In Acheron war eine neue Gruppe in den alten Labors zugange, die inzwischen stark erweitert worden waren, so daß die ganze hohe Felsrippe ausgehöhlt und bebaut war. Es war jetzt eine Stadt von über zweihunderttausend Einwohnern. Gleichzeitig war es natürlich immer noch ein ansehnlicher Felsensporn von etwa fünfzehn Kilometern Länge und sechshundert Metern Höhe, der an keiner Stelle mehr als ein Kilometer breit war. Und es war immer noch ein Labor oder Laborkomplex in einer Weise, wie es Echus Overlook schon lange nicht mehr war - mehr wie Da Vinci und mit einer ähnlichen Organisation. Nachdem Praxis die Infrastruktur erneuert hatte, war von Vlad, Ursula und Marina die Bildung einer neuen biologischen Forschungsstation unternommen worden. Vlad war tot, aber Acheron hatte ein eigenes Leben und schien ihn nicht zu vermissen. Ursula und Marina leiteten ihre eigenen kleinen Labors und lebten noch in den Wohnungen, die sie mit Vlad geteilt hatten, direkt unter dem Kamm des Sporns in einer zum Teil ummauerten und mit Bäumen bewachsenen, sehr windigen Spalte. Sie führten ein Privatleben wie immer schon, nur noch stärker in ihre eigene Welt zurückgezogen, als es mit Vlad der Fall gewesen war. Man war in Acheron an sie gewöhnt; die jüngeren Wissenschaftler behandelten sie wie die wohlwollenden Großmütter der Station oder in den Labors auch einfach als Kolleginnen.
Aber Sax wurde von den jüngeren Forschern ebenso verblüfft angestarrt, als würden sie Archimedes vorgestellt. Es war verwirrend, so behandelt zu werden, als begegnete man einem derartigen Anachronismus; und Sax führte etliche höchst mühsame Gespräche in dem Bemühen, jeden zu überzeugen, daß er nicht den Stein der Weisen in der Hosentasche mit sich herumtrug und Wörter in dem gleichen Sinn benutzte wie sie, und daß sein Geist noch nicht völlig vom Alter zerrüttet war etc.
Aber die Entfremdung konnte auch ein Vorteil sein. Junge Wissenschaftler in der Gruppe neigten dazu, sich zu naiven Empirikern zu entwickeln, oder aber zu idealistischen energischen Enthusiasten. Darum war Sax, der - neu und alt zugleich - von außen kam, imstande, sie in den Seminaren zu beeindrucken, die Ursula einberief, um den laufenden Stand der Arbeiten über das Gedächtnis zu diskutieren. Sax legte seine Hypothesen über die Schaffung einer möglichen Anamnesie dar, mit Vorschlägen für verschiedene Richtungen experimenteller Arbeit zu diesen Möglichkeiten; und er stellte fest, daß seine Anregungen für die jungen Forscher eine Art prophetischer Kraft besaßen, selbst wenn (oder vielleicht gerade wenn) sie recht allgemeine Bemerkungen enthielten. Falls diese vagen Anregungen zufällig mit irgendeiner Richtung zusammenfielen, in der diese Leute gerade arbeiteten, konnte die Reaktion äußerst enthusiastisch sein. Es war tatsächlich so: je aphoristischer, desto besser. Nicht sehr wissenschaftlich; aber so war es eben.
Während Sax sie beobachtete, erkannte er zum ersten Mal, daß die wendige, schnell reagierende und stark fokussierte Art der Wissenschaft, an die er sich in Da Vinci gewöhnt hatte, nicht auf Da Vinci allein beschränkt war, sondern eine Eigenschaft aller Labors war, die als kooperative Unternehmen organisiert waren. Es war die Natur der Marswissenschaft, der allgemeine Stil. Wenn die Forscher die Kontrolle über ihre eigenen Arbeiten hatten, in einem Maße, wie er es in seiner Jugend auf der Erde nie gesehen hatte, gewann die Arbeit eine noch nie dagewesene Schnelligkeit und Kraft. Zu seiner Zeit hatten die für die Arbeit erforderlichen Ressourcen anderen Leuten gehört, Institutionen mit deren eigenen Interessen und Bürokratien, wodurch eine schwerfällige und oft unvernünftig unbeholfene Kräftezersplitterung entstand. Und selbst die kohärenten Bemühungen wurden oft trivialen Dingen gewidmet, sehr häufig den finanziellen Profiten der Institution, welche die Kontrolle über das Labor hatte.
Acheron dagegen war eine halbautonome eigenständige Gemeinschaft, die den Umwelthöfen und natürlich der Verfassung unterstand, aber sonst niemandem. Sie suchten sich selbst aus, an was sie arbeiten wollten. Und wenn sie um Hilfe gebeten wurden, konnten sie, falls sie interessiert waren, sofort reagieren.
Also würde er keineswegs die ganze Arbeit, einen Verstärker für das Gedächtnis selbst zu entwickeln, alleine machen müssen. Die Acheronlabors waren hochinteressiert. Marina war im städtischen Labor des Komplexes aktiv geblieben, und die Stadt hatte immer noch eine enge Beziehung zu Praxis mit all deren Hilfsmitteln. Und viele Labors betrieben bereits Gedächtnisforschung. Sie hatte sich aus naheliegenden Gründen zu einem großen Teil des Langlebigkeitsprojekts entwickelt. Und Langlebigkeit als solche war witzlos, wenn das Gedächtnis nicht so weit reichte wie das System. Daher war es sinnvoll, wenn sich ein Komplex wie Acheron darauf konzentrierte.
