5. Kapitel:
Discofieber

Samstag

Jetzt bloß nicht zittern, denkt Helga. Nur die Ruhe bewahren. Unbarmherzig leuchtet das Neonlicht über dem Waschtisch im Badezimmer ihrer Eltern. Jede ihrer Poren ist ein gewaltiger Krater, sorgfältig gefüllt mit Make-up. Die Lippen leuchten kirschrot, die Haare sind schwarz gefärbt und wild toupiert, nur der Lidstrich will noch nicht so recht gelingen. Verwackelt, wie sieht das denn aus?

Helga, die sich lieber Hell nennt, weil das nicht so krass uncool klingt wie ihr richtiger Name, erinnert sich an einen Tipp aus einer Frauenzeitschrift: Ellenbogen beim Lidstrichziehen aufstützen. Also beugt sich Hell nach vorne, stützt den Arm auf, setzt den Kajalstift an – und sticht sich fast das Auge aus, als ihre Mutter ohne zu Klopfen ins Bad kommt.

»Kind, wie siehst du denn wieder aus? Ich dachte, du wolltest mit Christiane schön ausgehen? Willst du dir nicht was Nettes anziehen?« Verwirrt betrachtet die Mutter Helgas zerrissene schwarze Strumpfhose. Bei den sommerlichen Temperaturen! Aber mit solchen Nebensächlichkeiten wie Jahreszeit oder Wetter darf man ihrer Tochter ja nicht kommen.

Hell beschließt, Lidstrich Lidstrich sein zu lassen und den Smoky-Eyes-Look neu zu interpretieren. Mit einem kleinen Pinsel verteilt sie großzügig anthrazitfarbenen Lidschatten um die Augen herum. Danach sieht sie aus wie nach drei Wochen dramatischem Schlafentzug. Perfekt!

»Was ist denn mit dem aktuellen Top, das wir neulich zusammen beim WaBa für dich gekauft haben, Helga?«, hakt die Mutter leicht verzweifelt nach.

»Nenn mich bitte nicht Helga!«, stöhnt Helga. »Ich heiße Hell! Und das Top ist eingelaufen, nachdem du es gewaschen hast.«

»Ach, das war doch eh zu groß. Warum trägst du nicht mal was nettes Bauchfreies? Immer diese finsteren Schlabberklamotten. Du siehst ja aus wie ein Gruftie!«

»New Romantic heißt das!«

»Aber Kind, das ist doch gar nicht mehr modern! Das gab es doch zuletzt in den Achtzigern. Heute kombiniert man doch romantische Details mit strengem Uniformstil ...«

Helga rennt aus dem Bad und poltert in schweren Motorradstiefeln die Treppe hinunter.

»Und einen schönen Gang machen diese Schuhe auch nicht gerade!«, ruft ihre Mutter ihr nach. Die weiß sowieso alles besser.

Zum Glück wartet ihre Freundin Christiane vor dem Haus. Sie ist ein Jahr älter als Helga, also schon achtzehn, hat einen Führerschein und darf den Opel Astra ihrer Mutter fahren.

»Cooles Outfit«, sagt Christiane anerkennend, als Helga zu ihr ins Auto steigt.

Helga hat ewig überlegt, was sie anziehen soll. Das übergroße The-Cure-T-Shirt hat sie bei eBay ersteigert, den schwarzen Jeansmini mit der Schere selbst gekürzt und die Strumpfhosen – eine blickdicht, die andere Netz – eigenhändig zerrissen. Auf das Gesamtergebnis ist sie eigentlich ziemlich stolz. Aber eben auch nur eigentlich.

Helga weiß, dass sie mit diesem Outfit im Dorf auffällt. Sie behauptet natürlich immer, das sei Ausdruck ihrer Persönlichkeit, ihrer Identität. In Wirklichkeit ist sie sich damit nicht so sicher. Sie gehört irgendwie nicht dazu, egal, wie sie sich anzieht. Sie hat es probiert: Nette Pastellfarben, bauchfrei, sogar eine Dauerwelle hat sie sich mal – auf Anraten ihrer Mutter – in Moniques Salon Scharfe Schere verpassen lassen. Danach kam sie sich vor wie eine als lächerliches Schaf verkleidete Ziege. Falsch. Und die Klamotten waren ihr alle zu eng, saßen nicht richtig. Ein Gefühl, das sich auf ihr ganzes Leben übertragen lässt: Es passt nicht. Sie hat alles versucht, um dazuzugehören, sich einzufügen, aber es hat nicht funktioniert. Deshalb grenzt sie sich jetzt ab. Wenn schon Schaf, dann eben das schwarze.

Christiane ist ihre einzige Freundin. Das reicht. Mehr braucht Hell nicht. Die anderen können ihr gestohlen bleiben. Manchmal träumt sie von einer Welt, in der alle so angezogen sind wie sie und alle die Musik hören, die sie mag. Im ersten Moment findet sie das cool, doch dann bekommt sie Angst. Wie langweilig das wäre! Sie wäre gar nichts Besonderes mehr. Helga hat sich so daran gewöhnt, aufzufallen, auch unangenehm, dass sie darauf nicht mehr verzichten möchte.

»Findest du, dass mir der Style steht?«, fragt Helga.

»Aber derbe! Der Look bringt dein Innerstes krass zum Leuchten!«, antwortet die Freundin. Helga lächelt geschmeichelt. Zwar ist sie sich nicht so sicher, ob es gut ist, wenn ihr Innerstes leuchtet, aber sie weiß, dass Christiane das nett gemeint hat.

»Du siehst auch verschärft aus«, gibt sie das Kompliment zurück. Christiane ist äußerlich das komplette Gegenteil von Helga: Seidige blonde Haare, die ihr puppenhaftes Gesicht sanft umfließen. Ebenmäßige Haut ohne auch nur die Andeutung einer Pore. Ein zartes, helles Kleid mit Spaghettiträgern, knielang, das ihre perfekte Figur betont. Feine Riemchensandaletten. Jede Mutter hätte sich gewünscht, dass ihre Tochter ein wenig wie Christiane aussieht.

Die Freundinnen sind ein sehr ungleiches Gespann, aber auf dem Land hat man nicht so viel Auswahl. Außerdem hat die unterschiedliche Optik auch Vorteile: Wenn es um Jungs geht, kommen sich Helga und Christiane nie ins Gehege. Die Typen können sich ganz leicht zwischen den beiden Freundinnen entscheiden. Fast immer entscheiden sie sich für Christiane. Aber das nimmt Helga ihr nicht übel, schließlich kann Christiane nichts dafür.

Im Radio läuft Shakira, Underneath your clothes. Die Mädchen singen mit. Christiane, weil sie den Song toll findet. Helga, weil ihr das einfach Spaß macht. Es ist egal, dass sie eine CD von Shakira nicht mal mit einer Pinzette anfassen würde – solange Christiane dabei ist, nimmt sie Abstand von ihrem kultivierten Dark-Wave-Musikgeschmack. Man muss ja nicht dogmatisch sein. Manchmal ist Helga auch gerne einfach nur albern. Und natürlich guckt sie Top of the Pops und weiß genau, was in den Charts ist und war. Und das ist eben nicht nur Depeche Mode und Tokio Hotel. Feindbeobachtung nennt sie das, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber wenn sie ehrlich ist, muss sie sich eingestehen, dass ihr sogar die dämlichsten Songs Vergnügen bereiten.

»Shakira hat Recht: Letztendlich kommt es darauf an, was unter den Klamotten ist«, kichert Christiane. Sie biegt bei Knurres Kramerlädchen rechts auf die schnurgerade Landstraße ab, die zur Disco ins übernächste Dorf führt, ins Paradise Island. Niemand nennt den Laden so, bekannt ist die Disco seit Generationen als Schädel, weil die harten Getränke dort sehr preisgünstig sind und es dem Kopf am nächsten Tag entsprechend geht.

»Darauf bin ich bei Marco sehr gespannt«, giggelt Christiane weiter. »Neulich ist ihm mal das T-Shirt ein wenig hochgerutscht. Der hat ein richtiges Sixpack!«

»Und Ritschies Oberarme sehen aus wie Sahneschnittchen!«, fügt Helga hinzu. Ritschie ist ihr neuer Schwarm. Wenn sie nur an seine weichen Lippen denkt (sie glaubt, dass sie weich sind, denn sie sehen so aus, berührt hat sie seinen Mund leider noch nie) und den hauchfeinen Bartansatz, der kurz darüber beginnt, muss sie schon seufzen. Diese mittelblonden Haare ... okay, den Seitenscheitel könnte man ändern, aber dieser Pony, der ihm so lässig ins Gesicht fällt und den er immer so cool zurückpustet ... »Er hat ja leider so gar keine Ähnlichkeit mit Marylin Manson«, bedauert Helga ein wenig. »Aber ansonsten hat er alles, was ein Mann braucht.«

»Und das wäre?«, fragt Christiane.

»Na ja, er sieht gut aus, er ist cool, er bewegt sich einfach hinreißend, er hat schöne Hände, er ...«

Christiane unterbricht sie: »Aber du hast noch nie mit ihm geredet.«

Immer muss sie gleich die schwachen Stellen aufdecken. »Das wird sich heute Abend ändern!«, behauptet Helga. Das ist zumindest der Plan. Bislang hat sich einfach noch keine Gelegenheit ergeben. Man redet nicht einfach so mit Ritschie! Dafür ist er einfach zu ... hmmm ... abgehoben. Auf dem Schulhof steht er meist alleine und sieht aus, als hätte er verdammt schlechte Laune. Das findet Helga faszinierend. Er wirkt, als käme er aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, die Helga gerne entdecken würde. Vielleicht von einem anderen Stern? Instinktiv weiß sie: Er ist der Mann, der sie verstehen wird. Aber vielleicht bildet sie sich das auch nur ein.

