Zuerst mußte er das Land kennenlernen. Mit diesem seinem Projekt war es erstaunlich, wie geschäftig jeder Tag wurde. Es gab eine endlose Menge von Dingen zu tun. Aber keine Struktur, kein Zeitplan, keine Eile, niemand zu konsultieren. Und jeden Tag ging er in den letzten Stunden des Sommerlichts um den Kamm des Hügels und inspizierte das Becken im schwindenden Sonnenschein. Es war schon mit Flechten und den anderen ersten Siedlern bewachsen. Moor füllte die Höhlungen, und es gab kleine Mosaike arktischen Bodenbewuchses an den freien, sonnigen Stellen. Weniger als ein Zentimeter dicke Buckel aus grünem Moos auf rotem Untergrund. Schneeschmelzwasser lief in etlichen kleinen Bächen, die sich vereinigten und über viele etwaige künftige Wiesenterrassen fielen, kleine Oasen von Kieselalgen. Dann' gelangte das Wasser über das Becken schließlich in das Kieselwadi am Tor zu dem darunter liegenden Land, um hinter dem letzten Rand eine ebene spätere Wiese zu bilden. Höher im Becken gelegene Rippen waren natürliche Dämme; und nach einiger Überlegung schaffte Nirgal einige Windprodukte zu diesen niedrigen Querfalten und ordnete sie mit ihren Flächen so an, daß die Rippen um die Höhe eines oder zweier Steine "höher wurden. Schmelzwasser würde sich in Wiesenteichen sammeln, von Moos eingerahmt. Die Moore gleich westlich von Sabishii ähnelten bereits dem, was er anstrebte; und er wandte sich an Ökopoeten, die auf jenen Mooren lebten, und erkundigte sich nach Artenverträglichkeit, Wachstumsraten, Bodenverbesserung und dergleichen. In seinem Geist entwickelte sich eine Vision des Beckens. Dann kam im zweiten März der Herbst, als das Jahr sich der Sonnenferne näherte, und er konnte allmählich sehen, wieviel die Gestaltung des Landes durch Wind und Winter leiden würde. Er würde abwarten müssen und schauen.
Er streute Samen und Sporen von Hand aus. Er trug sie in am Gürtel befestigten Beuteln und Düngerschalen bei sich. Dabei fühlte er sich wie eine Gestalt von Van Gogh oder aus dem Alten Testament. Es war eine besondere Empfindung, eine Mischung von Kraft und Hilflosigkeit, von Aktion und Schicksal. Er ließ Ladungen von Humus anfahren und auf ein paar kleine Felder abladen. Dann verteilte er sie in dünner Schicht von Hand. Er holte Würmer von der Universitätsfarm in Sabishii. Cojote hatte Stadtbewohner immer als Würmer in einer Flasche bezeichnet. Nirgal grauste es beim Anblick der wimmelnden Masse feuchter nackter Röhrchen. Er setzte die Würmer auf seinen neuen kleinen Feldern frei. Geh, kleiner Wurm, und laß das Land gedeihen!
Er selbst war, wenn er an sonnigen Sommermorgen nach einer Dusche umherging, auch nicht mehr als feuchte, verschlungene, nackte kleine Röhren.
Nach den Würmern kämen Maulwürfe und Wühlmäuse. Dann Mäuse. Danach Schneekaninchen, Hermelin und Murmeltiere. Vielleicht würden auch einige Schneekatzen, die durch die Moore streiften, erscheinen. Füchse. Das Becken war hoch gelegen; aber der Druck, auf den sie in dieser Höhe hofften, betrug 500 Millibar, mit 40 Prozent Sauerstoff. Sie waren dem schon ziemlich nahe gekommen. Die Verhältnisse waren ungefähr wie im Himalaya. Vermutlich würde die gesamte Flora und Fauna großer Höhen auf der Erde hier leben können. Und bei so vielen Ökopoeten, die kleine Flecken des Hochlandes bewirtschafteten, würde das Problem zumeist nur eine Sache der Vorbereitung des Bodens sein. Man mußte nur das gewünschte Ökosystem einführen und dann unterstützen; und das alles unter Beachtung dessen, was mit dem Wind eintraf oder hereinflog. Diese Zugänge konnten natürlich problematisch sein; und es gab viel Gerede auf den Armbändern über Invasionsbiologie und integriertes Mikroklimamanagement. Ein großer Teil der laufenden Arbeit an der Ökopoesis war die Herausarbeitung von Verbindungen der lokalen Besiedlung mit der umliegenden Region.
Nirgal interessierte sich im nächsten Frühling für diese Frage der Ausbreitung noch wesentlich stärker, als im Ersten November die Schneeschmelze einsetzte und aus dem Matsch auf den flachen Terrassen an der Nordseite des Beckens Schößlinge der Schnee-Alaunwurzel herausschauten. Er hatte sie nicht gepflanzt und war sich nicht einmal in seiner Identifikation sicher, bis sein Nachbar Yoshi nach einer Woche vorbeikam und es bestätigte: Heuchera nivealis. Vom Wind hergeweht, sagte Yoshi. Im Escalante-Krater im Norden gab es eine Menge davon. Dazwischen war nicht viel. In diesem Fall war es Springverbreitung.
