In der Morgendämmerung erwachte er plötzlich. Er setzte sich an der Wand seiner Plattform auf, überrascht, daß der ganze Abend sich nicht als Traum erwiesen hatte. Er schaute über die Kante: Der Boden war sehr weit unten. Er saß wie im Krähennest eines riesigen Schiffs und rief eine blasse Erinnerung an sein hohes Bambuszimmer in Zygote wach; aber hier war alles sehr viel größer - die Sternenkuppel des Himmels, die entfernte, gezackte schwarze Linie des Horizonts. Das ganze Land war eine zerknitterte dunkle Decke, in die das Wasser des Reservoirs wie ein silberner Schnörkel eingefügt lag.

Er machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. Es waren vierhundert Stufen. Der Baum war vielleicht 150 Meter hoch und stand über dem Abfall der 150 Meter hohen Canyonklippe. In der Zeit vor Sonnenaufgang sah er auf den Wall hinab, über den sie die Antilopen zu treiben versucht hatten, betrachtete den Steilhang, den sie hinunter geprescht waren und den klaren Damm dahinter.

Er ging zurück zur Baumgruppe. Einige Jäger waren jetzt auf. Sie bemühten sich, das Feuer wieder anzumachen und erschauerten in der Dämmerkälte. Nirgal fragte sie, ob sie an diesem Tag weiterziehen würden. Das war der Fall. Nach Norden durch das Juventa-Chaos und dann weiter zum südwestlichen Ufer des Chryse-Golfs. Danach wußten sie noch nicht.

Nirgal fragte, ob er eine Weile bei ihnen bleiben könne. Sie sahen überrascht aus, musterten ihn und sprachen untereinander in einer Sprache, die er nicht erkannte. Ja, er wollte die Diana wiedersehen. Aber es war noch mehr als das. Nichts in seinem Lung-gom-pa war so gewesen wie jene letzte halbe Stunde der Jagd.

Natürlich hatte sein Lauf die Bühne für das Erlebnis bereitet, genau wie der Hunger und die Erschöpfung. Aber dann war etwas Neues geschehen. Beschneiter Waldboden, die Verfolgung zwischen den urtümlichen Bäumen, das Rennen in die Schlucht hinunter, die Szene unten am Damm.

Die Frühaufsteher nickten ihm zu. Er konnte mitkommen.

 

Diesen ganzen Tag marschierten sie auf einem komplizierten Pfad durch das Juventa-Chaos nach Norden. Am Abend kamen sie zu einer kleinen Mesa, deren ganze Kappe von einem Obstgarten mit Apfelbäumen eingenommen wurde. Eine Rampe führte dort hinauf. Die Bäume waren in die Form von Cocktailgläsern gestutzt worden, und jetzt trieben aus den knorrigen alten Zweigen neue Triebe in die Höhe. Während des Nachmittags zogen sie mit Leitern von Baum zu Baum, schnitten die dünnen Triebe ab und ernteten einige harte, saure und unreife kleine Äpfel.

In der Mitte des Obstgartens war ein Bau mit offenen Wänden und rundem Dach. Sie nannten ihn ein Scheibenhaus. Nirgal ging hindurch und bewunderte die Konstruktion. Das Fundament war eine runde Betonplatte, die wie Marmor poliert war. Auch das Dach war rund und wurde von einem einfachen T aus inneren Wänden getragen - ein Durchmesser und ein Radius. In dem offenen Halbkreis waren Küche und Wohnraum, auf der anderen Seite Schlafzimmer und Bad. Die jetzt für Luft offene Umfassung konnte bei unfreundlichem Wetter durch transparente Wände aus Kuppelmaterial geschlossen werden, das wie Vorhänge rund herum gespannt wurde.

Die Frau, die die Antilopen zerlegt hatte, sagte Nirgal, daß es überall in Lunae Scheibenhäuser gäbe.

Auch andere Gruppen benutzten sie und pflegten die Obstgärten, wenn sie vorbeikamen. Sie waren alle Teil einer losen Koop und führten ein Nomadenleben mit etwas Ackerbau, Jagen und Sammeln. Jetzt kochte eine Schar die kleinen Äpfel und machte Apfelmus auf Vorrat, andere brieten über einem Feuer im Freien Antilopenfleisch oder arbeiteten in einer Räucherkammer.

Zwei runde Bäder neben dem Scheibenhaus dampften, und einige Leute legten ihre Kleider ab und hüpften in das kleine Bad, um sich vor dem Abendessen zu säubern. Sie waren sehr schmutzig, schließlich hatten sie lange im Hinterland gelebt. Nirgal folgte der Frau ( an ihren Händen klebte noch getrocknetes Blut) und gesellte sich im Bad zu ihnen. Das warme Wasser war wie eine andere Welt, als ob die Hitze des Feuers in eine Flüssigkeit verwandelt worden wäre, die man berühren und in die man den Körper eintauchen konnte.

