So kehrte er nach Pavonis zurück und überließ es der Gruppe in Sabishii, die Dinge durchzusprechen.

In Pavonis hatte sich nicht viel geändert. Immer mehr Leute, angespornt von Art Randolph, schlugen vor, einen konstitutionellen Kongreß abzuhalten. Man sollte wenigstens eine provisorische Verfassung erstellen, darüber abstimmen und dann die betreffende Regierung einsetzen.

»Eine gute Idee«, sagte Sax. »Vielleicht auch eine Delegation zur Erde.«

Man streute Samen aus. Es war wie in den Mooren. Manche würden aufgehen, andere nicht.

Er versuchte, Ann zu finden, mußte aber feststellen, daß sie Pavonis verlassen hatte. Wie die Leute sagten, war sie zu einem Außenposten der Roten in Tempe Terra, nördlich von Tharsis aufgebrochen. Sie sagten, daß nur Rote dorthin gingen.

Später bat Sax Steve um Hilfe und sah nach, wo sich dieser Außenposten befand. Dann lieh er sich ein kleines Flugzeug von den Bogdanovisten und flog nach Norden, links an Ascraeus Mons vorbei, dann nach Echus Chasma hinunter und an seinem alten Hauptquartier in Echus Overlook vorbei auf dem hohen Wall zu seiner Rechten.

Ann hatte ohne Zweifel diese Route genommen und somit das erste Hauptquartier der Terraformungsbestrebungen aufgesucht. Terrraformen - das war Evolution in jeder Hinsicht, was Ideen anbelangte. Hatte Ann Echus Overlook zur Kenntnis genommen? Hatte sie sich wenigstens an den kleinen Anfang erinnert? Das konnte man nicht sagen. Das war eben die Art, auf die die Menschen sich gegenseitig kannten: Winzige Bruchteile ihres Lebens überschnitten sich oder waren irgendwie jemandem bekannt. Er war fast so, als ob man allein im Universum lebte. Das war seltsam. Eine Rechtfertigung für das Leben mit Freunden, für Heiraten, für das Teilen von Zimmern und Leben, soweit möglich. Dadurch wurden Menschen nicht wirklich miteinander vertraut, aber es minderte das Gefühl der Einsamkeit. So daß jemand immer noch allein die Ozeane der Welt befuhr, wie in Mary Shelleys The Last Man, einem Buch, das Sax als Jugendlichen stark beeindruckt hatte, in dem der anonyme Held schließlich ein Segel erblickte, ein anderes Schiff traf, an einer Küste ankerte und nach einer gemeinsamen Mahlzeit einsam weiterfuhr. Ein Bild ihres Lebens; denn jede Welt war so leer, wie die von Mary Shelley erfundene, so leer, wie es der Mars zu Anfang gewesen war.

Er flog an der geschwärzten Kurve von Kasei Vallis entlang, ohne das überhaupt zu bemerken.

 

Die Roten hatten vor langer Zeit einen Felsen von der Größe eines Häuserblocks aus einem Kap gehauen, das genau südlich vom Perepelkin-Krater als letzter trennender Keil zwischen zwei Tempe Fossae diente. Fenster unter Überhängen ermöglichten einen Blick sowohl über die kahlen geraden Canyons wie den größeren Canyon, den diese nach ihrer Vereinigung bildeten. Jetzt hatten alle diese Fossae das eingeschnitten, was zu einem Küstenplateau geworden war. Mareotis und Tempe zusammen bildeten eine große Halbinsel alter Hochländer, die weit in das neue Eismeer hineinragte.

Sax landete mit seinem kleinen Flugzeug auf dem Sandstreifen oben auf dem Vorgebirge. Von hier aus waren weder die Eis-Ebenen zu sehen, noch konnte er irgendeine Vegetation ausmachen - keinen Baum, keine Blume, nicht einmal einen Fleck mit Flechten. Er fragte sich, ob sie die Canyons irgendwie sterilisiert hatten. Nur Urgestein mit etwas Rauhreif. Und sie konnten nichts gegen Reif tun, sofern sie nicht diese Canyons überkuppeln wollten. »Hmm«, sagte Sax, verblüfft über diesen Gedanken.

Zwei Rote führten ihn in die Schleuse auf dem Kap, und er ging mit ihnen die Treppen hinunter. Der Zufluchtsort erwies sich als fast ausgestorben. Auch gut. Es war angenehm, nur den kalten Blicken zweier junger Frauen zu begegnen, die ihn durch die roh in den Fels gehauenen Gänge des Refugiums führten, statt denen einer ganzen Schar Roter ausgesetzt zu sein. Es war interessant, die Ästhetik der Roten zu sehen. Sehr karg, wie zu erwarten war. Keine Pflanze war zu sehen, nur verschiedene Felsstrukturen: Rohe Wände, noch rohere Decken, die mit einem polierten Basaltboden kontrastierten, und die schimmernden Fenster, die auf die Canyons hinausgingen.

Sie kamen zu einem Korridor an der Seite der Klippe, der wie eine natürliche Höhle aussah, nicht gerader als die fast euklidischen Linien in der Tiefe des Canyon selbst. Er sah Mosaiken, die, aus farbigen Steinchen bestehend, in die schwarze Wand eingelegt waren, poliert und lückenlos aneinander gefügt. Sie bildeten abstrakte Muster, die fast etwas darzustellen schienen, wenn er sie scharf ins Auge faßte. Der Boden war ein Steinparkett aus Onyx und Alabaster, Serpentin und Hämatit. Der Korridor führte immer weiter, groß und staubig. Der ganze Komplex war vielleicht etwas außer Gebrauch. Rote bevorzugten ihre Rover, und Plätze wie dieser wurden zweifellos als bedauerliche Notwendigkeiten angesehen. Ein versteckter Zufluchtsort. Wenn die Fensterläden geschlossen waren, hätte man in den Canyons an dieser Stelle ohne weiteres vorbeigehen können, ohne zu bemerken, daß er existierte. Und Sax hatte den Eindruck, daß dies nicht bloß so eingerichtet war, um der Aufmerksamkeit der UNTA zu entgehen, sondern auch um vor dem Land selbst unauffällig zu sein, um mit ihm zu verschmelzen.