Bald nach seiner Ankunft traf Sax sich mit Marina und Ursula allein zum Frühstück im Speisebereich ihrer Wohnungen. Nur die drei, umgeben von tragbaren Wänden, die mit Batiken von Dorsa Brevia bedeckt waren. Bäume in Töpfen standen in den Winkeln. Keine Erinnerung an Vlad. Sie erwähnten ihn auch nicht. Sax, der sich bewußt war, wie ungewöhnlich eine Einladung in ihr Heim war, hatte Mühe, sich auf die vorliegende Materie zu konzentrieren. Er kannte diese beiden Frauen von Anfang an und schätzte sie sehr, besonders Ursula wegen ihrer empathischen Qualitäten. Aber er hatte nicht den Eindruck, beide besonders gut zu kennen. So saß er nun da im Wind, aß und schaute sie an und auch hinaus durch die offenen Fensterwände. Dort gen Norden lag ein schmaler blauer Streifen, die Acheronbucht, ein tiefer Einschnitt in das Nordmeer. Im Süden erhob sich über dem nahen Horizont die enorme Masse von Olympus Mons. Dazwischen lag ein verteufelter Golfplatz, der mühsam aus alten Lavaströmen ausgearbeitet war, zerrissen und narbig auf der schwärzlichen Öde des Plateaus.
»Wir haben darüber nachgedacht, warum Experimentalpsychologen in jeder Generation ein paar isolierte Fälle von echt außergewöhnlichem Erinnerungsvermögen gemeldet haben«, sagte Marina, »es aber nie einen Versuch gegeben hat, diese durch die zeitgenössischen Gedächtnismodelle zu erklären.«
»Tatsächlich vergessen sie diese, sobald sie können«, warf Ursula ein.
»Ja. Und wenn dann die Berichte ausgegraben werden, hält niemand sie für völlig wahr. Es wird auf die Leichtgläubigkeit früherer Zeiten geschoben. Typischerweise kann man keinen Lebenden finden, der die beschriebenen Leistungen reproduzieren könnte. Darum besteht die Tendenz zu schließen, daß die früheren Forscher sich geirrt haben oder getäuscht worden sind. Aber eine Menge der Berichte war vorzüglich erhärtet.«
»Zum Beispiel?« fragte Sax. Es war ihm nicht eingefallen, sich nach echten funktionalen Berichten aus dem Organbereich der realen Welt umzuschauen, da diese stets anekdotisch sein mußten. Aber anscheinend war es doch sinnvoll, das zu tun.
»Der Dirigent Toscanini zum Beispiel kannte jede Note jedes Instruments in ungefähr zweihundertfünfzig symphonischen Werken auswendig«, sagte Marina, »und Text und Musik von rund einhundert Opern, dazu einer Menge kürzerer Werke.«
»Hat man das getestet?«
»Sozusagen in Stichproben. Einem Fagottisten zerbrach eine Taste seines Fagotts, und er meldete das Toscanini. Der überlegte und sagte ihm, er möge sich keine Sorgen machen, da er an diesem Abend diese Note nicht zu spielen haben würde. Und er dirigierte ohne Noten und schrieb fehlende Teile für Spieler auf und so weiter.«
»Oha!«
»Der Musikforscher Tovey hatte eine ähnliche Begabung«, fuhr Ursula fort. »Das ist bei Musikern nicht ungewöhnlich. Es ist so, als wäre die Musik eine Sprache, wo unglaubliche Leistungen manchmal möglich sind.«
»Hmm.«
»Ein Professor Athens an der Universität Cambridge im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert hatte eine umfassende Kenntnis aller möglichen Gebiete - wiederum Musik, aber auch Lyrik, Philosophie, Mathematik und das Tagesgeschehen seiner eigenen Gegenwart und Vergangenheit. Tag für Tag. Es wird berichtet, er hätte oft gesagt: >»Interesse fokussiert die Aufmerksamkeit. <«
»Stimmt«, sagte Sax.
»Er benutzte sein Gedächtnis meistens für das, was er interessant fand. Das nannte er ein Interesse an der Bedeutung. Aber im Jahre 2060 erinnerte er sich noch genau an eine Liste von dreiundzwanzig Wörtern, die er 2032 für einen einzigen Test gelernt hatte. Es gibt noch tausend andere Geschichten.«
»Ich möchte gern mehr über ihn hören.«
»Ja, er war perfekter als manch anderer«, sagte Ursula. »Die sogenannten >Kalender-Rechner< oder Leute, die sich an Bilder, die man ihnen gezeigt hat, in allen Einzelheiten erinnern können, sind oft in anderen Bereichen ihres Lebens behindert.«
Marina nickte. »Wie der Lette Schereschewskij und der als V.P bekannte Mann, die sich bei Tests und im allgemeinen an wirklich enorme Mengen zufälliger Fakten erinnerten. Aber beide litten an Synästhesie.«
»Hmm. Vielleicht Überaktivität des Hippoccampus.«
»Vielleicht.«
Sie erwähnten noch etliche Fälle mehr. Ein Mann namens Finkelstein, der die Wahlergebnisse der gesamten Vereinigten Staaten schneller ausrechnen konnte als alle Rechenmaschinen der 1930er Jahre. Talmudgelehrte, die nicht nur den Talmud auswendig kannten, sondern auch die Stellung jedes Wortes auf jeder Seite. Geschichtenerzähler, die sämtliche Verse Homers auswendig kannten. Sogar Menschen, von denen man sagte, sie hätten die Renaissancemethode des Gedächtnispalastes mit großem Erfolg benutzt. Sax hatte das nach seinem Schlag selbst mit recht gutem Erfolg versucht. Es gab viele Erscheinungsformen.
