Wieder zum Mars, dem Roten Planeten, der schönsten Welt im Sonnensystem. Der einzig realen Welt.
Ihr Shuttle beschleunigte, machte seine Drehung, schwebte ein paar Tage antriebslos und bremste ab. Nach zwei Wochen waren sie für Clarke ausgerichtet und dann im Aufzug, immer weiter nach unten. So langsam war dieser letzte Abstieg! Zo schaute hinaus auf Echus, dort im Nordosten, zwischen der roten Tharsis und dem blauen Nordmeer. So gut, es wieder zu sehen! Zo nahm mehrere Tabletten Pandorph, als der Waggon des Aufzugs sich nach Sheffield hineinsenkte. Und als sie in den Sockel ausstieg und dann zwischen den glänzenden Steingebäuden durch die Straßen ging und zu der großen Bahnstation auf dem Rand, war sie in der Verzückung der Areophanie. Sie liebte jedes Gesicht, das sie sah, liebte alle ihre großen Brüder und Schwestern mit ihrer überwältigenden Schönheit und phänomenalen Grazie. Sie liebte sogar die Terraner, die ihr über dem Weg liefen. Der Zug nach Echus fuhr erst in einigen Stunden; darum ging sie einige Zeit rastlos im Stadtpark spazieren und blickte in die große Caldera von Pavonis Mons hinunter, die so sehenswert war wie irgendwas auf Miranda, auch wenn sie nicht so tief war wie Prosperos Rift. Ein unendliches Band des Horizonts, alle Schattierungen von Rot, Braun, Scharlach, Rost, Umbra, Kastanienbraun, Kupfer, Ziegelrot. Sienna, Paprika, Stierblut, Zimt, Zinnober - alles unter dem dunklen, mit Sternen übersäten Nachmittagshimmel. Ihre Welt. Obwohl Sheffield unter seiner Kuppel lag, und es immer so sein würde. Sie wollte wieder zurück in den Wind.
Also ging sie wieder zum Bahnhof und bestieg den Zug nach Echus. Sie fühlte den Zug die Strecke von dem großen Kegel von Pavonis nach Ost-Tharsis und Cairo hinunterrasen. Nach einem Umsteigen mit Schweizer Präzision fuhr sie mit einem Zug nach Norden, nach Echus Overlook. Der Zug traf gegen Mitternacht ein. Sie quartierte sich in der Herberge der Koop ein und ging hinüber ins Adler. Sie empfand den letzten Pandorph-Schuß wie eine Feder an der Kappe ihres Glücks. Und die ganze Bande war da, als ob keine Zeit vergangen wäre. Sie jubelten, als sie sie sahen, alle nahmen sie in die Arme, einmal und öfter, sie alle küßten sie, reichten ihr Drinks und stellten Fragen nach ihrer Reise und erzählten ihr von den jüngsten Windverhältnissen und streichelten sie in ihrem Sessel, bis rasch die Stunde vor der Frühdämmerung da war. Sie alle marschierten geschlossen zur Felsbank hinunter, zogen sich an und starteten, hinaus in die Dunkelheit des Himmels und den erfrischenden Auftrieb des Windes, was alles sofort auf sie einströmte wie Atmen oder Sex. Die schwarze Masse der Echusböschung ragte im Osten auf wie der Rand eines Kontinents, und der dunkle Boden von Echus Chasma lag weit unter ihnen. Es war die Landschaft ihres Herzens mit ihrem düsteren Tiefland und hohem Plateau und der schwindelerregenden Klippe dazwischen. Über allem lagen die starken Purpurtöne des Himmels, Lavendel und Malve im Osten, dunkles Indigo nach Westen hin; und der ganze Bogen leuchtete und gewann mit jeder Sekunde an Farbe. Die Sterne verschwanden, hohe Wolken im Westen strahlten in traumhaftem Rosa; und als sie nach mehreren Sprüngen auf die Höhe von Overlook gekommen war, befand sie sich nahe am Riff, erwischte einen starken westlichen Aufwind und segelte auf ihm dahin, dicht über Overlook und dann in einer engen Kurve nach oben - selbst bewegungslos und dennoch heftig vom Wind hochgerissen, bis sie aus dem Schatten der Klippe in das rauhe Gelb des neuen Tages stieß. Eine unglaublich freudige Kombination des Kinetischen und des Visuellen, von Sinn und Welt. Und als sie in die Wolken aufstieg, dachte sie: Zur Hölle mit dir, Ann Clayborn, du und der Rest deiner Art, ihr könnt für immer weitermachen mit euren moralischen Imperativen, eurer Issei-Ethik und euren Werten, Zielen, Bindungen, Verantwortlichkeiten, Tugenden und großen Lebenszwecken. Ihr könnt diese Worte bis zum Ende der Zeit in all ihrer Heuchelei und Furcht ausströmen; und dennoch werdet ihr nie ein Gefühl haben wie dieses, wenn die Anmut von Seele und Leib und Welt in vollkommenem Einklang sind. Ihr könnt euren calvinistischen Wortschwall, über das, was die Menschen mit ihrem kurzen Leben anfangen sollen, ausstoßen, bis ihr blau im Gesicht seid, als ob es überhaupt einen Weg gäbe, etwas Sicheres darüber zu sagen; als ob ihr euch nicht am Ende als grausame Henker erweisen würdet. Aber solange ihr nicht hier herauskommt und fliegt, surft, springt und euch irgendwie in der Gefahr des Raumes übt, in der reinen Grazie des Körpers, habt ihr einfach keine Ahnung. Ihr seid Sklaven eurer Ideen und Hierarchien und könnt darum nicht erkennen, daß es kein höheres Ziel gibt als dieses: Das ist der letzte Sinn der Existenz, des Kosmos überhaupt; das freie Spiel des Fliegens.