»Und wie ist das mit dir und Marco?«

»Wir haben sogar schon mal telefoniert. Er hat mir gesagt, dass er heute in den Schädel geht. Und das Ritschie auch da sein wird, das habe ich ihn nämlich gefragt«, pariert Christiane.

»Wie auffällig!«, stöhnt Helga. Hoffentlich plaudert Marco das nicht an Ritschie weiter. Helga will ja nicht völlig uncool dastehen.

»Wieso, ist doch total praktisch: So wissen wir jedenfalls, dass wir beide dort treffen.« Christiane denkt pragmatisch.

»Aber wo sollten sie auch sonst hingehen? Es ist Samstag, da fahren doch sowieso alle in den Schädel.«

»Da hast du auch wieder Recht. Egal, Hauptsache, ich sehe Marco. Ach, Marco, Gott meiner einsamen Nächte, meiner wirren Träume ...«

»Ritschie, Hauptrolle in meinen wildesten Fantasien«, ergänzt Helga.

»Du gehst aber ran«, sagt Christiane.

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, antwortet Helga. »Heute ist er fällig!«

Eigentlich ist Helga schüchtern. Das weiß sie, das weiß auch Christiane. Die fragt deshalb: »Und – wie willst du das machen?«

»Hmm, na ja ...« So genau hat sich Helga das noch nicht überlegt. Sie hat zwar ein paar Flirtstrategien im Internet nachgelesen, aber die kamen für sie alle nicht in Frage. Bitten Sie Ihr Flirt-Objekt um Feuer, stand da. Blöder Tipp, wenn man nicht raucht. Was soll man denn dann sagen, wenn der einem wirklich ein brennendes Feuerzeug unter die Nase hält? Das stand da natürlich nicht. Außerdem kam Helga die ganze Masche reichlich abgenutzt vor. Sie selbst hat vorsichtshalber allerdings ein Feuerzeug eingesteckt, könnte ja sein, dass Ritschie sie fragt.

»Du könntest ihm einen Drink auf seine Hose kippen«, schlägt Christiane vor. »Vielleicht zieht er die dann aus ...« Sie kichert albern.

»Nein, ich habe ihm eine CD gebrannt. Die werde ich ihm geben«, sagt Helga, in der Hoffnung, dass sie im richtigen Moment dann auch den Mut dazu aufbringen wird.

Am Straßenrand kommt ihnen eine Person entgegen. Ein Mann mit einem Kanister in der Hand. »Huch, wer ist das denn?«, fragt Christiane.

»Zitterkalle«, antwortet Helga. »Wahrscheinlich ist ihm mal wieder unterwegs der Sprit ausgegangen.«

»Sollen wir anhalten?«

»Nee, bloß nicht. Entweder ist er nüchtern, dann steigt er sowieso nicht ein, oder er ist betrunken, und dann müssen wir uns ewig irgendwelche Abenteuergeschichten anhören. Außerdem will er doch in die andere Richtung.«

»Stimmt auch wieder.« Christiane fährt weiter. Eine alte Eiche steht am Rand der schmalen Fahrbahn, ein paar Meter dahinter, schräg Richtung Graben abgesenkt, Zitterkalles im Moment nicht fahrbereiter Untersatz.

»Korrekt geparkt kann man das ja nicht gerade nennen«, bemerkt Christiane und fährt einen Bogen um den rostigen Trecker. Die Abendsonne leuchtet dahinter rosarot über die weiten Salatfelder.

»Wie kitschig das aussieht«, beschwert sich Helga. »Das Leben ist doch keine Postkarte!«

»Das sagst du nur, weil du nie eine Briefmarke hast«, kontert Christiane.

In ein paar Kilometern Entfernung blinkt eine Neon-Palme abwechselnd pink und giftgrün. Das Markenzeichen des Schädels, der ja eigentlich Paradise Island heißt, wirkt ein wenig exotisch zwischen den dichten Eichenkronen, die es umgeben. Daneben liegt, still und friedlich, der Massivhauspark mit seinen Musterhäusern – besser gesagt: das, was nach dem Brand im vergangenen Jahr davon übrig geblieben ist.

Helga und Christiane sind früh dran, es ist erst halb zehn, aber der gigantische Parkplatz ist schon gut gefüllt. Ein Opel neben dem nächsten. Entweder Muttis Zweitwagen oder der erste eigene – Muttis abgelegter Zweitwagen. Bescheiden die Corsas, schnittig die Tigras, protzig der einzige Speedster. Dazwischen hin und wieder ein dicker Mercedes oder BMW: Papas Firmenwagen.

Fünf Euro Eintritt inklusive ein Getränkebon. Der Mann an der Kasse stempelt Palmen auf Handrücken. Er benutzt ein frisches Stempelkissen, die Abrücke verschmieren. »Mach das mal ordentlicher!«, mahnt der Chef, der gerade vorbeikommt. »Wir wollen doch die hübschen Deerns hier nicht verschandeln!«

Ausweiskontrolle gibt es keine, ist auch nicht notwendig, der Chef weiß, wer unter sechzehn und wer unter achtzehn ist, und es ist ihm egal, solange die Polizei nicht wieder so eine aufgeblasene Razzia macht und alle Minderjährigen im Feuerwehrhaus einsperrt, bis sie von ihren Eltern abgeholt werden. Vor zwei Jahren gab es so einen unerfreulichen Zwischenfall, der neue Polizeichef wollte sich wohl profilieren. Aber inzwischen ist der auch Stammgast im Paradise Island 2, einem Nebenprojekt des Chefs.

Helga und Christiane gehen hinein. Mit ihren Sandaletten knickt Christiane ein wenig auf dem Kopfsteinpflaster um. Von außen ist der Schädel eine schmucklose Lagerhalle, doch im Eingangsbereich tut er so, als wäre er ein kleines Dorf aus lauter urigen Kneipen und Cocktailbars, die eine baumbestandene, beschauliche Gasse säumen. Die Bäume haben Plastikstämme und leicht angestaubte Textilblätter, aber das Kopfsteinpflaster ist immerhin echt und ein wahrer High-Heels-Killer. Helga und Christiane setzen sich in der ersten der dreiundzwanzig angeblich total individuellen, aber doch sehr ähnlichen Pseudokneipen auf einen Barhocker. Cocktail Flair heißt dieser Abschnitt des Schädels. Von hier hat man eine gute Übersicht über den Eingang. Die Freundinnen trinken Baileys auf Eis und kommentieren die Ankommenden.

»Was will die alte Schachtel denn hier?«, kommentiert Helga den Auftritt einer Frau. »Kommt denn heute kein Musikantenstadl im Fernsehen?«

Christiane kichert. »Die ist doch bestimmt schon über dreißig«, unkt sie.

»Teile von ihr«, gackert Helga zurück.

***

Fluchend flaniert Tina auf Neun-Zentimeter-Stilettos über das Kopfsteinpflaster, in Sorge um ihre empfindlichen Absätze. Sie ist auf der Suche nach Hanna, Petra und Marlies. Im Rahmen der Operation Frischluftkur haben sie sich bis in den Schädel vorgewagt, denn sie vermuten, dass Monique heute hier ein Rendezvous mit ihrem Flexi-Stab-Trainer hat.

Neben ihr gackern zwei Teenagermädchen los. Tina wirft den beiden einen tödlichen Blick zu. Sie hat zwar nicht gehört, was die Backfische gesagt haben, aber sie ahnt, dass das nichts Nettes gewesen sein kann. Tina kennt die Frauen. Und schließlich war sie auch mal jung.

***

»Ach, wo bleibt denn Marco? Vielleicht ist er schon drin? Lass uns doch mal nach hinten gehen«, schlägt Christiane vor.

Hinten, am Ende der Kneipenmeile, sind die Tanzflächen. Es gibt zwei, einen größeren und einen kleineren Disco-Bereich, schalldicht voneinander getrennt, um den unterschiedlichen Musikpräferenzen des Publikums wenigstens ansatzweise gerecht zu werden. Hier auf dem Land hat man sonst nämlich keine Wahl: Es gibt den Schädel, und da geht man eben hin. Die nahe gelegene große Stadt mit ihren Amüsiervierteln scheidet wegen Parkplatzmangel aus. Einzige Nachtleben-Konkurrenz: Feuerwehrbälle und Schützenfeste. Aber die sind eher etwas für Senioren, so ab dreißig. Also treffen die verschiedenen jugendkulturellen Szenen und Stilausprägungen im Schädel aufeinander. Heavy-Metal-Rocker mit Spinnenwebentatoos auf den Ellenbogen und langen, aber frisch gewaschenen Haaren stehen hier neben Möchtegern-Rappern, denen der Schweiß unter den kuscheligen Wollmützen herunterläuft. Es gibt ein paar Rockabillys, Mädchen in Petticoats und mit Pferdeschwanz, unzählige Christina-Aguilera-Kopien, ein paar, die so aussehen möchten wie Paris Hilton, unter den Älteren diverse Nena-Lookalikes (aber nicht ganz so gut in Schuss). Alles, was es mal als Jugendkultur gab, taucht hier wieder auf. Man muss sich ja absetzen und auch irgendwie dazugehören. Das ist gar nicht so leicht. Manche ändern ihren Stil schnell, manche behalten ihn bei, ewig, und altern dann mit ihm. Mit oder ohne Würde.

