfein gemacht.
Angeheizt durch einen kleinen Drink während der Busfahrt und umtost vom ungewohnten Lärm der Großstadt sind sie schon ganz aufgeregt. Bereit für ein extravagantes Abenteuer. Vor ihnen liegen zwölf riesige Messehallen, über denen der Schriftzug Du & Deine Welt in gigantischen Lettern lockt. Was für ein Versprechen! Eine ganze Welt! Meine Welt? Jede der dreiundvierzig Landfrauen fühlt sich ganz persönlich angesprochen. Die meinen mich, denkt jede von ihnen. Zu Recht?
»Viel Spaß!«, wünscht der Busfahrer.
Die Ortsvertrauensfrau übernimmt das Kommando
und gibt die Eintrittskarten aus. »Wir bleiben alle zusammen!«,
mahnt sie. Die dreiundvierzig Frauen nicken brav, doch sie wissen
alle: So ein Quatsch. Wie soll das denn
gehen? Schließlich wollen sie was erleben!
Petra, Tina und Hanna haben Marlies überredet, mitzukommen. Gemeinsam haben sie sich Monique widersetzt und die von ihr festgelegte Sitzordnung ignoriert. Sie sind in den Bus gestürmt und haben gemeinsam die letzte Bank besetzt. Nachher sind sie mit Edith in Halle 6 – Hauswirtschaft & Innovationen – am Stand von Fresh&Clean verabredet. Doch vorher haben sie noch genug Zeit, sich in den Messerausch zu stürzen.
Entfesselt wie eine Herde junger Kühe drängt die Gruppe auf den Eingang zu und strömt hinein, immer hinter der Ortsvertrauensfrau und dem Schild her, das diese hochhält. Es zeigt eine Spinne, die ein Kopftuch trägt, das Erkennungssymbol der Landfrauen. Vorbei an leicht abgestumpft wirkenden Ordnern gelangen sie in die erste Halle. Mode & Kosmetik wird hier ausgestellt.
Gleich am ersten Stand wird Textil-Superkleber mit dem überzeugenden Slogan »Die Nähmaschine aus der Tube« verkauft. Ein Mann demonstriert, wie man damit Hosen problemlos umsäumen und, ja, ganze Kleidungsstücke zusammenpappen kann. Gleich drei Landfrauen bleiben an seinen Lippen kleben. Die anderen schaffen es, vorbei an »Thermo-Lockenwicklern, bekannt aus der Fernsehwerbung«, zum Stand von Christiane F. Beauty Products. Ein »unwiderstehliches Herbstangebot – original Micro 2000 plus Erdpuder, brillant oder matt für nur neununddreißig Euro neunundneunzig, natürlich inklusive einer individuellen Typberatung«, zwingt die Gruppe zum Stillstand.
»Erdpuder – der kommt direkt aus Afrika!«, schwärmt Hedi, Hannas Schwiegermutter. »Ich habe mir von meiner Safari durch die Etoschapfanne welchen mitgebracht. Die Tiere dort – einfach herrlich!«
»Und was ist mit dem Erdpuder?«, fragt Hanna. Sie weiß, wenn Hedi von Afrika und den Tieren erzählt, dann gibt es kein Halten mehr, das zieht sie stundenlang durch. Man muss sie am besten sofort vom Thema abbringen. Zum Glück funktioniert es.
»Mein Erdpuder geht gerade zur Neige. Ich brauche unbedingt Nachschub!« Hedi greift sich drei Döschen.
Die Messehostess, eine resolute Mittfünfzigerin, fasst sie am noch freien Arm und zieht sie auf einen Barhocker. »Ich zeige Ihnen mal, wie sie mehr aus ihrem Typ machen können!«
Hedi wehrt sich nicht, sie lächelt sogar, als die Hostess mit einem großen Pinsel eine nicht zu knappe Menge Erdpuder auf ihrem Gesicht verteilt. Die Pinselstriche sind forsch und zackig.
»Man muss den Puder richtig einmassieren, damit sich die pflegenden Substanzen entfalten können und der Farbton sich optimal mit der Haut verbindet«, erklärt sie.
Wilma nimmt derweil, aufgefordert von der anderen Hostess, auf dem zweiten Barhocker Platz. »Zuhause gönnt man sich ja so etwas nie. Aber wenn es nichts kostet ...«
Die anderen Landfrauen bilden eine Traube um den Stand. Vielleicht komme ich ja auch noch an die Reihe und in das Vergnügen einer Gratis-Typberatung, denkt jede.
Petra und Tina beginnen grinsend zu tuscheln: »Wenn Monique das jetzt sieht! Das gibt doch bestimmt Ärger!« Monique, die unumstrittene Trendsetterin des Dorfes und Inhaberin des Friseur- und Schönheitssalons, duldet keine. Konkurrenz. Doch sie ist schon weitergegangen und flirtet in der Halle Gesundheit & Fitness mit einem muskulösen jungen Mann, der einen Stab senkrecht hält, der hin und her vibriert. »Das stimuliert alle Muskeln und Sinne«, behauptet er mit einem austrainierten Lächeln. Monique schaut sich kurz um, ob andere Landfrauen in der Nähe sind. Als sie keine entdecken kann, pflichtet sie ihm erregt bei.
Die Erdpuder-Damen ziehen nach und nach alle um sie herumstehenden Landfrauen auf die Barhocker. Die Typberatung läuft nach einem ausgeklügelten Schema ab: Zunächst wird der Erdpuder aufgetragen, der sich »individuell dem Hauttyp und dem Hautton anpasst und ganz natürlich wirkt«. Nachdem das Gesicht gleichmäßig gebräunt ist und einer Terrakottafliese ähnelt – je nach Alter der geschminkten Dame mit unterschiedlichen Abnutzungserscheinungen –, wird Lidschatten in dreierlei Flieder- und Rosétönen aufgetragen. »Das ist für den individuellen Ausdruck entscheidend. Damit modellieren sie den Blick!«, betonen die Hostessen, während sie die geschlossenen Augendeckel mit routinierten Strichen einpinseln. Nun wird etwas weißer Kajal in den inneren Lidrand gekrickelt. Das sieht schmerzhaft aus, tut aber angeblich nicht weh und »öffnet das Auge«. Damit »der Blick an Ausdruck gewinnt« muss Wimperntusche her. Der etwas älteren Hostess gelingt es, allen ihren Klientinnen exakt die gleichen aussagekräftigen Fliegenbeine zu tuschen, mit denen sie in den Tag pliert: klebrige Wimpernklumpen, drei, fünf oder sieben, zu pappigen Grüppchen verhaftet. Die Landfrauen sind entzückt.
Eine besondere Attraktion sind die Lippenstifte. Sie sind grün, gelb, blau. »Aber damit bleiben sie mir bitte schön vom Leib«, befiehlt Wilma.
»Das wäre aber schade«, lächelt die Hostess. Ihre Fliegenbeine hinterlassen feine schwarze Punkte unter dem Auge. »Das sind doch unsere Magic-Lipsticks. Die haben Zauberwirkung!«
»Was hilft mir die Zauberwirkung, wenn ich aussehe wie so eine Punkerin?«
»Sehen Sie doch«, lächelt die Hostess und bemalt Wilma eifrig die Innenseite des Unterarms mit dem grünen Lippenstift. Wilma versucht, ihr den Arm zu entwinden, doch der Griff der Hostess ist fest wie ein Schraubstock. Wahrscheinlich gibt es dafür extra Seminare, die Kraftvoll im Kundenvollkontakt oder so ähnlich heißen. Der Lippenstift auf Wilmas Arm färbt zu ihrem großen Erstaunen nicht grün, sondern Flieder. Alle Magic-Lipsticks, egal ob grün, gelb oder blau, erscheinen auf den Lippen in exakt demselben Fliederton. Das ist auch wieder langweilig, aber der Effekt in diesem Moment so überraschend und überzeugend, dass das niemandem unangenehm auffällt. Gefügig geworden, spitzt Wilma ihre Lippen, schließt ihre Augen und lässt sich von der Hostess weiter schminken – mit demselben Stift, mit dem diese schon unzählige Kundinnen auf unzähligen Messen zuvor die Lippen angemalt hat. Ist eben sehr ergiebig, so ein Magic-Lipstick.