Genau das schien Ann dort auf einem steinernen Fensterplatz zu versuchen. Sax blieb abrupt stehen. In Gedanken versunken, wäre er fast mit ihr zusammengestoßen, so wie ein unkundiger Reisender in das Refugium hätte laufen können. Sie saß auf einem Felsbrocken. Er schaute sie genau an. Sie wirkte ungesund. Viel mehr war nicht zu erkennen, und je länger Sax sie ansah, desto beunruhigter wurde er. Sie hatte ihm einmal erzählt, daß sie nicht mehr die Langlebigkeitsbehandlung nähme. Das war vor einigen Jahren gewesen. Und während der Revolution hatte sie gebrannt wie eine Flamme. Jetzt nachdem die Rote Rebellion erstickt war, war sie Asche. Graues Fleisch. Es war ein schrecklicher Anblick. Sie war um die 150 Jahre alt wie alle noch Lebenden der Ersten Hundert. Und ohne die Behandlungen... würde sie bald sterben.

Nun gut. Streng genommen war sie im physischen Äquivalent von siebzig oder so, je nachdem, wann sie zuletzt die Behandlungen gehabt hatte. Soweit nicht schlecht. Vielleicht würde Peter es wissen. Aber je mehr Zeit zwischen den Behandlungen verging, desto größere Probleme entstanden, hatte er gehört - statistisch gesehen. Das ergab Sinn. Jetzt war es wichtig, sich klug zu verhalten.

Aber das konnte er ihr nicht sagen. Es war überhaupt schwer, sich vorzustellen, was er ihr sagen könnte.

Sie erkannte ihn und erschauerte. Ihre Lippe hob sich wie bei einem gefangenen Tier. Dann schaute sie grimmig mit steinernem Gesicht von ihm weg. Jenseits von Ärger oder Hoffnung.

Sax sagte lahm: »Ich wollte dir etwas von dem Tyrrhena-Massiv zeigen.«

Sie stand auf wie eine Statue und verließ den Raum.

Sax fühlte seine Gelenke knacken in dem pseudoarthritischen Schmerz, der so oft seinen Umgang mit Ann begleitete, und folgte ihr.

Hinter ihm klebten die zwei ernstblickenden jungen Frauen. Die größere von ihnen sagte zu ihm. »Ich glaube nicht, daß sie mit dir sprechen will.«

»Sehr scharfsinnig von dir«, sagte Sax.

Weit hinten im Gang stand Ann vor einem anderen Fenster - wie gebannt oder zu erschöpft, um sich zu bewegen.

Sax blieb vor ihr stehen.

»Ich möchte deine Eindrücke hören. Deine Vorschläge für das, was wir als nächstes tun könnten«, sagte er. »Und ich habe einige areologische Fragen. Natürlich könnte es sein, daß streng wissenschaftliche Fragen für dich nicht mehr von Interesse sind...«

Sie tat einen Schritt auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht. Er wurde gegen die Wand des Gangs geschleudert und kam auf den Hintern zu sitzen. Ann war nirgends zu sehen. Die zwei jungen Frauen, die offenbar nicht wußten, ob sie jubeln oder stöhnen sollten, halfen ihm auf die Füße. Sein ganzer Körper schmerzte, noch mehr als sein Gesicht; und seine Augen waren sehr heiß und brannten ein wenig. Es war, als würde er gleich vor diesen beiden jungen Idioten weinen, die dadurch, daß sie ihm folgten, alles enorm komplizierten. Wenn sie dabei waren, konnte er weder schreien noch flehen, er konnte nicht vor Ann auf die Knie sinken und sagen: »Bitte, verzeih mir!« Das war unmöglich.

»Wohin ist sie gegangen?« schaffte er zu sagen.

Die größere erklärte: »Sie will wirklich nicht mit dir sprechen.«

»Vielleicht solltest du warten und es später versuchen«, empfahl die andere.

»Oh, hört auf!« sagte Sax. Er empfand plötzlich eine so heftige Verärgerung, daß sie Wut schon recht nahe kam. »Ich nehme an, alles, was ihr wollt, ist, daß sie die Behandlung absetzt und sich umbringt!«

»Das ist ihr gutes Recht«, sagte die größere feierlich.

»Natürlich ist es das. Ich habe nicht von Rechten gesprochen. Ich sprach davon, wie sich ein Freund verhalten sollte, wenn jemand auf Selbstmord aus ist. Wohl kaum eine Person, über die ihr etwas wissen dürftet. Helft mir jetzt, sie zu finden!«

»Du bist kein Freund von ihr.«

»Doch, ganz gewiß bin ich das.« Er stolperte ein wenig, als er versuchte, in die Richtung zu gehen, in die sie, wie er dachte, gegangen war. Eine der jungen Frauen versuchte, ihn am Ellbogen zu packen. Er lehnte die Hilfe ab und ging weiter. Da, in einiger Entfernung, war Ann, in einem Stuhl zusammengesunken, anscheinend in einer Art von Speisesaal. Er näherte sich ihr langsamer werdend wie Achilleus in Zenons Paradoxon.

Sie wirbelte herum und blitzte ihn an.

»Du bist es, der die Wissenschaft schon von Anfang an aufgegeben hat«, fauchte sie. »Erzähl mir also nicht diesen Mist, ich wäre nicht an der Wissenschaft interessiert!«

»Stimmt«, sagte Sax. »Das ist richtig.« Er streckte beide Hände aus. »Aber jetzt benötige ich Rat. Wissenschaftlichen Rat. Ich will lernen. Und ich will dir auch einige Dinge zeigen.«

Aber nach einem Moment des Nachdenkens war sie wieder auf und davon, direkt an ihm vorbei, so daß er unwillkürlich zusammenzuckte. Er eilte ihr nach. Ihre Schritte waren viel länger als seine, und sie bewegte sich so rasch, daß er fast in Laufschritt geriet. Seine Knochen schmerzten.

»Vielleicht sollten wir hier hinausgehen«, schlug Sax vor. »Es ist egal, wo.«

»Weil der ganze Planet ruiniert ist«, knurrte sie.