Über die große Tanzfläche hämmern dumpfe Beats, dazu fordern diverse Stimmen auf, man möge etwas schütteln. In einem Song den Po, dann den Kopf und im nächsten heißt es »shake your balla-balla«, was immer das sein mag.

Christiane schüttelt den Kopf, nachdem sie die Menge gescannt hat. Hinten rechts die Rocker, hinten links die Rapper und Skater, auf der Tanzfläche ein paar Mädchen in bauchfrei, die wahlweise Babyspeck oder Cellulite vibrieren lassen. »Kein Marco in Sicht.«

»Ritschie kann ich auch nicht entdecken«, sagt Helga. Ihr wird ein wenig heiß in den Stiefeln und der doppellagigen Strumpfhosen-Konstruktion. Sie erwägt, noch ein paar Löcher hineinzureißen.

Über ihnen flirrt die Lasershow. Aus zitternden Lichtstrahlen formen sich Gitter über den Tanzenden, werden zu unwirklichen Eisbechern mit Schirmchen und den unvermeidlichen Palmen. In den Achtzigern waren diese Effekte der große Hit, von weit her kamen die Ausgehwilligen ins Paradise Island, Mutterns Rat in den Ohren: »Guck da nicht rein, da kannst du blind von werden!«

Im Raum mit der kleinen Tanzfläche läuft heute dumpfes Umpf-Umpf-Umpf. Techno. Oder was der Provinz-DJ dafür hält. Helga ist enttäuscht, sie hatte auf coolen Achtziger-Jahre-Sound oder wenigstens etwas von Marylin Manson gehofft. Das Programm hier ist nämlich äußerst abwechslungsreich, fast vergleichbar mit der Themenvielfalt der Vorträge beim Landfrauenverein. Auf Songs von ihrer neuen Lieblingsband mit dem Namen The Smiths, eine Entdeckung aus dem Internet, hat sie trotzdem nicht zu hoffen gewagt. Sie hat das Gefühl, dass sie der einzige Mensch auf der Welt ist, der The Smiths kennt. Das geht ihr bei Sachen, die sie aus dem Internet fischt, oft so – obwohl ihr natürlich klar ist, dass das nicht stimmt. Aber das Internet ist für sie ihre ganz persönliche Welt. Die andere Welt die außerhalb des Dorfes. Seltsamerweise fühlt sie sich im Internet allein. Sie weiß, dass da auch andere surfen, dass sie diese Sphäre mit Millionen von Menschen teilt. Aber sie fühlt sich einsam darin. Sie entdeckt unendlich tolle Dinge, die sie mit niemandem teilen kann, zumindest nicht mit Christiane. Selbst wenn sie chattet, hat sie das Gefühl, sie würde nicht wirklich mit anderen Menschen kommunizieren. Aber die Idee der Einsamkeit im Internet gefällt ihr auch, irgendwie. Sie mag die Melancholie, die sie angesichts der flashigen Screen-Designs überkommt.

Niemand versteht mich, niemand hat meinen Geschmack und niemand fühlt meine Gefühle, denkt Helga. Genau das ist die Botschaft von The Smiths, und deshalb liebt sie die Lieder so. Total retro, das ist ihr klar, aber diese Musik ist eben etwas Besonderes. Ritschie würde das bestimmt verstehen. Sie umklammert die CD mit Songs von The Smiths, die sie gebrannt hat, extra für ihn. Die will sie ihm geben.

Aber leider: Keine Spur von Ritschie. Von Marco auch nicht.

Helga und Christiane schlendern zurück zur Kneipenmeile, vorbei an zerfledderten Kunstpalmen, vorbei an Monique, die in einer dunklen Ecke mit dem Flexi-Stab-Trainer tuschelt, den sie auf der Messe Du & Deine Welt kennen gelernt hat. Vorbei an zwei Gogo-Girls in Käfigen, die gerade Pause machen und sich durch die Stäbe hindurch laut über die Vor- und Nachteile von Heißwachs und Epiliergeräten unterhalten.

Plötzlich stößt Christiane einen lauten Schrei aus, als hätte sie etwas Grauenvolles in den Tiefen des Raumes entdeckt. Der Schrei geht jedoch in ein schrilles Kichern über, unterbrochen von dem Befehl: »Los, Hell, tu so, als hättest du etwas Lustiges gesagt!«

»Hä, wieso das denn? Ich sage nie etwas Lustiges!«

»Ja, wirklich? Das ist ja so amüsant!«, quietscht Christiane und dreht sich einmal um die eigene Achse, so gut das eben auf dem Kopfsteinpflaster geht.

Jetzt begreift Helga, was Christiane eben gesehen hat: Marco nähert sich. Als er Christiane entdeckt, leuchten seine Augen. Er geht direkt auf sie zu und fragt: »Möchtest du etwas trinken?« Den Spruch hatte Helga auch im Internet gelesen und ebenfalls verworfen. Zu platt.

»Ja, gerne«, haucht Christiane. »Aber nur Cola.« Marco geht zum nächsten Tresen und kommt mit zwei Colaflaschen wieder. In beiden stecken Flitterpalmen, in die Strohhalme integriert sind. Er gibt Christiane eines der dekorierten Getränke und prostet ihr zu. Helga beachtet er überhaupt nicht.

»Hell wollte eh gerade nach hinten gehen und bei der Miss-Wet-T-Shirt-Wahl mitmachen«, behauptet Christiane.

»Was wollte ich?« Helga sieht an ihrem schwarzen The-Cure-T-Shirt hinab und bezweifelt, dass das in nassem Zustand wesentlich anders aussehen würde. »Ach ja, na klar, wir sehen uns später«, verabschiedet sie sich dann.

Miss-Wet-T-Shirt – so was Absurdes, denkt Helga. Wo man doch in Norddeutschland froh sein kann, wenn es ausnahmsweise mal nicht regnet.

Aus den Boxen wummert ein weiterer Schüttel-was-du-hast-Song, die Laserblitze zucken hysterisch. Auf der Bühne der großen Disco stellen sich die Kandidatinnen auf. Helga fragt sich, welcher Teufel die Mädchen wohl geritten hat, da mitzumachen.

Ein Opel Tigra Twin Top fährt auf die Bühne, das neue Cabrio-Model, dessen Verdeck man in achtzehn Sekunden öffnen und schließen kann – per Knopfdruck! »Und das ist unser Hauptgewinn!«, verkündet der Chef, der es sich nicht nehmen lässt, solche Top-Veranstaltungen selbst zu moderieren. »Großzügig gestiftet vom Opelhaus Lüdersen! Wir danken dem edlen Spender!« Der Chef verschweigt – oder hat er es verdrängt? –, dass der Opel nicht etwa, wie es gerade für alle den Anschein hat, der Gewinnerin gehören wird. Nein, abgemacht ist nur, dass diese den Wagen ein Wochenende lang fahren darf. Von Samstagmittag um 12.00 Uhr bis Sonntagabend um 18.00 Uhr. Pünktlich abgeben! Den Sprit muss sie natürlich selbst bezahlen. Doch das steht alles im Kleingedruckten, sorgfältig ausgefeilt von Frau Lüdersen.

Jetzt machen die Teilnehmerinnen »Ahhhh!« und »Ohhhh!« und große Augen. Ein Auto als Aphrodisiakum, das funktioniert in Gegenden, in denen öffentlicher Nahverkehr nur in homöopathischen Potenzen existiert. Helga ärgert sich ganz kurz, dass sie nicht mit auf der Bühne steht.

»Jetzt brauchen wir ein paar Freiwillige!«, ruft der Chef so laut ins Mikrofon, dass man ihn auch ohne Verstärkeranlage verstanden hätte. Die heterogene Menge vor der Bühne sieht ihn ratlos an. »Unerschrockene junge Männer, die sich trauen, hier aktiv mitzumachen!«

Keiner meldet sich.

»Kerle, die sich trauen, diesen entzückenden Mäusen hier einen ordentlichen Schwall Wasser über die T-Shirts zu kippen!«

Die Männer im Publikum johlen, die Frauen kreischen.

»Na, wer möchte? Wer nicht will, der hat schon!« Die Stimme des Chefs überschlägt sich, der DJ spielt einen Tusch nach dem anderen.

»Was gibt es denn dafür?«, fragt jemand aus dem Publikum.

»Danach dürft ihr die Mädels eigenhändig trockenrubbeln!«, verspricht der Chef. Die Kandidatinnen gucken entsetzt. Die Jungs im Publikum johlen begeistert.

»Hey, Girls, war nur ein Scherz!« Kleine Pause. »Das übernehme ich natürlich höchstpersönlich!«

Das ist ja alles widerlich, denkt Helga. Sie will gerade in die kleine Disco überwechseln, da melden sich die ersten Freiwilligen. Der Chef verspricht ihnen »Korn aufs Haus bis zum Umfallen«. Na toll. Doch dann entdeckt Helga Ritschie. Er reckt seinen Arm hoch, schnipst mit dem Finger wie ein Streber und springt dabei auch noch auf und ab, angefeuert von seinen Kumpels. Er wird ausgewählt, erklimmt die Bühne und steht da, in all seiner Pracht und Schönheit, die Helga ganz schwach macht. Nein, durchfährt es sie, was soll denn das, er da oben und ich hier unten? Er soll doch bei mir sein oder ich bei ihm ... Warum habe ich mich bloß nicht beworben? Er würde mir einen Eimer Wasser über mein T-Shirt kippen und dabei mein wahres Ich erkennen! Unsere Seelen würden sich vereinigen, nichts könnte uns mehr trennen, und wir würden gemeinsam mit dem Opel Tigra Twin Top davonfahren ...