»So schön war ich noch nie!«, stellt Wilma begeistert fest und alle pflichten ihr bei.
Nach ihr ist Hanna dran. Sie hat die ganze Zeit ein wenig Sorge, dass Monique auftaucht und sie zur Schnecke macht, doch sie hält tapfer still. Nur die rechte Hand wischt reflexartig über ihren Oberschenkel, als müsste sie einen besonders hartnäckigen Fleck aus ihrer Hose reiben.
Das Ergebnis überwältigt sie: »Ich bin ein neuer Mensch!«, sagt sie erstaunt, als sie in den Handspiegel sieht. »Das hätte ich mich zuhause nie getraut!«
»Und wie du dich in Zukunft trauen wirst«, sagt Petra. Sie hakt sich bei Hanna unter. Tina grinst die beiden breit an und pustet einmal in die Luft. »Frischluftkur«, sagt sie leise. Hanna lacht erfreut auf. Es ist eine so spontane, unverkrampfte Gefühlsäußerung, dass Hedi ihr einen erstaunten Blick zuwirft. So kennt sie ihre Schwiegertochter ja gar nicht. Aber hier, bei Du & Deine Welt, ist wohl alles etwas anders als im Dorf.
Neue Hostessen eilen zu Hilfe, die Damen stehen geduldig Schlange und ziehen dann, einheitlich erdgepudert, weiter. »Bitte, schön zusammenbleiben«, fleht die Ortsvertrauensfrau und reckt das Spinnenschild in die Höhe, doch die Gruppe zerstreut sich vor ihren Augen. Nicht, dass die Landfrauen sich ganz alleine in das Messegeschehen wagen würden, sie bleiben immer zu mindestens viert zusammen. Aber die Interessen sind einfach zu verschieden.
Die Älteren zieht es zur Kreativ-Insel. Dort bekleben sie unter Anleitung kleine Holzhocker mit Dekor-Patschies. »Das sieht ja aus wie in Fetzen gerissenes Geschenkpapier«, bemerkt Wilma zunächst noch scharfsinnig und hat damit wahrscheinlich sogar Recht. Doch nach einem Vortrag der geschulten Verkäuferin über Optik und Haptik und Entfaltungsmöglichkeiten und Formschönheit und Farbenlehre lässt auch sie »ihrer Kreativität freien Lauf« und kleistert begeistert die zerrupften Papierzettel (»Hochwertiges Material mit niedriger Grammatur und hoher Reißbeständigkeit!«) ein. »Dekor-Patschies lassen sich so glatt auftragen, dass man sie beim ersten Hinsehen für Malerei hält!«, schwärmt die Verkäuferin.
»Ach, wenn ich doch nur malen könnte«, sagt Wilma, die ihre künstlerische Ader bislang völlig ignoriert hat, und klebt weiter so viele Schichten übereinander, dass die ursprüngliche Form des kleinen Hockers nur noch schwer zu erkennen ist. Wenn sie die Sache mit Kalk erst einmal in trockene Tücher gebracht hat, wird sie sich mal die schäbige Küchenbank vornehmen, die im Carport vor sich hin modert. Vor lauter Eifer und Inspiration entgeht ihr, dass sich die Damen des Häkelkränzchens am Stand einer Naturschutzorganisation über gefährdete Tier- und Pflanzenarten in Norddeutschland informieren.
Die zunehmend enthemmte Hanna hat inzwischen Tina, Petra und Marlies zu einem Stand gezogen, an dem ein attraktiver junger Mann, der ein wenig aussieht wie Keanu Reeves in Matrix, Latexputztücher anpreist. Seine Vorführung ist faszinierend: Hingebungsvoll beschmiert er einen großen Kristallspiegel mit Creme, Olivenöl und Schokosoße. Hanna windet sich schon bei diesem Anblick. Dann taucht er eines der grellgrünen Latextücher – Hunderte davon umgeben ihn wie einen Heiligenschein, festgetackert am Messestand – in eine Wasserschüssel, wringt es kurz aus und wischt über den verunreinigten Spiegel, worauf dieser in prachtvollem Glanz erstrahlt. Tina korrigiert nach einem Blick dorthinein kurz ihre Frisur, während Hanna sich nicht entscheiden kann, ob sie vor Begeisterung applaudieren oder in Ohnmacht fallen soll. So muss sich ihre Mutter beim Beatles-Konzert gefühlt haben, als George ihre Hand nahm und küsste ... Ja, das ist wohl ein vergleichbares Gefühl.
»Die Latexmembran mit Kapillarwirkung trocknet streifenfrei!«, erklärt der Keanu Reeves der Putztücher.
»Ich stelle ihn mir gerade mit einem kleinen Latexputztuchschurz bekleidet vor«, sagt Tina und stöhnt leise. Hanna kichert, Marlies bleibt lieber stumm.
Petra guckt auf die Uhr. »Unsere Verabredung! Wir müssen zum Stand von Edith.« Hanna und Tina sind wie in Trance. Hanna kauft noch schnell ein Putztuch, und Tina fährt sich mit der Zunge über die Lippen, während sie mit den Händen ihre Haare hebt und ihren Hals entblößt. Sie hat in einem Verführungsratgeber gelesen, dass das unwiderstehlich wirkt. Der Latexmann reagiert nicht. Wahrscheinlich könnte sie noch Stunden so dastehen (bei manchen Männern sind die Reaktionszeiten einfach länger, das muss man eben einkalkulieren), wenn ihre Freundinnen sie nicht wegzerren würden.
Die vier kämpfen sich durch die Hallen, mitten durch die kunstnebelverstärkte Bergungsaktion im Trümmerhaus, Teil der Show SOS – Lebensretter im Einsatz. »Ich will Mund-zu-Mund-beatmet werden«, keucht Tina, aber die anderen ziehen sie weiter.
Den Fresh&Clean-Stand finden sie in Halle 12, Küche & Haushalt. An einer Edelstahlspüle steht eine Frau mit Kopftuch und wienert. Die eine Hälfte der Spüle glänzt und funkelt, dass man meint, bei ihrem Anblick blind zu werden. Die andere Hälfte sieht ziemlich versifft aus. Das erinnert Petra an die Putzparty in ihrer Küche – und daran, dass sie die von Edith nicht geputzten Flächen trotz Fresh&Clean-Aktionspaket nicht so richtig hinbekommen hat. Das Material hat eher etwas an Farbe verloren, die Küche sieht seitdem merkwürdig aus, irgendwie persönlichkeitsgespalten.
Hanna bleibt vor der Spüle stehen und verfolgt gebannt die Putzbewegungen. »Ich könnte das viel schneller«, murmelt sie leise. Die anderen nicken zustimmend, die Frau bewegt sich wie in Zeitlupe. Hinter ihr öffnet sich eine Tür. Eine Hand erscheint durch den Spalt und winkt. Tina, Petra, Marlies und Hanna gucken sich fragend an. Dann streckt Edith den Kopf durch die Tür. Die Damen erkennen sie kaum, denn sie trägt eine Atemschutzmaske. »Kommt schon her«, krächzt sie gedämpft.
Die Freundinnen schieben sich nacheinander durch den engen Türspalt. Weiter öffnen geht nicht, ein Tisch steht ungünstig im Weg.
In dem Kabuff riecht es sehr merkwürdig. »Entschuldigt bitte, diese Messestände sind sehr beengt. Jeder Quadratzentimeter kostet eine horrende Miete. Und ich sehe so seltsam aus, weil mein HNO-Arzt mir diesen neuartigen Inhalator verschrieben hat, gegen meinen chronischen Husten.« Zum Beweis hustet Edith ein paarmal trocken. »So, und wie läuft die Operation Frischluftkur?«
»Och, geht so«, antwortet Petra.