Ausbreitung durch Springen, Streuen und Fließen - alle drei Arten kamen auf dem Mars vor. Moose und Bakterien verbeiteten sich durch Streuung, hydrophile Pflanzen durch die Flüsse längs der Gletscher, Flechten und etliche andere Pflanzen erreichten ihre Ausbreitung, indem sie ihre Springsamen den starken Winden überließen. Menschliche Ausbreitung zeigte alle drei Muster, wie Yoshi bemerkte, als sie über das Becken gingen und über diesen Begriff sprachen. Sie verstreuten sich über Europa, Asien und Afrika, sie strömten durch die amerikanischen Kontinente und längs der australischen Küsten, sie sprangen hinaus zu den pazifischen Inseln (oder zum Mars). Man konnte beobachten, daß alle drei Methoden gewöhnlich von hoch anpassungsfähigen Spezies benutzt wurden. Das Tyrrhena-Massiv ragte in den Wind. Es fing die westlichen und auch die sommerlichen Monsune ab, so daß beide Seiten Niederschläge bekamen. Nirgends mehr als zwanzig Zentimeter im Jahr; aber in der südlichen Hemisphäre des Mars bedeutete das bereits eine regenreiche Insel. Auf diese Weise auch eine Falle für Dispersion und so sehr zugänglich für Invasionen.
Da lag es also - hohes, unfruchtbares, steiniges Land, mit Schnee bestäubt, wo immer Schatten vorherrschte, so daß die Schatten weiß zu sein pflegten. Kein Zeichen von Leben, mit Ausnahme in den Becken, wo die Ökopoeten ihren kleinen Kollektionen nachhalfen. Wolken erschienen im Winter von Westen und im Sommer von Osten. Die Südhemisphäre hatte wegen des Zyklus von Sonnennähe und Sonnenferne verstärkte Jahreszeiten, so daß sie wirklich eine Rolle spielten. Auf Tyrrhena waren die Winter hart.
Nirgal wanderte, nach dem die Stürme abgeflaut waren, durch das Becken und sah nach, was hereingeblasen worden war. Gewöhnlich war es eine Ladung eisigen Staubes; aber einmal fand er ein ungepflanztes Büschel Jakobsleitern (Polemonium caeruleum) in einer Felsspalte. Er sah in den Botanikdateien nach, wie die Pflanze mit den schon vorhandenen wechselwirken könnte. Zehn Prozent der eingeführten Arten überlebten, und zehn Prozent davon wurden dann Schädlinge. Das war laut Yoshi die erste Regel der Disziplin. »Zehn bedeutet natürlich fünf bis zwanzig.«
Einmal jätete Nirgal ein im Frühling angekommenes gewöhnliches Straßengras aus, weil er fürchtete, es würde alles überwuchern. Genau wie die Tundradisteln. Ein andermal fiel eine schwere Staubfracht bei Herbstwind herunter. Diese Staubstürme waren klein im Vergleich mit den alten globalen Südsommerstürmen; aber gelegentlich riß ein scharfer Wind irgendwo den Wüstenboden auf, so daß der Staub darunter wegflog. An solchen Tagen wurde die Atmosphäre rasch dichter, durchschnittlich um fünfzehn Millibar jährlich. Jedes Jahr hatten die Winde mehr Kraft. Daher bestand Gefahr, daß dickere Deckschichten weggerissen würden. Der herunterfallende Staub bildete aber gewöhnlich eine sehr dünne Schicht, die oft reich an Nitraten war. Darum wirkte er wie ein Dünger, der vom nächsten Regen in den Boden gewaschen wurde.
Nirgal kaufte eine Position in der Konstruktionskooperative von Sabishii, in die er hineingeschnuppert hatte. Er ging oft hin, um an den Gebäuden der Stadt zu arbeiten. Oben im Becken beschäftigte er sich etwas mit Montage und Testreihen von einsitzigen Luftgleitern. Seine Werkstatt war ein kleines Gebäude mit Wänden aus aufgestapelten Steinen, gedeckt mit Platten aus Sandstein als Schindeln. Zwischen dieser Arbeit und der Bewirtschaftung des Treibhauses und seines Kartoffelbeetes und der Okopoesis im Becken waren seine Tage erfüllt.
Er flog die fertigen Luftgleiter nach Sabishii hinunter und blieb in einem kleinen Studio oberhalb des wiedererbauten Hauses seines alten Lehrers Tariki in der alten City, der dort unter alten Issei wohnte, die Hiroko sehr ähnlich sahen und sich auch so anhörten. Art und Nadia lebten hier und zogen ihre Tochter Nikki auf. Auch waren Vijika, Reull und Annette in der Stadt, alles alte Freunde aus seinen Studientagen. Und dann war da die Universität selbst, die nicht mehr Universität des Mars hieß, sondern Sabishii-College - eine kleine Schule, die noch in dem amorphen Stil der Demimondejahre geführt wurde, so daß die anspruchsvolleren Studenten nach Elysium, Sheffield oder Cairo gingen. Diejenigen, die nach Sabishii gingen, waren fasziniert von der Mystik der Jahre der Demimonde oder an der Arbeit eines der Issei-Professoren interessiert.
Bei all diesen Leuten und Aktivitäten fühlte Nirgal sich fremd, wenn nicht gar unbehaglich. Er schob lange Tage als Maurer, Gipser und Monteur bei den verschiedenen Bauarbeiten ein, die seine Koop in der Stadt hatte. Er aß in Reisküchen und Kneipen. Er schlief auf dem Dachboden in Tarikis Garage und sah den Tagen entgegen, da er wieder zum Becken zurückkehrte.
Eines Abends ging er von einer Kneipe spät heim und schlief fast im Stehen ein, als er an einem kleinen Mann vorbei kam, der auf einer Parkbank schlief: Cojote.
Nirgal blieb sofort stehen und ging zu der Bank. Er starrte hin. In manchen Nächten hatte er Cojoten oben im Becken heulen gehört. Dies war sein Vater. Er erinnerte sich an alle jene Tage der Suche nach Hiroko, ohne einen Hinweis, wo man sich umschauen sollte. Aber hier schlief sein Vater auf einer Bank im Stadtpark. Nirgal konnte ihn jederzeit anrufen und erhielt dieses helle verrückte Grinsen. Trinidad selbst. Ihm traten Tränen in die Augen. Er schüttelte den Kopf und gewann wieder die Fassung. Ein alter Mann lag auf einer Parkbank. Das sah man recht oft. Eine Menge Issei waren hierher gekommen und irgendwie endgültig im Hinterland verschwunden, so daß sie, wenn sie in eine Stadt kamen, in den Parks schliefen.