Helga rennt zum Bühnenrand, zu einem Typen mit Klemmbrett in der Hand. Er trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck Jury hier entscheide ich.

»Was muss ich tun, um mitzumachen?«, fragt Helga. Ihr ist ganz schlecht vor Nervosität.

»Du?« fragt der Typ entgeistert. »Du willst mitmachen?«

»Ja. Als Kandidatin!«

Er mustert Helga von oben bis unten. Sie kommt ihm vor wie eine kleine Spinne, die sich aus Versehen in ihrem Netz verheddert hat. »Warum das denn?«

»Ist doch egal! Kann ich nun mitmachen?«, drängt Helga.

»Nee, lass mal, der Wettbewerb ist voll und das kann sowieso nur der Chef entscheiden, und der ist jetzt beschäftigt, siehst du doch.«

Der Chef verteilt Eimer an die Freiwilligen. Ritschie bekommt einen knallroten. Die Farbe steht ihm, denkt Helga.

»Aber dein T-Shirt, da steht doch ...« stammelt sie.

»Musste ich anziehen. Befehl von ganz oben. Und guck dich doch an – auf deinem T-Shirt steht Die Heilung. Nutzt dir das etwa was?«

Idiot, denkt Helga und geht weg. Es ist eh zu spät. Die erste Kandidatin tritt nach vorne an den Bühnenrand. Helga kennt sie aus der Schule, das ist Carina. »Shake your balla-balla«, lautet die Aufforderung aus den Lautsprechern. Carina wackelt ein bisschen mit allem hin und her. Sie trägt, wie alle Kandidatinnen, ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift Paradise Island, dazu einen Minirock und High Heels. Helga kann sich nicht vorstellen, wie sie damit über das Kopfsteinpflaster gekommen sind. Aber wahrscheinlich haben sie sich erst hinter der Bühne so zurechtgemacht. Sie sieht aus wie ein Wackeldackel, grollt Helga.

»Wasser marsch!«, befiehlt der Chef.

Die Jungs, alle in einer Reihe gegenüber der ersten Kandidatin aufgestellt, zögern.

»Na los, wird's bald?«

Ritschie nimmt beherzt seinen Eimer ein Stück höher, holt aus, schwingt nach vorne und schickt fünf Liter in den Wet-T-Shirt-Wettbewerb. Er sieht dabei nicht ganz so routiniert, professionell und elegant aus wie Wilma, wenn sie ihr Feudelwasser in den Rinnstein kippt, aber immerhin: Die Ladung erreicht ihr Ziel. Das Mädchen stößt einen schrillen Schrei aus, ihr T-Shirt wird durchsichtig, das Publikum jubelt.

Ritschie hat ein bisschen hoch gezielt, nicht nur das T-Shirt ist durchnässt, auch Frisur und Make-up haben sichtlich gelitten. Carina sieht ein wenig aus wie zu früh aus Rosis Pudelsalon oder Moniques Beauty-Center entflohen.

Ritschie johlt. Das hat Spaß gemacht! Er wundert sich, dass er noch nicht früher auf diese Idee gekommen ist. Das könnte glatt seine liebste Freizeitbeschäftigung werden, noch vor Computer-Baller-Spielen, Haare-mit-Gel-Stylen und Backen. Zumal er Letzteres natürlich niemals in der Öffentlichkeit zugeben oder gar tun würde.

Die anderen Jungs haben jetzt genug Mut gefasst und schütten ihre Eimer ebenfalls über der ersten Kandidatin aus. Der Chef versucht, sie davon abzuhalten, schließlich soll ja auch noch etwas Wasser für die anderen sieben Mädchen übrig bleiben, aber es ist, als wäre ein Damm gebrochen. Der Typ im Jury-T-Shirt holt einen Schlauch und füllt nach, während Kandidatin Nr. 1 noch immer mit ihren am Leib klebenden Klamotten herumwackelt. Wahrscheinlich, um sich aufzuwärmen, das Wasser muss, wie man an ihren Brustwarzen sieht, recht kalt gewesen sein.

Warum nicht ich? Warum nicht ich? Warum nicht ich?, fragt sich Helga in einer Tour. Ritschie kommt richtig in Fahrt, er lacht, es scheint ihm Spaß zu machen. Und diesen Spaß sollten sie doch eigentlich gemeinsam haben! Engagiert übergießt er eine Kandidatin nach der anderen. Helga ist es ein Rätsel, wie nachher die Gewinnerin ermittelt werden soll. Vorher konnte man die Teilnehmerinnen wenigstens noch an der Frisur unterscheiden, doch nachdem diese den Fluten zum Opfer gefallen sind, bleibt kein prägnantes Unterscheidungsmerkmal mehr übrig. Okay, vielleicht noch die Brüste. Aber die sehen sich auch sehr ähnlich, jede Teilnehmerin hat zwei, alle ungefähr Körbchengröße C.

Irgendwann – die angehenden Misses sind alle patschnass und tanzen wie dressierte Kegelrobben durch die Gegend, das Publikum johlt begeistert – holt der Chef eine Schärpe hervor und kündigt an: »Jetzt küren wir mal die Siegerin!« Er weist das Publikum an, bei der Kandidatin, die die beste Vorstellung gegeben hat, am lautesten zu klatschen, zu brüllen, zu pfeifen. Dann hält er die Schärpe probeweise vor jedes der tropfenden Tanzhühnchen. Das Publikum klatscht, pfeift und brüllt enthemmt. Helga wünscht sich weg, am liebsten mit Ritschie auf eine einsame Insel, aber der scheint sich gerade sehr wohl zu fühlen.

»Nummer sechs hat gewonnen!«, verkündet der Chef. Sieben der acht Mädchen lassen die Mundwinkel enttäuscht nach unten fallen, was ihren Gesichtern sofort die letzte Anziehungskraft nimmt. Wahrscheinlich fließen auch ein paar Tränen, das kann man aber wegen der allgemeinen Feuchtigkeit nicht sehen. Kandidatin Nr. 6 dagegen hüpft vor Freude auf und ab, ihre Brüste benehmen sich wie zwei ungezogene Flummis. Dabei klatscht sie ganz schnell in die Hände und verheddert sich deshalb in der Schärpe, die der Chef ihr umhängt. Ritschie eilt zu Hilfe, befreit sie, hängt ihr die Schärpe richtig um (er legt vor allem Wert auf den korrekten Sitz quer über die Brust) und hebt die Siegerin dann hoch, als wollte er sie über die Schwelle des ersten gemeinsamen Hauses tragen. In Ermangelung des Hauses wählt er das Opel-Cabrio, wirft die Frau hinein und schwingt sich dann hinterher.

»He, he, he, so geht das aber nicht!«, grölt der Chef.

Genau, denkt Helga. Das Publikum aber tobt begeistert, vor allem Ritschies Freunde jubeln frenetisch. »Das gehört jetzt alles dir, Ritschie!«, schreien sie.

Ja, denkt Ritschie begeistert, warum kann das Leben denn nicht immer so sein? Er hat es satt, immer allein herumzustehen und für unerreichbar gehalten zu werden. Das mag zwar ein lässiges Image sein, ist ihm aber irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Er ist so cool, dass sich auf dem Schulhof niemand auch nur in seine Nähe wagt. Und dieser schlechtgelaunte Blick, der anfangs Show war, ist inzwischen echt. Seine Laune ist meistens im Keller. Okay, wenn er zuhause heimlich ein neues Rezept für Muffins ausprobiert, dann geht es ihm gut. Dann fühlt er sich glücklich. Aber sonst? Er weiß nicht so recht, was er tun könnte, um dazuzugehören. Mit Fußballspielen hat er es schon probiert, aber er war einfach zu schlecht. Dann ist er auf diesen Rühr-mich-nicht-an-Trip gekommen. Das hat ganz gut funktioniert, ihn aber immer weiter isoliert. Nicht, dass das jemand ahnen würde. Er hat ein paar Kumpels, mit denen er am Wochenende hin und wieder etwas unternimmt. Doch so richtig Stimmung kommt da nur auf, wenn alle getrunken haben. Dann traut sich Ritschie auch mal was – wie jetzt zum Beispiel. Das Gefühl, endlich dazuzugehören, durchflutet ihn wie heißer Rumgrog.

Er ahnt ja nicht, wie teuer man manchmal für sein Glück bezahlen muss.

***

Der Chef macht sich Sorgen um die Sitzpolster des Opels und darüber, was Frau Lüdersen ihm wohl für die Reinigung berechnen wird. Er zerrt die beiden, die vom Drehbuch seiner Veranstaltung abgewichen sind, raus aus dem Wagen, drückt der Gewinnerin einen Blumenstrauß und Ritschie eine Flasche Korn in die Hand und legt beiden seine Arme über die Schulter. Das sieht nett aus, vor allem aber hat er sie fest im Griff. Dann führt er sie ab, runter von der Bühne, an den nächsten Tresen, stellt ihnen noch zwei kleine Gläser für den Korn hin und überlässt sie einander und ihrem Schicksal. Ritschie öffnet die Flasche Korn und schenkt ein.