»Diese außerordentlichen Fähigkeiten scheinen aber nicht dasselbe zu sein wie das gewöhnliche Gedächtnis«, bemerkte Sax.
»Eidetisches Gedächtnis«, sagte Marina, »gründet sich auf Bilder, die bis ins kleinste Detail wiederkehren. Man sagt, das sei die Weise, in der sich die meisten Kinder erinnern. In der Pubertät ändert sich für die meisten von uns die Art, wie wir uns an Veränderungen erinnern. Das ist so, als würden jene Personen nie die kindliche Art des Erinnerns verlieren.«
»Hmm«, machte Sax. »Ich frage mich aber immer noch, ob es sich dabei um die oberen Extremfälle kontinuierlicher Verteilung von Fähigkeiten handelt, oder ob es Beispiele einer seltenen bimodalen Verteilung sind.«
Marina zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Aber wir haben hier ein Studienobjekt.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Zeyk. Er und Nazik sind hierher gezogen, so daß wir ihn untersuchen können. Er ist immer sehr kooperativ, und sie redet ihm zu. Sie sagt, es könnte vielleicht etwas Gutes dabei herauskommen. Er selbst liebt seine Fähigkeit nicht, mußt du wissen. Bei ihm hat es nicht viel mit Rechentricks zu tun, obwohl er darin besser ist als die meisten von uns. Aber er kann sich bis hin zu erstaunlichen Details an seine Vergangenheit erinnern.«
»Ich entsinne mich, davon gehört zu haben«, sagte er. Die beiden Frauen lachten, dann war es einen Moment still, er mit ihnen. »Ich möchte gern sehen, was ihr mit ihm anstellt.«
»Gewiß. Er ist unten in Smadars Labor. Das ist interessant. Sie sehen sich Bilder von Ereignissen an und stellen ihm Fragen dazu. Dann redet er darüber, an was er sich erinnert, während sie zugleich sein Gehirn nach den allerletzten Methoden abtasten.«
»Klingt sehr interessant.«
Ursula führte ihn nach unten zu einem langen Labor mit gedämpfter Beleuchtung, in dem einige Betten mit Personen belegt waren, die der einen oder anderen Art von Scans unterzogen wurden. Bunte Bilder flimmerten auf Schirmen oder holographisch in der Luft. Andere Betten waren leer und wirkten irgendwie verdächtig.
Unter all den jungen Eingeborenen sah Zeyk aus wie ein Exemplar von Homo habilis - aus der Vorgeschichte herbeizitiert, um auf seine geistigen Fähigkeiten hin getestet zu werden. Er trug einen Helm, der innen mit Kontaktpunkten bepflastert war. Sein weißer Bart war feucht und die Augen eingesunken und müde in seiner verwitterten dunklen Haut von der Farbe dunkler Hämatome. Nazik saß an der anderen Seite seines Bettes und hielt seine Hand in der ihren. In der Luft über einem Holographen nahe der Tür war ein detailliertes dreidimensionales transparentes Bild von Zeyks Gehirn zu sehen. Ständig zuckten Blitze farbigen Lichts hindurch und erzeugten grüne, rote, blaue und blaßgoldene Muster.
Auf dem Schirm am Bett schwankten Bilder einer kleinen Zeltsiedlung nach Einbruch der Dunkelheit. Eine junge Frau, vermutlich die Forscherin Smadar, stellte Fragen.
»Hat also Ahad die Fetah angegriffen?«
»Ja. Oder sie kämpften, und ich hatte den Eindruck, daß die Ahad damit angefangen hatten. Aber ich meinte, daß jemand sie aufeinander gehetzt hatte, indem er Slogans in die Fenster geritzt hat.«
»Hatte die Muslimische Bruderschaft oft so heftige interne Konflikte?«
»Damals schon. Aber warum in jener Nacht, weiß ich nicht. Es hat sie jemand gegeneinander aufgehetzt. Es war, als ob plötzlich alle verrückt geworden wären.«
Sax fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Dann empfand er einen Kälteschauer, als ob die Ventilation etwas von dem kalten Morgen draußen hereingelassen hätte. Die kleine Zeltstadt auf den Videos war Nicosia. Sie sprachen über die Nacht, in der John Boone getötet worden war. Smadar beobachtete die Videos und stellte Fragen. Zeyk wurde aufgezeichnet. Jetzt schaute er zu Sax hinüber und nickte zum Gruß. »Russell war auch dort.«
»Warst du?« fragte Smadar und sah Sax nachdenklich an.
»Ja.«
An diese Ereignisse hatte Sax seit Jahren nicht mehr zurück gedacht, seit Jahrzehnten. Vielleicht ein Jahrhundert. Er stellte fest, daß er nie wieder in Nicosia gewesen war, nicht seit jener Nacht. Als ob er es gemieden hätte. Ohne Zweifel Verdrängung. Er hatte John sehr gern gehabt, der vor der Ermordung mehrere Jahre für ihn gearbeitet hatte. Sie waren Freunde gewesen. »Ich habe gesehen, wie er angegriffen wurde«, sagte er zur allgemeinen Überraschung.
»Ja, das hast du!« rief Zeyk. Jetzt starrten ihn außer Zeyk auch Nazik und Ursula an, und Marina mit ihnen.
