Ein neuer Versuch. Sie durchlief einen anderen Zyklus. Rückkehr nach Sheffield, Betätigung in der Arbeit des Rates, zunehmender Widerwille, gemischt mit Verzweiflung, Ausschau nach irgend etwas, das sie da herausbringen könnte, Bemerken eines annehmbaren Projekts und Inangriffnahme desselben. Loslegen und prüfen. Wie Art gesagt hatte, konnte sie ungehindert handeln.

Bei der nächsten Pause interessierte sie sich für Böden. Art sagte: »Luft, Wasser, Erde. Das nächste Mal werden es Waldbrände sein, he?«

Aber sie hatte gehört, daß es in dem bogdanovistischen Vishniac Forscher gäbe, die Boden herzustellen versuchten; und das interessierte sie. So zog sie los und flog gen Süden nach Vishniac, wo sie seit Jahren nicht gewesen war. Art begleitete sie. »Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die alten Städte des Untergrundes anpassen, jetzt, wo es nicht mehr nötig ist, sich zu verstecken.«

Als sie in die zerklüftete Region des Südpols flogen, sagte Nadia: »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, weshalb jemand hier unten bleibt. So weit im Süden herrscht ewiger Winter. Sechs Monate ganz ohne Sonne. Wer würde da bleiben wollen?«

»Sibirier.«

»Kein Sibirier, der richtig bei Verstand ist, würde hierher ziehen. Die wissen es besser.«

»Also dann Lappen oder Inuit. Leute, die die Pole lieben.«

»Das nehme ich an.«

Wie sich zeigte, schienen niemandem in Vishniac Bogdanov die Winter etwas auszumachen. Sie hatten den Abraumhügel ihres Moholes ringförmig um das Mohole selbst angelegt und damit ein riesiges rundes Amphitheater geschaffen das auf das Mohole ausgerichtet war. Dieses terrassierte Amphitheater sollte das Vishniac an der Oberfläche werden. Während der Sommer wäre es eine grüne Oase und in den dunklen Wintern eine weiße Oase. Sie beabsichtigten es mit Hunderten heller Straßenlaternen zu erleuchten und sich dadurch eine Art Bühnenbild zu schaffen in einer Stadt, die sich rings um eine runde Lücke selbst betrachtet oder von der oberen Mauer auf das frostige Chaos der polaren Gebirge blickt. Nein, keine Frage, sie würde nicht bleiben. Der Ort gehörte jenen Leuten.

Nadia wurde am Flughafen als Ehrengast begrüßt wie immer, wenn sie sich bei Bogdanovisten aufhielt. Zuvor hatte sie das als lächerlich und sogar etwas aggressiv empfunden: Freundin des Gründers! Aber jetzt nahm sie ihr Anerbieten einer Gästesuite an, die am Rande des Moholes mit einem leicht überhängenden Fenster, das einen Blick direkt in die Tiefe über achtzehn Kilometer erlaubte, lag. Die Lichter auf dem Boden des Moholes sahen aus wie durch den Planeten hindurchscheinende Sterne.

Art war starr vor Entsetzen, nicht wegen der Aussicht, sondern bloß wegen des Gedankens daran, und er wollte sich ihr nicht weiter als durch die Hälfte des Raums nähern. Nadia lachte ihn aus und schloß die Vorhänge, als sie sich sattgesehen hatte.

Am nächsten Tag ging sie hinaus, um die Bodenforscher zu besuchen, die sich über ihr Interesse freuten. Sie wollten unabhängig sein, sich selbst ernähren; und das wurde, ohne mehr Land schwierig, als immer mehr Siedler in den Süden zogen. Sie fanden aber heraus, daß die Herstellung von Boden zu den schwierigsten technischen Aufgaben zählte, die sie sich jemals gestellt hatten. Nadia war überrascht, das zu hören. Schließlich waren dies doch die Vishniac-Labors, in der Welt bei technisch getragenen Ökologien führend, die Jahrzehnte lang in einem Mohole versteckt gelebt hatten. Und Ackerkrume war - na ja - Boden. Vermutlich Dreck mit Zusätzen und Beischlägen, die man noch dazutun konnte.

Zweifellos brachte sie etwas von diesem Urteil gegenüber den Bodenforschern zum Ausdruck; und der Mann namens Arne, der sie herumführte, teilte ihr etwas gereizt mit, daß Boden wirklich sehr komplex wäre. Ungefähr fünf Gewichtsprozent davon bestand aus Lebewesen, nämlich dichte Populationen von Nematoden, Würmern, Mollusken, Arthropoden, Insekten, Arachniden, kleinen Säugetieren, Schwämmen, Protozoen, Algen und Bakterien. Die Bakterien allein umfaßten mehrere tausend verschiedene Arten und konnten pro Gramm Boden bis zu hundert Millionen Individuen zählen. Und die anderen Mitglieder der Mikrogemeinschaft waren fast ebenso reichlich in Zahl und Mannigfaltigkeit.