»Du hast Recht: Wissen ist Macht – wir müssen nur noch überlegen, wie wir unser Wissen einsetzen«, ergänzt Tina. »Apropos Wissen, kennst du die Leute, die hier arbeiten? Da gibt es einen bei den Wischtüchern, der ist einfach ...«
»Nun lass doch den mal aus dem Spiel!«, beschwert sich Hanna.
Edith drückt, während sie zuhört, auf verschiedene Pumpzerstäuber. »Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich hier noch schnell die nächste Präsentation vorbereite? Ich bin gleich ganz für euch da!« Sie sprüht stark duftende Substanzen in die Luft. Die Jungen Landfrauen sehen aus, als würde ihnen schwindelig werden.
»Oh«, sagt Edith, »das ist ein ganz neues Produkt, das haben wir gerade reinbekommen. Da müsst ihr mal dran riechen – ein Oberflächenveredler mit biologischem Apfel-Zimt-Duft!« Sie gibt ein kleines, giftgrünes Fläschchen mit der Aufschrift The Best for the Best herum. Ihre Kundinnen schnuppern daran. Die Pupillen weiten sich, der Blick wird glasig, bemerkt Edith mit Wohlwollen. Das ist genau die Wirkung, die sie beabsichtigt hat. Das neue Zeug scheint noch besser zu wirken als alle anderen Fresh&Clean-Produkte.
»Und, was habt ihr über eure Nachbarn herausgefunden?«, fragt sie so nonchalant wie möglich.
»Der Gärtner kauft seinen Rhododendron bei Aldi. Im Sonderangebot!«, flötet Petra. »Und verkauft den dann als teuren Qualitätsrhododendron!«
»Vor der Wohnung dieser Evelyn, die im Supermarkt arbeitet, parkt immer ein Mercedes mit Hamburger Kennzeichen«, steigert Hanna die unglaublichen Enthüllungen. »Wir haben sogar ein Foto vom Fahrer.« Sie nestelt ein Bild aus der Tasche und gibt es Edith. Die runzelt die Stirn und betrachtet kritisch das unscharfe Foto. Sieht aus wie eine Paparazziaufnahme von einem Lebkuchenmännchen bei Nebel.
»Marlies war uns allerdings keine große Hilfe«, petzt Petra. »Dabei arbeitet die auch bei Knurres und könnte dieser Evelyn einfach mal auf den Zahn fühlen.«
Marlies sagt nichts. Ihr ist das irgendwie unangenehm. Außerdem ist ihr schlecht. Muss das hier so nach Putzmitteln stinken?
»Keine Sorge, unsere Kleine wird schon bald viel lockerer werden. Wir haben sämtliche Junggesellen auf Marlies-Tauglichkeit geprüft. Drei sind in der engeren Wahl!«, triumphiert Tina.
Marlies zuckt zusammen. Das hat sie erstens nicht gewusst und zweitens ist es ihr total peinlich. Überhaupt, diese ganze Operation Frischluftkur ... ein höchst dubioses Unterfangen! Und diese Edith, die ist doch nicht ganz koscher, findet Marlies. Aber sie sagt natürlich nichts. Die anderen würden ihr eh nicht zuhören. Zumal sie im Moment viel zu sehr damit beschäftigt sind, der Reinigungsmittelfachfrau ihre kleinen Geheimnisse zu verraten.
»Der Soundso, der Grickel oder Frickel oder wie der heißt, der ist ein Heiratsschwindler«, gibt Tina gerade zum Besten.
»Außerdem wollen Knurres den Parkplatz umgestalten«, ergänzt Petra. »Und bei Gehrkens war Einsatz in vier Wänden, die haben jetzt überall türkise und lila Wände. Und ein individuelles, hinterleuchtetes Gewürzregal.«
Edith ist genervt. Dieser fade Dorfklatsch und illuminierte Gewürzregale interessieren sie nun überhaupt nicht. Alles Informationen, die sie nicht braucht. Vielleicht hätte sie die vier doch ein wenig genauer instruieren, besser auf Spur bringen sollen? Nein, das wäre zu auffällig gewesen.
»Und was ist mit euren Männern? Die sind doch bestimmt immer noch so schlimm, nicht wahr?«, suggeriert Edith. Die Freundinnen winden sich ein wenig.
»Meinen habe ich so lange nicht gesehen«, erzählt Petra.
Na toll, denkt Edith.
»Mein Mann verdient ganz viel Geld«, plaudert Tina aus, »aber er gibt mir nichts davon ab. Nur Schmuck schenkt er mir!« Sie dreht verlegen an einem neuen Ring, der nach mehreren Karat Swarovski aussieht. »Aber der kommt nicht in dein Putzmittel!«
»Mein Heinz ist immer noch unmöglich!«, sagt Hanna. »Un-aus-steh-lich! Und was für Dreck er immer ins Haus schleppt. Ich halte das bald nicht mehr aus! Was ist denn nun mit diesen Seminaren, die du uns angekündigt hast?«
»Ja, meine Lieben«, sagt Edith und drückt hinter ihrem Rücken noch ein paarmal kurz auf den The-Best-for-the-Best-Pumpzerstäuber. »Ich bin stolz, euch den bereits angekündigten neuen Fresh&Clean-Service anbieten zu können: Wochenend-Seminare für Männer! Ihr bekommt die werten Gatten grundüberholt und runderneuert zurück.«
»Ja, ja, ja«, sagt Hanna, »das hast du uns schon erzählt.«
»Aber das habt ihr noch nicht gesehen«, lächelt Edith und zieht ein paar aufwendig gestaltete Hochglanzprospekte aus ihrer Tasche. Von der Titelseite lächeln Tom Cruise, Ben Affleck und Richard Gere.
»Was – die haben das mitgemacht?«, fragt Tina ungläubig.
»In den USA ist das Programm seit letztem Jahr der Renner«, lächelt sie. »Das machen da alle. Und ich kann euch sagen: Damit ist noch jeder glücklich geworden. Auch die Männer fühlen sich jetzt viel besser.« Sie zieht schnell einen Stapel Bestellzettel und eine Hand voll Fresh&Clean-Kugelschreiber aus der Tasche. »Ich kann gerne beim Ausfüllen helfen! Mit wem fangen wir an? Hanna, bei dir scheint es mir am dringendsten zu sein.«
Hanna greift nach den Unterlagen wie eine Ertrinkende nach dem rettenden Seil. Das Bestellformular ist dieser ungewöhnlichen Belastung nicht gewachsen und zerreißt, Edith reicht ihr sofort ein neues. Die anderen nehmen auch eins.
»Aber wie kriegen wir unsere Männer dazu, wirklich an diesen Seminaren teilzunehmen?«, wirft Tina ein. »Das machen die doch nie, wenn die merken, dass das unsere Idee ist.«
»Darüber macht euch mal keine Sorgen. Wir haben geschulte Mitarbeiterinnen, die kümmern sich um alles. Die Männer werden abgeholt, versorgt und nach Ende des Seminars zurückgebracht. Lieferung erfolgt frei Haus. Ihr müsst euch um nichts weiter kümmern. Bitte hier unterschreiben!« Edith tippt auf Hannas Formular. Sie unterschreibt.
»Das klingt ja sehr durchdacht«, findet Tina und klickt ein wenig mit dem Kugelschreiber herum. »Und wie viel kostet so ein Seminar.«
»Wie viel wäre es euch denn wert, einen wunderbaren Mann zu bekommen? Einen, der euch Komplimente macht, der euch verehrt und begehrt und auch noch im Haushalt hilft?«
»Öhmmm«, macht Hanna. »Keine Ahnung ...«
»Na ja, schon einiges«, überlegt Tina.