»Was hast du gesehen?« fragte ihn Smadar und schaute kurz auf Zeyks Gehirnbild, das in einem lautlosen Sturm flimmerte. Das war die Vergangenheit - genau so ein stiller, flimmernder elektrischer Sturm. Das war die Arbeit, auf die sie zustrebten.
»Es kam zu einem Handgemenge«, sagte Sax zögernd und unbehaglich und blickte in das Hologramm wie in eine Kristallkugel. »Auf einer kleinen Plaza, wo eine Seitenstraße auf den zentralen Boulevard mündete. Nahe der Medina.«
»Waren es Araber?« fragte die junge Frau.
»Vielleicht«, sagte Sax. Er schloß die Augen; und obwohl er es nicht sehen konnte, konnte er es sich irgendwie vorstellen in einer Art von blindem Sehen. »Ja, das nehme ich an.«
Er öffnete die Augen und sah, wie Zeyk ihn anstarrte. »Hast du sie erkannt?« krächzte Zeyk. »Kannst du mir sagen, wie sie ausgesehen haben?«
Sax schüttelte den Kopf. Aber das schien ein Bild loszuschütteln - schwarz und dennoch präsent. Das Video zeigte die dunklen Straßen von Nicosia, mit Licht flackernd wie der Gedanke in Zeyks Gehirn. »Ein großer Mann mit schmalem Gesicht und schwarzem Schnurrbart. Sie hatten alle schwarze Schnurrbarte, aber dieser war länger; und er schrie die anderen Männer an, die Boone angriffen, aber nicht Boone selbst.«
Zeyk und Nazik schauten einander an. »Yussuf«, sagte Zeyk. »Yussuf und Nejm. Sie führten damals die Fetah an und waren wütender auf Boone als irgendeiner von den Ahad. Und als Selim später in der Nacht sterbend bei uns erschien, sagte er: Boone hat mich getötet. Boone und Chalmers. Er sagte nicht: Ich habe Boone getötet; er sagte: Boone hat mich getötet.« Er sah wieder Sax an. »Aber was ist danach geschehen? Was hast du gemacht?«
Sax erschauerte. Das war es, warum er niemals nach Nicosia zurückgekehrt war und sich jeden Gedanken daran verboten hatte. In jener Nacht, in dem kritischen Moment, hatte er gezögert. Er hatte Angst gehabt. »Ich habe sie von der anderen Seite der Plaza aus gesehen, Ich war in einiger Entfernung und wußte nicht, was ich tun sollte. Sie haben John niedergeschlagen. Sie haben ihn fortgezerrt. Ich - habe zugesehen. Dann - war ich in einer Gruppe, die hinter ihnen her lief. Ich weiß nicht, wo der Rest war. Sie zogen mich mit. Aber die Angreifer schleppten ihn durch jene Nebenstraßen; und im Dunkeln... hat unsere Gruppe sie verloren.«
»In deiner Gruppe gab es wahrscheinlich Freunde der Angreifer«, sagte Zeyk. »Und zwar ganz gezielt, um dich bei der Verfolgung auf den falschen Weg zu führen.«
»Ah!« sagte Sax. Es hatte in der Gruppe Männer mit Schnurrbärten gegeben. »Möglich.«
Er fühlte sich schlecht. Er hatte gefroren und nichts getan. Die Schirmbilder flimmerten. In der Dunkelheit blitzte es auf, und Zeyks Cortex war mit mikroskopischen bunten Schlaglichtern erhellt.
»Also war es nicht Selim«, sagte Zeyk zu Nazik. »Und auch nicht Frank Chalmers.«
»Wir sollten es Maya sagen«, Nazik sprach nachdrücklich. »Sie muß es wissen.«
Zeyk zuckte die Achseln. »Das wird sie nicht kümmern. Wenn Frank Selim auf John angesetzt hat, aber ein anderer die Tat begangen hat, spielt das eine Rolle?«
»Aber du denkst, es war jemand anders«, hakte Snadar nach.
»Ja. Yusuf und Nejm. Die Fetah. Oder wer sonst die Leute gegeneinander aufgehetzt hat. Nejm, vielleicht ...«
»Der tot ist.«
»Und Yusuf auch«, sagte Zeyk grimmig. »Und wer auch immer den Krawall in jener Nacht ausgelöst hat... « Er schüttelte den Kopf, und das Bild über ihm zitterte leicht.
»Erzähl mir, was danach geschehen ist!« sagte Smadar und blickte auf ihren Schirm.
»Unsi al-Khan kam in den Hajr gelaufen, um uns zu sagen, daß Boone angegriffen worden war. Unsi... nun, jedenfalls ging ich mit einigen anderen zum Syrischen Tor, um zu sehen, ob es benutzt worden war. Die arabische Methode der Exekution war damals, daß man jemanden hinaus auf die Oberfläche warf. Wir entdeckten, daß das Tor einmal benutzt, aber niemand dadurch zurückgekommen war.«
»Erinnerst du dich an den Code des Tores?« fragte Smadar.