Derart komplexe Ökologien konnten nicht einfach auf die Art hergestellt werden, wie Nadia sich das eingebildet hatte: daß man die Ingredienzen separat züchtete und dann wie einen Kuchen in einem Mixer zusammenmischte. Aber sie kannten nicht alle Ingredienzen und konnten einige davon nicht züchten; und manche, bei denen das gelang, starben bei der Vermischung. »Würmer sind besonders empfindlich. Auch Nematoden machen Schwierigkeiten. Das ganze System neigt dazu zusammenzubrechen, wobei uns nur Mineralien und tote organische Substanzen verbleiben. Das nennt man dann Humus. In der Herstellung von Humus sind wir sehr gut. Aber Ackerkrume muß wachsen.«

»So wie in der Natur?«

»Richtig. Wir können nur versuchen, ihn schneller wachsen zu lassen, als es von Natur aus geschieht.

Wir können ihn nicht zusammensetzen oder in großen Mengen herstellen. Und viele der lebendigen Bestandteile wachsen am besten im Humus selbst. Darum ist es ein Problem, Organismen, die den Grundstock bilden, schneller zu beschaffen, als die natürliche Bodengestaltung sie liefern würde.«

»Hmm«, machte Nadia.

Arne führte sie durch ihre Labors und Gewächshäuser, die voller zylindrischer Bottiche oder Rohre waren, in Gestellen, alle mit Boden oder dessen Komponenten gefüllt. Das war experimentelle Agronomie; und Nadia vermochte nach ihrer Erfahrung mit Hiroko nur sehr wenig davon zu verstehen. Die esoterischen Dinge der Wissenschaft überstiegen ihr Fassungsvermögen. Aber sie begriff, daß man fabrikmäßige Versuche anstellte, in denen die Bedingungen in jedem Bodenkörper variierten, und verfolgte, was geschah. Arne zeigte ihr eine einfache Formel, die die allgemeinsten Aspekte des Problems beschrieb:

 

S=/(PM,C,R,B,T)

 

die besagte, daß jede Bodeneigenschaft S ein Faktor / der halbunabhängigen Variablen ist, nämlich Elternmaterial (PM)/ Klima (C), Topographie oder Relief (R), Flora und Fauna (B) und Zeit (T). Die Zeit war natürlich der Faktor, den sie beschleunigen wollten. Und das Elternmaterial war bei ihren meisten Versuchen der überall vorhandene Ton an der Oberfläche des Mars. Klima und Topographie wurden manchmal verändert, um verschiedene Feldbedingungen zu simulieren. Aber am meisten variierten sie die biotischen und organischen Elemente. Das bedeutete MikroÖkologie der raffiniertesten Art; und je mehr Nadia darüber lernte, desto schwieriger erschien ihr das Vorhaben - nicht so sehr Konstruktion als vielmehr Alchimie. Viele Elemente mußten einen Bodenzyklus durchmachen, um als Wachsmedium für Pflanzen zu dienen; und jedes Element hatte seinen eigenen speziellen Zyklus, der durch eine unterschiedliche Kombination von Agenzien angetrieben wurde. Es gab die Makro-Nährstoffe: Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kalium, Calcium und Magnesium; dann die Mikro-Nährstoffe Eisen, Mangan, Zink, Kupfer, Molybdän, Bor und Chlor. Keiner dieser Nahrungszyklen war geschlossen. Es gab auch Verluste durch Sickern, Erosion, Abernten und Ausgasen. Die Inputs waren ebenso vielfältig, einschließlich Absorption, Verwitterung, Einwirkung von Mikroben und Anwendung von Düngemitteln. Die Bedingungen, die es ermöglichten, daß alle diese Elemente ihre Zyklen durchliefen, waren so vielfältig, daß verschiedene Böden jeden Zyklus in unterschiedlichem Maße aussichtsreich erscheinen ließen. Jede Bodenart hatte spezielle ph-Werte, Salzgehalte, Kompaktheiten und so fort. Darum gab es allein in diesen Labors Hunderte benannter Böden und noch Tausende mehr unten auf der Erde.

Natürlich bildete in Vishniac-Labors das Elternmaterial vom Mars die Basis der meisten Experimente. Äonen von Staubstürmen hatten dieses Material auf dem ganzen Planeten wiederverarbeitet, bis es überall fast die gleiche Zusammensetzung hatte. Der typische Marsboden bestand aus feinen Partikeln, hauptsächlich Silizium und Eisen. An der Oberfläche war es oft lockeres Treibmaterial. Darunter hatten unterschiedliche Grade von Zementation zwischen den Partikeln ein krustiges Material gebildet, das um so klumpiger wurde, je tiefer man grub.