»Genau!«, sagt Edith. »Eigentlich ist das ein Service, der mit Geld nicht zu bezahlen ist! Aber da wir das nun mal anbieten, sollte man auch nicht am falschen Ende sparen. Ihr müsst bedenken, was da geboten wird!« Edith weiß, dass sie diese Seminare nicht gratis verteilen darf, denn sonst würden die Kundinnen denken, sie seien nichts wert und vielleicht einen Rückzieher machen. Zu teuer dürfen sie aber auch nicht sein, sonst schreckt der Preis ab. »Und die Erfolgsquote! Hundert Prozent ohne Rückfälle! Garantiert! Inklusive Unterkunft und Verpflegung. Das alles nur für zweihundertneunundvierzig Euro. Und ihr werdet danach ein neues Leben führen. Ihr werdet wieder glücklich!«
»Ja, ich mach's!«, ruft Hanna entschlossen und klickt mit dem Kuli. Sie hat völlig vergessen, dass sie schon unterschrieben hat.
»Ich auch!«, setzen Tina und Petra wie ein Echo hinterher.
Und ich bin auch dabei, wäre Marlies fast über die Lippen gekommen. Aber auch nur fast. Schließlich gibt es niemanden, den sie auf das Seminar schicken könnte. Aber irgendwie scheint der Gruppenzwang sie anzustecken. Oder der Kaufrausch. Oder was auch immer.
Nachdem Edith die unterschriebenen Formulare eingesammelt hat, wendet sie sich an Marlies. »Für dich habe ich etwas ganz Besonderes: Das Programm The new me! Das ist ein komplettes Make-over, du wirst danach richtig attraktiv sein.«
»Das ist sie jetzt doch auch schon«, schnappt Hanna. Sie fühlt sich zwar nicht wie eine Glucke, aber dem Küken soll doch niemand zu nah treten, während sie in der Nähe ist. Das würde nicht ihrem Verständnis von der richtigen Ordnung der Dinge entsprechen.
»Ich meinte doch auch eher, dass das Programm gut für ihr Selbstbewusstsein ist«, korrigiert sich Edith mit gewinnendem Lächeln.
»Ach, ich weiß nicht ...« Marlies zögert.
»Nun komm schon«, drängt Tina. »Das ist doch eine super Vorbereitung für die Junggesellenversteigerung. Vielleicht ist das deine einzige Chance ...«
»Na gut«, willigt Marlies widerwillig ein und unterschreibt das Formular, das Edith ihr hinhält, damit sie wieder ihre Ruhe hat.
»Und wann finden die Männerseminare statt?«, fragt Hanna.
»Da habe ich gute Nachrichten: Wir haben ganz kurzfristig einen Top-Coach aus Los Angeles gewinnen können. Bei dem ist noch ein einziger Termin frei. Den könnte dein Heinz bekommen, Hanna!
»Moment, wann wäre denn das? Der muss zuerst noch den Rasen mähen!«
»Tja, das muss er wohl machen, wenn er wieder da ist. Wir würden ihn gleich heute abholen.«
»Heute schon?« Hanna staunt. »So schnell?«
»Ja, und am Montag bekommst du ihn zurück. Und ich kann dir versprechen: Du wirst ihn nicht wiedererkennen!«
Hanna denkt an den Rasen und zögert. Dann denkt sie an Heinz und sagt: »Ja, einverstanden!«
»Eine gute Entscheidung! Das nächste Seminar beginnt erst in drei Wochen. Ich hoffe, ihr könnt euch so lange gedulden. Bis zum The-new-me-Kurs sind es noch drei Monate. Marlies, hältst du bis dahin durch?«
Marlies ist erleichtert, dass sie nicht sofort ein neuer Mensch werden muss. Petra und Tina dagegen maulen ein wenig. So ein Kaufrausch ohne direktes Erfolgserlebnis, das ist nichts. Sie wollen etwas haben! Jetzt! Sofort!
Edith kennt diesen Effekt. Deshalb zündet sie jetzt Stufe zwei ihres Planes: »Ich habe da noch etwas Fabelhaftes für euch.« Sie zieht vier schnittige Alukoffer aus dem Regal. »Die perfekte Ausrüstung für die Operation Frischluftkur. Mir ist aufgefallen, dass ihr mit herkömmlichen Methoden nicht so recht vorangekommen seid. Vergesst nie: Wissen ist Macht. Ihr werdet nur glücklich, wenn ihr genug wisst. Erst dann können Monique und ihr Hofstaat nicht mehr mit euch machen, was sie wollen, euch als Arbeitssklaven missbrauchen.«
Petra, Tina, Hanna und Marlies zucken zusammen. Sie sind Arbeitssklaven? So hatten sie das noch nie gesehen. Also, schon manchmal. Aber laut ausgesprochen klingt das ganz anders. Viel ... entwürdigender.
»Lasst euch nicht länger davon abhalten, das Leben zu führen, das ihr schon immer führen wolltet«, spricht Edith weiter. »Ein selbstbestimmtes, ein glückliches, ein freies Leben.« Das klingt alles ein bisschen wie aus einem Handbuch für Demagogie abgeschrieben, erscheint den benebelten Freundinnen aber völlig einleuchtend.
»Damit«, sagt Edith und öffnet, klack, klack, klack, klack, nacheinander die vier Koffer, »werdet ihr die heimlichen Top-Agentinnen des Dorfes sein. Ihr werdet alles erfahren, niemand wird euch mehr etwas vormachen können.«
»Was ist das?«, fragt Hanna. Die anderen gucken auch etwas ratlos in die Koffer.
»Das ist ein drahtloses Überwachungskameraset mit integrierter Abhöranlage, USB- und Scartanschluss, Farbbildübertragung für beste Bildqualität, wetterfest und spritzwassergeschützt, Funkfernbedienung und schaltbares Funkmodul zum Ein- und Ausschalten. Alles digital in NASA-Qualität mit unverwüstlicher Teflonbeschichtung«, preist Edith das Equipment. »Dazu gibt es noch einen Laptop.«
Die vier Freundinnen sind platt. Marlies nimmt fasziniert einzelne Geräte aus den Koffern, dreht sie andächtig in der Hand hin und her und legt sie dann wieder zurück.
»Teflon ist gut«, sagt Hanna, um ihre Verblüffung zu überspielen, »leicht zu reinigen.«
»Ich kann euch das mal eben vorführen.« Edith klappt den Laptop auf. »Hier seht ihr Bilder, die ich in der letzten Stunde aufgenommen habe.«
Die vier Freundinnen beugen sich zum Bildschirm hin und sehen, wie Hanna geschminkt wird, hören, wie sie »Zuhause hätte ich mich das nie getraut« sagt. Edith klickt weiter, dann sehen sie sich am Stand des attraktiven Latex-Mannes.
»Kann man auch sehen, was der jetzt gerade macht?«, fragt Tina.
»Aber natürlich«, antwortet Edith und klickt ein wenig am Computer herum. Auf dem Bildschirm erscheint der Latextuchverkäufer. Er küsst einen der SOS-Rettungsmänner.
»Hmpf«, macht Tina.
»Der wird bestimmt nur beatmet«, vermutet Petra.
Edith schaltet schnell wieder zu einer anderen Kamera. Man sieht Monique mit einem sehr langen Stab in der Hand und aufgelösten Haaren. »Du machst das gut«, lobt eine männliche Stimme.
»Ahhhhh, sehr interessant«, sagt Tina. »Ja, ich glaube, das wollen wir haben. Was kostet das denn?«
»Dieses Vorführset kann ich euch zum Testen erst einmal unverbindlich für drei Monate kostenfrei zur Verfügung stellen«, sagt Edith.
»Gerne!«, sagen die vier. Das heißt: Marlies denkt sich das nur, bewegt aber immerhin die Lippen.
Edith schließt die Koffer wieder und überreicht sie. Dann drückt sie den Freundinnen noch jeweils ein kleines The-Bestfor-the-Best-Probefläschen in die Hand und scheucht sie durch den engen Türspalt aus ihrem Messestandkämmerchen hinaus.
Draußen, in der frischen Hallenluft, kommen die vier Damen langsam wieder zu sich.
»Was war das denn?«, fragt Tina und schüttelt dabei ihr Haar.