 

Sie wachten in der Frühdämmerung auf und faulenzten am Feuer, kochten Kaffee und Kava, nähten Kleider und arbeiteten um das Scheibenhaus herum. Nach einer Weile sammelten sie ihre wenigen Reiseutensilien, löschten das Feuer und brachen auf. Jeder hatte einen Rucksack oder eine Gürteltasche; aber die meisten schritten so leicht dahin wie Nirgal oder noch mehr, nichts im Gepäck als eine dünne Schlafrolle und etwas Nahrung. Einige hatten Speere oder Pfeil und Bogen über der Schulter. Sie legten den ganzen Morgen ein scharfes Tempo vor und teilten sich dann in kleinere Gruppen, um Pinienzapfen, Eicheln, Wiesenzwiebeln und wildes Korn zu sammeln. Oder sie jagten nach Murmeltieren oder Fröschen und vielleicht auch größerem Wild. Sie waren hager. Die Rippen traten hervor, und die Gesichter waren schmal. Die Frau sagte zu ihm: Wir bleiben gern etwas hungrig, dann schmeckt das Essen besser. Und wirklich schlang Nirgal an jedem Abend dieses langen Marsches sein Essen hinunter wie beim Laufen - zittrig und gierig. Und alles schmeckte wie Ambrosia. Sie marschierten jeden Tag eine große Strecke und gerieten bei ihren großen Jagden oft in ein katastrophales Terrain, welches so rauh war, daß es oft vier oder fünf Tage dauerte, ehe es ihnen gelang, sich alle beim nächsten Scheibenhaus in seinem Obstgarten wiederzufinden. Da Nirgal nicht wußte, wo diese sich befanden, mußte er nahe bei der einen oder anderen Gruppe bleiben. Einmal ließen sie ihn die vier Kinder der Gruppe auf einer leichteren Strecke über das verkraterte Gelände von Lunae Planum führen; und die Kinder sagten ihm jedesmal, wenn sie sich entscheiden mußten, welche Richtung einzuschlagen war. Und sie erreichten als erste das nächste Scheibenhaus. Den Kindern gefiel das. Oft wurden sie von den größeren Gruppen gefragt, wann sie ein Scheibenhaus verlassen sollten. »He, ihr Kleinen, ist es Zeit zu gehen?« Dann antworteten sie einstimmig sehr sicher mit Ja oder Nein. Einmal gerieten zwei Erwachsene in Streit und mußten danach ihre Ansichten den vier Kindern vortragen, die gegen einen von ihnen entschieden. Die Metzgerfrau erklärte Nirgal: «Wir lehren sie, sie urteilen über uns. Sie sind hart, aber fair.«

Sie ernteten etwas vom Ertrag der Obstgärten: Pfirsiche, Birnen, Aprikosen, Äpfel.

Wenn eine Ernte überreif war, dann nahmen sie alles, kochten es ein und füllten es in Flaschen als Soßen oder Chutneys und hinterließen es in großen Speiseschränken für andere Gruppen oder sich selbst, für das nächste Mal. Dann zogen sie weiter, nach Norden über das Lunae-Land, bis zur Großen Böschung, dramatisch vom Hochplateau Lunae über fünftausend Meter bis zum Chryse-Golf, der nur etwas über tausend Höhenmeter lag, abfiel.

Der Weg über dieses steile Terrain war schwierig. Das Land war schroff und aufgerissen und zersplitterte in Millionen kleiner Verformungen. Hier waren keine Wege angelegt, und es gab kaum ein Durchkommen. Es ging bergauf und bergab über nahezu nicht erkennbare ausgezackte und ins Nichts führende Pfade. Und keine Scheibenhäuser weit und breit und kaum Nahrung zu finden. Ein Kind rutschte aus, als sie eine Reihe von Korallenkakteen kreuzten, die das Land wie ein Zaun aus Stacheldraht säumten, und es fiel mit dem Knie in ein Büschel Dornen. Dann dienten die Magnesiumstangen als Gerüst für eine Trage, und sie zogen weiter nach Norden, wobei sie den weinenden Jungen mit sich trugen. Die besten Jäger befanden sich mit Pfeilen und Bogen an den Flanken der Gruppe, um zu sehen, ob sie etwas erlegen könnten, das vorbeihuschte. Nirgal bemerkte einige Fehlschüsse. Dann erlegte ein weit fliegender Pfeil ein fliehendes Kaninchen, das taumelte und fiel. Dann töteten sie es. Ein erstaunlicher Schuß, der sie alle veranlaßte, schreiend herumzuspringen. Um den Schuß zu feiern, verbrauchten sie mehr Kalorien, als je zurückbekommen würden, wenn sie die winzigen Stücke von Kaninchenfleich, die der Anteil jeder Person waren, verzehrten. »Ritueller Kannibalismus an unserem Nagetierbruder«, sagte die Metzgerfrau verächtlich, als sie ihr Stück aß. »Sagt nie wieder, daß es so etwas wie Glück gibt!« Aber der ungestüme Schütze lachte sie bloß aus, und die anderen schienen sich über ihren Happen Fleisch zu freuen.