Tone, mit anderen Worten Smektite, ähnlich dem Montmorilonit und Nontromit der Erde, mit Zusatz von Materialien wie Talkum, Quarz, Hämatit, Anhydrit, Dieserit, Clacit, Beidelit, Rutil, Gips, Maghämit und Magnetit. Und alles war von amorphen Eisenoxihydroxiden und anderen mehr kristallinen Eisenoxiden umschlossen, die für die rötlichen Farben verantwortlich waren.

Das war also ihr universelles Elternmaterial: eisenreicher Smektit-Ton. Dessen locker gepackte und geschichtete Struktur bedeutete, daß es Wurzeln trug und ihnen dennoch Raum zum Wachstum bot. Aber es gab darin keine Lebewesen, zu viele Salze und zu wenig Stickstoff. Also bestand ihre Aufgabe im wesentlichen darin, Elternmaterial zu sammeln, Salz und Aluminium herauszuziehen und Stickstoff und die biotische Gemeinschaft so schnell wie möglich hinzuzufügen. So gesehen war das einfach. Aber der Ausdruck >biotische Gemeinschaft bereitete eine ganze Welt von Schwierigkeiten. »Mein Gott, das ist so, als ob man diese Regierung in Funktion zu setzen versuchen würde«, sagte Nadia eines Abends zu Art. »Die haben große Schwierigkeiten.«

In der Praxis fügten die Leute dem Ton einfach Bakterien hinzu und dann Algen und andere Mikroorganismen, danach Flechten und halophyllische Pflanzen. Dann hatten sie gewartet, bis diese Biogemeinschaften den Ton in Humus verwandelt hatten, was viele Generationen von Leben und Sterben erforderte. Das funktionierte immerhin. Aber es ging sehr langsam. Eine Gruppe in Sabishii hatte geschätzt, daß - über die ganze Oberfläche gemittelt - ein Zentimeter Ackerkrume in jedem Jahrhundert geschaffen wurde. Und das hatte man unter Einsatz ingenieurgenetisch erzeugter Populationen, die auf größte Geschwindigkeit gezüchtet waren, geschafft.

In den Treibhausfarmen andererseits waren die verwendeten Böden durch Nährstoffe, Düngemittel und Impfstoffe aller Art stark ergänzt worden. Das Resultat entsprach in etwa dem, was diese Forscher beabsichtigt hatten; aber die Bodenmenge in den Treibhäusern war winzig im Vergleich mit den Mengen, die sie auf die Oberfläche ausbringen wollten. Ihr Ziel war ein Boden für die Massenproduktion. Aber sie mußten sich intensiver mit der Materie befassen, als sie erwartet hatten, das war nicht zu übersehen. Alle hatten sie diese gequälte, erstarrte Miene eines Hundes, der an einem Knochen, von dem er schon längst eingesehen hat, daß er zu groß für ihn ist, aber dennoch nicht davon ablassen kann, weiter zu versuchen, ihn zu verschlingen.

Die bei diesen Problemen beteiligten Disziplinen der Biologie, Chemie, Biochemie und Ökologie lagen weit außerhalb von Nadias Fachwissen, und es gab nichts, was sie hätte vorschlagen können. In vielen Fällen konnte sie nicht einmal die hineinspielenden Prozesse verstehen. Das war keine Konstruktion, ja nicht einmal die Analogie einer Konstruktion.

Aber sie mußten doch zumindest eine Konstruktion realisieren bei einer der von ihnen versuchten Produktionsmethoden; und hier war Nadia wenigstens imstande zu verstehen, auf was es ankam. Sie konzentrierte sich auf diesen Aspekt. Sie schaute nach dem mechanischen Entwurf der Bodenproben und auch den Tanks für die lebenden Bestandteile des Bodens. Sie studierte die molekulare Struktur der Elterntone, um zu sehen, ob sie ihr irgendeine Anregung geben würde, wie man damit arbeitete. Sie stellte fest, das die Smektite des Mars Aluminiumsilikate waren. Das bedeutete, daß jede Einheit des Tons eine Schicht von Aluminium-Oktaedern besaß, die zwischen zwei Schichten von Silizium-Tetraedern verpackt waren. Die verschiedenen Arten der Smektiten hatten unterschiedliche Variationsanteile in diesem allgemeinen Muster. Und je größer diese Abweichungen waren, umso leichter konnte Wasser in die Flächen der Zwischenschichten einsickern. Montmorillonit, der häufigste Smektit auf dem Mars, hatte viele Spielarten und war daher für Wasser sehr empfänglich. Er dehnte sich im feuchten Zustande aus und schrumpfte bis zum Zerbrechen, wenn er trocken war.