Sax war hartnäckig: »Du mußt gelegentlich bei Sonnenuntergängen hinausgehen. Vielleicht könnte ich mitkommen.«

»Nein.«

»Bitte, Ann!« Sie war gut zu Fuß und weit größer als er, so daß es schwer war, mit ihr Schritt zu halten und gleichzeitig zu sprechen. Er schnaufte und ächzte, und seine Wange schmerzte. »Bitte, Ann!«

Sie antwortete nicht und wurde nicht langsamer. Sie gingen durch einen Korridor zwischen Suiten, die als Wohnräume dienten. Ann beeilte sich, durch eine Tür zu verschwinden und sie hinter sich zuzuschlagen. Sax drehte den Knauf; sie war verschlossen.

Alles in allem kein vielversprechender Anfang.

Eine wahre Hetzjagd. Irgendwie mußte er die Lage ändern, so, daß es keine Verfolgung mehr war. Er knurrte: »Ich werde trotzdem dein Haus niederreißen, auch wenn ich noch so außer Atem bin.« Er donnerte an die Tür. Aber dann waren die beiden jungen Frauen da und starrten ihn vorwurfsvoll an.

An einem späteren Abend in dieser Woche ging er gegen Sonnenuntergang in den Umkleideraum und zog sich an. Als Ann hereinkam, machte er einen Luftsprung und stotterte: »Ich wollte gerade nach draußen gehen. Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Es ist ein freies Land«, sagte sie nachdrücklich.

Und dann gingen sie hinaus aufs Land. Die jungen Frauen hätten gestaunt.

 

Er mußte sehr vorsichtig sein. Obwohl er mit ihr draußen war, um ihr die Schönheit der neuen Biosphäre zu zeigen, würde es natürlich nicht genügen, zu ihr von Pflanzen, Schnee oder Wolken zu sprechen. Man mußte die Dinge für sich selbst sprechen lassen. Das galt vielleicht für alle Phänomene. Man konnte darüber nicht reden. Man konnte nur durchs Land gehen und es für sich sprechen lassen.

Ann war nicht gesellig. Sie sprach kaum zu ihm. Es war ihre gewöhnliche Route, vermutete er, als er ihr folgte. Er durfte mitkommen.

Vielleicht war es gestattet, Fragen zu stellen. Das war Wissenschaft. Und Ann blieb öfters stehen, um Steinformationen aus der Nähe zu betrachten. Es war sinnvoll, sich bei solchen Gelegenheiten neben sie zu hocken und mit einer Geste oder einem Wort zu fragen, was sie fand. Sie trugen Schutzanzüge und Helme, obwohl die Höhe gering genug war, um Atmen mit Hilfe einer Filtermaske für Kohlendioxid zu gestatten. Also bestanden die Gespräche nur aus Worten im Ohr, wie in alten Zeiten. Man stellte Fragen.

Also fragte er. Und Ann antwortete, manchmal auch im Detail. Tempe Terra war wirklich das Land der Zeit. Seine Basisformation war ein übrig gebliebenes Stück der Gebirge des Südens, einer jener Ausläufer davon, die weit in die nördlichen Ebenen hineinragten, den Großen Treffer überlebt hatten. Später war Tempe dann weithin zerbrochen worden, als die Lithosphäre von unten durch den Tharsis-Buckel nach Süden gepreßt wurde. Zu diesen Bruchstellen zählten sowohl die Mareotis Fossae wie die Tempe Fossae, welche sie jetzt umgaben.

Das Land war so zerbrochen, daß einige späte Vulkane aufgestiegen waren, die sich über die Canyons ergossen hatten. Von einem hohen Grat aus sahen sie in der Ferne einen Vulkan wie einen vom Himmel gefallenen Kegel aufragen und dann einen anderen, der, soweit Sax erkennen konnte, genau wie ein Meteoritenkrater aussah. Ann schüttelte zu dieser Bemerkung den Kopf und deutete auf Lavaströme und Schlote. Merkmale, die alle sichtbar waren, wenn man einmal darauf hingewiesen worden war. Aber nicht alle waren deutlich zu erkennen unter einem Geröll aus später ausgeworfenem Material und - das mußte man zugeben - einer Schicht aus staubigem Schnee, der im Licht des Sonnenuntergangs die Farbe von Sand annahm.

Anns Vision war, aufgrund eines Jahrhunderts genauer Beobachtung und Studien, die Landschaft in ihrer Geschichte zu sehen, sie wie einen Text zu lesen, der von ihrer langen Vergangenheit geschrieben worden war, und sie zu lieben. Wirklich etwas zu sehen und zu bewundern. Eine Art von Schatz, eine Liebe über jede Wissenschaft hinaus, oder etwas, das in den Bereich von Michels mystischer Wissenschaft fiel: Alchemie. Aber Alchemisten wollten die Dinge verändern. Eher eine Art Orakel. Eine Vision, ebenso machtvoll wie die Hirokos. Eine weniger augenfällige Vision vielleicht und weniger aktiv. Die Annahme dessen, was es dort gab. Liebe zum Stein um des Steins willen. Um des Mars willen. Der urtümliche Planet in all seiner sublimen Glorie, rot und rostfarben, still wie der Tod. Durch die Jahre verändert nur durch chemische Änderungen der Materie, das immens langsame Leben der Geophysik. Es war eine seltsame Vorstellung: Abiologisches Leben. Aber es war da, wenn man sich bemühte, es zu erkennen. Eine Art von Leben, das sich da draußen abspielte und bewegte - durch die brennenden Sterne. Sich durch das Universum in seinem großen systolisch/diastolischen Rhythmus bewegte, seinem einen großen Atem, wie man sagen könnte. Der Sonnenuntergang machte es leichter, das zu sehen.

Er versuchte, die Dinge mit Anns Augen zu sehen.

Hinter ihrem Rücken schaute er heimlich auf sein Armbandgerät. Stone aus dem altenglischen stän, hat überall verwandte Wörter, bis hin zum indogermanischen sti für einen kleinen Stein. Rock = Fels, aus dem mittelalterlich lateinischen rocca, ist unbekannten Ursprungs und bezeichnet eine Gesteinsmasse. Sax verzichtete auf das Armband und verfiel in eine Art von Felsträumerei - offen und leer. Tabula rasa bis hin zu dem Punkt, wo er offenbar nicht hörte, was Ann zu ihm sagte; denn sie knurrte und ging weiter. Verlegen folgte er ihr, tat so, als ob er ihr Mißvergnügen ignorierte, und stellte weitere Fragen.