Helga will zu ihm rennen und ihm sagen, was für ein toller Auftritt das war, aber im letzten Moment verlässt sie der Mut. Christiane wird wissen, was zu tun ist. Christiane kennt sich aus, mit Jungs, mit solchen Situationen und überhaupt. Sie muss Christiane finden!

Helga rennt über das Kopfsteinpflaster, vorbei an Gogo-Girls in Käfigen und unzähligen Cocktail-Bar-Surrogaten. In einer davon entdeckt sie Christiane, Mund an Mund eng verschweißt mit Marco. Es ist ihr ein bisschen peinlich, doch sie stellt sich neben die beiden und räuspert sich ein paarmal so laut sie kann. Keine Reaktion.

Helga verstärkt das Räuspern durch ein aufgesetztes Husten. Keine Reaktion.

»Ähem, Christiane, hallo ...« Keine Reaktion.

Erst, als Helga ihre Freundin in die Seite kneift, bemerkt diese sie. »Ah, gut, dass du da bist«, sagt Christiane, den Lippenstift quer über das Gesicht geschmiert. »Wir wollen gleich mal losfahren. Willst du mit? Soll ich dich zuhause absetzen?«

Damit hat Helga nicht gerechnet. Jetzt schon nach Hause? Ohne überhaupt mit Ritschie gesprochen zu haben? Unmöglich! Außerdem ist es gerade mal elf Uhr. Ihre Eltern erwarten sie nicht vor Mitternacht.

»Jetzt schon?«, fragt sie entgeistert. »Warum das denn?«

»Öh ... hier ist uns das zu ... laut. Marco und ich möchten uns noch ein bisschen unterhalten. Reden.«

Helga grinst. »Ja, ja.«

»Du musst gar nicht so komisch gucken. Wir wollen wirklich reden! Stimmt's, Marco?«

»Hmmmm«, murmelt Marco und nickt brav.

Helga grinst weiter.

»Wie kommst du denn dann nach Hause?«, fragt Christiane.

Ach ja, denkt Helga, nach Hause. Schwierig. Es sind ungefähr acht Kilometer bis zum Dorf. »Ach, ich fahre einfach mit Ritschie«, behauptet sie spontan. Das wäre natürlich ihr Traum – und ist ihr neuer Plan. Ritschie wird sie in seinem Auto (besser gesagt: im BMW seines Vaters) nach Hause fahren, sie werden die Smiths-CD hören und – ganz ohne Einwirkung von eiskaltem Wasser – erkennen, dass sie seelenverwandt sind. Dann werden sie am Straßenrand anhalten und sich lange küssen. Genau. So wird es sein.

»Ach, Ritschie ist da? Dann ist ja alles gut«, sagt Christiane.

Wenn die wüsste, denkt Helga. Bis alles gut wird, ist es noch ein weiter Weg. Aber sie ist sich plötzlich sicher, dass ihr Plan funktionieren wird. Sie wird zu Ritschie gehen, ein wenig mit ihm plaudern und dann wird er ihr ganz selbstverständlich anbieten, sie nach Hause zu fahren. So wird es sein. Ganz sicher.

Helga macht sich wieder auf den Weg in die Großraumdisco. Sie dreht sich noch mal um und winkt Christiane und Marco, aber die kleben schon wieder Mund an Mund aneinander. Helga muss an die Putzerfische denken, die sich im Aquarium ihres Augenarztes breitmäulig an der Scheibe festschmatzen.

Die Laser-Show in der Großraumdisco wird mittlerweile durch Kunstnebelschwaden effektvoll ergänzt. Immer wieder leuchtet eine Laser-Karikatur des Chefs auf den dichten Wolken auf – er hält es für einen guten Gag, so stets Präsenz zu zeigen. Dazwischen springen rot schimmernde Delfine herum. Die Gogo-Tänzerinnen in ihren Käfigen hängen inzwischen über der Tanzfläche, sind aber wegen der optischen Gewitterstimmung kaum mehr zu erkennen.

Die Tanzfläche ist voll, aber strikt in Segmente geteilt. In der einen Ecke stehen die Heavy-Metal-Fans und lassen ihr längliches Haupthaar systematisch kreisen, ohne dabei ihre Füße auch nur einen Millimeter zu bewegen. Manche beschreiben mit der Pracht Achten, andere beherrschen kompliziertere Figuren.

Die Hip-Hop-Ecke versucht sich im Breakdance, Brechtanz, wie die Metal-Fans den Versuch nennen, möglichst lässig und akrobatisch auszusehen, während man sich das Handgelenk verstaucht, den Oberschenkelmuskel zerrt und die Haarwurzeln auf dem Oberkopf in unendlicher Drehung der Tanzfläche opfert.

Ein paar ganz in Schwarz gekleidete Gestalten – sie sehen ein bisschen aus wie Helga, aber die kann mit denen nichts anfangen – wiegen ihre Körper phlegmatisch. Sie machen zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück, starren dabei den Boden an und lassen die Arme bedeutsam kreisen.

Ein Rockabilly versucht mit einer Frau im Petticoat eine Hebefigur, muss jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht mittendrin aufgeben. Die Tanzpartnerin, die Grazie und Gewicht eines Kartoffelsackes hat, lässt er einfach fallen.

Wie buntes Konfetti lassen zwischen den einzelnen Gruppen die Christina- und Paris-Lookalikes ihre gepiercten Bauchnäbel vibrieren. Sie schütteln und schütteln und schütteln tapfer alles, was sie haben, auch wenn es noch nicht viel oder schon etwas aus der Form geraten ist.

Helga hält auf Ritschie zu, doch der ist leider noch mit Miss-Wet-T-Shirt beschäftigt. Um ihn herum lagern seine Kumpel und die anderen Kandidatinnen. Alle trinken Korn. Der Chef ist großzügig, das geht aufs Haus. Aber nur der Korn, Cola kostet nach wie vor drei Euro. Die Kandidatinnen tragen noch ihre nassen T-Shirts, wahrscheinlich ist das vertraglich so vorgeschrieben.

Ich muss ihn irgendwie auf mich aufmerksam machen, denkt Helga. Er muss mich sehen. Sie platziert sich strategisch günstig in Ritschies Blickfeld auf der Tanzfläche und beginnt, sich zu bewegen. Sie kann sich stilistisch nicht so recht festlegen, weiß noch nicht ganz, was das werden soll, doch dann erinnert sie sich an die Videoclips von Shakira, Britney Spears und Christina Aguilera. Sie dreht und kreist und geht mit gespreizten Beinen in die Hocke, zieht eine ziemliche Show ab, obwohl das in den schweren Stiefeln gar nicht so leicht ist.

Doch Ritschie beachtet sie nicht. Er lacht entweder brüllend über einen Spruch seiner Freunde oder charmiert das feuchte Flittchen mit der Schärpe.

Ich muss direkt an ihn ran, beschließt Helga. Für diese Aktion würde sie sich gerne Mut antrinken. Ihr Geld reicht aber nur noch für zwei Baileys. Das muss reichen, denkt sie und sucht sich einen Platz am Tresen möglichst dicht bei Ritschie. Dafür nimmt sie sogar in Kauf, in einer Pfütze zu stehen, die sich aus dem Wasser gebildet hat, das kontinuierlich aus den nassen T-Shirts tropft. Macht nichts in den dicken Stiefeln. Die Gruppe um Ritschie beachtet sie nicht. Die Jungs machen grobe Scherze, und die nassen Schlampen kichern.

Und immer wieder gibt es eine neue Flasche Korn.

»Mensch, bald haben wir Abi, dann sind wir frei!«, grölt Ben, auch ein Typ aus der Schule. Er will mit seinem Freund Romeo anstoßen, doch der guckt ganz traurig.

»Ey, was hast du denn? Abi! Freiheit!«, jubelt Ben und schüttet schon mal den Korn in sich rein. »Ist doch geil!«

»Musurbuneswer«, nuschelt Romeo so leise, dass Helga es kaum versteht. Was soll das denn heißen? Sie transkribiert: Muss zur Bundeswehr. Ja, das wird es sein. Und dieses Thema scheint ihm nicht nur unangenehm zu sein, sondern Angst zu machen. Sie lähmt ihn wie der Anblick einer Schlange das Kaninchen.

Wenigstens noch einer, der Probleme hat. Mehr Gedanken verschwendet Helga nicht an den Sohn des ungekrönten Salatkönigs der Gegend, der jetzt doch seinen Korn kippt. Zugegeben: Er guckt auch sehr schön melancholisch. Aber sie will Ritschie!

Wenn ich nur einen Moment mit ihm alleine sein könnte, dann wäre alles so viel einfacher, denkt Helga. Sie war noch nie mit Ritschie allein. Warum auch? Er geht zwar auf die gleiche Schule, eine Klasse höher (und das auch nur, weil er einmal sitzen geblieben ist), aber wenn sie ganz ehrlich ist, muss Helga zugeben: Ritschie kennt sie nicht. Er hat sie wahrscheinlich noch nie wahrgenommen. Nie bewusst gesehen. Okay, vielleicht das eine Mal, als sie über ihren Schnürsenkel gestolpert und die große Treppe am Schuleingang hinuntergefallen ist, wobei sich der Inhalt ihrer Tasche vor aller Augen ausbreitete. Kein sehr glorreicher Auftritt, das muss Helga zugeben, aber doch ziemlich unübersehbar. Ob Ritschie hingeguckt hat? Sie weiß nicht, ob sie das hoffen soll oder nicht.