Nirgal ging hin und setzte sich ans Ende der Bank, direkt neben dem Kopf seines Vaters. Graue schäbige Haarzotteln. Wie ein Betrunkener. Nirgal saß bei ihm und schaute auf die Unterseiten der Linden, die um die Bank herum standen. Es war eine ruhige Nacht. Sterne blitzten durch die Blätter.
Cojote rührte sich, drehte den Kopf und schaute auf. »Wer's das?«
»He!« sagte Nirgal.
»He!« sagte Cojote und setzte sich auf. Er rieb sich die Augen. »Nirgal, Mann! Du schreckst mich hier auf.«
»Tut mir leid. Ich kam vorbei und sah dich. Was machst du?«
»Schlafen.«
»Haha!«
»Nun, ich tat es. Soweit ich weiß, war das alles, was ich machte.«
»Cojote, hast du kein Bett hier?«
»Wieso - nein.«
»Macht dir das nichts aus«
»Nein.« Cojote grinste ihn scharf an. »Ich bin wie das schreckliche Videoprogramm. Die Welt ist mein Zuhause.«
Nirgal schüttelte bloß den Kopf. Cojote machte ein mißtrauisches Gesicht, als er sah, daß Nirgal nicht erfreut war. Er starrte ihn lange unter halb geschlossenen Lidern hervor an und holte tief Luft. Schließlich sagte er träumerisch: »Mein Junge!« Die ganze Stadt war still. Cojote murmelte, als ob er einschliefe. »Was tut der Held, wenn die Geschichte aus ist? Schwimmt über den Wasserfall. Treibt mit der Flut hinaus.«
»Was?«
Cojote öffnete die Augen ganz und beugte sich zu Nirgal vor. »Erinnerst du dich, wie wir Sax nach Tharsis Nodus hineingeschafft haben und du bei ihm gesessen hast und man danach sagte, du hättest ihn ins Leben zurückgebracht? So war das ungefähr. Denk darüber nach!« Er schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder auf die Bank zurück. »Das stimmt nicht. Es ist bloß eine Geschichte. Warum sich um diese Geschichte Gedanken machen, wenn sie sowieso nicht deine ist. Was du jetzt machst, ist besser. Du kannst Geschichten dieser Art hinter dich lassen. Einfach weggehen und bei Nacht in einem Park sitzen wie jeder gewöhnliche Mensch. Überall hingehen, wo es dir gefällt.«
Nirgal nickte unsicher.
»Was mir zu tun gefällt«, sagte Cojote schläfrig, »ist, in ein Straßencafe zu gehen, etwas Kava reinzuschütten und mir alle Gesichter anzuschauen. Einen Spaziergang durch die Straßen machen und die Gesichter der Leute ansehen. Ich schaue mir gern Frauengesichter an. So schön. Und manche von ihnen so... so irgendwas. Ich weiß nicht. Ich liebe sie.« Er schlief wieder ein. »Du wirst deinen Weg zu leben finden.«
Zu den Gästen, die ihn gelegentlich im Becken besuchten, gehörten Sax, Cojote, Art, Nadia und Nikki, die jedes Jahr größer wurde. Sie war schon jetzt größer als Nadia und schien diese für eine Art Kinderfrau oder Urgroßmutter zu halten, etwa sowie Nirgal selbst sie in Zygote angesehen hatte. Nikki hatte Arts Sinn für Spaß geerbt, und Art hatte das selbst ermutigt und sie angestachelt, mit ihr gegen Nadia zusammengesteckt und sie mit dem strahlendsten Vergnügen betrachtet, das Nirgal jemals im Gesicht eines Erwachsenen gesehen hatte. Einmal sah Nirgal, wie die drei auf dem Steinwall bei seinem Kartoffelfeld saßen und hilflos über etwas, das Nirgal gesagt hatte, lachten. Er fühlte einen Stich, als er mitlachte. Seine alten Freunde waren jetzt verheiratet, mit einem Kind. Sie lebten in diesem höchst altertümlichen Stil. Demgegenüber schien sein Leben auf dem Lande gar nicht so gehaltvoll zu sein. Aber was konnte er tun? Nur ein paar Leute in dieser Welt waren so glücklich, an ihre richtigen Partner zu geraten. Es gehörte ungemeines Glück dazu, daß es passierte und dann brauchte man den Sinn, es zu erkennen und den Mut zu handeln. Es war zu erwarten, daß nur wenige das alles hätten und daß es dann gut ginge. Der Rest mußte so tun, als ob.
So lebte er in diesem hohen Becken, zog einiges von seiner Nahrung und beteiligte sich an Koop-Projekten, um den Rest zu bestreiten. Er flog einmal im Monat in einem neuen Flugzeug nach Sabishii hinunter, genoß seinen Aufenthalt für eine oder zwei Wochen, und kehrte wieder heim. Art, Nadia und Sax kamen öfter herauf, und seltener hatte er Maya und Michel oder Spencer zu Gast, die alle in Odessa lebten, oder Zeyk und Nazik, die Nachrichten aus Cairo und Mangala mitbrachten, die er nicht hören wollte. Nachdem sie gegangen waren, trat er auf die gewölbte Bodenwelle hinaus, setzte sich auf einen seiner Felsblöcke und schaute auf die Wiesen hinunter, die sich durch den Abhang zogen. Er konzentrierte sich auf das, was er hatte, auf die Welt der Sinne, von Stein und Flechten und blühendem Moos.