Ann schien sehr schlecht gelaunt zu sein. Das war in gewisser Weise beruhigend. Mangel an Affekt wäre ein sehr schlechtes Zeichen gewesen; aber sie wirkte immer noch recht emotional. Zumindest die meiste Zeit. Manchmal konzentrierte sie sich so stark auf das Gestein, daß es fast schien, sie würde ihrem alten, besessenen Enthusiasmus huldigen, und er war ermutigt. Andere Male schien es, als ob sie nur den Emotionen nachginge und Areologie betriebe in einem verzweifelten Versuch, den jetzigen Moment und die Geschichte abzuschieben, oder die Verzweiflung, oder all das. In solchen Momenten war sie ziellos und blieb nicht stehen, um deutlich interessante Merkmale zu betrachten, an denen sie vorbeikamen; und beantwortete auch keine Fragen dazu. Der kleine Sax hatte Alarmierendes über Depression gelesen. Man konnte nicht viel tun. Man brauchte Drogen, um dagegen zu kämpfen; und selbst dann war nichts sicher. Aber Antidepressiva vorzuschlagen war mehr oder weniger dasselbe, wie die Behandlung selbst vorzuschlagen. Darum konnte er nicht darüber sprechen. Und außerdem - war Verzweiflung nicht dasselbe wie Depression?

Zum Glück gab es in diesem Gebiet jämmerlich wenige Pflanzen. Tempe war nicht wie Tyrrhena oder auch nur die Ränder des Arena-Gletschers. Ohne aktive Gartenarbeit war dies das Ergebnis: Die Welt blieb steinig.

Andererseits lag Tempe auf geringer Höhe und war feucht, mit dem Eisozean nur wenige Kilometer im Norden und Westen. Und etliche John-Appleseed- Flüge waren über der ganzen südlichen Küstenlinie des neuen Meeres ausgeführt worden - teils auf Bemühungen von Biotique schon vor einigen Dekaden, als Sax in Burroughs gewesen war. Man konnte darum einige Flechten sehen, wenn man scharf hinschaute. Und kleine Flecke von Fjellfeld. Außerdem ein paar Krummholzbäume, die halb im Schnee begraben waren. All diese Pflanzen hatten Mühe mit diesem nördlichen, zum Winter gewordenen Sommer, ausgenommen natürlich die Flechten. Es gab schon einen merklichen Anteil an verkleinerter Herbstfarbe - dort in den kleinen Blättern der an den Boden geduckten Koenigia, kleinwüchsigem Hahnenfuß und Eisgras, sowie - ja - arktischem Steinbrech. Man mußte nur genau hinsehen, denn die sich rötenden Blätter dienten als eine Art von Tarnung im roten Gestein der Umgebung. Sax sah Pflanzen oft nicht, bis er fast darauf trat. Und natürlich wollte er Anns Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. Wenn er also auf eine stieß, warf er nur einen raschen bewertenden Blick darauf und ging weiter.

Sie erklommen einen Hügel, der über den Canyon westlich des Stützpunktes ragte; und da war es: das große Eismeer, in dem späten Licht ganz orange- und messingfarben. Es füllte das Tiefland in einem weiten Bereich und bildete seinen eigenen glatten Horizont von Südwesten bis Nordosten. Mesas aus dem zergliederten Terrain ragten jetzt wie Inseln mit steilen Klippen aus dem Eis heraus. Tatsächlich entwickelte sich dieser Teil von Tempe zu einer der dramatischsten Küstenlinien auf dem Mars, bei dem die unteren Enden mancher Fossae, die überschwemmt worden waren, lange Fjords oder Lochs bildeten. Und ein Küstenkrater lag genau auf dem Niveau des Meeres und hatte eine Lücke zum Wasser hin, so daß er eine perfekte runde Bucht von etwa fünfzehn Kilometern Durchmesser mit einem Zugangskanal von etwa zwei Kilometern Breite bildete. Weiter im Süden schuf das zergliederte Terrain am Fuße der Großen Böschung eine wahre Hebriden-Gruppe aus Archipelen. Viele der Inseln waren von den Klippen des Hauptlandes aus zu sehen. Ja, wirklich eine dramatische Küstenlinie, wie man schon erkennen konnte, wenn man die zerbrochenen Eisschollen bei Sonnenuntergang betrachtete.

Ganz zu schweigen von all dem Eis und den zerklüfteten Bergen an der neuen Küstenlinie. Die Hügel hatten sich durch einen Prozeß gebildet, den Sax nicht kannte, obwohl er ihn interessierte. Aber man konnte nicht darüber diskutieren. Man konnte nur still dastehen, als ob man auf einen Friedhof geraten wäre.

Verwirrt kniete Sax sich hin, um ein Exemplar von Tibetischem Rhabarber anzuschauen, auf das er beinahe getreten wäre. Kleine rote Blätter als Blümchen mit zentraler roter Knolle.

Ann sah ihm über die Schulter. »Ist sie tot?«

»Nein.« Er zupfte ein paar tote Blätter von äußeren Teilen des Blümchens ab und zeigte Ann die helleren darunter. »Sie richtet sich schon auf den harten Winter ein. Durch die Minderung des Lichts getäuscht.« Dann fuhr Sax fort, wie im Selbstgespräch: »Dennoch werden viele Pflanzen sterben. Der thermische Umschwung, bei dem die Lufttemperaturen kälter geworden sind als die am Boden, ist mehr oder weniger über Nacht gekommen. Es wird keine große Chance für Winterhärtung geben. Somit viel Frosttod. Planzen kommen damit besser zurecht, als Tiere dazu in der Lage wären. Und Insekten sind erstaunlich gut, wenn man bedenkt, daß sie nur geringe Flüssigkeitsreserven haben. Sie haben einen starken Frostschutz. Ich denke, sie können allem widerstehen, was auch geschieht.«

Ann betrachtete immer noch die Pflanze; und so hielt Sax den Mund. Er wollte sagen, daß sie lebt. Insofern die Mitglieder einer Biosphäre für ihre Existenz voneinander abhängen, ist sie ein Teil unseres Körpers. Wie kann man sie hassen?