Jetzt guckt er auf jeden Fall nicht, obwohl sie ihn mit Blicken hypnotisiert, fesselt, durchbohrt – alles, was man mit Blicken eben so machen kann, außer zu töten.

Aber: keine Reaktion. Ritschies blaue Augen kleben fest an der Schärpe von Miss-Wet-T-Shirt.

Irgendwann muss die sich doch mal umziehen, hofft Helga. Der Chef denkt anscheinend das Gleiche und fordert die Mädchen auf: »Los, Girls, ab in eure eigenen Klamotten. Rubbel-die-Katz! Ihr versaut mir hier ja den ganzen Fußboden!« Murrend ziehen die Kandidatinnen ab. Der Chef treibt sie wie träge Hühner vor sich her.

Helga wittert ihre Chance. Sie kippt den Rest Baileys, verschluckt sich dabei an einem Stück Eiswürfel, muss erst mal die Luftröhre freihusten, womit sie tatsächlich die Aufmerksamkeit von Ritschies Clique auf sich zieht, und geht dann, so lässig wie möglich, auf ihren Schwarm zu.

Erster Schritt.

Ogottogottogott, was soll ich bloß sagen?

Zweiter Schritt.

Das geht mir jetzt viel zu schnell!

Dritter Schritt, vierter Schritt.

Mir ist immer noch nichts eingefallen.

Fünfter Schritt.

Jetzt ist es eh zu spät. Helga resigniert.

Sechster Schritt.

Die CD ... ich habe die CD für ihn!

Siebter Schritt.

Helga steht genau vor Ritschie. Er sieht sie an. Direkt in die Augen. Sie möchte schmelzen unter seinem Blick, einfach so zerlaufen, sich in Wonne auflösen. Ach, ist das schön! Von diesem Moment hat sie immer geträumt.

»Was will denn die kleine Fledermaus von dir?«, fragt Ritschies Kumpel. Lars heißt er, unangenehmer Typ mit kurzen, blondierten Stoppelhaaren, wulstigen Lippen und Wangen so schlaff wie nasse Putzlappen.

Helga guckt ihn kurz irritiert an, wendet sich dann wieder Ritschie zu. Sie fixiert ihn mit intensivem Blick. Jetzt ist sie mutig, jetzt ist sie stark. Das ist der richtige Moment! Sie weiß genau, was sie will, und gleich wird Ritschie das auch wissen. Dann ist der Weg frei für eine gemeinsame Zukunft. Er wird sie an der Hand nehmen und nie wieder loslassen. Sie werden sich ganz viel zu sagen haben (Helga weiß zwar noch nicht genau, was, aber das wird ihr schon noch einfallen).

Sie fühlt, wie ihre Füße fest auf dem Boden stehen, wie ihre Haare sich in die Luft recken. Sie hält sich ganz aufrecht, damit jeder Zentimeter von ihr gut zur Geltung kommt. Ihr ist, als würde das Licht heller scheinen, die Musik schöner klingen, als würden die Laserblitze ein romantisches Schloss um sie herum zeichnen. (Letzteres bildet sie sich nicht ein.) Helga lächelt. Sie lächelt nach innen und nach außen, sie meint, die ganze Großraumdisco, ja, die ganze Welt müsste von diesem Lächeln erfüllt sein.

Leider lächelt Ritschie nicht zurück. Aber das kommt schon noch, er ist eben schüchtern. Ich werde ihn nicht überfordern, schwört sich Helga. Überlegt kurz, ob sie bei der Hochzeit weiß tragen sollte, obwohl sie die Farbe eigentlich total uncool findet ... aber Schwarz, wie sieht das denn aus? Ich denke schon wie meine Mutter! Sie konzentriert sich und sagt so laut wie sie kann, damit er sie auch durch das Shake-your-Sonstwas-Gewummer versteht: »Hallo, ich bin Hell. Ich habe dir eine CD gebrannt.« Dann klappt sie ihre Umhängetasche auf, sucht nach der CD – Verdammt, ich hätte die vorher rausnehmen sollen, das hätte lässiger ausgesehen! , findet sie, zieht sie raus und überreicht sie Ritschie. Der nimmt das Geschenk mit dem selbst gebastelten Cover (ein schattiges Foto von einem düsteren Baum, verziert mit aufgeklebten Strass-Steinchen, die im richtigen Licht funkeln) verblüfft entgegen.

»Danke«, sagt er, ein wenig verwirrt.

»Guck mal, Jochen, wie romantisch!«, mischt sich Lars in diesen romantischen Moment ein und bedeutet einem der anderen Typen, die um Ritschie herumlungern, dass hier gerade etwas besonders Komisches passiert. »Das Fetzenmädchen hat ihm eine CD gebrannt. Wie uncool ist das denn?«

Helga sagt nichts.

»Wie heißt du?«, fragt Ritschie.

»Hell!«, antwortet Helga.

»Wie dunkel?«

Helga schüttelt verwirrt den Kopf. Sie spürt, dass das hier gerade irgendwie schiefläuft.

»Oder wie Hölle«, grunzt Lars und grölt dann, frei nach Wolfgang Petri: »Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Höööööölleeeee! Hölle! Hölle! Hölle!«

Zu Helgas Entsetzen stimmen nicht nur die anderen Kumpels, sondern auch Ritschie in den Chor ein. Der Mut verlässt sie so schnell, wie er gekommen ist. Miss-Wet-T-Shirt, jetzt trockengelegt, aber noch genauso durchsichtig, steht wieder neben Ritschie und legt besitzergreifend den Arm um ihn.

»Noch was?«, fragt Ritschie in Richtung Helga.

Die rafft ihr letztes bisschen Elan zusammen, hofft, dass sie ihr Ziel doch noch erreichen kann und fragt: »Äh, ja, ich wollte dich fragen, ob ich nachher vielleicht bei dir mitfahren kann?«

»Aber du wolltest doch mich nach Hause fahren. Das hast du mir versprochen!«, mault Miss-Wet-T-Shirt präventiv.

»Klar, Süße!«, sagt Ritschie. Aber nicht zu Helga, sondern zu seiner frisch getrockneten Miss.

Helgas Hoffnung schwindet so schnell wie das Laserstrahlschloss. In ihr macht sich trübe Finsternis breit.

»Willst du 'nen Korn?« fragt Ritschie und schwenkt die Flasche vor ihrer Nase herum. Helga ist kurz versucht, die Einladung anzunehmen, doch da reißt Lars ihm die Flasche aus der Hand und johlt: »Verschwende doch den guten Stoff nicht an die Fledermaus!«

Alle lachen, außer Helga. Sie versteht nicht, was daran komisch sein soll.

»Na denn«, sagt Ritschie in ihre Richtung, »du siehst ja: Wir sind beschäftigt.« Er steckt die CD lässig in seine Jackentasche und widmet sich dann Miss-Wet-T-Shirt. Helga ist aus seinem Sichtfeld und damit wohl auch aus seinem Hirn verschwunden.

***

Helga stürmt los, weil sie spürt, wie sich das Wasser in ihren Augen sammelt, als hätte Ritschie mit dem roten Eimer einen kalten Schwall über ihr ausgegossen. Dabei ist es nur eine winzige Träne, die sich mühsam an den dick getuschten Wimpern vorbei den Weg die Nase entlang und über die Wange bahnt und dabei eine schwarze Lidschattenspur hinter sich herzieht. Das gibt dem selbst kreierten Smokey-Eyes-Look etwas mitreißend Ausdrucksvolles, aber das weiß Helga nicht. Sie weiß nur, dass sie sich nicht die Blöße geben will, vor ihrem geliebten Ritschie und seiner abartigen Posse zu heulen.

Helga zieht sich in die dunkelste Ecke zurück, in die Bar ganz am Ende der Kopfsteinpflasterstraßenimitation. Sie setzt sich auf einen Hocker, stützt die Ellenbogen auf die Theke und legt den Kopf in beide Hände. Neben ihr knutscht ein Paar. Widerlich, denkt Helga, diese aufgedonnerte Friseuse und irgendein Muskelkerl. Dann muss sie erst recht heulen. Alle sind glücklich, nur ich nicht. Das Leben ist scheiße. Dieses Thema variiert ihr Gehirn mehrfach über geraume Zeit, bis ihm nichts Neues mehr dazu einfällt.

Immerhin hat er meine CD genommen, versucht Helga sich zu trösten. An diesem Gedanken klammert sie sich fest: Er hat meine CD genommen und er wird sie hören. Und dann wird er erkennen, dass wir zusammengehören. Vielleicht hat er es jetzt schon gespürt, er hat sich nur nicht getraut, das vor seinen Freunden zu zeigen. Er ist einfach nur schüchtern. Immerhin hat er »Danke!« gesagt. Genau, er hat sich bei ihr bedankt! Das ist doch schon mal was! Alles Weitere wird sich finden. Ihr Leben ist eben keine billige Soap, wo man sich sofort in die Arme fällt. Nein, es muss Irrungen und Wirrungen geben, und die muss sie durchstehen, um am Ende mit der wahren Liebe belohnt zu werden. Vielleicht ja noch heute Nacht?