Nadia fand das interessant. »Schau, wie wäre es mit einer Bodenprobe«, sagte sie zu Arne, »die mit einer Matrix aus zuführenden Adern gefüllt ist, welche die Biota durch das ganze Elternmaterial verteilen würden?« Sie fuhr fort, man sollte einen Klumpen von Elternmaterial nehmen, ihn anfeuchten und dann trocknen lassen. In die rissigen Systeme die Matrix der zuführenden Adern einbringen. Dann allerlei wichtige Bakterien und andere Bestandteile zum Wachsen hinzufügen. Danach könnten die Bakterien und anderen Kreaturen sich ihren Weg aus den zuführenden Adern herausfressen und das Material auf ihrem Weg hinaus verdauen. So würden sie dann alle in dem Ton wechselwirken. Das wäre eine heikle Zeit. Ohne Zweifel würden viele Versuche nötig sein, um die anfänglichen Mengen der verschiedenen Biota zu kalibrieren, die erforderlich wären, um übermäßige Vermehrungen oder Zusammenbrüche der Population zu vermeiden. Aber man könnte sie dazu bringen, sich in ihren gewöhnlichen Gemeinschaften zu etablieren; und dann hätte man plötzlich lebendigen Boden. »Es gibt derartige Systeme zuführender Adern bei gewissen sich schnell setzenden Baumaterialien; und ich höre gerade, daß Ärzte auf die gleiche Weise eine Apatit-Paste in gebrochene Knochen injizieren. Die Zuführ-Adern macht man aus Protein-Gelen, die für jede Substanz geeignet sind, die sie enthalten sollen, eingeschmolzen in die entsprechenden tubularen Strukturen.«

Eine Matrix für Wachstum. Arne sagte, das wäre wert, sich damit zu befassen. Nadia lächelte, als sie das hörte. Sie ging an diesem Nachmittag in glücklicher Stimmung umher und rief Art, als sie ihn abends traf, zu: »He! Ich habe heute etwas geleistet!«

»Gut!« sagte Art. »Dann laß uns ausgehen und feiern!«

 

Leicht getan, in Bogdanov Vishniac. Natürlich, es war schließlich eine Stadt der Bogdanovisten und so heiter wie Arkadij selbst. Jeden Abend eine Party. Sie hatten oft an der Abendpromenade teilgenommen; und Nadia liebte es, an der Brüstung der höchsten Terrasse entlangzugehen. Das Gefühl, Arkadij könnte dort irgendwo sein, hatte irgendwie überdauert. Und nie mehr als an diesem Abend, als ein Stück getaner Arbeit gefeiert wurde. Sie hielt Arts Hand und schaute nach unten und hinüber zu den dicht gefüllten unteren Terrassen mit ihren Feldern, Obstgärten, Teichen, Sportplätzen, Alleen und bogenförmigen Plazas, die besetzt waren von Cafes, Bars, Tanzpavillons und lautstarken Bands. Die Menge drängte sich darum. Manche tanzten, aber der größte Teil der Leute machten wie Nadia einen Abendspaziergang. All das noch unter einer Kuppel, die man eines Tages entfernen zu können hoffte. Inzwischen war es warm; und die jungen Eingeborenen trugen fremdartige Bekleidung aus Pantalons, Kopfputz, Schärpen, Westen und Halsbänder, so daß Nadia an die Videofilme von dem Empfang Nirgals und Mayas in Trinidad erinnert wurde. War das ein Zufall, ober bedeutete es, daß sich bei den jungen Leuten irgendeine interplanetare Kultur anbahnte? Und falls ja, bedeutete dies, daß ihr Cojote, der aus Trinidad stammte, unsichtbar die zwei Welten erobert hatte? Oder posthum ihr Arkadij? Arkadij und Cojote, die Könige der Kultur. Sie mußte bei diesem Gedanken grinsen und nahm Schlückchen aus Arts Becher mit heißem Kavajava, dem bevorzugten Getränk in dieser kalten Stadt, und beobachtete alle die jungen Leute, die sich wie Engel bewegten, immer tanzend, ganz gleich, was sie taten, und über die graziösen Bogen von Terrasse zu Terrasse strömten. »Welch große kleine Stadt!« war Arts Kommentar.