Aber dennoch nahm sie es nicht hin, wie er sie behandelte.

Das Eismeer war ein zerrissener Glanz aus Bronze und Koralle. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen. Sie mußten zurückkehren. Ann reckte sich und ging fort - eine schweigende schwarze Silhouette. Sax konnte ihr ins Ohr sprechen, selbst jetzt, wenn sie hundert Meter entfernt war, und dann zweihundert. Eine kleine schwarze Gestalt in der großen weiten Welt. Er tat es nicht. Das wäre ein Eindringen in ihre Privatsphäre gewesen, fast in ihre Gedanken. Wie sehnte er sich zu sagen: Ann, Ann, was denkst du? Sprich zu mir, Ann! Teil mir deine Gedanken mit!

Das starke Verlangen, mit jemandem zu sprechen, war schmerzlich scharf. Das war es, was die Menschen meinten, wenn sie von Liebe sprachen. Nur das. Oh, Ann, bitte sprich zu mir!

 

Aber sie sprach nicht zu ihm. Auf sie schienen die Pflanzen nicht den Effekt zu haben wie auf ihn. Sie schien sie geradezu zu verabscheuen, diese kleinen Embleme ihres Körpers, als ob Viriditas nichts als ein Krebsgeschwür wäre, das der Fels erleiden mußte. Zwischen den zunehmenden Haufen vom Wind verwehten Schnees waren die Pflanzen kaum noch sichtbar. Es wurde dunkel, ein neuer Sturm zog auf, tief über der schwarzkupfernen See. Ein Moospolster, eine von Flechten bedeckte Steinfläche. Meist war es Fels allein, so wie es immer gewesen war. Dennoch!

Als sie dann wieder in die Schleuse des Refugiums traten, fiel Ann in Ohnmacht. Auf dem Weg nach unten stieß sie mit dem Kopf an den Türpfosten. Sax packte sie, als sie auf einer Bank an der Innenwand landete. Sie war bewußtlos. Sax trug sie halb, halb schleifte er sie den ganzen Weg bis zur Schleuse. Dann schloß er die äußere Tür und zog Ann, als die Schleuse wieder unter Druck stand, durch die Innentür in den Umkleideraum. Sax mußte auf der allgemeinen Frequenz laut gerufen haben; denn bis er ihr den Helm abgenommen hatte, befanden sich fünf oder sechs Rote im Raum - mehr, als er bisher überhaupt in dem Refugium gesehen hatte. Eine der jungen Frauen, die ihm so lästig gewesen waren, die kleinere, erwies sich als die Ärztin der Station. Als sie Ann auf einen Tisch mit Rollen gelegt hatten, der als Rolltrage dienen konnte, wies diese Frau ihm den Weg zur Stationsklinik und übernahm die Leitung. Sax half, soweit er konnte, und zog Ann mit zitternden Händen die Stiefel von den Füßen. Sein Puls ging laut Armband mit 145 Schlägen in der Minute, und er fühlte sich heiß und schwindelig.

»Hat sie einen Schlaganfall gehabt?« fragte er.

Die kleine Frau machte ein überraschtes Gesicht. »Ich denke, nein. Sie ist ohnmächtig geworden und dann mit den Kopf angeschlagen.«

»Aber warum ist sie ohnmächtig geworden?«

»Ich weiß nicht.«

Sie schaute die große junge Frau an, die bei der Tür saß. Sax erkannte, daß diese beiden die ranghöchsten Autoritäten in dem Refugium waren. »Ann hat uns angewiesen, sie an keinerlei Lebenserhaltungssysteme anzuschließen, falls sie jemals hilflos sein sollte - wie jetzt hier.«

»Nein!« sagte Sax.

»Sehr ausführliche Anweisungen. Sie hat es verboten. Sie hat es schriftlich niedergelegt.«

Sax sagte mit scharfer Stimme: »Macht mit ihr alles, was sie am Leben erhält!« Alles, was er seit Anns Zusammenbruch gesagt hatte, war für ihn eine Überraschung gewesen. Er war ebenso sehr Zeuge seiner Handlungen, wie sie es waren. Er hörte sich sagen: »Das heißt nicht, daß ihr sie angeschlossen lassen sollt, wenn sie es nicht schafft. Es ist bloß ein vernünftiges Minimum, sich zu vergewissern, daß sie nicht durch bloße Leichtfertigkeit stirbt.«

Die Ärztin rollte bei dieser Argumentation mit den Augen; aber die an der Tür sitzende große Frau machte ein nachdenkliches Gesicht.

Sax hörte, wie er fortfuhr: »Ich habe vier Tage lang auf einer Intensivstation gelegen; und ich bin froh, daß sie nicht beschlossen haben, die Systeme abzuschalten. Das ist ihre Entscheidung und nicht die eure. Jeder, der sterben will, kann das tun, ohne daß ein Arzt seinen hippokratischen Eid brechen muß.«

Die Ärztin rollte mit den Augen noch empörter als zuvor. Aber mit einem Blick auf ihre Kollegin zog sie Ann auf das Bett der Intensivbehandlung. Sax half ihr dabei, dann stellte sie den medizinischen Computer an und entledigte Ann ihrer Gehhilfe. Eine schlankgliedrige alte Frau, die jetzt mit einer Sauerstoffmaske über dem Gesicht atmete. Die große Frau stand auf und half der Ärztin. Sax ging zu einem Stuhl und setzte sich. Seine eigenen physiologischen Symptome waren erstaunlich ernst, gekennzeichnet hauptsächlich durch allgemeine Hitze und eine Art unvollkommener Hyperventilation sowie einen Schmerz, der ihn fast zum Schreien brachte.

Nach einiger Zeit kam die Ärztin zu ihm herüber. Sie sagte, Ann wäre ins Koma gefallen. Es sah so aus, als hätte eine kleine Störung des Herzrhythmus in erster Linie die Ohnmacht bewirkt. Im Moment war Anns Zustand stabil. Die Ärztin verließ den Raum.