»Keine Ahnung.« Petra reibt sich verwundert die leicht brennenden Augen.
Hanna hüstelt ein wenig. »War es richtig, das zu unterschreiben?«
»Aber natürlich!«, bestärken sich alle gegenseitig.
»Und die Koffer sind wirklich sehr schön«, bemerkt Tina. Ein wenig benommen und orientierungslos driften sie in verschiedene Richtungen.
Marlies, verwirrt von dem flirrenden Angebot, lässt sich in der überwiegend erdgepuderten Damenmenge treiben, stumm inmitten des einlullenden Geschnatters. Ob sie nicht lieber bei ihren Heftchen zuhause geblieben wäre? So ganz in Gedanken prallt sie gegen etwas Großes, Hartes, Olivgrünes. Marlies reibt sich die schmerzende Stirn – und bewundert den Panzer, der ihr so plötzlich den Weg versperrt hat. Ein Mann mit straffer Körperhaltung und vielen Broschen an der Jacke, die Marlies einwandfrei als Orden identifiziert, eilt auf sie zu: »Holde Maid, ist Ihnen ein Leid geschehen?«
Dieser Satz und der Anblick des strammen Kerls in Uniform löst bei Marlies mehr aus als alle Fresh&Clean-Putzmitteldämpfe zusammen. Sie ist willenloser, hingebungsvoller, geschmolzener und erregter denn je. Orden! Maid! Leid! Ein Mann wie aus einem ihrer Heftchen, nein, einem Taschenbuch ... ach was, wie aus einem Hardcover! Hardcover mit Schutzumschlag, denkt Marlies. Der ist richtig was wert. Sie würde alles tun, um mit ihm zu reden, und sie weiß, dass sie dafür eigentlich nur den Mund aufmachen müsste ... aber das gelingt ihr nur bis zum üblichen Vor-Staunen-die-Unterlippe-hängen-Lassen. Wörter kommen keine heraus. Den Herrn scheint das nicht zu stören.
»Darf ich mich vorstellen? Leutnant Müller-Meersack!« Er bietet Marlies seinen Arm an und eine Führung durch den Panzer. »Exklusiv und kostenlos natürlich.« Er sieht sie erwartungsvoll an.
»Ja.« Es ist nicht viel, was von ihr kommt, aber immerhin. Und es reicht auch, um den schnittigen Leutnant in Bewegung zu setzen.
Marlies hatte nicht geahnt, dass es all diese faszinierenden Hightechteile und das Kampfausrüstungszubehör auf dieser Hausfrauenmesse gibt! Solche Kostbarkeiten zwischen Wischmopps und Latextüchem? Sie muss träumen. Entschlossen kneift sich Marlies in den Arm. Aua. Nein, sie schläft nicht. Sie steht wirklich vor einem Informationsstand der Bundeswehr, garniert mit einem Mann, der aussieht wie der Hauptdarsteller aus dem Film, den sie neulich bei Ulf gesehen hat. Okay, der hatte von seiner Uniform nur noch ein paar Fetzen am Leib, die tief blicken ließen, dazu ein paar dekorativ geschminkte Wunden ... aber dieser Leutnant, der ist ganz und gar intakt. Und dann dieses Timbre in der Stimme, das klingt, als würde sich von der Ferne ein Kampfgeschwader Düsenflugzeuge nähern. Im Tiefflug direkt in Marlies' Magengrube. Einen kurzen Moment bedauert sie, dass sie noch nicht am The-new-me-Kurs teilgenommen hat, dann wüsste sie jetzt wenigstens, was zu tun wäre. Doch scheinbar muss sie gar nichts machen. Leutnant Müller-Meersack doziert über Panzerketten und PS und Schneetauglichkeit und Übungen unter »realen Kriegsbedingungen in der Lüneburger Heide«. Seine Orden blitzen und blinken und spiegeln sich in Marlies' Augen. Er erzählt von einem Schaf, das einmal unter den Panzer geraten ist und von dem vielen Blut und dass die Wolle kaum aus der Kette zu entwirren war. Ein wohliger Schauer läuft Marlies den Rücken hinunter.
»Wissen Sie, ich finde, dass es mehr Frauen in der Bundeswehr geben sollte. Frauen wie Sie. Verstehen Sie, was ich meine?«
Marlies nickt vorsichtig. Ja, das versteht sie.
»Ich fühle mich von Ihnen ja so verstanden!«, betont Leutnant Müller-Meersack. Marlies meint, sie auch zu fühlen, diese harmonische Wolke von Verständnis, die sie beide umgibt und das Messegetöse außen vor lässt. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen«, fordert der Leutnant sie auf und reicht ihr seine Hand. Er geleitet Marlies umsichtig eine hölzerne Treppe hinauf zur Einstiegsluke des Panzers. Er öffnet den Deckel. Marlies denkt an die neuen Litschi-Dosen in Knurres Kramerlädchen. Sie hat heute Vormittag noch eine Sonderlieferung auspacken müssen, weil Frau Knurre an Haifischaugenschnaps als neues Trendgetränk glaubt. Wodka mit Litschi drin, sieht total echt aus. Marlies würde Herrn Müller-Meersack gerne davon erzählen, aber vielleicht würde der sich gekränkt fühlen, wenn sie seinen großen, starken Panzer mit einer exotischen Obstkonserve vergleicht? Also sagt sie lieber nichts, so wie immer, und überlegt sich, wie sie Leutnant Müller-Meersack ansprechen würde, falls es ihr denn doch mal gelingen sollte. Sir? Ja, ein scharfes Sir, das gefiele ihr. Sie lässt sich, gehalten von seiner Hand, in den Panzer gleiten und malt sich dabei aus, wie sie beide ganz allein unter realistischen Kampfbedingungen durch die Lüneburger Heide brettern und versuchen, feindlichen Schafherden auszuweichen. Diese Vorstellung findet Marlies romantischer als alles, was sie bisher in ihren Heftchenromanen gelesen hat. Müller-Meersack quetscht sich neben sie in den Panzer.
»Das«, der Leutnant versucht, auf etwas zu zeigen, doch er kann seinen Arm in der Enge kaum bewegen, »ist das ABC-Schutzsystem. In Gefahrensituationen erzeugt es Überdruck.«
Überdruck, denkt Marlies, ein passendes Wort.
»Ich fühle mich Ihnen so nahe!«, stöhnt er.
Ja, denkt sie, das könnte daran liegen, dass wir uns gerade wirklich sehr nahe sind. Sir, wie sie ihn in Gedanken schon nennt, riecht nach Old Spice. Männlich. Würzig. Nach Abenteuer. Er ist der Richtige!, glaubt Marlies in diesem Moment.
»Ich möchte Ihnen noch viel näher sein«, keucht Müller-Meersack. Marlies spürt einen kühlen Orden in ihrem Ausschnitt. Sie hat nichts dagegen einzuwenden. Er presst seine Hüfte an ihre. Schweres Gerät, denkt Marlies, zu ihrem Erstaunen ganz entzückt.
Doch leider, leider, leider öffnet sich in diesem Moment die Luke, die der Leutnant diskret über ihnen geschlossen hat, und ein weiterer Leutnant, nein, sogar ein Oberleutnant, steckt den Kopf hinein. Ein flotter Dreier!, denkt Marlies hocherfreut. Davon hat sie mal gelesen, zumindest eine Andeutung darüber, und die Idee hat ihr gefallen. Sie musste so lange auf den einen Richtigen warten, da können es ja ruhig auch zwei sein. Auf einmal. Sie kommt sich ein bisschen vor, als hätte sie im Lotto gewonnen. Okay, sechs Richtige hätten nun nicht in den Panzer gepasst, aber man muss ja am Anfang auch nicht gleich übertreiben.
»Terrorübung!«, brüllt der Oberleutnant.
»Tja, dann muss ich wohl mal. Die Pflicht ruft«, sagt Müller-Meersack bedauernd. »Wollen Sie mitmachen?«, setzt er mit einem Hoffnungsschimmer im Blick zackig hinterher.