Und dann trafen sie auf ein altes Foto von Arkadij, das eingerahmt an einer Wand neben einer Tür hing. Nadia blieb stehen und ergriff Art am Arm: »Das ist er! Das ist er, wie er leibt und lebt!«

Das Foto war aufgenommen worden, als er mit jemanden sprach. Er stand vor einer Kuppelwand und gestikulierte. Haar und Bart standen vom Kopf ab und verschmolzen mit einer Landschaft, die genau die Farbe seiner wilden Locken hatte. Es sah aus wie ein Bild, das aus einer Bergflanke herauskommt. Blaue Augen blinzelten im Glanz all der roten Fröhlichkeit. »Ich habe nie ein Foto gesehen, das ihm so ähnlich war. Er mochte es nicht, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet war, und das Bild wurde dann meistens schlecht.«

Sie starrte das Bild an und merkte, daß sie errötete und sich seltsam glücklich fühlte. Eine derart lebensechte Begegnung! Als ob man plötzlich jemanden trifft, den man seit Jahren nicht gesehen hat. »Ich finde, daß du ihm ähnelst. Aber entspannter.«

Art sah sich das Foto genau an und sagte: »Es sieht so aus, als ob es schwierig wäre, noch entspannter zu sein.«

Nadia lächelte. »Für ihn war das leicht. Er war sich immer sicher, recht zu haben.«

»Keiner von uns übrigen hat dieses Problem.«

Sie lachte. »Du bist fröhlich, wie er war.«

»Warum auch nicht?«

Sie gingen weiter. Nadia dachte weiter an ihren alten Kameraden und behielt das Foto im Geiste vor Augen. Es gab noch so viel, an das sie sich erinnerte. Die mit den Erinnerungen verbundenen Gefühle verblaßten freilich allmählich, der Schmerz ließ nach, die Beize wurde ausgelaugt. All das Fleisch und Trauma war jetzt nur noch ein fernes Muster - wie ein Fossil. Und ganz unähnlich dem gegenwärtigen Moment, der, wenn sie sich umsah und ihre Hand in der von Art fühlte, real, lebendig und kurz war und sich ständig veränderte. Es konnte alles mögliche geschehen, alles wurde empfunden.

»Gehen wir in unser Zimmer zurück?«

 

Die vier Erdreisenden kamen schließlich an dem Kabel von Sheffield zurück. Nirgal, Maya und Michel gingen ihrer Wege, aber Sax flog nach unten und traf sich mit Nadia und Art im Süden. Das erfreute Nadia außerordentlich. In ihr war allmählich der Eindruck entstanden, daß dort, wohin Sax auch immer ging, das Herz der Aktion schlug.

Er sah noch genau so aus wie vor der Reise zur Erde und war, wenn eine Veränderung festzustellen war, höchstens noch schweigsamer und wunderlicher geworden. Er sagte, er wolle die Labors sehen. Und dann, nach einiger Zeit: »Aber ich überlege, was wir sonst noch tun könnten.«

»Terraformen?« fragte Art.

»Nun gut... «

Um Ann eine Freude zu machen, dachte Nadia. Das war seine Absicht. Sie drückte ihn an sich, was ihn überraschte; und hielt ihre Hand auf seiner mageren Schulter, während sie redeten. Es war so gut/ihn leibhaftig hier zu haben! Wann hatte sie diese Neigung für Sax Russell entwickelt? Wann war sie dazu gekommen, ihm so sehr zu vertrauen?

Auch Art hatte herausgefunden, was sie meinte. Er sagte: »Du hast doch schon eine Menge geleistet, nicht wahr? Ich meine, du hast inzwischen alle monströsen Methoden der Metanats ausgeräumt, nicht? Die Wasserstoffbomben unter dem Permafrost, die Soletta und die Luftlinse, die Stickstofftransporte vom Titan...«

»Diese kommen immer noch«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wie wir sie aufhalten könnten. Vermutlich abschießen. Aber Stickstoff können wir immer gebrauchen. Ich bin mir nicht sicher, daß ich mich so freuen würde, wenn die eingestellt würden.«

»Aber Ann?« sagte Nadia. »Was würde Ann gefallen?«

Sax zwinkerte wieder. Wenn sein Gesicht durch Ungewißheit verzerrt wurde, nahm es wieder seinen alten rattenhaften Ausdruck an.

»Was würde euch beiden gefallen?« fragte Art erneut.

»Schwer zu sagen.« Und seine Miene wurde zu einer Grimasse aus Unsicherheit, Unentschlossenheit und geteilten Motiven.

Art deutete an: »Ihr wollt Wildnis haben.«

»Wildnis ist eine... eine Idee. Oder ein ethischer Standpunkt. Die kann nicht überall sein, das meine ich nicht. Aber...« Sax wedelte mit der Hand und versank wieder in seinen Gedanken. Zum ersten Mal in dem Jahrhundert, seit Nadia ihn kannte, hatte sie das Gefühl, Sax wüßte nicht, was zu tun wäre. Er löste das Problem, indem er sich vor einen Bildschirm hockte und Befehle eingab. Er schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben.