Sax blieb auf der Station. Einige Zeit später kam die Ärztin zurück. Anns Handgelenkgerät hatte eine Episode von raschem unregelmäßigem Herzschlag zu der Zeit verzeichnet, als sie ohnmächtig wurde. Jetzt war nur noch eine leichte Arhythmie feststellbar. Und offenbar hatte eine Anoxie oder der Schlag auf den Kopf das Koma ausgelöst.

Sax fragte, was genau Koma sei, und sein Mut verließ ihn, als die Ärztin nur mit den Schultern zuckte. Es handelte sich anscheinend um einen umfassenden Ausdruck für bewußtlose Zustände einer bestimmten Art. Starre Pupillen, Körper unempfindlich und bisweilen in verkrampften Stellungen fixiert. Anns linker Arm und ihr linkes Bein waren verrenkt. Und natürlich war sie bewußtlos. Von Zeit zu Zeit bemerkte er seltsame Reaktionsspuren, wie das Ballen der Hände zu Fäusten und dergleichen. Die Dauer eines Komas variierte stark. Manche Leute kamen nie wieder zu Bewußtsein.

Sax schaute auf seine Hände, bis die Ärztin ihn allein ließ. Er blieb im Zimmer sitzen, bis auch alle anderen gegangen waren. Dann stand er auf, trat an Anns Seite und schaute auf ihr Gesicht, das zur Hälfte unter der Maske verschwand, hinunter. Man konnte nichts tun. Er hielt ihre Hand. Sie verkrampfte sich nicht. Er hielt ihren Kopf, wie - so hatte Michel es ihm erzählt - Nirgal es gemacht hatte, als er selbst bewußtlos gewesen war. Es kam ihm vor wie eine nutzlose Geste.

Er ging zum Computerschirm und rief das diagnostische Programm auf. Danach Anns medizinische Daten. Er ließ den Herzmonitor zu dem Vorfall in der Schleuse zurücklaufen. Eine kleine Arhythmie, jawohl, schnell und unregelmäßig. Er speiste die Daten in das diagnostische Programm und suchte bei sich selbst nach einer Herzarhythmie. Es gab eine Menge abweichender Herzrhythmusmuster; aber es schien, daß Ann eine genetische Prädisposition hatte und an einer Störung namens QT-Syndrom litt, benannt nach einer charakteristischen abnormalen langen Welle im Elektrokardiogramm. Er rief Anns Genom ab und wies den Computer an, einen Suchlauf in den relevanten Regionen 3, 7 und 11 der Chromosomen durchzuführen. In einem Gen namens HERG innerhalb des Chromosom 7 identifizierte der Computer eine kleine Mutation: Eine Umkehrung von Adenin-Thymin und Guyanin-Cytosin. Klein, aber HERG enthielt Anweisungen für die Zusammensetzung eines Proteins, das in der Oberfläche von Herzzellen als Kanal für Kalium-Ionen diente; und diese Ionenkanäle fungierten als ein Schalter, um kontrahierende Herzzellen abzustellen. Ohne diese Bremse würde das Herz arhythmisch und außerdem zu schnell schlagen, um wirksam Blut zu pumpen.

Ann schien mit einem Gen auf Chromosom 4, genannt SCN5A, ein weiteres Problem zu haben. Dieses Gen codierte ein anderes regelndes Protein, welches einen Natrium-Ionenkanal auf der Oberfläche von Herzzellen lieferte. Dieser Kanal wirkte als Beschleuniger; und Mutationen konnten hier das Problem des rapiden Herzschlags verstärken. Ann fehlte ein CG-Bit.

Diese genetischen Konditionen waren selten: aber das war für den Diagnosecomputer kein Thema. Er enthielt eine Symptomologie aller bekannten physiologischen Probleme, ungeachtet wie selten sie auftraten. Er schien Anns Fall als recht einfach einzustufen und listete die Behandlungsmethoden auf, die in Frage kamen, um den durch die Kondition gegebenen Beeinträchtigungen zu begegnen. Es gab eine Menge davon.

Eine der vorgeschlagenen Therapien beinhaltete, die problematischen Gene umzucodieren - im Verlauf der gerontologischen Standardbehandlungen. Wiederholte Gen-Aufzeichnungen bei mehreren Langlebigkeitsbehandlungen sollten die Ursache des Problems direkt an der Wurzel packen, oder vielmehr im Keim. Es schien merkwürdig, daß das nicht schon geschehen war. Aber dann sah Sax, daß diese Empfehlung erst ungefähr zwei Jahrzehnte alt war. Sie stammte aus der Zeit nach Anns letzter Behandlung.

Sax saß lange da und starrte auf den Schirm. Viel später stand er auf und inspizierte die medizinische Klinik der Roten, ein Instrument nach dem anderen, Raum für Raum. Die Pflegeassistenten ließen ihn gewähren. Für sie war er nur zerstreut.

Das Krankenhaus war ein bedeutendes Refugium der Roten, und es konnte sein, daß einer der Räume die für gerontologische Behandlungen notwendige Ausrüstung enthielt. Das war tatsächlich der Fall. Ein kleiner Raum im Hintergrund der Klinik schien für diesen Prozeß vorgesehen zu sein. Dazu gehörte nicht viel. Ein leistungsfähiger Computer, ein kleines Labor, die üblichen Vorräte an Proteinen und Chemikalien, die Inkubatoren, die MRIs und das IV-Gerät. Erstaunlich, wenn man das Ergebnis bedachte. Aber das war immer schon so gewesen. Das Leben an sich war erstaunlich. Am Anfang nur einfache Proteinsequenzen: Und dennoch waren sie nun hier.

Der Hauptcomputer hatte jetzt Anns Genom-Aufzeichnung. Wenn er aber sein Labor anwies, ihre DNA zu synthetisieren (unter Hinzufügung der Recodierungen HERG und CSN5A), würden die Roten das sicher merken.

Er ging wieder in sein kleines Zimmer, um einen verschlüsselten Anruf bei Da Vinci zu tätigen. Er bat seine Gefährten dort, mit der Synthese zu beginnen. Sie stimmten zu, ohne Fragen außer den rein technischen zu stellen. Manchmal liebte er diese Saxfans von ganzem Herzen.