Zeyk runzelte die Stirn, seine Lippen bewegten sich, die Augen waren zugekniffen. »Es waren Teile der Fibonacci-Reihe. Ich entsinne mich, das damals bemerkt zu haben: Fünf - acht - eins - drei - zwei - eins.«
Sax schnappte nach Luft. Smadar nickte: »Fahr fort!«
»Dann kam eine Frau, die ich nicht kannte, vorbeigelaufen und sagte, man hätte Boone in der Farm gefunden. Wir folgten ihr zur medizinischen Klinik in der Medina. Die war neu, alles war blitzsauber und an den Wänden hingen noch keine Bilder. Sax, du warst dort und der Rest der Ersten Hundert in der Stadt: Chalmers und Toitovna und Samantha Hoyle.«
Sax stellte fest, daß er sich überhaupt nicht an die Klinik erinnern konnte. Halt... ein Bild von Frank mit gerötetem Gesicht und Maya in einem weißen Domino, ihr Mund ein blutleerer Strich. Aber das war draußen gewesen auf dem mit Glassplittern übersäten Boulevard. Er hatte ihnen von dem Angriff auf Boone erzählt, und Maya hatte sofort geschrien: »Hast du sie aufgehalten?« Und er hatte sofort erkannt, daß er versagt hatte, daß er sie nicht aufgehalten hatte, seinem Freund nicht geholfen hatte, daß er im Schock erstarrt dagestanden und zugesehen hatte, wie sein Freund angegriffen und weggezerrt wurde. Er hatte zu Maya gesagt: »Wir haben es versucht. Ich habe es versucht.« Obwohl das nicht stimmte.
Aber später in der Klinik? - nichts. Ihm fiel wirklich nichts über den ganzen Rest jener Nacht ein. Er schloß wie Zeyk die Augen und preßte die Lider zu, als ob das ein anderes Bild heraus quetschen könnte. Aber nichts kam. Das Gedächtnis war so merkwürdig. Er erinnerte sich an kritische traumatische Momente, wenn diese Erkenntnisse sich in ihn eingebohrt hatten. Der Rest war verschwunden. Sicher mußten das limbische System und die emotionale Belastung jedes Vorfalls entscheidend in der Befrachtung oder Encodierung oder Einbettung einer Erinnerung beteiligt sein.
Aber dann wiederum Zeyk, der langsam jede Person nannte, die er in dem Warteraum der Klinik gekannt hatte, obwohl dieser dicht gefüllt gewesen sein mußte. Dann beschrieb er das Gesicht der Ärztin, die herausgekommen war, um ihnen Boones Tod zu melden. »Sie sagte: >Er ist tot. Zu lange draußen gewesene Maya legte Frank eine Hand auf die Schulter, und er zuckte zusammen.«
Nazik flüsterte: »Wir müssen es Maya sagen.«
»Er sagte zu ihr: >Es tut mir leid<, was ich seltsam fand. Sie sagte daraufhin zu ihm, daß er ja John ohnehin nie gemocht hätte, was richtig war. Und Frank stimmte sogar zu, ging dann aber fort. Er sagte: >Was weißt du denn davon, was ich mag oder nicht mag?< So bitter. Ihm gefiel diese Mutmaßung nicht, der Gedanke, daß sie ihn kannte.« Zeyk schüttelte den Kopf.
»War ich während dieser Zeit dort?« fragte Sax.
»...Ja. Du hast auf der anderen Seite von Maya gesessen. Aber du warst abgelenkt. Du hast geweint.«
Sax fiel davon absolut nichts mehr ein. Plötzlich erinnerte er sich, daß ebenso, wie es viele Dinge gab, die er getan hatte und von denen niemals jemand etwas wissen würde, es auch Dinge gab, die er getan hatte und an die sich andere erinnerten, während er selbst sich nicht darauf besinnen konnte. So wenig wußten sie! So wenig!
Zeyk fuhr fort über den Rest jener Nacht und den nächsten Morgen zu berichten. Das Erscheinen von Selim und dessen Tod. Dann vom darauffolgenden Tag, als Zeyk und Nazik Nicosia verlassen hatten. Und auch noch vom Tag danach. Ursula sagte, daß er mit dieser Menge an Details über jede Woche seines Lebens fortfahren könnte.
Aber nun brach Nazik die Sitzung ab. Sie sagte zu Smadar: »Genug für heute. Laß uns morgen weitermachen!«
Smadar stimmte zu und tippte etwas auf der Konsole der Maschine neben sich. Zeyk starrte wie ein heimgesuchter Mann an die dunkle Zimmerdecke; und Sax sah, daß man zu den vielen Fehlfunktionen des Gedächtnisses auch solche Erinnerungen zählen mußte, die zu gut liefen. Aber wie? Welcher Mechanismus bewirkte das? Da war das Bild von Zeyks Gehirn, das in einem anderen Medium die Muster von Quantenaktivität wiedergab wie Blitze, die in seinem Cortex umherflimmerten... einem Gehirn, das die Vergangenheit viel besser festhielt als die übrigen Alten und unzugänglich war gegen Erinnerungsverluste, die Sax für einen unausweichlichen zeitbedingten Zusammenbruch gehalten hatte... Nun, sie unterzogen dieses Gehirn jedem erdenklichen Test. Aber es war durchaus möglich, daß das Geheimnis ungelöst blieb. Es passierte einfach zu viel, das ihnen völlig entging. Wie in jener Nacht in Nicosia.
Sax zog sich erschüttert einen warmen Pullover an und ging nach draußen. Das Land um Acheron hatte ihm willkommene Unterbrechungen seiner Laborzeit geliefert, und er freute sich jetzt sehr, es zu durchstreifen, einfach um wegzukommen.