Nadia drückte Arts Arm. Er umklammerte ihre Hand und drückte sanft den kleinen Finger. Der war inzwischen schon zu drei Vierteln seiner Größe gediehen, wuchs aber nun langsamer, als er sich der vollen Größe näherte. Ein Nagel bildete sich aus, und in dem Polster zeigten sich die zarten Rillen eines Fingerabdrucks. Es war ein angenehmes Gefühl, wenn er gedrückt wurde. Nadia sah Art kurz in die Augen und senkte dann den Blick. Er drückte ihre Hand, dann ließ er sie los. Nach einer Weile, als klar war, daß Sax völlig abgelenkt war und sich längere Zeit in seiner eigenen Welt befinden würde, gingen sie auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und ins Bett.

 

Sie arbeiteten tagsüber und gingen nachts aus. Sax zwinkerte umher wie in seinen Tagen als Labor-Ratte. Er war besorgt, weil es keine Nachricht von Ann gab. Nadia und Art trösteten ihn, so gut sie konnten, was nicht viel war. An den Abenden gingen sie auf die Promenade. Es gab einen Park, wo Eltern mit kleinen Kindern zusammenkamen und die Leute vorbeigingen wie an einem kleinen Zoogehege, grinsend über die kleinen Primaten beim Spiel. Sax verbrachte in diesem Park Stunden in Gesprächen mit Kindern und Eltern; und dann pflegte er zu den Tanzflächen weiterzuschlendern, wo er selbst stundenlang tanzte. Art und Nadia hielten Händchen. Der Finger wurde kräftiger. Er hatte jetzt fast seine volle Größe erreicht, und in Anbetracht dessen, daß es sowieso der kleine Finger war, sah er schon ausgewachsen aus, wenn sie ihn nicht gerade neben sein Gegenstück hielt. Art knabberte bei ihrem Liebesspiel gelegentlich sanft daran, und das machte sie wild. Sie knurrte: »Erzähl bloß Leuten nichts von diesem Effekt, sonst könnte es schrecklicherweise dazu führen, daß Menschen sich Körperteile abhacken, um sie nachwachsen zu lassen und dadurch empfindsamer zu machen!«

»Blödsinn!«

»Du weißt, wie die Leute sind. Für einen Kick geben sie alles.«

»Sprich ja nicht darüber!«

»Okay.«

 

Aber dann war es Zeit, wieder zu einer Ratsversammlung zu gehen. Sax reiste ab, um Ann zu finden - oder sich vor ihr zu verstecken. Das konnte man nicht genau sagen. Sie flogen wieder nach Sheffield. Nadia war also wieder da, und jeder Tag wurde in Zeitabschnitte von lähmenden dreißig Minuten aufgeteilt. Außer es gab etwas Wichtiges. Das Ersuchen der Chinesen um einen weiteren Raumaufzug bei Schiaparelli war akut geworden. Und das war eines von vielen Einwanderungsthemen, mit denen sie konfrontiert waren. Die in Bern ausgearbeitete Übereinkunft zwischen den UN und dem Mars besagte ausdrücklich, daß der Mars alljährlich mindestens zehn Prozent seiner Bevölkerung an Einwanderern aufnehmen müßte, wobei die Hoffnung ausgedrückt wurde, daß es noch mehr sein würden - so viel wie möglich -, solange die hypermalthusianischen Verhältnisse der Überbevölkerung andauerten. Nirgal hatte das als eine Art von Versprechen gemacht und sehr enthusiastisch (und wie Nadia fühlte, unrealistisch) davon gesprochen, daß der Mars der Erde zu Hilfe kommen würde und sie durch Geschenke freien Landes vor Überbevölkerung bewahren würde. Aber wie viele Menschen konnte der Mars wirklich aufnehmen, wenn sie nicht einmal ausreichend Boden herstellen konnten? Wie groß war überhaupt das Fassungsvermögen des Mars?

Das wußte niemand, und es gab kein überzeugendes Verfahren, das wissenschaftlich zu berechnen. Schätzungen der Aufnahmefähigkeit der Erde hatten zwischen 100 Millionen und 200 Billionen gelegen; und selbst die ernstlich vertretbaren Schätzungen bewegten sich zwischen zwei und dreißig Milliarden. In Wahrheit war die Aufnahmefähigkeit ein sehr unscharfer abstrakter Begriff, der von einer ganzen Menge verflochtener Komplexitäten abhing wie der Biochemie des Bodens, der Ökologie und der menschlichen Kultur. Daher war es fast unmöglich zu sagen, mit wie vielen Menschen der Mars zurechtkommen könnte. Inzwischen betrug die Erdbevölkerung mehr als fünfzehn Milliarden, während der Mars mit fast ebenso viel Landfläche eine tausendfach geringere Population hatte, gerade um fünfzehn Millionen. Die Ungleichheit war augenfällig. Es mußte etwas geschehen.