Danach hieß es wieder warten. Es vergingen Stunden über Stunden. Schließlich waren einige Tage vergangen, ohne daß bei Ann eine Veränderung zu bemerken gewesen wäre. Die Miene der Ärztin wurde immer finsterer, obwohl sie nicht mehr davon sprach, Ann abzuschalten. Aber ihr Blick sprach davon. Sax schlief weiter in Anns Zimmer auf dem Boden. Er lernte allmählich den Rhythmus ihres Atems kennen. Er verbrachte eine Menge Zeit damit, ihren Kopf in der Hand zu halten, wie Nirgal es mit ihm gemacht hatte. Er bezweifelte sehr, daß das jemals irgendwem Heilung gebracht hatte, tat es aber trotzdem für alle Fälle. Wenn er so lange in dieser Haltung dasaß, hatte er Gelegenheit, über die Hirnplastikbehandlung nachzudenken, die Vlad und Ursula ihm nach dem Schlaganfall gegeben hatten. Natürlich war ein Hirnschlag etwas ganz anderes als ein Koma. Aber eine Bewußtseinsveränderung war nicht notwendigerweise eine schlimme Sache, wenn sie nur die Kopfschmerzen beseitigte.

Es vergingen wieder Tage ohne jede Veränderung. Jeder Tag war träger, leerer und sorgenvoller als der vorangegangene. Die Inkubatoren in den Labors von Da Vinci hatten längst eine volle Sammlung korrigierter, Ann-spezifischer DNA hergestellt. Auch Antisense-Verstärker und Aufkleber - das ganze gerontologische Paket in seiner jüngsten Zusammenstellung.

Eines Nachts rief er Ursula an, sprach lange mit ihr. Sie beantwortete in Ruhe seine Fragen, selbst wenn sie mit der Versuchung kämpfte, ihn zu fragen, was er vorhatte. Sie sagte entschieden: »Das synaptische Stimuluspaket, das wir dir gegeben haben, würde in unbeschädigten Gehirnen zu viel synaptisches Wachstum erzeugen. Es würde die Persönlichkeit zu einem nicht festlegbaren Muster verändern.«

Sax beschloß, die synaptischen Ergänzungen wegzulassen. Anns Leben zu retten, war eine Sache, ihren Geist zu verändern schon eine ganz andere. Jedenfalls war eine Zufallsänderung nicht das Ziel. Es kam auf Akzeptanz an. Glück, wahres Glück für Ann, was immer das sein mochte, jetzt so weit entfernt, so schwer vorstellbar. Sax schmerzte der Gedanke daran. Es war erstaunlich, wieviel physischer Schmerz allein durch Gedanken erzeugt werden konnte... Das limbische System war ein ganzes Universum für sich, überschwemmt mit Schmerz wie die dunkle Materie, die alles im Weltall durchdringt.

»Hast du mit Michel gesprochen?« fragte Ursula.

»Nein. Ist aber eine gute Idee.«

Er rief Michel an und erklärte, was vorgefallen war und was er zu tun beabsichtigte. »Mein Gott, Sax!« sagte Michel. Er sah entsetzt aus. Aber nach ein paar Sekunden versprach er zu kommen. Er würde Desmond bitten, ihn nach Da Vinci zu fliegen, um die Vorräte für die Behandlung abzuholen und sie zum Refugium hinaufzufliegen.

Inzwischen saß Sax in Anns Zimmer und hielt weiter mit einer Hand ihren Kopf. Ein buckliger Schädel. Ein Phrenologe würde einen ganzen Tag Arbeit damit haben.

Dann erschienen Michel und Desmond, seine Brüder. Sie standen an seiner Seite. Die Rote, die sie herein begleitet hatte, war dabei, genau wie die große Frau und die Stationsärztin. Die Verständigung mußte also über Blicke oder ihr Fehlen laufen. Nichtsdestoweniger war alles völlig klar. Falls es etwas zu klären gegeben hätte, war es Desmonds Gesicht. Sie hatten die Langlebigkeitspackung für Ann dabei. Sie mußten nur auf ihre Chance warten.

Diese kam recht bald. Mit Ann, in ihrem Koma ruhig gestellt, war die Situation in dem kleinen Hospital Routinesache. Allerdings waren die Auswirkungen der gerontologischen Behandlung auf einen Komapatienten nicht vollständig bekannt. Michel hatte sich in die spärliche Literatur eingelesen. Man hatte die Methode als eine experimentelle Behandlung bei nicht reagierenden Komapatienten in einigen Fällen angewandt und insofern Erfolg gehabt, als die Behandelten fast in der halben Zeit wiederhergestellt wurden. Deswegen hielt Michel es jetzt für eine gute Idee.

Und so standen die drei bald nach ihrer Ankunft um Mitternacht auf. Sie gingen auf Zehenspitzen an der schlafenden Assistentin vorbei in das Vorzimmer des medizinischen Zentrums. Die narkotische Behandlung hatte die übliche Wirkung gehabt; und die Assistentin schlief fest, wenn auch unbequem in ihren Sessel gezwängt. Sax und Michel schlössen Ann an die IVs an und steckten die Nadeln in ihre Handrücken. Sie arbeiteten langsam, vorsichtig und exakt. Ruhig. Bald traten die intravenösen Geräte in Aktion, und die neuen Proteinbänder befanden sich in ihrem Blutkreislauf. Ihr Atem wurde unregelmäßig, und Sax dadurch höchst besorgt. Er stöhnte leise. Es war tröstend, Michel und Desmond hier zu haben. Jeder von ihnen hielt einen Arm, als ob sie ihn stützen und so am Fallen hindern wollten. Er verlangte verzweifelnd nach Hiroko. Er war sicher, daß auch sie es getan hätte. Dadurch fühlte er sich viel besser. Hiroko war einer der Gründe, aus denen er das hier durchzog. Er sehnte sich immer noch nach ihrer Unterstützung, ihrer physischen Präsenz. Er wünschte, sie würde erscheinen und ihm so helfen, wie sie es auf Daedalia Planitia getan hatte. Sie sollte Ann helfen. Sie war Expertin für diese Art radikal unmenschlicher humaner Experimente. Für sie wären das kleine Fische gewesen ...