Das Becken entwickelte sich. In den Wiesen gab es mittlerweile Maulwürfe und Murmeltiere. Am Ende der langen Winter kamen die Murmeltiere früh aus dem Winterschlaf, fast verhungert. Ihre inneren Uhren waren noch auf Erdenwinter eingestellt. Nirgal streute Futter für sie in den Schnee und sah von den oberen Fenstern seines Hauses zu, wie sie es verzehrten. Sie brauchten Hilfe, um durch die langen Winter bis zum Frühling zu kommen. Sie betrachteten sein Haus als Quelle von Nahrung und Wärme. Und so lebten zwei Murmeltierfamilien in den Steinen darunter und stießen ihre Warnpfiffe aus, wenn sich jemand näherte. Einmal kündigten sie ein paar Leute vom Tyrrhena-Komitee für die Einführung neuer Spezies an. Diese baten ihn um ein Verzeichnis der Arten und eine grobe Zählung. Sie stellten eine Liste >lokaler Einwohner< auf, die es ihnen dann gestatten würde, über jede spätere Einführung sich rasch verbreitender Arten Urteile zu fällen. Nirgal freute sich, bei diesem Unternehmen mitzuarbeiten, und so ging es offenbar allen, die auf dem Massiv Ökopoesie betrieben. Da es sich um eine Insel mit Niederschlägen handelte, entwickelten sie ihre eigene Mischung aus Fauna und Flora großer Höhen. Es bildete sich zunehmend die Meinung, diese Mischung für Tyrrhena als >natürlich< anzusehen, die nur durch Konsens verändert werden sollte.
Die Gruppe des Komitees verließ ihn, und Nirgal blieb mit seinen Hausmurmeltieren zurück und hatte ein komisches Gefühl. »Nun, jetzt sind wir einheimisch«, sagte er zu ihnen.
Er war glücklich in seinem Becken, über der Welt mit ihren Sorgen. Im Frühling erschienen aus dem Nirgendwo neue Pflanzen. Manche begrüßte er mit einer Kelle Kompost, andere riß er aus und machte sie zu Kompost. Das Grün des Frühlings unterschied sich von allen anderen grünen Farben - heller elektrischer Jade und limonenfarbene Knospen und Blätter, neue Blätter aus smaragdenem Gras, blaue Nesseln und rote Blätter. Und dann später die Blüten, jene gewaltige Verausgabung pflanzlicher Energie, der Drang zum Überleben, der Fortpflanzungsdrang von allem um ihn herum... Manchmal, wenn Nadia und Nikki von ihren Spaziergängen zurückkehrten mit Miniatursträußen in ihren großen Händen, erschien Nirgal die Welt sinnvoll. Er schaute sie an und dachte an Kinder und fühlte plötzlich einen nagenden Kummer, den er sonst nicht kannte.
Das war offenbar ein allgemein geteiltes Gefühl. Der Frühling nach dem rauhen Winter des Aphels dauerte in der südlichen Hemisphäre 143 Tage. Im Verlauf der Frühlingsmonate erblühten immer mehr Pflanzen. Erste frühe wie Schneeglöckchen und Leberblümchen, dann spätere wie Phlox und Heide, danach Steinbrech und Tibetischer Rhabarber, Leimkraut, alpiner Nelkenwurz, Kornblumen und Edelweiß - immer weiter und weiter, bis jeder Fleck in dem grünen Teppich der steinigen Fläche des Beckens mit leuchtenden Punkten cyanblau, dunkelrot, gelb und weiß gesprenkelt war. Jede Farbe fügte sich in der charakteristischen Höhe für die betreffende Pflanze ein, und alle glühten in der Dämmerung wie Tropfen aus Licht, das aus dem Nirgendwo quoll. Ein pointillistischer Mars, das gerippte eingesäumte Becken durch diese farbige Halde in die Luft geprägt. Nirgal stand in einer Handfläche, die ihr Schneeschmelzwasser in einer Lebenslinie hinabführte in die weite Welt, die so weit unten lag, eine ausgedehnte schattige Welt, die unter der Sonne nach Westen hin undeutlich zu sehen war, dunstig und tief. Das letzte Licht des Tages schien leicht nach oben gerichtet zu sein.
An einem klaren Morgen erschien Jackie auf seinem häuslichen Computerschirm und verkündete, sie wäre auf der Piste von Odessa nach Livya und wollte vorbeikommen. Nirgal sagte zu, bevor er Zeit hatte nachzudenken.
Er ging den Weg am Abflußbach hinunter, um sie zu begrüßen. Ein kleines hohes Becken... es gab eine Million solcher Krater im Süden. Ein kleiner alter Impakt. Nicht die kleinste Kleinigkeit, die ihn auszeichnete. Er erinnerte sich an Shining Mesa und die tolle gelbe Aussicht in der Früh.
Sie kamen in drei Wagen an, die wild über das Gelände hüpften wie kleine Kinder. Jackie fuhr den ersten Wagen, und Antar den zweiten. Sie lachten ausgelassen, als sie ausstiegen. Antar schien es nichts auszumachen, daß er das Rennen verloren hatte. Sie hatten eine Gruppe junger Araber dabei. Jackie und Antar sahen selbst erstaunlich jung aus. Es war lange her, daß Nirgal sie gesehen hatte, aber sie hatten sich überhaupt nicht verändert. Die Behandlungen. Die gängige Volksmeinung war, sie früh und oft zu nehmen, um ewige Jugend zu sichern und jede der seltenen Krankheiten zu bannen, die immer noch ab und zu Menschen umbrachten. Sie sahen immer noch aus, als wären sie fünfzehn m-Jahre alt. Aber Jackie war ein Jahr älter als Nirgal, und der zählte jetzt fast 33 Jahre und fühlte sich noch älter. Als er in ihre lachenden Gesichter schaute, dachte er: Ich muß eines Tages die Behandlung machen lassen.
So wanderten sie umher, traten auf das Gras, riefen bei den Blumen Ah und Oh; und das Becken wirkte kleiner bei jedem Ausruf, den sie taten. Gegen Ende ihres Besuches nahm Jackie ihn mit ernster Miene beiseite.
