Das alte Hochland von Tempe Terra war mit einer Anzahl kleiner Vulkane besetzt. Darum gab es überall Lavaflächen und Kanäle, sowie heimtückische Rutschstellen infolge des Grundeises und den gelegentlichen kleinen Abflußkänalen, in denen an der Großen Böschung Wasser heruntergeströmt war. All dies zusammen mit der üblichen Sammlung vorzeitlicher Aufprall- und Verformungsrelikte war so vielfältig, daß auf areologischen Karten Tempe wie die Palette eines Malers aussah, auf der überall Farben hingeklatscht waren, um die verschiedenen Aspekte der langen Geschichte der Region anzuzeigen. Nach Anns Meinung zu viele Farben; denn für sie waren die kleinsten Einteilungen in unterschiedliche areologische Einheiten künstlich - Reste der Himmelsareologie, die zwischen Gebieten, die bekraterter, zerklüfteter oder zerfressener waren als der Rest, zu unterscheiden suchten, während doch alles eins war, mit den bezeichnenden Merkmalen, die überall sichtbar waren. Es war einfach eine rohe Landschaft, die Welt der Vorzeit und keineswegs rauher.

Sogar die Böden der langen geraden Canyons, genannt Tempe Fossae, waren zu zerklüftet, als daß man darüber hätte fahren können. Darum nahm Ann einen indirekten höhergelegenen Weg. Die jüngsten Lavaströme (eine Milliarde Jahre alt) waren härter als die zerfallenen Auswurfreste, über die sie geflossen waren, und standen jetzt als lange Deiche oder Bermen auf dem Land. Auf den weicheren Stellen dazwischen gab es eine Menge von Ergußkratern, deren Moränen deutlich die Reste einer flüssigen Strömung zeigten, wie Tropfburgen am Strand. Gelegentliche Inseln aus abgewetztem Muttergestein ragten aus all diesem Schutt hervor; aber im großen und ganzen war es Regolith, der überall Spuren von Wasser und von Permafrost unter der Oberfläche erkennen ließ, der langsames Einsinken und Rutschen bewirkte. Und jetzt bei zunehmenden Temperaturen und vielleicht auch infolge der aus den unterirdischen Explosionen in Vastitas dringenden Wärme hatten sich alle diese Gleitvorgänge beschleunigt. Es gab lediglich ein paar neue Erdrutsche. Ein wohlbekannter roter Weg war weggefegt worden, als sich eine Rampe in Tempe 12 eingegraben hatte. Die Wände von Tempe 18 waren auf beiden Seiten eingestürzt, wodurch aus einem U-förmigen Canyon ein V-förmiger geworden war. Tempe 21 war verschwunden und durch den Zusammenbruch seiner hohen Westwand verschüttet. Überall war das Land im Schmelzen begriffen. Ann sah sogar einige Taliks, aufgetaute Gebiete über dem Permafrost, die im Grunde nichts anderes als eisige Sümpfe waren. Und viele der ovalen Gruben der großen Alas-Depressionen waren mit Teichen gefüllt, die bei Tag schmolzen und bei Nacht gefroren, wodurch das Land noch schneller zerrissen wurde.

Sie passierte die lappige Moräne des Timoschenko- Kraters, dessen Nordflanke unter den südlichsten Lavawellen des Vulkans Coriolanus begraben war, des größten der vielen kleinen Vulkane in Tempe. Hier war das Land sehr zernarbt; und es war Schnee gefallen, der dann geschmolzen und in unzähligen kleinen Sammelbecken wieder gefroren war. Das Land brach mit allen charakteristischen Merkmalen von Permafrost ein: Polygonale Kiesgrate, konzentrische Kraterfüllung, Pingos, Spalten oder Hügel durch Solifluction. In jeder Senke ein von Eis bedeckter Teich oder Pfuhl. Das Land schmolz.