Als die Operation beendet war, zogen sie die IV-Nadeln heraus und bauten das Experiment ab. Die Assistentin schlief weiter mit offenem Mund und sah aus wie das kleine Mädchen, das sie eigentlich war. Ann war noch bewußtlos, atmete aber leichter, wie Sax merkte. Kräftiger.

Die drei Männer standen da und schauten gemeinsam auf Ann herunter. Schließlich schlichen sie hinaus und gingen auf Zehenspitzen durch den Korridor in ihre Zimmer zurück. Desmond führte einen närrischen Freudentanz auf, und die anderen mahnten ihn zur Ruhe. Sie gingen wieder in ihre Betten, konnten aber nicht schlafen und auch nicht reden. So lagen sie schweigend da wie Brüder in einem großen Haus, spät in der Nacht, nach einem erfolgreichen Ausflug in die verbotene nächtliche Welt.

Am anderen Morgen kam die Ärztin herein. »Ihr Zustand ist besser.«

Die drei Männer drückten ihre Freude darüber aus.

Später, im Speisesaal, spürte Sax den starken Drang, Michel und Desmond von seiner Begegnung mit Hiroko zu berichten. Für die beiden würde diese Mitteilung mehr bedeuten, als für jeden anderen sonst. Aber etwas in Sax fürchtete sich davor. Er hatte Angst, überreizt zu wirken, vielleicht sogar wahnhaft. In jenem Moment, da Hiroko ihn beim Rover verlassen hatte und in den Sturm fortgegangen war, wußte er schon nicht mehr, was er davon halten sollte. In seinen langen Stunden mit Ann hatte er nachgedacht - und nachgeforscht. Jetzt wußte er, daß Bergsteiger auf der Erde, die allein in großer Höhe waren und an Sauerstoffmangel litten, nicht selten Halluzinationen von Bergkameraden hatten, die ihnen zu Hilfe kamen. Irgendeine Art von Doppelgängern. Rettung durch Geister. Immerhin war selbst seine Luftröhre zum Teil verstopft gewesen...

Er sagte: »Ich denke, Hiroko hätte genau so gehandelt.«

Michel nickte. »Es ist kühn, das muß ich dir lassen. Es war ihr Stil. Nein, versteh mich nicht falsch! Ich freue mich, daß du es getan hast.«

»Es war höchste Zeit, wenn ihr mich fragt«, sagte Desmond. »Jemand hätte sie schon vor Jahren fesseln und ihr die Behandlung verabreichen sollen. Oh, mein lieber Sax, ich hoffe, daß sie nicht so durchdreht wie du damals.«

»Sax hatte aber einen Gehirnschlag«, sagte Michel.

»Nun gut«, gab Sax zu, um den Fall zu klären, »ich war vorher schon etwas exzentrisch.«

Seine beiden Freunde nickten lächelnd. Sie waren guter Dinge, obwohl die Lage noch ungeklärt war. Dann kam die kleine Ärztin herein. Ann war aus ihrem Koma erwacht.

Sax fühlte, daß sein Magen noch zu verkrampft war, als daß er etwas hätte essen können. Aber dann stellte er fest, daß er mit einem Stapel gebuttertem Toast recht gut fertig wurde. Er verschlang ihn geradezu.

»Sie wird aber sehr wütend auf dich sein«, gab Michel zu bedenken.

Sax nickte. Das war leider zu erwarten. Sogar wahrscheinlich. Ein schlimmer Gedanke. Er wollte nicht wieder von ihr geschlagen werden. Oder noch schlimmer, ihrer Gesellschaft beraubt werden.

»Du solltest mit uns zur Erde kommen«, schlug Michel vor »Maya und ich fahren mit der Delegation, und Nirgal auch.«

»Gibt es denn eine Delegation zur Erde?«

»Ja. Das hat jemand vorgeschlagen, und es scheint eine gute Idee zu sein. Wir müssen direkt vor Ort einige Repräsentanten haben, die zu ihnen sprechen. Und bis wir von da zurück sind, wird Ann Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken.«

»Interessant«, sagte Sax, erleichtert über die bloße Aussicht, der Lage zu entkommen. Es war wirklich erschreckend, wie rasch er sich zehn gute Gründe ausdenken konnte, zur Erde zu reisen. »Aber was ist mit Pavonis und dieser Konferenz, über die man spricht?«

»Daran können wir per Video teilnehmen.«

»Stimmt.« Dies war genau das, was er immer behauptet hatte.

Der Plan war verlockend. Sax wollte nicht hier sein, wenn Ann aufwachte. Oder vielmehr, wenn sie herausfand, was er getan hatte. Natürlich war das feige. Aber trotzdem! »Desmond, gehst du?«

»Keine lausige Chance.«

»Aber du sagst, daß Maya auch geht?« fragte Sax Michel.

»Ja.«

»Gut. Als ich letztes Mal versucht habe, einer Frau das Leben zu retten, hat Maya die getötet.«

»Was? Phyllis? Du hast Phyllis das Leben gerettet?«

»Nun ja, eigentlich nicht. Das heißt, ich tat es. Aber ich war auch derjenige, der sie in Gefahr gebracht hat. Darum denke ich nicht, daß das zählt.« Er versuchte zu erklären, was in jener Nacht in Burroughs geschehen war, aber mit wenig Erfolg. Es war ihm selbst unklar - bis auf die Erinnerung an gewisse lebhaft schreckliche Momente. »Macht nichts. Es war bloß ein Gedanke. Ich hätte nicht reden sollen. Ich bin... «

»Du bist müde«, sagte Michel. »Aber mach dir keine Sorgen! Maya wird von der Szene hier weg sein und sicher unter unseren Augen.«

Sax nickte. Das klang immer besser. Man sollte Ann einige Zeit geben, sich zu beruhigen, darüber nachzudenken und es zu verstehen. Hoffentlich. Und es wäre natürlich sehr interessant, die Verhältnisse auf der Erde aus erster Hand zu sehen. Äußerst interessant. So interessant, daß kein vernünftiger Mensch sich diese Gelegenheit entgehen lassen würde.