Marlies ist einen kurzen Moment verärgert.
Warum musste diese viel versprechende Situation jetzt schon zu Ende
sein? Sie war doch noch gar nicht richtig in Schwung! Wann abgeblendet wird, bestimme ich, denkt
Marlies ein wenig trotzig. Doch dann nickt sie nur. Terrorübung,
das klingt auch nicht schlecht, da kann sie bestimmt noch was
lernen. Galant helfen ihr Leutnant und Oberleutnant aus dem Panzer
und führen stolz ihr neuestes Equipment vor. Marlies lässt sich
demonstrieren, wie man eine terroristische Sprengfalle mit
technisch-physikalischen Methoden beseitigt. Wie praktisch, denkt sie. Und diese Schutzkleidung, einfach schick! Vor
lauter Begeisterung vergisst sie sogar ihre erotischen
Anwandlungen. Und ob Müller-Meersack sie immer noch anschmachtet,
kann sie unter der ABC-Schutzmaske sowieso gar nicht
erkennen.
Tina, Petra und Hanna erkennen Marlies auch kaum wieder, denn sie trägt eine Vollschutzausrüstung in trendigem Olivgrün mit Helm und Schutzteilen und Stiefeln und allem Drum und Dran.
»Jaja, der Smart-Uniform-Look – darüber habe ich in einer Zeitschrift gelesen«, sagt Petra nach einer Schrecksekunde. »Den kombiniert man jetzt aber mit romantischen Accessoires. So siehst du aus wie eine Spinatwachtel!«
Selber Spinatwachtel, giftet Marlies im Geiste zurück. Wenn schon Wachtel, denkt sie, dann bin ich ein Wachtelkönig. Über den hat sie gerade etwas gelesen. Ein unscheinbar aussehender kleiner Vogel, der aber trotzdem aus irgendeinem Grund sehr wichtig ist. Ich bin eine Wachtelkönigin! Leider kommt Marlies nicht dazu, den reizvollen Gedanken in Ruhe weiterzuverfolgen, denn die Damen wollen los. Sie nehmen ihr den Helm ab und drängen sie zum Mitkommen. Doch Marlies muss erst noch ein paar Broschüren mit Titeln wie Waffensysteme und Großgerät mitnehmen. »Guckt mal, hier, das Binnenminensuchboot Frauenlob – das wäre doch was für mich! Das hat zweitausend PS«, sagt sie, ungewöhnlich redselig.
»Ja, toll, aber meinst du nicht, dass der Badeteich für so etwas zu klein ist?«, fragt Hanna.
»Dann vielleicht das Aufklärungssystem Drohne CL 289? Das betreibt einen unbemannt programmierbaren Aufklärungsflugkörper.«
»Unbemannt bist du doch selber«, bemerkt Tina ein wenig taktlos.
Marlies steckt noch schnell ein paar Bewerbungsformulare für die gehobene Offizierslaufbahn ein und sieht sich nach Leutnant Müller-Meersack um. Sie entdeckt ihn in einer Ecke auf einer Bahre liegend, bewusstlos.
»Was ist denn mit ihm?«, fragt sie einen der umstehenden Sanitäter.
»Ach, der hat in einer dieser neuen ABC-Masken hyperventiliert und ist ohnmächtig geworden. Im Ernstfall wäre er jetzt hin«, antwortet der.
Marlies überlegt, ob sie noch warten soll, bis
er aufwacht, doch die anderen drängen zum Weitergehen. Ein Mann,
der ohnmächtig wird? Vielleicht ist er
doch nicht der Richtige, denkt Marlies. Und ärgert sich,
dass ihr immer etwas dazwischenkommt.
»Ich habe Hunger«, stellt Petra fest. »Da vorne ist die Halle 6, Internationales & Spezialitäten«, sagt sie und weist ihren Freundinnen den Weg. »Da können wir unseren genialen Schachzug mit den Fresh&Clean-Männerseminaren feiern. Ich möchte etwas richtig Exotisches essen.«
»Du meinst Chinesisch oder so? Ratte?« Hanna schüttelt sich bei dem Gedanken. Sie hat alle Vorurteile in Sachen ausländische Küche von ihrer Oma übernommen. »Da drüben ist doch gleich Die Schlemmerschule – das gläserne Kochstudio. Lasst es uns da probieren.« Sie gehen ein paar Schritte bis zu der Glaswand, hinter der verschwitzte Kochlehrlinge unter dem Motto »Kreativ mit Kräutern« hektisch scheiterhaufenähnliche Gebilde aus Rosmarinzweigen anhäufen, die immer wieder in sich zusammenfallen.
»Die sind aber süß«, säuselt Tina beim Anblick der verzweifelten Jungs.
»Aber ich will doch keinen Wald essen«, sagt Petra.
Hanna gibt nach und folgt ihnen zu den internationalen Spezialitäten. Der Weg dahin wird ihnen durch diverse Gratis-Wein- und Likörverkostungen versüßt. Nach knapp fünfzig Metern hat Petra drei Kisten klebrigen Limonenlikör, Hanna zwei Magnumflaschen Kirschwasser, das wie Brennspiritus riecht, und Tina zwölf Sixpacks Original Elk Brew geordert (sie weiß selber nicht so ganz genau, was das sein soll, aber der Verkäufer mit dem Elchgeweih auf dem Kopf sah so niedlich aus). Dann sind sie endlich in der Wunderwelt Internationales & Spezialitäten. Tina wirft sich einen kreischend-lila Kimono über, während Petra eine sehr kratzige Andenmütze mit Bommeln und passendem Poncho ersteht. Marlies bleibt vor einem Stand stehen, der einen verführerischen Geruch ausströmt. Angeboten wird etwas Frittiertes, fingergroße Stäbchen, die leichte Ähnlichkeit mit Pommes frites haben. Was ist denn das? Marlies liest – und kann ein verwegenes Grinsen nicht unterdrücken. »Ich gebe eine Runde aus«, ruft sie erstaunlich lebhaft und verteilt kleine Schälchen an alle.
»Hmmm, schön knusprig«, sagt Hanna. »Schmeckt ein bisschen wie die Käsestangen meiner Oma, nur ohne Käse. Was ist denn das?«
»Afrikanische Pommes frites«, antwortet Marlies und lächelt geheimnisvoll.
»Die sehen irgendwie seltsam aus«, argwöhnt Tina. »Guckt mal, sind das hier nicht Beine?« Sie hält eines der frittierten Teilchen gegen das Licht. Genau erkennen, was da in diesen krossen Teig eingebacken ist, kann sie allerdings nicht.
Ein Blick auf das Schild, dass diskret an der Seite des Standes angebracht ist, hätte Klarheit gebracht: Heuschrecken – nahrhaft und lecker steht darauf. Nur hat sich Marlies genau so davorgestellt, dass die anderen drei Damen es nicht sehen können. Sie könnten es höchstens an Marlies' erstaunlich zufriedenem Gesichtsausdruck ahnen. So guckt sie sonst nie. Aber das fällt den anderen nicht auf.
Hanna bestellt eine zweite Portion. Danach wird ihr ein wenig übel. »Wahrscheinlich, weil die Dinger so fettig sind«, meint sie zu Petra. Sie überlegt kurz, mit einem der gekauften Putzmittel zu gurgeln, verwirft den Gedanken dann aber wieder. Stattdessen schnüffelt sie an The Best for the Best; der Apfel-Zimt-Duft tut ihr gut.
»Lass mich auch noch mal riechen!«, fordert Tina und nimmt ebenfalls eine Nase voll. Sofort spürt sie das Verlangen, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Ist euch auch so heiß?«, fragt sie die anderen, während sie sich Knopf für Knopf vorarbeitet. Sie erblickt eine durchsichtige Badewanne, in der es verlockend sprudelt. Davor ein recht einladend aussehender Verkäufer, der könnte mit dem Latexputztuchmann verwandt sein. Tina strebt auf ihn zu, ihre Freundinnen folgen ihr gespannt.