Sie sagte: »Wir haben Ärger, die Terraner fernzuhalten, Nirgal. Sie schicken jährlich fast eine Million herauf. Du hast behauptet, daß sie das nie könnten. Und diese Neuankömmlinge treten nicht dem Freien Mars bei, wie es üblich war. Sie unterstützen immer noch ihre heimatlichen Regierungen. Der Mars verändert sich für sie nicht schnell genug. Wenn das so weitergeht, wird die ganze Idee eines freien Mars ein Witz sein. Manchmal frage ich mich, ob es nicht doch ein Fehler war, das Kabel oben zu lassen.«
Sie runzelte die Stirn, und zwanzig Jahre sprangen plötzlich auf ihr Gesicht. Nirgal unterdrückte einen leichten Schauder.
»Es würde helfen, wenn du dich nicht hier verstecktest«, rief sie in jäher Wut und tat das Becken mit einer Handbewegung ab. »Wir brauchen jeden, den wir bekommen können, zur Hilfe. Die Leute erinnern sich noch an dich, aber in einigen Jahren... «
Er dachte, er müßte bloß noch ein paar Jahre warten. Er beobachtete sie. Gewiß, sie war schön. Aber Schönheit war eine Sache des Geistes, von Intelligenz, Munterkeit und Einfühlungsvermögen. Während Jackie also immer schöner wurde, verlor sie zu gleicher Zeit an Schönheit. Wieder eine mysteriöse Verquickung. Und Nirgal war in keiner Weise über diesen inneren Verlust in Jackie erfreut. Das war wirklich nur eine Saite in dem Akkord von Jackies Schmerz. Er wünschte, es wäre nicht wahr.
»Wir können ihnen wirklich nicht helfen, indem wir immer mehr Einwanderer aufnehmen«, sagte sie. »Das war falsch, als du das auf der Erde gesagt hast. Sie wissen es auch. Sie können es ohne Zweifel sogar besser sehen als wir. Aber sie schicken trotzdem Leute. Bloß um sich zu vergewissern, daß es keinen Ort gibt, wo Menschen es richtig machen. Das ist ihr einziger Grund.«
Nirgal zuckte die Achseln. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Wahrscheinlich war etwas Richtiges in dem, was sie gesagt hatte; aber es gab gerade eine Million verschiedener Gründe für Leute zu kommen. Und es gab keinen Grund, das festzulegen.
Schließlich sagte sie: »Du willst also nicht zurückkommen. Es ist dir gleich.«
Nirgal schüttelte den Kopf. Wie könnte er ihr auch ins Gesicht sagen, daß sie nicht um den Mars besorgt war, sondern um ihre Macht? Er war nicht der Mann, der ihr das sagen konnte. Sie würde ihm nicht glauben. Und vielleicht war es irgendwie auch nur für ihn richtig.
Sie hielt abrupt inne in ihrem Versuch, ihn zu erreichen. Ein herrischer Blick auf Antar; und Antar bemühte sich, ihren Kreis in die Wagen zu sammeln. Ein letzter fragender Blick, ein Kuß voll auf den Mund, ohne Zweifel, um Antar zu ärgern oder ihn oder sie beide. Wie ein elektrischer Schlag für die Seele. Und sie war weg.
Er verbrachte den Nachmittag und den nächsten Tag, indem er wanderte, still auf Steinen saß und zusah, wie die kleinen Bäche ins Tal flössen. Einmal fiel ihm ein, wie schnell das Wasser auf der Erde floß. Unnatürlich. Nein. Aber dies hier war sein Platz, den er kannte und liebte, jedes Zellenpaar und jedes Nelkenbeet, sogar die Geschwindigkeit des Wassers, wenn es über den Stein strömte und in glatten, silbrigen Gebilden herabplatschte. Die Art, wie das Moos sich unter den Fingerspitzen anfühlte. Seine Besucher waren Leute, für die der Mars für immer eine Idee gewesen war, ein Staat im Entstehen, ein politischer Sachverhalt. Sie lebten in den Kuppeln, aber sie hätten ebenso irgendwo in irgendeiner Stadt wohnen können, und ihre Hingabe, obwohl real, war einer Sache oder einer Idee geweiht, einem Mars des Geistes. Das war schön. Aber für Nirgal war es jetzt das Land, auf das es ankam. Die Stellen, wo das Wasser hinkam, wenn es über das Milliarden Jahre alte Gestein auf Stellen mit neuem Moos tröpfelte. Die Politik möge man den jungen Leuten überlassen, er hatte seinen Teil geleistet. Er wollte nichts mehr tun. Oder zumindest wollte er warten, bis Jackie fort war. Macht war ja doch wie Hiroko. Sie entglitt einem. Oder etwa nicht? Inzwischen war das Rund des Beckens wie eine offene Hand.
Aber als er dann eines Morgens zu einem Spaziergang in der Frühdämmerung aufbrach, hatte sich etwas verändert. Der Himmel war klar, in seinem reinsten Morgenpurpur, aber die Nadeln eines Wacholders hatten einen gelblichen Stich bekommen, und ebenso das Moos und das Kartoffelkraut auf dem kleinen Beet.
Er pflückte die am meisten vergilbten Nadeln, Schößlinge und Blätter und brachte sie zur Werkbank, die in seinem Treibhaus stand. Zwei Stunden Arbeit mit Mikroskop und Computer erbrachten keine Lösung; und er ging zurück und zog einige Wurzelproben heraus und steckte noch mehr Nadeln, Blätter, Halme und Blüten in kleine Beutel. Ein großer Teil des Grases sah wie verwelkt aus, obwohl es kein heißer Tag war.