Dann trafen sie später am gleichen Tag auf einen jungen Karibu-Bullen, der sich verlaufen zu haben schien. Ihre Nahrungsprobleme waren gelöst, wenn sie ihn erwischen konnten. Aber er war vorsichtig, trotz seines verwirrten Verhaltens, hielt sich jenseits der Reichweite auch des weitesten Pfeilschusses auf und setzte sich von der Gruppe ab die Große Böschung hinunter, vor den Augen aller Jäger, die auf dem Hang verblieben waren.

Schließlich ließen sie sich alle auf Hände und Knie nieder und krabbelten mühsam über den mittäglich heißen Fels, um den Karibu zu umzingeln. Aber der Wind blies von hinten; und der Karibu bewegte sich scheu noch weiter hinunter und wandte sich nach Norden. Unterwegs graste er und schaute immer neugieriger auf seine Verfolger zurück, als ob er sich fragte, warum sie mit diesem Spiel fortfuhren. Auch Nirgal wunderte sich. Und er war offenbar nicht allein. Die Skepsis des Karibus hatte sie angesteckt. Leise und kräftigere Mißtöne erklangen in dem ständigen Gespräch, das deutlich eine Debatte über Strategie war. Nirgal begriff, daß das Jagen schwierig war und daß die Gruppe oft versagte. Daß sie dabei vielleicht nicht sehr gut waren. Sie wurden auf dem Fels geröstet und hatten seit einigen Tagen nicht mehr ordentlich gegessen. Das gehörte für diese Leute zum Leben, machte aber diesmal wirklich keinen Spaß mehr.

Als sie schließlich weiterzogen, schien sich der Horizont im Osten unter ihnen zu verdoppeln. Chryse Golf schimmerte blau und flach noch immer weit unten. Während sie dem Karibu den Abhang hinab folgten, kam das Meer immer stärker ins Blickfeld. Die Große Böschung war hier so steil, daß nicht einmal die enge Krümmung des Mars ausreichte, die Fernsicht zu behindern; und sie konnten viele Kilometer weit über Chryse Golf hinausblicken. Das Meer, das blaue Meer!

Vielleicht konnten sie den Karibu gegen das Wasser hin treiben. Aber jetzt wandte er sich nach Norden quer zum Abhang der Böschung. Sie krochen über eine kleine Bodenwelle hinter ihm her und hatten plötzlich einen guten Blick zur Küste hinunter. Grüner Wald neben dem Wasser, kleine weiß getünchte Gebäude unter den Bäumen. Ein weißer Leuchtturm auf einem steilen Felsen.

Während sie weiter nach Norden zogen, erschien über dem Horizont eine Wendung in der Küste. Genau dahinter lag eine Stadt an einer halbmondförmigen Bucht auf der Südseite von etwas, das sie jetzt als einen Meeresarm oder besser einen Fjord erkannten; denn jenseits einer schmalen Wasserstraße erhob sich eine Wand, die noch steiler war als der Abhang, auf dem sie sich befanden. Dreitausend Meter roter Fels ragten aus der See. Die gigantische Klippe erschien wie der Rand eines Kontinents. Die horizontalen Schichtungen waren durch den Wind von Milliarden Jahren tief eingeschnitten. Nirgal erkannte sofort, wo sie waren. Die massive Klippe war die dem Meer zugewandte Böschung der Sharanov-Halbinsel, und der Fjord deshalb der Kasei-Fjord und die Hafenstadt folglich Nilokeras. Sie hatten einen weiten Weg hinter sich.

Die Pfeiftöne zwischen den Jägern wurden sehr laut und ausdrucksvoll. Etwa die Hälfte der Gruppe richtete sich über einem Steinfeld auf. Sie schauten einander an, als wäre ihnen plötzlich etwas eingefallen. Dann erhoben sie sich und gingen den Weg hinunter zur Stadt. Sie gaben den Karibu auf und ließen ihn äsen. Nach einer Weile hüpften und sprangen sie unter Gebrüll und Gelächter bergab. Die Träger mit der Trage und dem verletzten Jungen ließen sie hinter sich.