Massentransport von Menschen von der Erde zum Mars war sicher eine Möglichkeit. Aber die Transfergeschwindigkeit wurde durch die Größe des Transportsystems begrenzt und durch die Fähigkeit des Mars, die Einwanderer zu absorbieren. Jetzt argumentierten die Chinesen und überhaupt die UN allgemein, daß sie als einen ersten Schritt in dem Prozeß intensivierter Immigration das Transportsystem in großem Stil ausbauen könnten. Ein zweiter Raumaufzug auf dem Mars wäre der erste Schritt in diesem vielstufigen Projekt.

Die Reaktion auf diesen Plan war auf dem Mars meistens negativ. Die Roten widersetzten sich natürlich weiterer Immigration und opponierten - obwohl sie einräumten, daß etwas passieren müßte - gegen jede spezifische Weiterentwicklung des Transfersystems, nur um den Prozeß möglichst zu verlangsamen. Diese Position paßte zu ihrer allgemeinen Philosophie und erschien Nadia sinnvoll. Indessen war die Opposition des Freien Mars zwar wichtiger, aber nicht so klar. Nirgal war vom Freien Mars gekommen und war zur Erde gegangen und hatte den Terranern eine allgemeine Einladung überbracht, sie sollten so viele Leute herüberschicken, wie sie könnten. Und historisch hatte der Freie Mars sich immer für starke Bande mit der Erde eingesetzt, um die sogenannte Strategie, wonach >der Schwanz mit dem Hund wedelt<, zu versuchen. Aber der derzeitigen Führerschaft schien diese Position nicht besonders zu gefallen. Und Jackie befand sich inmitten dieser neuen Gruppe. Sie hatten sich schon während des Verfassungskongresses zu einem mehr isolationistischen Standpunkt verlagert, wie sich Nadia erinnerte, und immer für mehr Unabhängigkeit von der Erde plädiert. Andererseits machten sie offenbar privatim Geschäfte mit gewissen Ländern der Erde. Daher war die Position des Freien Mars zwiespältig und vielleicht sogar heuchlerisch. Sie schien darauf abzuzielen, ihre Macht in der politischen Szenerie zu vergrößern.

Aber selbst wenn man den Freien Mars beiseite ließ, gab es da draußen viel isolationistische Stimmung. Neben den Anarchisten tendierten einige Bogdanovisten, die matriarchistischen Leute von Dorsa Brevia und die von Mars Zuerst hierin nach der Seite der Roten. Sie alle argumentierten, wenn Millionen und Abermillionen Terraner auf den Mars zu strömen begännen, was würde dann aus dem Mars werden - nicht bloß aus der Landschaft, sondern auch der Kultur des Mars, die sich im Laufe der m-Jahre herausgebildet hatte? Würde die nicht in den alten Wegen untergehen, die der neue Zustrom mit sich brächte, der rasch die eingeborene Bevölkerung an Zahl übertreffen dürfte? Die Geburtenraten sanken doch überall, und kinderlose Familien und Familien mit einem Kind waren auf dem Mars so verbreitet wie auf der Erde. Daher wäre wohl kein großes Anwachsen der eingeborenen Population zu erwarten. Sie würde zahlenmäßig bald an den Rand gedrängt werden.

So argumentierte Jackie, zumindest in der Öffentlichkeit, und die von Dorsa Brevia und viele andere stimmten ihr zu. Nirgal, eben zurück von der Erde, schien in dieser Situation keinen großen Einfluß zu haben. Und während Nadia verstehen konnte, worauf es ihren Opponenten ankam, fühlte sie auch, daß es angesichts der Lage auf der Erde unrealistisch wäre zu denken, sie könnten den Mars einfach dichtmachen. Der Mars konnte die Erde nicht retten, wie Nirgal während seines Besuches dort anscheinend manchmal verkündet hatte; aber es war ein Abkommen mit den UN geschlossen und ratifiziert worden. Darum waren sie verpflichtet, mindestens so viele Terraner hereinzulassen, wie der Vertrag festlegte. Darum mußte die Brücke zwischen den Welten erweitert werden, wenn sie dieser Verpflichtung nachkommen und den Vertrag erfüllen wollten. Andernfalls, so dachte Nadia, könnte alles mögliche passieren.

Aus diesen Gründen sprach sich Nadia in der Debatte über die Genehmigung eines zweiten Kabels dafür aus. Es erhöhte die Kapazität des Transportsystems, so wie sie versprochen hatten, wenn auch nur indirekt. Und es würde auch von den Städten auf Tharsis und jener Seite des Mars allgemein etwas von dem Druck nehmen. Karten der Bevölkerungsdichte zeigten, daß Pavonis wie das Zentrum einer Zielscheibe war, mit Menschen, die von ihm nach draußen strebten und sich so nahe wie angängig dabei niederließen. Wenn man ein Kabel auf der anderen Seite der Welt hätte, würde das helfen, etwas auszugleichen.