Mit pochendem Herzen und verkrampftem Magen arbeitete er den ganzen Tag bis in die Nacht. Er konnte nichts entdecken. Keine Insekten, keine Pathogene. Aber besonders die Blätter der Kartoffeln sahen vergilbt aus. An diesem Abend rief er Sax an und schilderte die Lage. Zufällig besuchte Sax gerade die Universität in Sabishii; und er erschien am nächsten Morgen in einem kleinen Rover, dem jüngsten Erzeugnis aus Spencers Koop.
»Hübsch«, sagte Sax, als er ausstieg und sich umschaute. Er untersuchte Nirgals Proben im Gewächshaus. »Hmm. Ich wundere mich«, sagte er.
Er hatte in seinem Wagen einige Instrumente mitgebracht, und sie schleppten sie in das Felshaus. Er machte sich ans Werk. Am Ende eines langen Tages stellte er fest: »Ich kann nichts finden. Wir werden einige Proben nach Sabishii hinunterbringen müssen.«
»Du kannst gar nichts finden?«
»Kein Pathogen. Keine Bakterien, kein Virus.« Er zuckte die Achseln. »Laß uns ein paar Kartoffeln holen.«
Sie gingen nach draußen und gruben Kartoffeln aus. Einige davon waren verkrümmt, verlängert oder rissig. »Was ist das?« rief Nirgal.
Sax machte ein etwas finsteres Gesicht. »Sieht nach einer Spindelknollen-Erkrankung aus.«
»Was verursacht die?«
»Ein Viroid.«
»Und was ist das?«
»Ka.« Nirgal spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. »Wie ist das hierher gekommen?«
»Wahrscheinlich auf einem Parasiten. Diese Art scheint zuerst das Gras zu infizieren. Wir müssen das herausfinden.«
Also sammelten sie die Proben, die sie benötigten, und fuhren nach Sabishii hinunter.
Nirgal saß auf einem Polstergestell in Tarikis Wohnzimmer und fühlte sich elend. Tariki und Sax hatten nach dem Essen eine lange Lagebesprechung. Andere Viroide waren von Tharsis aus in rapider Verbreitung erschienen. Offenbar hatten sie es geschafft, die sanitären Schutzmaßnahmen des Weltraums zu durchdringen und waren in eine Welt eingebrochen, die vorher von ihnen unbehelligt gewesen war. Sie waren kleiner als Viren, viel kleiner, und erheblich einfacher gebaut. Nichts als RNA-Fasern, sagte Tariki, etwa 50 Nanometer lang. Die Individuen hatten ein Molekulargewicht von ungefähr 130000, während dieses bei den kleinsten bekannten Viren über einer Million lag. Sie waren so klein, daß man sie mit über 100000 Ge zentrifugieren mußte, um sie aus einer Suspension herauszuholen.
Das Spindelknollenviroid war wohlbekannt, sagte Tariki ihnen, der auf seinem Bildschirm herumtastete und auf die dort erschienenen Schemata zeigte. Eine Kette von bloß 359 Nukleotiden in einer einzigen geschlossenen Faser ausgerichtet und in kurzen Abschnitte doppelfaserig verflochten. Viroide wie dieses verursachten etliche Pflanzenkrankheiten einschließlich blasser Bohnenkrankheit, Chrysanthemenverkümmerung, chlorotischer Fleckung, Cadang Cadang und Citrus exocortis. Viroide sind als Agens in einigen Gehirnkrankheiten bei Tieren bestätigt, zum Beispiel Krätze und Kuru und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bei Menschen. Die Viroiden benutzen Gast-Enzyme zur Fortpflanzung und werden dann für regelnde Moleküle in den Kernen infizierter Zellen gehalten, die insbesondere die Produktion von Wachstumshormonen behindern.
Das spezielle Viroid in Nirgals Becken, sagte Tariki, war aus dem Spindelviroid der Kartoffel mutiert. Man war in den Labors der Universität noch dabei, es zu identifizieren, aber das kranke Gras machte ihn sicher, daß sie etwas anderes, neues finden würden.
Nirgal fühlte sich übel. Dafür hatten schon allein die Namen der Krankheiten gesorgt. Er starrte auf seine Hände, die tief zwischen den infizierten Pflanzen gewühlt hatten. Durch die Haut ins Gehirn, irgendeine Form spongiformer Encephalopathie, Pilzwachstum überall.
»Können wir etwas tun, urn es zu bekämpfen?« fragte er.
Sax und Tariki schauten ihn an.
»Erst müssen wir herausfinden, was es ist«, erwiderte Sax.
Das erwies sich als nicht einfach. Nach ein paar Tagen kehrte Nirgal wieder zu seinem Becken zurück. Dort konnte er zumindest etwas tun. Sax hatte vorgeschlagen, alle Kartoffeln aus ihren Feldern zu entfernen. Das war eine lange schmutzige Arbeit, eine Art negativer Schatzsuche, als er eine kranke Knolle nach der anderen ausgrub. Vermutlich würde auch der Boden das Viroid enthalten. Es war möglich, daß er das Feld oder sogar das Becken würde aufgeben müssen. Am besten, etwas anderes pflanzen. Man verstand noch nicht, wie sich Viroide fortpflanzten; und aus Sabishii hieß es, daß es sich nicht einmal um ein Viroid im früheren Sinne handeln könne.
»Es ist eine kürzere Faser als üblich«, sagte Sax. »Entweder ein neues Viroid oder etwas ähnliches, viel kleineres. In den Labors von Sabishii nennen sie es das Virid.«
Eine lange Woche später kam Sax wieder zum Becken herauf. Beim Essen sagte er: »Wir können versuchen, es physisch zu beseitigen. Und dann verschiedene Pflanzen einsetzen, die gegen Viroide resistent sind. Das ist das Beste, was wir tun können.«
»Wird das funktionieren?«
»Die für Infektion anfälligen Pflanzen sind recht speziell. Du bist von einer neuen betroffen worden; aber wenn du die Gräser und Kartoffelsorten wechselt und vielleicht etwas von dem Boden deines Kartoffelfeldes austauschst...« Sax zuckte die Achseln.