Weiter unten warteten sie aber, unter den hohen Hokkaido-Fichten am Rand der Stadt. Als die Träger sie einholten, gingen sie zusammen zwischen den Bäumen hinunter in die oberen Straßen der Stadt. Als eine laute Schar kamen sie an feinen Häusern mit Fensterfronten vorbei, die den dicht gefüllten Hafen überblickten, direkt zu einer medizinischen Klinik, als ob sie genau wüßten, wohin sie gingen. Sie lieferten den verletzten Jungen ab und besuchten dann die öffentlichen Bäder. Nach einem schnellen Bad gingen sie zu der gekrümmten Geschäftsstraße hinter den Docks und fielen in drei oder vier benachbarte Restaurants mit Tischen unter Sonnenschirmen und Reihen leuchtender Glühbirnen ein. Nirgal setzte sich mit den jungen Leuten an einen Tisch in einem Fischlokal. Nach einer Weile kam der verletzte Junge mit verbundenem Knie und Wade hinzu; und sie alle aßen gewaltige Mengen Krabben, Muscheln, Forellen, frisches Brot, Käse, Bauernsalat und tranken literweise Wasser, Wein und Ouzo - alles in solchem Übermaß, daß sie, als sie genug hatten, davonstolperten, betrunken und mit prall wie Trommeln gefüllten Mägen.

Einige gingen unmittelbar in ihre übliche Herberge, wie es die Metzgerfrau nannte, um sich hinzulegen oder sich zu übergeben. Der Rest hinkte am Gebäude vorbei zu einem nahe gelegenen Park, wo eine Aufführung von Tyndalls Oper Phyllis Boyle mit anschließendem Tanz stattfand.

Nirgal lag mit der Parkgruppe ausgestreckt im Gras hinter dem Publikum. Wie die anderen war er von der Leistung der Sänger und die schiere Üppigkeit des von Tyndall eingesetzten Orchesterklangs fasziniert. Als die Oper zu Ende war, hatten einige aus der Gruppe ihren Schmaus hinlänglich verdaut, um zu tanzen; und Nirgal machte mit. Nach einer Stunde Tanz ging er, wie viele andere aus dem Publikum, zur Band. Er trommelte so lange, bis sein ganzer Körper wie das Magnesium des Schlagzeugs dröhnte.

Aber er hatte zu viel gegessen; und als einige aus der Gruppe wieder in die Herberge zurückkehrten, beschloß er, mit ihnen zu gehen. Auf dem Heimweg sagten irgendwelche Passanten so etwas wie: »Schaut euch diese Wilden an!«, und der Speerwerfer heulte. Dann preßte er zusammen mit einigen der jungen Jäger die Passanten gegen eine Mauer und brüllte Beschimpfungen: »Hütet eure Zunge, oder wir werden euch das Fell gerben! Ihr Ratten im Käfig, ihr Drogensüchtigen, ihr Schlafwandler, ihr verdammten Erdenwürmer! Ihr denkt, ihr könnt Drogen nehmen und bekommen, was wir kriegen. Wir werden euch in den Arsch treten, dann werdet ihr richtig etwas fühlen. Ihr werdet sehen, was wir meinen.« Dann zog Nirgal ihn zurück und sagte: »Komm schon, mach keinen Ärger!« Und die Passanten stürzten sich mit Gebrüll auf sie, Männer mit harten Fäusten und Füßen, die nicht betrunken, aber ziemlich wütend waren. Die jungen Jäger mußten sich zurückziehen und sich dann von Nirgal wegführen lassen, als die Passanten sich damit zufrieden gaben, sie verscheucht zu haben. Die Leute schrien weiter Beschimpfungen, torkelten die Straße hinauf, hielten sich ihre Beulen, lachten und knurrten, zutiefst von sich selbst überzeugt. »Verdammte Schlafwandler, packt euch in eure Giftbüchsen ein, wir werden euch in den Arsch treten! Wir werden euch samt eurer Puppenhäuser ins Wasser schmeißen! Dämliche Schafe, die ihr seid!«

Nirgal drängte sie weiter und mußte dabei kichern. Die Radaubrüder waren sehr betrunken, und Nirgal war selbst nicht viel nüchterner. Als sie zu ihrer Herberge kamen, schaute er in die Kneipe gegenüber, sah die Metzgerfrau dort sitzen und ging mit dem Rest der wilden Kerls hinein. Er saß da und beobachtete die Burschen eine Weile, während er einen Cognac trank und ihn über die Zunge rollen ließ. Wilde hatten die Passanten sie genannt. Die Frau schaute ihn an und überlegte, was er wohl dachte. Viel später stand er mühsam auf und verließ die Kneipe mit den anderen, ging unsicher über die gepflasterte Straße und summte mit: »Swing Low, Sweet Chariot«, als sie kläfften. Auf dem Obsidianwasser des Kasei-Fjords schaukelten die Sterne auf und ab. Geist und Leib voller Empfindungen, süße Erschöpfung als Zustand der Gnade.