»Darf ich Ihnen unser neuartiges Sauerstoffbad vorstellen?«, fragt der Jude Law der Sprudelbäder und redet, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter: »Reine Sauerstoffperlen umhüllen Ihren Körper, Sie werden sich danach wie neugeboren fühlen. Hier, testen Sie mal!« Er hält seine Hand neckisch ins Wasser. Tina nimmt die Aufforderung an. Sie schält sich aus Ober- und Unterbekleidung, erklimmt etwas unbeholfen das Podest, auf dem die blau illuminierte Wanne steht, und gleitet hinein. »Brrr, ist das kalt«, beschwert sie sich.
Der Verkäufer ist einen Moment verdattert, stellt sich aber dann auf die für ihn anscheinend ungewohnte Situation ein. »Die Temperatur können Sie hier stufenlos regeln«, erklärt er so trocken wie möglich und zwingt seinen Blick von Tinas durchtrainiertem Körper auf den weniger formschönen Sprudelgenerator. »Und Sie haben natürlich die Wahl zwischen verschiedenen belebenden Programmen. Ich gehe hier mal auf Stufe 5, das ist aktivierend.«
»Als ob Tina nicht schon aktiviert genug wäre«, flüstert Hanna Marlies zu.
In der Badewanne fängt es heftig an zu blubbern, und Tina quietscht und kreischt vergnügt. Der Verkäufer stöhnt vor Wonne. Ihre Freundinnen wenden sich nun doch verschämt ab, dem Stand mit den automatischen Massagegeräten gegenüber zu. Die bohren jedoch unangenehm mit ihren mechanischen Stummelpfötchen im Rücken herum.
Hanna zieht es von dort magisch zu Maschinen, die aussehen wie in einem James-Bond-Film der sechziger Jahre. Große Spulen drehen sich, rote und grüne Lämpchen blinken hektisch. Umfangreiche grafologische Charakteranalyse wirbt ein Schild, nur € 3,–.
Das ist ja fast geschenkt, denkt Hanna. Eigentlich wollte sie nie wissen, was für ein Mensch sie eigentlich ist, sie hat sich nie besonders für sich selbst interessiert. Aber im Messe-und Apfel-Zimt-Duft-Rausch erscheint ihr dieses Angebot einfach unwiderstehlich. Sie füllt eines der auf dem Tresen liegenden Kärtchen aus und reicht es zusammen mit drei Ein-Euro-Münzen einer streng aussehenden Frau in einem weißen Kittel. Die schiebt es in einen Maschinenschlitz, worauf die Räder rotieren, die Lampen blinken und ein mit Maschinenkraft geführter Stift eine Linie auf ein Auswertungsblättchen zeichnet. Dieses Blättchen reicht die strenge Kittelfrau Hanna, ohne sie dabei anzusehen. Vielleicht ist sie auch eine Maschine?
Sechsundvierzig Charaktereigenschaften hat der Automat analysiert. Wissenschaftliche Resultate sind nicht garantiert steht winzig klein gedruckt ganz unten auf dem Blatt. Aber das sieht Hanna nicht. Sie ist gebannt von der Linie, die der Automat gezeichnet hat. Sie linst kurz nach rechts und links. Bei den anderen Kundinnen ist diese Linie gezackt, mit mehr oder weniger heftigen Ausschlägen nach rechts und links, wo die einzelnen Charaktereigenschaften aufgeführt sind. Auf der einen Seite steht zum Beispiel diszipliniert, kritisch, auf der gegenüberliegenden Seite künstlerisch, kreativ. Hanna hätte hier vielleicht eine Tendenz zu diszipliniert erwartet, wenn sie sich mal etwas mit sich selbst beschäftigt hätte.
Aber da ist kein Ausschlag. Keine Tendenz. Hannas Charakterkurve ist ein gerader Strich. Ohne Abweichungen, Neigungen. Weder. Noch.
Hanna erschrickt. Was soll das heißen? Dass sie
keinen Charakter hat? Wenn das rauskommt ... Das darf niemand
wissen!
Petra guckt auf die Uhr. Es ist viel später, als sie gedacht hat. »Hast du Hanna gesehen?«, fragt sie Marlies.
»Nö.«
»Eben war sie doch noch hier bei den Massagegeräten. Aber da ist sie jetzt nicht mehr. Und es ist gleich fünf. Um fünf fährt doch der Bus ab!«, haspelt Petra.
Von hinten nähert sich die Ortsvertrauensfrau mit hektischen roten Flecken im Gesicht, die selbst durch die Erdpuderschicht zu sehen sind: »Da seid ihr ja! Wir wollen gleich abfahren! Ihr solltet doch alle zusammenbleiben!«
»Wir haben Hanna verloren!«, ruft Petra ihr zu.
»Ich glaube, die ist da vorne«, sagt Tina. »Von da oben hatte ich einen ganz guten Überblick. Nur ein Momentchen noch!« Sie eilt wieder zum Sprudelbadmann und lässt sich ein Sauerstoffblubbergerät einpacken. Das ist gar nicht so leicht, denn das Ding hat etwa die Größe eines Kühlschranks. Der Verkäufer bindet ein Seil daran fest, so kann Tina es mit einer Hand (in der anderen trägt sie den Überwachungskamera-Set-Koffer) hinter sich herschleifen. »Herabgesetzt von tausendzweihundertneunundfünfzig Euro auf siebenhundertsiebenundsiebzig – das ist doch ein Schnäppchen!« Sie keucht, doch diesmal nicht aus Erregung wegen eines Verkäufers, sondern weil das Gerät ganz schön schwer ist. »Service inklusive!«
»Schnell, schnell«, drängt die Ortsvertrauensfrau. »Wo ist denn jetzt Hanna?«
»Folgt mir!« Tina lotst das Landfrauengrüppchen
durch die Menge.
Hanna sieht die noch tropfnasse Tina mit Petra, der etwas widerstrebenden Marlies und der von nervösen roten Flecken übersäten Ortsvertrauensfrau heraneilen. Schnell steckt sie das Analyseergebnis in ihre Handtasche. Niemand darf das je sehen!
Die Ortsvertrauensfrau drängt zum Aufbruch. Dann rennen sie los. Erst in die falsche Richtung, doch schließlich finden sie den richtigen Ausgang. Der Bus von Grell-Reisen steht direkt davor. Vollbesetzt und hell erleuchtet, schon mit laufendem Motor.
»Sind wir nun vollzählig?«, keucht die Ortsvertrauensfrau außer Atem.
»Nein, Monique fehlt noch«, kreischen ein paar Frauen zurück. Der Bus ist knallvoll mit Kisten und Tüten, durch den Gang ist kein Durchkommen mehr. Tina bezirzt den Busfahrer, damit der für ihr Sprudelbad einen Extra-Kofferraum öffnet.
Die Landfrauen sind erschöpft, aber angeregt. Was man alles erlebt hat! Was man alles gekauft hat! Aber das Leben in der Stadt, das wäre ja auf Dauer nichts. Viel zu hektisch, viel zu anstrengend, viel zu laut. Und viel zu viele Menschen! Sie haben gar nicht wahrgenommen, dass alle anderen Menschen, die sich mit ihnen durch Du & Deine Welt drängten, ebenfalls Landfrauen waren. Aus anderen Dörfern. Echte Städter sind ihnen gar nicht begegnet.
Endlich kommt auch Monique angetrippelt. In jeder Hand hält sie einen langen, schwingenden Stab, nur mühsam kann sie das Gleichgewicht bewahren. Es macht ihr ein wenig Mühe, in den Bus einzusteigen, die Flexi-Trainer, wie die Stäbe heißen, verkanten sich immer wieder im Eingangsbereich.
Als sie es geschafft hat, bleibt sie am Anfang des Ganges stehen und lässt ihren Blick triumphierend über die Sitzenden gleiten. Doch was sie da sieht, gefällt ihr gar nicht. Die sind ja alle geschminkt! Und zwar nicht von ihr, der Beauty-Monopolistin!