Aber an den sonnigen Südhängen wuchsen, wo immer etwas Schutz vor dem Wind war, Bäume über Moos, Gras und Gestrüpp. In den von der Sonne beschienenen Löchern gab es über verfilzten Nadeln gebogenes Krummholz. In den schattigen Löchern war schmutziger Schnee und Firn. Der totale Ruin von so viel Land. Zerbrochenes Land, leer und doch nicht. Fels, Eis und morastige Wiesen, und alles umrahmt von verfallenen niedrigen Bodenwellen. In der Hitze des Nachmittags blähten sich jähe Wolken; und deren Schatten bildeten ein weiteres Fleckenmuster, eine verrückte schwarzrote und grünweiße Steppdecke. Auf Tempe Terra würde sich niemand über Gleichförmigkeit beklagen können. Das alles lag vollkommen still unter den rasch dahinziehenden Wolkenschatten. Und trotzdem war da eines Abends in der Dämmerung eine weiße Masse, die hinter einen Felsblock schlüpfte. Anns Herz klopfte, aber es war nichts weiter zu sehen.

Aber sie hatte etwas gesehen; denn kurz bevor die volle Dunkelheit das Land bedeckte, klopfte etwas an die Tür. Ihr Herz bebte wie der Rover auf seinen Stoßdämpfern. Sie lief zu einem Fenster und schaute hinaus. Gestalten von der Farbe der Steine, winkende Hände. Menschliche Wesen.

Es war eine kleine Gruppe Roter Guerilleros. Sie hatten ihren Rover auf Grund der im Tempe-Stützpunkt gegebenen Beschreibung erkannt, sagten sie, nachdem Ann sie hereingelassen hatte. Sie hatten gehofft, sie zu finden, und waren hoch erfreut darüber. Sie lachten, schwatzten und gingen in der Kabine umher, kamen zu ihr, um sie zu berühren. Junge hochgewachsene Eingeborene mit Eckzähnen aus Stein und strahlenden jungen Augen. Manche waren Orientalen, manche weiß, manche schwarz. Alle glücklich. Sie erinnerte sich von Pavonis Mons an sie, nicht individuell, sondern als Gruppe. Die jungen Fanatiker. Wieder empfand sie ein Schaudern.

»Wohin geht ihr?« fragte sie.

Eine junge Frau antwortete: «Nach Botany Bay. Wir werden die Whitebook-Labors beseitigen.«

»Und Boone Station«, fügte ein anderer hinzu.

»O nein!« sagte Ann.

Sie verstummten und sahen einander vorsichtig an. Wie Kasei und Dao in Lastflow.

»Was meinst du?« fragte die junge Frau.

Ann holte Luft und versuchte, das zu erläutern. Sie beobachteten sie scharf.

»Seid ihr in Sheffield gewesen?« fragte sie.

Sie nickten. Sie wußten, was sie meinte.

»Dann solltet ihr wissen, daß es unmöglich ist, einen roten Mars ohne Blutvergießen auf dem ganzen Planeten zu schaffen«, sagte sie nachdrücklich. »Wir müssen einen anderen Weg finden. Wir können das nicht machen, indem wir Menschen töten. Nicht einmal, wenn wir nur Tiere oder, Pflanzen umbringen oder Maschinen in die Luft jagen. Das würde nicht funktionieren. Es ist destruktiv. Es spricht die Leute nicht an, versteht ihr? Damit gewinnt man niemanden. Sie sind abgestoßen davon. Je mehr gewaltvolle Aktionen wir ausführen, desto grüner werden sie. Damit schaden wir unserer Sache. Versteht ihr? Wir tun es nicht für irgend etwas Beliebiges, sondern für unsere eigenen Gefühle. Denn wir sind wütend. Oder weil es aufregend ist. Wir müssen einen anderen Weg finden.«

Sie starrten sie an - verständnislos, mißmutig, schockiert.