Dann fällt ihr noch etwas ein: Wie soll sie jetzt nach Hause kommen? Sie macht sich auf die Suche nach Christiane. Vielleicht ist die ja noch da, sehr mobil sahen Marco und sie nicht gerade aus. Helga geht zu der Bar, in der sie die Knutschenden zuletzt getroffen hat. Weg. Sie rennt aus dem Schädel. Schon vom Eingang aus kann sie sehen, dass das Auto von Christianes Mutter nicht mehr auf dem Parkplatz steht. Okay, Christiane ist wohl nicht mehr da.

Wer könnte sie mitnehmen? Soll sie einfach irgendeinen Typen anbaggern? Ganz wohl ist ihr bei dem Gedanken nicht, deshalb verwirft sie ihn wieder. Monique, diese olle Schabracke, kommt aus dem gleichen Dorf, aber die anzusprechen, das ist Helga jetzt zu blöd. Außerdem ist ihr schon wieder zum Heulen zumute. Sie könnte ihre Eltern anrufen, die würden bestimmt sofort ins Auto springen und sie abholen. Dieses eine Mal. Und dann dürfte sie für unbestimmte Zeit nicht wieder ausgehen und müsste sich womöglich Vorwürfe anhören. Nein, keine gute Idee.

Sie könnte auch einfach ein wenig neben Ritschies BMW abhängen – dem daytona-violett-metallic-farbenen BMW seines Vaters – und darauf warten, dass Ritschie kommt. Vielleicht würde sich dann ja doch noch eine Chance ergeben? Helga geht, jetzt leicht schleppenden Schrittes, los.

Auf dem Parkplatz hat die Freiwillige Feuerwehr einen Stand aufgebaut, über dem ein Banner mit der Aufschrift Don't drink & drive hängt. »Mal pusten?«, fragt einer der Feuerwehrjungs.

»Nö, danke, hab eh kein Auto«, murmelt sie.

Helga geht zum BMW und versucht sich möglichst lässig dort anzulehnen. Im Fenster des Wagens daneben kann sie ihr Spiegelbild sehen. Kein überzeugender Anblick. Helga wechselt die Haltung, zieht ein Bein an. Schon besser. Nach ein paar Minuten spürt sie, wie sich ihr Fuß verkrampft. Sie denkt an Ritschie und dass sie auch für ihn leiden würde. Ganz doll würde sie für ihn leiden, freiwillig sogar. Aber ein Krampf im Fuß? Was soll das denn bringen? So hat sie sich Liebesleid nicht vorgestellt.

Es wird immer später. Helga langweilt sich. Und wenn Ritschie gleich mit seinen Kumpels auftaucht, dann klopfen die vielleicht wieder blöde Sprüche, und ihr Traummann hat gar keine Chance, sein wahres Ich zu zeigen.

Wenn er sie aber am Straßenrand sähe, ganz alleine, im Kegel der Scheinwerfer effektvoll beleuchtet, dann würde das sein Herz rühren. Dann könnte er gar nicht anders als anzuhalten und sie mitzunehmen. Genau! Das macht auch einen viel besseren Eindruck, als hier wie ein nicht abgeholtes Paket vor der Wagentür herumzulungern.

Und wenn er nun einen anderen Weg nimmt?

Wird er schon nicht, beruhigt sich Helga. Welchen denn auch? Es gibt doch nur diese eine Landstraße zwischen den Dörfern.

Helga geht los. Acht Kilometer sind es bis nach Hause. Irgendwo auf diesen acht Kilometern wird der BMW sie einholen. Und dann wird alles gut.

Je weiter Helga sich vom Schädel entfernt, umso dunkler und stiller wird es. Die Landstraße ist völlig verlassen. Helga geht am Rand, aber mit respektvollem Abstand zum Graben, der direkt daneben liegt. Ihre Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit, das Licht des Halbmondes reicht ihr aus. Ein Geräusch aus der Wiese neben ihr lässt sie zusammenzucken: Ein Schnarren, das klingt, als würde jemand ganz heftig mit dem Finger über einen Kamm fahren. Aber warum sollte das jemand tun, nachts, in den Feldern? Helga zögert einen Moment. Ob das Schnarren ein böses Omen ist? Sie hat mal einen Film gesehen, da hörte man immer das Klopfen eines Käfers, bevor jemand gestorben ist. Aber wenn das Käferklopfen Schlimmes bedeutet, ist dieses seltsame Kreek-Kreek vielleicht ein gutes Zeichen. Ein Zeichen, dass die Liebe bald zu ihr kommt!

Das Kreek-Kreek wird langsam von einem Brummen überlagert. Ein Auto nähert sich von hinten. Bestimmt der BMW von Ritschie! Helga dreht sich um und schlendert möglichst lässig rückwärts, damit ihr Schwarm sie auch erkennen kann. Der Wagen hupt und brettert dicht an ihr vorbei. Helga ist so erschrocken, dass sie stolpert und die Böschung zum Graben hinunterrutscht. Mit einem Stiefel landet sie im Wasser, der andere Fuß bleibt trocken. Sie krabbelt die Böschung hoch und geht weiter. Der nasse Stiefel macht beim Gehen komische Geräusche. Es erinnert sie an ihre Gummiente, mit der sie früher so gerne in der Badewanne gespielt hat. Ha, denkt sie, das bin ich, ein schlechter Abklatsch von Miss-Wet-T-Shirt Miss-Wet-Foot! Na toll!

***

Zur selben Zeit verlassen Ritschie, Lars und Jochen den Schädel. Sie halten jeweils eine Miss-Wet-T-Shirt-Kandidatin im Arm oder im Häschengriff, also so, als wollten sie sie am Nackenfell hochheben und wegtragen. Ein wenig sieht es auch so aus, als würden sie sich gegenseitig stützen. Das funktioniert bei Jochen und seiner Miss-Wet-T-Shirt nicht: Die Dame knickt um und reißt ihn dabei mit. Mühsam rappeln sie sich wieder hoch.

»Hey, wollt ihr bei unserer Aktion mitmachen?«, ruft der junge Feuerwehrmann, der auch schon Helga angesprochen hat, zu ihnen rüber.

»Gibt's bei euch auch was zu trinken?«, grölt Lars.

»Nö«, sagt der Feuerwehrmann. »Es geht mehr darum, ob du schon zu viel getrunken hast!«

»Zu viel getrunken? Sach ma, bissu schwul oder was?«, lacht Lars.

»Ja, ich bin schwul. Warum?«, sagt der Feuerwehrmann.

Einen Moment lang glotzen ihn die Jungs fassungslos an. »Ihhhhh!«, kreischt Lars dann. »Du Schwuchtel!« Die Mädchen kreischen mit.

»Na und? Du bist besoffen, das finde ich schlimmer.«

»Aber das ist morgen vorbei!«, grölt Lars.

»Du willst doch so nicht etwa Auto fahren? Komm doch mal her, dann kannst du hier mal zur Probe pusten.« Der Feuerwehrmann schwenkt ein kleines schwarzes Gerät.

»Habt ihr das gehört? Ich soll ihm einen blasen! Uuuuääääähhhhh!« Lars schüttelt sich mit gespieltem Ekel, die anderen folgen seinem Beispiel. »Los, schnell weg hier!«

Ritschie, der mindestens genauso viel getrunken hat wie Lars, sucht den BMW. Er hat vergessen, wo er geparkt hat. Die Gruppe eiert kreuz und quer über das Gelände, bis er endlich fündig wird.

»Krasse Farbe!«, kommentiert Miss-Wet-T-Shirt das Daytona-violett-Metallic. »Endgeil!«

»Ich weiß eben, was Frauen gefällt«, röhrt Ritschie ihr mehrdeutig ins Ohr. Er braucht ein wenig, um den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche zu befreien, ihn zu Boden fallen zu lassen und wieder aufzuheben, doch dann öffnet er den Wagen auf Knopfdruck. Zentralverriegelung, natürlich.

»Du sitzt neben mir!«, sagt er zu Miss-Wet-T-Shirt. Sie wackelt brav ums Auto herum, öffnet die Beifahrertür und rutscht ein wenig unelegant auf den Sitz.

»Und wir?«, fragt Lars.

»Nach hinten!«, ordnet Ritschie an. »Seht zu, wie ihr klarkommt.« Die beiden Paare versuchen, sich auf der Rückbank zu arrangieren. Das gelingt ihnen mit viel Quieken, Zappeln und Grabschen schließlich auch irgendwie. Die T-Shirt-Mäuschen sind, halb sitzend, halb liegend, quer über ihren Kavalieren platziert.

***

Helga marschiert quietschend über die Landstraße und malt sich aus, wie der Abend für sie hätte weitergehen können, wenn Miss-Wet-T-Shirt nicht gewesen wäre: Ritschie hätte sie angelächelt, dann wären sie losgefahren. Nein, erst hätte er die CD, die sie ihm gegeben hat, in seine schönen Hände genommen und vorsichtig in den CD-Player geschoben. Cool, hätte er gesagt, gefällt mir. Wer ist denn das? Und dann hätte sie ihm alles über The Smiths erzählt, und Ritschie wäre beeindruckt gewesen.

»Hang the DJ, hang the DJ«, singt sie leise vor sich hin.

***

»Zehn nackte Friseusen«, krakeelen Jochen und Lars, »mit richtig feuchten Haaren.«

»Falsch«, kichern die Mädchen. »Unsere T-Shirts waren doch feucht!«

»Aber das reimt sich eben nicht«, stellt Ritschie klar. Die beiden anderen Jungs, die hinten ziemlich zusammengequetscht mehr unter als neben den beiden Miss-Anwärterinnen sitzen, brüllen vor Lachen. Eigentlich sind die ihm gerade ein bisschen zu laut. Aber das ist der Preis, den man eben bezahlen muss, wenn man dazugehört. Und das tut er!