Er wandte sich nach Norden auf die See zu. Einige der besten Gedanken über das Gedächtnis waren ihm gekommen, während er zu dieser Küste hinunterging, über so verschlungene Wege, daß er niemals denselben zweimal erwischte, teils weil das alte Lavaplateau durch Gräben und steile Böschungen so zerklüftet war, und teils weil er nie auf die größere Topographie achtete. Er war entweder in seinen Gedanken versunken oder von der Landschaft gefesselt und schaute sich nur ab und zu um, damit er wußte, wo er sich befand. Es war tatsächlich eine Region, in der man sich nicht verirren konnte. Man stieg auf eine kleine Anhöhe, und dort stand der Acheron-Sporn wie der Kamm eines ungeheuren Drachens. Und in der anderen Richtung, von um so mehr Stellen aus zu sehen, je näher man kam, lag die blaue Weite der AcheronBucht. Dazwischen gab es eine Million von Mikromilieus. Das steinige Plateau war gesprenkelt von versteckten Oasen, und jede Spalte war voller Pflanzen. Das war keineswegs der Schmelzlandschaft an der polaren Küste auf der anderen Seite des Meeres ähnlich. Dieses Steinplateau hier und seine kleinen verborgenen Habitate wirkten uralt, obwohl die Gartenarbeit sicher von den Okopoeten Acherons geleistet worden war. Viele dieser Oasen waren Experimente, und Sax behandelte sie auch als solche. Er blieb außerhalb davon und blickte in eine Grube mit steilen Wänden nach der anderen und fragte sich, was der dafür verantwortliche Ökopoet mit seiner oder ihrer Arbeit herausfinden wollte. Hier konnte man Humus ausstreuen, ohne zu befürchten, daß er ins Meer gespült würde, obwohl das aufregende Grün der sich bis in die Täler hinaufziehenden Flußmündungen zeigte, daß einiger fruchtbarer Boden seinen Weg stromabwärts nahm. Diese Mündungsmarschen würden sich mit erodierten Böden füllen, während sie gleichzeitig salziger werden würden wie das Nordmeer selbst...
Aber diesmal wurden seine Beobachtungen draußen immer wieder durch Gedanken an John unterbrochen. John Boone hatte in den letzten paar Jahren seines Lebens für ihn gearbeitet; und sie hatten viele Besprechungen, in denen sie die sich rasch entwickelnde Vegetation des Mars erörterten. Es waren vitale Jahre gewesen; und John war in ihnen stets glücklich gewesen, fröhlich, zuversichtlich, ein verläßlicher loyaler Freund, höflich, folgsam, heiter, fürsorglich, mutig, strahlend und hingebungsvoll. Nein, nicht genau. Er war auch schroff, ungeduldig, arrogant, faul, schlampig, drogenabhängig und stolz gewesen. Aber Sax hatte sich mit der Zeit mehr und mehr auf ihn verlassen. Er hatte ihn geliebt wie einen großen Bruder, der ihn draußen in der weiten Welt beschützte. Und dann hatten sie ihn getötet. Das sind die Typen, hinter denen die Killer immer her sind. Sie konnten diesen Mut nicht ertragen. Und so hatten sie ihn ermordet; und Sax hatte dagestanden, zugesehen und nichts unternommen. Erstarrt in Schock und persönlicher Angst. Hast du sie nicht aufgehalten? - hatte Maya geschrien. Er erinnerte sich jetzt an ihre scharfe Stimme. Nein, ich hatte Angst. Nein, ich habe nichts unternommen. Natürlich war es unwahrscheinlich, daß er überhaupt etwas hätte tun können. Zuvor, als die Angriffe auf John einsetzten, hätte er ihn vielleicht zu einer anderen Tätigkeit überreden und einige Leibwächter zu seinem Schutz anheuern können, die ihm heimlich folgten und ihn beschützten - wenn seine Freunde als schockierte Augenzeugen erstarrten. Aber er hatte niemanden verpflichtet. Und so war sein Bruder umgebracht worden, sein Bruder, der ihn ausgelacht, aber auch ebenso geliebt hatte, noch bevor ein anderer überhaupt an ihn gedacht hatte.
Sax ging heftig erregt über die zerklüftete Ebene, aufgebracht über den Verlust eines Freundes vor 153 Jahren. Manchmal schien es so, als gäbe es gar keine Zeit.
Dann blieb er plötzlich stehen, in die Gegenwart zurückgeholt durch den Anblick von Leben. Kleine weiße Nagetiere schnupperten auf dem Grün einer eingesunkenen Wiese herum. Es waren ohne Zweifel Schnee-Pfeifhasen oder so etwas; aber in ihrer weißen Farbe sahen sie Laborratten so ähnlich, daß es Sax einen Ruck gab. Weiße Laborratten, ja, aber schwanzlos; mutierte Laborratten, ja, endlich befreit von ihren Käfigen und draußen in der Welt. Sie wanderten über das intensiv grüne Wiesengras wie surreale Objekte einer Halluzination, ganz munter und mit schnuppernden Barthaaren, während sie den Boden nach Leckerbissen absuchten. Sie mampften Samen, Nüsse und Blüten. John hatte sich über die Geschichte von Sax mit den hundert Laborratten sehr amüsiert. Saxens Gedanken, jetzt frei und zerstreut. Das ist unser Körper.