Vierzig erdbepuderte Gesichter (ohne Tina, die ihre Gesichtsbemalung im Badewasser zurückgelassen hat, und Marlies, die dem vermeintlichen Schönheitstrend durch Unauffälligkeit vor dem Stand entging) starren sie an, weil sie plötzlich wie von Sinnen loskreischt: »Was fällt euch eigentlich ein! Was habt ihr bei der Konkurrenz gemacht? Wie ihr alle ausseht ... unmöglich! Das ist ja total unprofessionell gearbeitet!«
Die Landfrauen schauen einander an und sind mit dem, was sie sehen, eigentlich ganz zufrieden. Der Erdpuder hat wie versprochen den ganzen Tag gehalten (und sieht auch nicht aus, als wollte er sich je wieder von der Haut lösen), die Fliegenbeine sind stabil und die Augen nach wie vor in drei Fliedertönen markiert. Selbst Spuren des Magic-Lipsticks sind noch zu sehen, trotz Heuschreckenmahlzeit und anderer kulinarischer Exzesse. Moniques Make-up dagegen wirkt ziemlich abgeblättert. »Ich bin hier die Beauty-Queen«, kreischt sie und schwingt dabei ihre Flexi-Stäbe. Die Landfrauen in den ersten Reihen ducken sich, der Busfahrer leider nicht. Ein Ende eines Flexi-Stabes trifft ihn am Hinterkopf, er sackt ohnmächtig über dem Lenkrad zusammen.
»Na toll«, stöhnt die Ortsvertrauensfrau. »Monique, du hast den Busfahrer k.o. geschlagen. Setz dich. Was sind das überhaupt für merkwürdige Stöcke? Und was machen wir jetzt?«
Monique beginnt ungerührt, ihre Flexi-Trainer zu erläutern. »Die bringe ich zum Schwingen«, sie fängt an, mit den Stäben herumzuwackeln, die Landfrauen in ihrer Nähe ziehen wieder die Köpfe ein, »und die Vibration bewirkt eine außergewöhnliche, tiefgehende Reaktion des Körpers. Zugleich wird passiv die Tiefenmuskulatur gestärkt.« Moniques Körper vibriert, auch noch in Erinnerung der tiefgehenden körperlichen Reaktionen, die der Trainer beim persönlichen, intensiven Beratungsgespräch bei ihr ausgelöst hat.
Die anderen Landfrauen interessieren sich allerdings mehr für das Thema, das Oma Ellerbrock auf den Punkt bringt: »Wie kommen wir nach Hause?« Der Busfahrer scheint hinüber zu sein. Mit Mühe und Ohrfeigen bringt die Ortsvertrauensfrau ihn wieder zu Bewusstsein, doch er wirkt wie volltrunken. »Den können wir wohl vergessen«, stellt Wilma fest. »Ich fahre!«
»Du?«, fragen die Landfrauen erstaunt.
»Klar, ich habe gerade drinnen auf der Messe meinen Pilotenschein gemacht. Mit dem neuen Airbus! Da werde ich ja wohl auch so einen popeligen Reisebus steuern können«, prahlt Wilma.
»Aber das war doch nur ein Flugsimulator«, widerspricht Hanna zaghaft.
»Also: Wollt ihr jetzt endlich nach Hause?«, fragt Wilma laut in den Bus.
Der Fahrer hält sich wimmernd den Schädel.
»Jaaaaaa!«, brüllen die Landfrauen
zurück.
Marlies sitzt still und in sich versunken auf ihrem Sitz. Sie fragt sich, warum es bei ihr nie ... na ja, fast nie ... bis auf dieses eine Mal ... zum Äußersten kommt. Gleichzeitig ärgert sie sich über ihre Wortwahl. Zum Äußersten, wer spricht denn so? Ihr wird klar, dass es vielleicht auch ein wenig an ihr selbst liegt.
Mit Leutnant Müller-Meersack im Panzer wäre es eventuell ein wenig eng geworden. Aber was ist mit Tagträumen? Da blendet sie ab, als wäre sie ein fleischgewordener Lore-Roman! Warum eigentlich? Eigentlich, so erkennt sie hier, als wäre es ein abgelegenes tibetisches Kloster und kein mit lärmenden Landfrauen vollbesetzter Bus, doch nur, weil ich tief in mir drin glaube, dass ich den vollen Genuss nicht verdiene. Das muss sich ändern!, befiehlt sie sich. Sofort!
Sie sieht sich um. Die anderen Landfrauen beachten sie nicht. Ein guter Moment. Aber sollte sie wirklich, hier so in aller Öffentlichkeit ...? Reiß dich zusammen, Marlies, von nichts kommt nichts! Außerdem fällt ihr ein, dass ihre Tagträume sich ja in ihrem Kopf abspielen. Kann man an ihren Augen erkennen, was sie gerade denkt? Sicherheitshalber senkt sie die Lider – und legt los. Sie mit Müller-Meersack im Panzer. Vorsichtig streift sie ihm seine Uniformjacke ab, die Orden fallen klimpernd zu Boden. Zärtlich liebkost sie seine Hüften – sie weiß, sie könnte jetzt weitermachen. Sie muss nicht abblenden. Sie ist sich sicher, es könnte ihr gelingen, sich alles ganz genau vorzustellen. Das macht sie auch ...
... allerdings im Dunkeln. Im Stockfinsteren. Und ganz schnell.
Aber immerhin.
Marlies lächelt.
Wilma dreht den Zündschlüssel um und setzt den Bus ruckartig in Bewegung. Beim Ausparken touchiert sie ein paar herumstehende Fahrräder, vor der nächsten Kreuzung steht der Bus seltsam quer. Aber sie schafft es bis auf die Autobahn, gibt Vollgas und chauffiert die Landfrauen heil zum Parkplatz vor dem Feuerwehrhaus, wo sie den Bus mit quietschenden Reifen zum Stehen bringt.
Schnatternd verabschieden sich die Damen voneinander. »Wenn Frauen auseinandergehen, bleiben sie noch lange stehen«, kichert eine der schwer beladenen Ausflugsteilnehmerinnen. »Das war ein schöner Tag! Und so aufregend!«, versichern sich alle. »Aber in der Stadt wohnen? Nein, das wäre nichts für uns. Hört nur, wie friedlich ...!« Ein heulendes Motorgeräusch verschluckt den Rest des Satzes. Bauer Harms repariert mal wieder ein wertvolles Stück aus seiner umfangreichen Kettensägensammlung.
Nach und nach zerstreut sich die Runde, schwer
beladen machen sich die Landfrauen auf den Heimweg. Tina zieht ihr
Sprudelbad am Seil hinter sich her, Petra überlegt, wo sie die drei
Kästen Likör am besten vor ihrem Mann versteckt, und Marlies träumt
von Flugabwehrkanonenpanzern. Und was man darin alles Verwegenes
machen könnte.
Hanna öffnet vorsichtig die Eingangstür. Fußspuren auf den Fliesen, das sieht sie sofort. »Heinz«, ruft sie. Erst leise, dann nachdrücklich: »Heinz!« Aber er antwortet nicht. Er ist nicht da. Seine Halbschuhe und seine Jacke fehlen auch.
»Sie haben ihn abgeholt«, sagt Hanna, ein wenig erschrocken. Schon komisch, so ohne Heinz alleine in dem Haus. Und wie herrlich, mal nicht angebrüllt zu werden!
Aber dann wird die Stille immer lauter. Hanna baut ihre neuen Putzmittel und Wischtücher wie eine Festung um sich herum auf. War es richtig, was sie getan hat?
Ja, denkt sie, das war richtig. Sie schnappt sich das Latextuch, stellt das Radio an und wirbelt zu Barry Manilows Copacabana schwungvoll im Kreis. »Es lebe die Operation Frischluftkur!«, ruft sie. Aber nur ganz leise, damit die Nachbarn sie nicht hören.