Aber für die Gegner des Kabels war das ein zweifelhafter Nutzen. Die wollten eine lokalisierte, zusammengehaltene Bevölkerung und ein verlangsamtes Wachstum. Der Vertrag interessierte sie wenig. Als es daher im Rat zu einer Abstimmung kam, die ohnehin für die Legislative nur eine Empfehlung sein konnte, stimmte nur Zeyk mit Nadia. Das war Jackies bisher größter Sieg, der sie in eine zeitweilige Allianz mit Irishka und dem Rest der Umweltgerichtshöfe versetzte, die prinzipiell gegen alle Formen einer raschen Entwicklung waren.

Nadia kam an diesem Tag entmutigt und bekümmert in ihr Apartment zurück. »Wir haben der Erde versprochen, eine Menge Einwanderer aufzunehmen, und dann die Zugbrücke hochgezogen. Das wird zu Unannehmlichkeiten führen.«

Art nickte. »Wir werden etwas ausarbeiten müssen.«

Nadia stieß enttäuscht einen tiefen Seufzer aus. »Arbeit. Wir werden nichts ausarbeiten. Arbeit ist nicht das richtige Wort dafür. Wir werden feilschen und hadern und streiten und meckern. Ich werde immer weitermachen. Ich dachte, daß Mrgal zurück ist, würde helfen; aber das nützt nichts, wenn er nicht mitmacht.«

»Er hat keine Position inne«, gab Art zu bedenken.

»Die könnte er aber haben, wenn er wollte.«

»Stimmt.«

Nadia dachte darüber nach. Ihre Gedanken wanderten, während ihre Stimmung sank.

»Du weißt, ich habe erst zehn Monate von meiner Amtszeit hinter mir. Es stehen mir noch zweieinhalb m-Jahre bevor.«

»Ich weiß.«

»m-Jahre sind so verdammt lang.«

»Ja. Aber die Monate sind kurz.«

Sie fauchte ihn an und blickte aus dem Fenster ihres Apartments in die Caldera von Pavonis hinunter. »Die Schwierigkeit ist, daß Arbeit keine Arbeit mehr ist. Du weißt, wir gehen von hier hinaus und beteiligen uns an diesen Projekten, und die Arbeit daran ist noch keine Arbeit. Ich meine, ich komme nie dazu, Dinge zu tun. Ich erinnere mich, in Sibirien, als ich jung war, da war Arbeit noch wirkliche Arbeit.«

»Vielleicht siehst du das etwas romantisch.«

»Nun ja, sicher. Aber auch auf dem Mars. Ich entsinne mich, wie ich Underhill zusammengesetzt habe. Das hat wirklich Spaß gemacht. Und eines Tages auf unserem Ausflug zum Nordpol, um eine Permafrostgalerie zu installieren...« Sie seufzte. »Was würde ich nicht für eine solche Arbeit geben!«

»Es sind immer noch viele Bauarbeiten im Gange«, erklärte Art.

»Durch Roboter.«

»Vielleicht könntest du dich wieder etwas mehr Menschlichem zuwenden. Baue selbst etwas. Ein Haus auf dem Land oder ein Erschließungsprojekt. Oder eine der neuen Hafenstädte, von Hand errichtet, um verschiedene Designs, Bauverfahren oder was auch immer auszuprobieren. Das würde den Bauvorgang verlangsamen. Dafür würde der Globale Exekutivrat aufkommen.«

»Vielleicht. Du meinst, nach Ende meiner Amtszeit.«

»Oder sogar davor. Bei Pausen, oder wenn du auf Reisen bist. Die sind alle so etwas Ähnliches wie Konstruktionen gewesen, wenn auch nicht gerade Bauten. Das Erbauen realer Dinge. Das mußt du versuchen und dann zurückkehren und zwischen den beiden pendeln.«

»Interessenkonflikt.«

»Nicht, wenn es ein offizielles Projekt ist. Wie wäre es mit dem Vorschlag, eine globale Hauptstadt unten auf Meeresniveau zu bauen?«

»Hmm«, machte Nadia. Sie holte eine Karte heraus, und sie brüteten darüber. Auf der Linie der Länge Null krümmte sich die Südküste des Nordmeeres zu einer kleinen runden Halbinsel mit einer Kraterbucht im Zentrum. Sie lag etwa auf halber Strecke zwischen Tharsis und Elysium. »Wir müssen hinfahren und es uns ansehen.«

»Ja. Hier, komm ins Bett! Wir können später darüber sprechen. Ich habe jetzt eine ganz andere Idee.«