Sax hockte sich hin und beobachtete die kleinen Nager, bis ihm kalt wurde. Auf dieser Ebene gab es auch größere Tiere, und er blieb bei ihnen immer kurz stehen, um sie zu beobachten: Hirsche, Elche, Dickhornschafe, Rentiere, Karibus, Schwarzbären, Grizzlybären, sogar Rudel von Wölfen wie flinke graue Schatten. Sie alle erschienen Sax wie Bürger aus einem Traum. Darum war er jedesmal, wenn er eine einzige Kreatur sichtete, erregt, überrascht und sogar erstaunt. Das schien ihm unmöglich. Es war sicher nicht natürlich. Aber es gab sie hier. Und jetzt diese kleinen Pfeifhasen, glücklich in ihrer Oase. Weder Natur noch Kultur - einfach Mars.
Er dachte an Ann. Er würde sie gerne sehen.
Er dachte in diesen Tagen oft an sie. So viele seiner Freunde waren jetzt tot, aber Ann lebte. Er konnte immer noch mit ihr sprechen, das war zumindest möglich. Er hatte sich erkundigt und festgestellt, daß sie jetzt in der Caldera von Olympus Mons lebte, als Mitglied einer kleinen Gemeinschaft roter Bergsteiger, die dort wohnten. Offenbar gab es in der Caldera Schichtwechsel, um die Bevölkerung klein zu halten trotz der steilen Wände des großen Lochs und der primitiven Bedingungen, die für sie so attraktiv waren. Aber Ann blieb, solange sie Lust hatte, wie Sax gehört hatte, und ging nur selten fort. Das hatte Peter ihm erzählt, obwohl der es auch nur aus zweiter Hand gehört hatte. Schade, daß die beiden sich entfremdet hatten, grundlos. Aber familiäre Entfremdungen schienen die unversöhnlichsten von allen zu sein.
Jedenfalls befand sie sich auf Olympus Mons. Der war fast in Sicht, gerade im Süden über dem Horizont. Und er wollte mit ihr sprechen. Er dachte, alle seine Überlegungen dazu, was auf dem Mars geschah, waren wie ein internes Gespräch mit Ann gestaltet. Nicht so sehr als Streitgespräch, so hoffte er, sondern als eine endlose Überredung. Wenn er durch die Realität des blauen Mars so verändert werden konnte, warum dann nicht auch Ann? War das nicht unvermeidlich und sogar notwendig? Hätte es vielleicht schon geschehen sein können? Sax fühlte, daß er im Laufe der Jahre das zu lieben gelernt hatte, was Ann am Mars gefiel. Und jetzt wollte er, daß sie, wenn möglich, es erwiderte. Sie war für ihn auf höchst unbequeme Weise sein Maß für den Wert dessen geworden, was sie geleistet hatten. Den Wert oder die Akzeptanz. Es war ein seltsames Gefühl, das sich in ihm gebildet hatte, aber es war da.
Noch ein unangenehmer Kloß in seinem Geist, wie die plötzlich wieder entdeckte Schuld an Johns Tod, die er versuchen wollte, wieder zu vergessen. Wenn er die interessanten Gedanken auslöschen konnte, sollte er auch imstande sein, die schrecklichen zu tilgen, nicht wahr? John war gestorben; und nichts, was in seiner Macht gestanden hatte, würde das verhindert haben. Sehr wahrscheinlich. Man konnte es nicht klären. Und man konnte auch nicht zurückgehen. John war getötet worden, und Sax hatte es versäumt, ihm zu helfen. Und Sax war am Leben, und John war tot. Nichts als ein starkes verknotetes Netzwerk in den Köpfen aller Leute, die ihn gekannt hatten. Und man konnte nichts machen.
Aber Ann lebte und kletterte da oben die Wände der Caldera von Olympus empor. Er konnte mit ihr reden, wenn er wollte. Obwohl sie nicht herauskommen würde. Er würde sie aufspüren müssen. Aber das konnte er machen. So war es. Der eigentliche Stachel von Johns Tod lag im Tod dieser Chance; er konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Aber er konnte immer noch mit Ann sprechen. Diese Chance gab es.
Die Arbeiten an dem Anamnesie-Problem gingen weiter. Acheron war in dieser Hinsicht ein Vergnügen. Tagsüber in den Labors, Gespräche mit den Labordirektoren über ihre Experimente und sehen, ob er helfen konnte. Wöchentlich Seminare, wo man vor den Schirmen zusammenkam, die Resultate austauschte und sich über mögliche Auslegungen unterhielt, und was man als nächstes versuchen sollte. Leute unterbrachen ihre Arbeit, um auf der Farm zu helfen, andere Angelegenheiten zu erledigen oder auf Reisen zu gehen. Aber es gab andere zur Vertretung; und wenn die Wissenschaftler zurückkehrten, hatten sie oft neue Ideen gehabt und waren immer frisch mit Energie geladen. Sax saß nach den wöchentlichen Zusammenkünften immer noch eine Weile in den Seminarräumen und sah sich die Kaffeetassen und die Ringe von braunem Kaffee und schwarzen Kavaflecken auf den abgenutzten Tischplatten und die blanken Tafelschirme an. Sie waren bedeckt von Schemata chemischer Diagramme und großen gebogenen Pfeilen, die auf Akronyme zeigten und alchemische Symbole, wie sie Michel gefallen hätten. Und etwas in ihm erglühte, bis es schmerzte - irgendeine parasympathetische Reaktion, die aus seinem limbischen System ausströmte. Ja bei Gott, das war jetzt Wissenschaft, in den Händen der Wissenschaftler selbst, die zusammen für ein kollektives Ziel arbeiteten, das sinnvoll war, und dem Allgemeinwohl diente. Sie stießen bis an die Grenze ihres Wissens vor. Theorie und Experiment flogen hin und her wie Pingpongbälle. Woche um Woche fanden sie mehr und steckten sich neue Ziele. Sie dehnten den großen unsichtbaren Parthenon bis in das noch nicht kartierte Territorium des menschlichen Geistes aus, in das Leben selbst. Das machte ihn so glücklich, daß es ihn fast nicht kümmerte, wenn sie etwas herausfanden. Die Suche war alles.