Nirgal aß mit mehr Appetit, als er in der vorangegangenen Woche gehabt hatte. Schon die Andeutung einer möglichen Lösung war eine große Erleichterung für ihn. Er trank etwas Wein und fühlte sich immer besser. Bei einem Verdauungsbrandy seufzte er: »Das sind sonderbare Dinge, nicht wahr? Damit muß das Leben zurechtkommen.«
»Wenn du es Leben nennst.«
»Ja, natürlich.«
Sax antwortete nicht.
»Ich habe mir die Nachrichten im Netz angeschaut«, sagte Nirgal. »Es gibt eine Menge Infektionen. Ich habe das nie beachtet. Parasiten, Viren... «
»Ja. Manchmal mache ich mir Sorgen wegen einer globalen Seuche. Etwas, das wir nicht stoppen können.«
»Ka! Könnte das geschehen?«
»Es sind alle Arten von Invasionen im Gange. Bevölkerungsanstieg, plötzliche Todesfälle. Alles vorbei. Die Dinge sind ins Ungleichgewicht geraten. Störung von Gleichgewichten, deren Existenz wir nicht einmal geahnt hatten. Dinge, die wir nicht verstehen.« Dieser Gedanke machte Sax wie immer unglücklich.
»Die Biome werden schließlich ins Gleichgewicht kommen«, schlug Nirgal vor.
»Ich bin nicht sicher, ob es so etwas gibt.«
»Wie, Gleichgewicht?«
»Ja. Vielleicht ist es eine Sache von...« Er schwenkte die Hände wie Möwen. »Ein unterbrochenes Gleichgewicht ohne Gleichgewicht.«
»Unterbrochene Veränderung?«
»Ständige Veränderung. Geflochtene Veränderung, aufsteigende Veränderung... «
»Wie eine springende Rekombination?«
»Vielleicht.«
»Ich habe gehört, daß es eine Mathematik gibt, die nur ein Dutzend Leute wirklich verstehen.«
Sax machte ein überraschtes Gesicht. »Das stimmt nie. Oder es gilt für jede Mathematik. Es kommt darauf an, was du mit Verstehen meinst. Aber ich kenne etwas von der, die du meinst. Du kannst sie benutzen, um etwas von diesem Zeug zu modellieren. Aber nicht vorhersagen. Und ich weiß nicht, wie ich sie benutzen kann, um irgendwelche Reaktionen unsererseits vorzuschlagen. Ich bin nicht sicher, ob sie so benutzt werden kann.«
Er redete eine Weile über Vlads Begriff von Holonen, die organische Einheiten waren, die Untereinheiten hatten und auch selbst Untereinheiten größerer Holonen waren, wobei sich auf jeder Ebene Kombinationen bilden, die in aufsteigender Reihe die höheren bilden, den ganzen Weg nach oben und unten in der großen Kette des Seins. Vlad hatte mathematische Beschreibungen aller Formen dieses Zutagetretens entwickelt, die bei mehr als einer Art auftraten, mit verschiedensten Klassen von Eigenschaften für jede Art. Wenn man daher genügend Information über das Verhalten einer Ebene von Holonen und der nächsthöheren Ebene bekommen konnte, könnte man versuchen, sie in diese mathematischen Formeln einzupassen, und sehen, welche Erscheinungsform sie hatten, und vielleicht Wege finden, sie zu bekämpfen. »Das ist der beste Annäherungsversuch, den wir für Dinge, die so klein sind, haben.«
Am nächsten Tag riefen sie Gewächshäuser in Xanthe an, um nach neu angekommenen Sendungen zu fragen, nach Sendungen von neuen Grasarten auf Himalayabasis. Bis sie im Laufe der Zeit eintrafen, hatte Nirgal alles Riedgras im Becken ausgerissen und viel von dem Moos. Die Arbeit machte ihn krank, er konnte nichts dagegen tun. Einmal, als er sah, wie ein betroffener Murmeltierpatriarch ihn empört anschnatterte, setzte er sich hin und brach in Tränen aus. Sax hatte sich in sein gewohntes Schweigen zurückgezogen, was die Dinge nur noch schlimmer machte, weil es Nirgal immer an Simon erinnerte und an den Tod im allgemeinen. Er brauchte Maya oder sonst einen mutigen, redegewandten Sprecher über das innere Leben, von Angst und Tapferkeit. Aber er hatte nur Sax, verloren in Gedanken, die in einer Art fremder Sprache stattfanden, in einem privaten Idiom. Das er nicht gewillt war zu übersetzen.
Sie machten sich daran, neue Arten von Himalayagräsern im ganzen Becken zu pflanzen, wobei sie sich auf die Ufer der Gewässer und deren Geäder unter Rinnsalen und Eis konzentrierten. Ein starker Frost half, da er die infizierten Pflanzen schneller tötete als die gesunden. Sie verbrannten die kranken Pflanzen in einem Schachtofen am Fuße des Massivs. Aus den umliegenden Becken kamen Leute zu Hilfe und brachten Pflanzen zum späteren Setzen.
Es vergingen zwei Monate, und die Invasion wurde schwächer. Die verbliebenen Pflanzen schienen widerstandsfähiger zu sein. Neu gepflanzte Gewächse wurden nicht angesteckt und starben nicht. Das Becken sah herbstlich aus, obwohl es Mittsommer war. Aber das Sterben hatte aufgehört. Die Murmeltiere sahen mager aus und bekümmerter denn je. Sie waren eine Rasse, die sich Sorgen machen konnte. Und Nirgal konnte die Tiere verstehen. Das Becken sah wüst aus. Aber es schien, daß das Biom überleben würde. Das Viroid verschwand allmählich. Schließlich konnten sie es kaum noch finden, ganz gleich, wie scharf und lange sie Proben zentrifugierten. Es schien das Becken verlassen zu haben. Sein Verschwinden war ebenso mysteriös wie seine Ankunft.