Im nordischen Frühling wehten die Monsune, stießen auf die Westwinde und dämpften die Aufwinde in Echus. Jackie war auf dem Großen Kana, von ihren interplanetaren Machenschaften durch lästige Lokalpolitik abgelenkt. Sie schien wirklich gereizt und angespannt zu sein, so daß sie Zo gewiß nicht in ihrer Nähe haben wollte. Also ging Zo in den Minen von Moreux für einige Zeit wieder an die Arbeit und kam dann mit einer Gruppe ihrer Flieger-Freunde an der Küste des Nordmeeres zusammen, südlich von Boone's Neck nahe Blochs Hoffnung, wo die Meeresklippen einen Kilometer aus der anrennenden Brandung ragten. Spätnachmittägliche, zur Küste gerichtete Brisen trafen auf diese Klippen und trugen eine kleine Schar von Fliegern hoch, die durch Meeresfluten wirbelten, die aus ständig auf und ab stoßenden Schaumtapeten herausschössen, rein weiß in der weindunklen See.
Diese Fliegerschar wurde von einer jungen Frau angeführt, der Zo noch nie begegnet war, ein Mädchen von nur neun m-Jahren namens Melka. Sie war die beste Fliegerin, die Zo jemals gesehen hatte. Wenn sie vor ihnen in der Luft war, schien es, als sei ein Engel in ihre Mitte gekommen, der zwischen ihnen hindurchschoß wie ein Raubvogel durch Tauben. Zu anderen Zeiten führte sie sie durch die engen Manöver, die das Bilden von Schwärmen so vergnüglich machten. Zo arbeitete tagsüber bei ihrem lokalen Koop-Partner und flog jeden Tag nach Beendigung ihrer Tambeschäftigung. Und ihr Herz war stets in höheren Regionen, erfreut von einem nach dem anderen. Einmal rief sie sogar Ann Clayborne an, um ihr vom Fliegen zu erzählen, was das wirklich bedeutete. Aber die Alte hatte fast vergessen, wer sie war, und schien nicht interessiert zu sein, selbst als Zo sich bemühte, ihr klar zu machen, wann und wie sie sich getroffen hatten.
An diesem Nachmittag flog sie mit einem inneren Schmerz. Gewiß, die Vergangenheit war vorbei; aber daß Menschen zu solchen Gespenstern werden konnten...?
Nichts ging über das Gefühl, nur Sonne und salzige Luft um sich zu haben, die sich immer verändernde schäumende Brandung, die gegen die Klippen auf und ab schwoll. Da war Melka, segelnd. Zo jagte hinter ihr her, spürte einen plötzlichen Ansturm von Zuneigung für diese schöne Erscheinung. Aber da erblickte Melka sie, kippte ab, streifte mit einer Flügelspitze den höchsten Felsen an der Küste und torkelte herunter wie ein angeschossener Vogel. Zo war durch den Anblick des Unfalls schockiert, zog ihre Flügel ein und beschleunigte mit heftigen Fußschlägen auf den Felsen zu. Sie fing das taumelnde Mädchen in ihren Armen auf und klatschte mit einem Flügel knapp über die blauen Wellen, während Melka unter ihr zappelte. Dann erkannte sie, daß sie würden schwimmen müssen.