Aber sein Kurzzeitgedächtnis war beschädigt. Er experimentierte jeden Tag mit den Ausfällen und Dingen, die ihm permanent auf der Zunge lagen. Manchmal mußte er in den Seminaren mitten im Satz innehalten, sich setzen und den anderen mit der Bitte fortzufahren zuwinken. Sie nickten dann, und die Person an der Wandtafel machte weiter. Nein, er brauchte die Lösung für dieses drängende Problem. Es würde später andere Rätsel geben, denen man nachzugehen hatte, ohne Zweifel. Zum Beispiel der schnelle Verfall selbst oder sonst etwas aus dem Rest des Alterungsproblems. Nein, es mangelte nicht an Unerklärbarem zur Weiterarbeit, und das würde immer so sein. Inzwischen war das Problem der Anamnese hart genug.
Immerhin wurden langsam die Umrisse einer Lösung deutlich. Ein Teil davon würde ein Drogencocktail sein, eine Mischung von Proteinsyntheseverstärkern einschließlich sogar Amphetaminen und chemischen Verwandten des Strychnins, außerdem Überträger wie Serotonin, Anreger von Glutamatrezeptoren, Cholinesterase, zyklische AMP und so weiter. Alles das würde es geben, um auf verschiedenen Wegen die Gedächtnisstrukturen zu verstärken, wenn man sie wieder ablaufen ließ. Andere Stoffe aus der allgemeinen Behandlung von Hirnplastizität, die Sax in der Zeit nach seinem Schlag erfahren hatte, würden hinzukommen. Sodann schien es nach den Experimenten mit elektrischer Stimulation, daß ein anregender Elektroschock und anschließend eine kontinuierliche Schwingung mit sehr raschen Frequenzen in Phase mit den natürlichen Gehirnwellen der Person dazu dienen könnte, die von dem Drogencocktail verstärkten neurochemikalischen Prozesse in Gang zu setzen. Danach würden die Personen die Arbeit des Gedächtnisses so gut steuern, wie sie konnten, vielleicht, indem sie sich von Knoten zu Knoten bewegten, falls das ginge, mit dem Gedanken, daß ein jeder Knoten wieder aufgerufen würde. Das den Knoten umschließende Netzwerk würde dann von den Oszillationen überflutet und entsprechend verstärkt werden. Im Grunde so, als ginge man im Theater des Gedächtnisses von Raum zu Raum. Die Experimente mit allen diesen vielfältigen Aspekten des Prozesses liefen mit Freiwilligen, oft den jungen eingeborenen Experimentatoren selbst. Sie erinnerten sich an sehr viele Dinge und sprachen mit einer Art erstaunter Scheu; und die allgemeinen Aussichten wurden immer besser. Woche um Woche feilten sie ihre Techniken aus und integrierten sie in einen Gesamtprozeß.
Aus den Experimenten ergab sich, daß der Kontext eine wichtige Komponente für den bestmöglichen Erfolg der Erinnerung war. An Listen, die man unter Wasser in Taucheranzügen auswendig gelernt hatte, konnte man sich viel besser erinnern, wenn die Personen wieder auf den Meeresboden gingen, als wenn sie sich an Land daran zu erinnern versuchten. Personen, denen man hypnotisch Gefühle des Glücks oder Kummers eingeflößt hatte, während sie eine Liste lernten, erinnerten sich besser, wenn sie wieder im gleichen Sinne hypnotisiert wurden. Das waren natürlich alles sehr grobe Experimente; aber die Verbindung zwischen Kontext und Erinnerungskraft wurde durch sie stark genug demonstriert, daß Sax ernsthaft erwog, ob er sich nicht der Behandlung unterziehen sollte, wenn sie damit fertig wären. Und wo und mit wem.
Für die abschließende Arbeit an der Behandlung rief Sax Bao Tahashi an und bat sie, für einige Konsultationen zu ihnen nach Acheron zu kommen. Ihre Arbeit war wieder viel theoretischer und bedeutend feinkörniger; aber nach ihrer Arbeit mit der Fusionsgruppe in Da Vinci hatte er einen großen Respekt vor ihrer Fähigkeit, bei jedem Problem zu helfen, bei dem Quantengravitation und die Ultramikrostruktur der Materie beteiligt waren. Sie sollte bloß durchsehen, was sie in Acheron getan hatten. Er war sich ganz sicher, daß ihr Kommentar dazu wertvoll sein würde.
Leider hatte Bao in Da Vinci wichtige Verpflichtungen, wie schon immer seit ihrer viel ausposaunten Rückkehr von Dorsa Brevia. Sax war in der ungewöhnlichen Position, seinen Heimatlabors eine ihrer besten theoretischen Kräfte zu entziehen. Aber er tat das ohne Gewissenbisse und erhielt Belas Hilfe, urh die derzeitige Administration unter Druck zu setzen. »Ka, Sax«, rief Bela bei einem Anruf aus. »Ich hätte nie geahnt, daß du dich als ein so wilder Kopfjäger erweisen würdest.«
Sax entgegnete: »Es ist ja auch mein eigener Kopf, nach dem ich auf der Jagd bin.«