Sax schüttelte den Kopf. »Wenn die Viroide, die auch Tiere befallen, jemals robuster werden...« Er seufzte. »Ich wünsche, ich könnte mit Hiroko darüber reden.«
»Ich habe sagen hören, sie wäre am Nordpol«, sagte Nirgal säuerlich.
»Ja.«
»Aber?«
»Ich glaube nicht, daß sie dort ist. Und ich glaube auch nicht, daß sie mit mir reden will. Aber ich... warte immer noch.«
»Daß sie anruft?« fragte Nirgal sarkastisch.
Sax nickte.
Sie starrten trübe in die Flamme von Nirgals Lampe. Hiroko - Mutter, Geliebte - hatte sie beide verlassen.
Aber das Becken würde leben. Als Sax zu seinem Rover ging, um aufzubrechen, nahm Nirgal ihn wie einen Bären in die Arme, hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. »Danke!«
»Es war meinerseits ein Vergnügen«, sagte Sax. »Sehr interessant.«
»Was wirst du jetzt machen?«
»Ich denke, ich werde mit Ann sprechen. Versuchen, mit ihr zu reden.«
»Ah! Viel Glück!«
Sax nickte, als wollte er sagen, das hätte er nötig. Dann fuhr er ab und winkte noch einmal, ehe er die Hände ans Lenkrad legte. Eine Minute später war er über der Rippe verschwunden.
Nun machte Nirgal sich an die harte Arbeit, das Becken wieder herzurichten, und tat, was er konnte, um ihm mehr pathogene Widerstandskraft zu verleihen. Mehr Vielfalt, mehr einheimische Parasitenfracht. Von den chasmoendolithischen Felsbewohnern bis hin zu den Insekten und mikrobischen Fliegern in der Luft. Ein volleres, zäheres Biom. Er kam selten nach Sabishii hinunter. Er ersetzte den ganzen Boden im Tomatenfeld und pflanzte eine andere Kartoffelart an.
Sax und Spencer waren wiedergekommen, um ihn zu besuchen, als ein großer Staubstürm in der Gegend von Ciaritas nahe Senzeni Na auf ihrer Breite begann, und dann um die ganze Welt lief. Sie hörten in den Nachrichten davon und verfolgten ihn während der nächsten paar Tage auf den Satellitenwetterfotos. Er kam wie immer von Osten. Es sah aus, als ob er südlich an ihnen vorbeiziehen würde. Aber in letzter Minute schwenkte er nach Norden.
Sie saßen im Wohnzimmer seines Felsenhauses und blickten nach Süden. Und da kam er, eine dunkle Masse, die den Himmel verfinsterte. Furcht erfüllte Nirgal wie die statische Elektrizität, die Spencer zum Schreien brachte, wenn er etwas anfaßte. Die Furcht war sinnlos. Sie hatten schon ein Dutzend Staubstürme mitgemacht. Es war nur der kleine Rest Angst, der die Viroidenseuche überlebt hatte. Und selbst die hatten sie durchgestanden.
Aber diesmal wurde das Licht des Himmels braun und trübe, bis es ebenso gut hätte Nacht sein können. Eine Schokoladennacht, die über den Fels heulte und an den Fenstern rüttelte. »Die Winde sind so stark geworden«, bemerkte Sax nachdenklich.
Dann ließ das Geheul nach, während es draußen dunkel wurde. Nirgal fühlte sich immer schlechter, je weniger der Wind heulte, bis die Luft ruhig war. Und selbst dann noch war ihm so übel, daß er kaum am Fenster stehen konnte. Globale Staubstürme waren manchmal so: Sie endeten abrupt, wenn der Wind auf einen Gegenwind traf oder eine besondere Landform. Und dann ließ der Sturm seine Fracht an Staub und Grus fallen. Tatsächlich regnete es jetzt auch Staub. Die Fenster zeigten ein schmutziges Grau. Als ob sich Asche über die Welt senken würde. In alten Tagen, brummte Sax unwillig, würden selbst die stärksten Stürme am Ende ihres Laufes nur ein paar Millimeter Grus fallen gelassen haben. Aber bei einer so viel dichteren Atmosphäre und so viel stärkeren Winden wurden große Mengen an Staub und Sand aufgewirbelt; und wenn die dann alle auf einmal herunterkamen, wie es manchmal geschah, konnte die Drift viel tiefer sein als ein paar Millimeter.
Obwohl einige Partikel fast im Schwebezustand waren, hatten sich binnen einer Stunde alle bis auf die feinsten aus der Luft auf sie niedergesenkt. Danach war es nur noch ein dunstiger Nachmittag, die Luft erfüllt von etwas wie einem dünnen Rauch, so daß sie das ganze Becken sehen konnten, das von einer schweren Staubschicht bedeckt war.
Nirgal ging wie immer mit aufgesetzter Maske hinaus und grub verzweifelt mit einer Schaufel und dann mit bloßen Händen. Sax kam heraus und stolperte durch die weichen Ablagerungen, um Nirgal eine Hand auf die Schulter zu legen. »Ich glaube nicht, daß man da etwas tun kann.« Die Staubschicht war einen Meter tief oder mehr.
Im Laufe der Zeit würden die Winde einiges von diesem Staub fortblasen. Auf den Rest würde Schnee fallen, der resultierende Schlamm würde weggespült, und ein neues Adersystem von Kanälen würde ein neues, dem alten sehr ähnliches fraktales Muster bilden. Wasser würde den Staub und Grus forttragen, das Massiv hinunter und in die Welt. Aber bis das geschehen war, wäre jede Pflanze und jedes Tier in dem Becken tot.