Ann fuhr fort: »Ich weiß nicht sicher, welches der andere Weg ist. Ich kann euch das nicht sagen. Ich denke... wir müssen versuchen weiterzumachen. Es muß so etwas wie eine rote Areophanie werden. Die Areophanie wurde immer als eine Sache der Grünen verstanden, von Anfang an. Ich nehme an, wegen Hiroko, weil sie an der Definition maßgeblich beteiligt war. Und sie ins Leben gerufen hat. Damit war Areophanie immer mit Viriditas vermischt. Aber es gibt keinen Grund, warum das so sein muß. Wir müssen das ändern, sonst bringen wie nie etwas zustande. Es muß eine Art Ehrfurcht vor dieser roten Welt entstehen, damit die Menschen lernen, es zu fühlen. Das Rot des jungfräulichen Planeten muß eine Gegenkraft für die Viriditas werden. Wir müssen dieses Grün beschmieren, bis es eine andere Farbe annimmt. Eine Farbe, wie ihr sie in gewissen Steinen seht, in Jaspis oder Serpentin. Ihr wißt, was ich meine. Es bedeutet, daß man vielleicht Leute hinaus und ins Hochland schafft, damit sie sehen können, um was es überhaupt geht. Es bedeutet, daß man sich überallhin bewegen kann und Besitz- und Betreuungsrechte einführt, damit wir für dieses Land sprechen können. Und sie werden zuhören müssen. Rechte für Wanderer, Areologen und Nomaden. Das könnte Areoformierung bedeuten. Versteht ihr?«

Sie hielt inne. Die jungen Eingeborenen waren noch aufmerksam. Sie sahen jetzt besorgt um sie aus oder besorgt wegen dem, was sie gesagt hatte.

Ein junger Mann sagte: »Wir haben diese Diskussion schon oft geführt. Und es gibt Leute, die machen das so. Manchmal tun auch wir es. Aber wir halten den aktiven Widerstand für einen notwendigen Teil des Kampfes. Wir werden sonst einfach plattgewalzt. Die werden alles grün machen.«

»Nicht, wenn es uns gelingt, die Grüne Sache zu diskreditieren. Direkt von innen her und auch von ihren Herzen aus. Aber Sabotage und Mord - aus all dem entspringt Grün. Glaubt mir, ich habe das gesehen. Ich kämpfe schon so lange wie ihr und habe es erlebt. Wenn ihr versucht, das Leben zu schädigen, kommt es nur stärker zurück.«

Der junge Mann war nicht überzeugt. »Sie haben uns das Sechs-Kilometer-Limit gegeben, weil sie Angst vor uns hatten, da wir die treibende Kraft hinter der Revolution waren. Hätten wir nicht gekämpft, so würden die Metanats hier immer noch alles beherrschen.«

»Das war ein anderer Gegner. Als wir gegen die Terraner gekämpft haben, waren die Grünen des Mars beeindruckt. Wenn wir aber gegen die Grünen des Mars kämpfen, sind sie nicht beeindruckt, sondern wütend. Und die Grünen gewinnen mehr Macht denn je.«

Die Gruppe saß schweigend da, in Gedanken versunken, vielleicht entmutigt.

»Aber was sollen wir tun?« fragte eine grauhaarige Frau.

»Geht zu einem Land, das gefährdet ist«, schlug Ann vor. Sie zeigte aus dem Fenster. »Gerade hier wäre nicht schlecht. Oder irgendwo nahe der Sechskilometergrenze. Siedelt euch an, gründet eine Stadt, macht sie zu einer erstklassigen Zufluchtsstätte und zu einem schönen Ort! Wir werden wieder vom Hochland herunterkriechen.«

Sie erwogen das in trüber Stimmung.

»Oder geht in die Städte und bildet eine Gruppe, die Tours anbietet, und einen legalen Fonds! Zeigt den Leuten das Land! Setzt jede Änderung durch, die sie vorschlagen!«

»Mist!« sagte der junge Mann kopfschüttelnd. »Das klingt fürchterlich.«

»Allerdings«, sagte Ann. »Es gibt viel zu tun, das nicht angenehm ist. Aber wir müssen auch diese Leute von innen her anpacken. Und das funktioniert nur dort, wo sie leben.«

Lange Gesichter. Sie saßen herum und diskutierten weiter. Über ihre jetzige Lebensweise und wie sie zu leben wünschten. Was sie tun könnten, um von dem einen zum anderen überzugehen. Die Unmöglichkeit des Guerillalebens nach dem Ende des Krieges. Und so weiter. Es gab viele tiefe Seufzer, einige Tränen, Beschuldigungen und Ermutigungen.