Ritschie presst sich fest in den Sitz. Er ist stolz, dass er den BMW fährt. Sein Vater weiß nichts davon. Wenn es nach dem ginge, dürfte er nur mit dem Corsa seiner Mutter herumzuckeln. Aber die kann ihrem Sohn keinen Wunsch abschlagen, und wenn sein Vater nicht da ist, nimmt er eben den BMW. Selbstverständlich.

***

Wenn ich Miss-Wet-T-Shirt geworden wäre, dann hätte ich jetzt ein Auto. Dann hätte ich Ritschie nach Hause fahren können, überlegt sich Helga. Aber läuft das so? Hätte Ritschie sich darauf eingelassen? Und wie hätte das gehen sollen – schließlich ist sie erst siebzehn und hat noch keinen Führerschein.

Immerhin hat er meine CD, tröstet sich Helga.

***

»Jetzt machen wir mal eine kleine Spritztour!«, kündigt Ritschie an und lässt den Motor aufheulen.

»Eine kleine Abspritztour!«, ergänzt Lars sinnig. Die Mädchen kichern.

»Ey, mach mal Rammstein an!«, fordert Jochen. »Bück dich, dein Gesicht interessiert mich nicht«, zitiert er einen Song seiner Lieblingsband. Dann versucht er, eine CD aus seiner Jackentasche zu zerren, doch weil die Vize-Miss-Wet-T-Shirt auf ihm liegt und erstaunlich viel wiegt, gelingt ihm das nicht.

Ritschie fällt ein, dass ihm dieses kleine Fledermausmädchen mit den Spinnwebhaaren und dem seltsamen Namen eine CD gegeben hat. Die zieht er hervor, während er schwungvoll auf die Landstraße einbiegt. Er schneidet die Kurve, klar, warum auch nicht, er kennt den Weg. Und zu dieser Zeit kommt ihm hier sowieso niemand entgegen, das weiß er sicher. Er fühlt sich gut, souverän, er ist der King. Ich bin der König der Welt! Dieser Satz geht ihm durch den Kopf, er würde ihn gerne mal schnell rausbrüllen. Doch dann erinnert Ritschie sich, wo er den gehört hat: In diesem Kitschfilm Titanic, den er damals heimlich geguckt hat. Keine gute Idee, seinen Freunden das auf die Nase zu binden. Stattdessen fummelt er die CD von der kleinen Fledermaus aus der Tasche und legt sie ein. Dabei schlingert der Wagen etwas, die Mädchen kreischen und es kommt Stimmung auf. »Pass auf«, schreit Miss-Wet-T-Shirt und krallt sich im Sitz fest. Selbst ein Tauber kann hören, dass sie eigentlich Du bist ein wilder Stier meint.

»Alles im Griff! Ich zeig euch jetzt mal, was die Kiste kann!« Ritschie verleiht dieser Aussage mit einem lauten Rülpser mehr Gewicht und tritt dann fest auf das Gaspedal. Zackig schaltet er Gang für Gang höher. Warum kommt da keine Musik? Er fummelt am Radio herum. Da, endlich.

»Hang the DJ, hang the DJ, hang the DJ«, singt eine helle, weiche Stimme.

»Bäääh, was ist das denn für ein Geheule!«, beschwert sich Lars.

Verfickter Schwuchtelchor!«, befindet Jochen.

»Ausmachen, ausmachen!«, fordert die Miss, die Möchtegern-Misses stimmen ein.

Doch Ritschie merkt, wie ihn die Klänge aus dem Lautsprecher eigenartig berühren. Als wäre es die Stimme seiner eigenen Sehnsucht. Die Musik gefällt ihm. Dieses Schwere, Düstere, Trotzige, verbrämt mit einer süßen Melodie. Er denkt an das Mädchen. Wie hieß sie noch gleich? Hell? Bescheuerter Name, wirklich. Aber sie hatte schöne rote Lippen.

***

Das Rot auf Helgas Lippen –Chanel No. 1 aus der Schublade ihrer Mutter – ist inzwischen ziemlich verblasst. Sie hat die Angewohnheit, auf der Unterlippe herumzuknabbern, wenn sie sich Gedanken macht. Und das tut sie gerade ausgiebig: schwere, düstere, trotzige, alle zum Thema: Was wäre wenn?

Wo bleibt überhaupt Ritschie? Sollte sie langsamer gehen? Da vorne müsste schon der Trecker von Zitterkalle stehen – sehen kann sie ihn nicht, aber ahnen. Ihr Plan scheint nicht zu funktionieren. Muss sie etwa zurück zum Schädel marschieren?

Plötzlich hört sie Motorengeräusch. Ein Auto, das sich sehr schnell von hinten nähert. Ritschie! Endlich!, denkt Helga und dreht sich wieder um. Er soll sie sehen, er soll anhalten. Doch der Wagen wird immer schneller. Zwei Scheinwerfer kommen in rasendem Tempo auf sie zu.

***

»Ruhe auf den billigen Plätzen!« Ritschie ist genervt.

»Ausmachen, ausmachen«, jault es von hinten und vom Beifahrersitz. Miss-Wet-T-Shirt streckt die Hand nach der Anlage aus und fängt an, daran herumzufummeln.

»Lass das!«, fährt Ritschie sie an. »Finger weg! Der Fahrer bestimmt die Musik!«

Doch die Miss hört nicht auf ihn. Er versucht, ihre Hand wegzuschlagen.

»Uhhh, Süßer, willst du zudringlich werden?«, flirtet die Miss ungeschickt und beugt sich zu Ritschie rüber, um ihn zu küssen. Die CD springt zum nächsten Lied. »And if a double-decker bus crashes into us ...«, singt die Stimme.

Moment, denkt Ritschie, steht da nicht am Straßenrand das Mädchen mit den schwarzen Haaren? Wie hieß sie noch?

Das Gesicht des Mädchens leuchtet weiß im Lichtstrahl der Scheinwerfer. Sie sieht unwirklich aus, wie ein Geist oder wie das schlechte Gewissen aus der Weichspüler-Werbung. Vor Schreck springt sie in den Graben.

Im nächsten Moment erfasst der Lichtkegel etwas Großes, was halb auf der Straße steht. Ist das ein Trecker?

»Ihhhhhh«, kreischt die Miss.

Bremsen, denkt Ritschie und weiß instinktiv, dass sein Fuß zu langsam sein wird. Ausweichen! Er reißt das Lenkrad herum. Knapp schrammt der BMW an dem alten Trecker vorbei.

»Geiler Stunt, Alter!«, grölt Lars.

Der Wagen schießt über den schmalen Graben auf der anderen Straßenseite.

Hell, denkt Ritschie. Sie heißt Hell.

Der BMW hebt ab, fliegt für den Bruchteil einer Sekunde –

– und knallt frontal gegen eine Eiche. Der einzige Baum weit und breit. Dick, solide, bestimmt ein paar hundert Jahre alt.

***

Helga hört das Krachen des Wagens, das Knirschen der Scheiben. Ihr fällt auf, dass das weniger laut und spektakulär klingt als die Unfälle im Fernsehen. Sie rappelt sich aus dem Graben wieder hoch und rennt zur Eiche, zum Wagen. Zu dem, was davon übrig geblieben ist. Viel ist es nicht.

Dann hört sie die Musik.

»To die by your side is such a heavenly way to die«, singt Morrissey. Ihr Lieblingslied. »There is a light and it never goes out ...«

Oh Gott, was mache ich bloß? Helga ist starr vor Schreck und Angst. Aus dem Wrack dringt, ein wenig leiser als die Musik, ein Stöhnen.

»Ritschie!«, schreit Helga außer sich. Dann fällt ihr ein, dass sie Hilfe holen muss. Wo ist bloß ihr Telefon? Wie war noch die Notrufnummer? In ihrer Verwirrung drückt sie einfach eine Taste. Ihre Mutter meldet sich, sie muss aus Versehen die Nummer ihrer Eltern gewählt haben. »Mama!«, würgt Helga schwach ins Telefon. »Ein Unfall!« Dann fällt sie in Ohnmacht.

***

Vielleicht hätte ich doch das kleine Höllenmädchen nach Hause fahren sollen, denkt Ritschie, bevor sich die Welt um ihn herum verabschiedet.

***

Als Helga aufwacht, ist alles um sie herum dunkel. Ganz still. Und ... weich und kuschelig. Sie braucht einen Moment, bis sie begreift, dass sie in ihrem Bett liegt. Ritschie, denkt sie. Und: Er hat meine CD gehört!

Dann fällt ihr ein, was passiert ist. Sie knipst die Nachttischlampe neben ihrem Bett an. There is a light and it never goes out. Sie sieht wieder den einen Scheinwerfer des BMWs vor sich, der die Eiche von unten beleuchtet.

Ein paar Wochen später legt Helga einen Strauß mit selbst gepflückten Kornblumen neben das kleine Holzkreuz, dass jemand aus zwei Kanthölzern zusammengenagelt und am Straßenrand vor der Eiche aufgestellt hat. Zitterkalle hat seinen Trecker längst abgeholt, die Rinde des Baumes ist ein wenig abgeschabt.

So hat sich Helga ihre erste große Liebe nicht vorgestellt.