»Kommt morgen mit mir«, schlug Ann vor, »und werft einen direkten Blick auf dieses Eismeer!«

Am nächsten Tag fuhr die Guerillagruppe mit ihr auf dem sechzigsten Längengrad nach Süden, einen schwierigen Kilometer nach dem anderen. Die Araber nannten dieses leere Land Khala. Auf der einen Seite war es schön. Eine vorzeitliche Einöde von Steingebilden, die ihre Herzen erfüllte. Dennoch waren die Guerilleros still und bedrückt, wie auf einer Pilgerreise mit Ungewissem Begräbnischarakter. Sie kamen zu dem großen Canyon namens Nilokeras Scopulus und fuhren über eine breite natürliche Rampe hinein. Im Osten lag Chryse Planitia, eisbedeckt, ein weiterer Arm des Nordmeeres. Dem waren sie nicht entkommen. Vor ihnen im Süden lagen die Nilokeras Fossae, das Ende eines Canyonkomplexes, der im Süden, in der enormen Senke von Hebes Plasma, seinen Ursprung hatte. Hebes Plasma hatte keinen Ausgang, aber man nahm an, daß der Canyon durch den Ausbruch des Wasserreservoirs auf der Höhe von Echus Chasma entstanden war. Eine sehr große Wassermenge war von Echus gegen die harte Westseite von Lunae Planum heruntergebrochen und hatte die hohe steile Klippe bei Echus Overlook unterhöhlt. Dann war die riesige Klippe in den Canyon gestürzt; und das Wasser war hinab- und hindurchgerauscht und hatte dabei die große Biegung von Kasei Vallis zerrissen und einen tiefen Kanal zu den Tiefländern von Chryse gegraben. Das war einer der größten Wasserreservoirausbrüche in der Geschichte des Mars gewesen.

Jetzt war das nördliche Meer nach Chryse zurückgeströmt; und es ergoß sich wieder Wasser in das untere Ende von Nilokeras und Kasei. Der Berg mit dem flachen Gipfel, der Sharanow-Krater, stand wie ein gigantisches Schloß auf dem hohen Vorgebirge über der Mündung dieses neuen Fjords. Draußen, mitten im Fjordwasser, lag eine lange, schmale Insel, eine der geschweiften Inseln der alten Flut, die jetzt wieder zur Insel geworden hartnäckig rot in dem Meer aus weißem Eis lag. Dieser Fjord würde schließlich einen noch besseren Hafen abgeben als die Botany Bay. Er hatte steile Wände, aber hier und da gab es Terrassen, die zu Hafenstädten werden könnten. Man würde sich natürlich wegen des Westwindes, der von Kasei wie durch einen Trichter hereinströmte, genau wie über katabatische Angriffe, die die Schiffe im Chryse-Golf draußen festhielten, Gedanken machen müssen...

Sehr merkwürdig. Ann brachte die Gruppe schweigender Roter zu einer Rampe, und leitete sie hinunter auf eine breite Bank westlich des Eisfjords. Inzwischen war es Abend; sie verließen die Rover, und sie führte sie zu einem Spaziergang bei Sonnenuntergang hinaus ins Freie.

Genau im Moment des Sonnenuntergangs standen sie in einem dichten mürrischen Haufen vor einem einzelnen Eisblock von etwa vier Metern Höhe. Dessen geschmolzene Einbuchtungen waren so glatt wie Muskeln. Sie standen so, daß die Sonne hinter dem Eisblock stand und durch ihn hindurchschien. Zu beiden Seiten des Blocks wurde das Licht von dem glasigen feuchten Sand zurückgeworfen. Eine Mahnung aus Licht. Unbestreitbar und blendend real. Was sollten sie damit machen? Sie standen unbewegt und schauten schweigend hin.

Als die Sonne über dem schwarzen Horizont verschwand, entfernte sich Ann von der Gruppe und ging allein zu ihrem Rover hinüber. Sie schaute zurück auf den Abhang. Die Roten waren noch bei dem Eisberg am Strand. Er wirkte zwischen ihnen wie ein weißer Gott, orange getönt wie das runzlige Eisfeld der Bucht. Weißer Gott, Bär, Bucht, ein Dolmen aus Mars-Eis. Der Ozean würde für immer mit ihnen sein, so real wie dieser Fels.