Die Krieger hatten Wills Ratschlag befolgt und sich mit der Strömung treiben lassen. Die Ufer zu beiden Seiten rauschten als verschwommene grüne Streifen vorbei und schnell wurden die fünf flussabwärts von dem Turm weggetragen.

»AchduliebesGrasachduliebesGrasachmeinearmenarmenHufe …«, hatte Jasmine aufgeheult, als sie durch eine Reihe kleiner, seichter Stromschnellen gerissen wurde und ihre zierlichen Hufe über die Felsen unter Wasser schrammten.

Wenig später verengte sich der Fluss und wurde noch reißender.

»Vergesst die Strömung«, hatte Oxo gegurgelt bei dem Versuch, zu reden, ohne Wasser ins Maul zu bekommen. »Schwimmt!« Er drehte sich und paddelte, so kräftig er konnte.

Am näher gelegenen Flussufer hatte er eine kleine Bucht ausgemacht, in der sich das Wasser langsamer bewegte. Außerdem hatte er bemerkt, dass Will und Jasmine fast am Ende ihrer Kräfte waren. Er strampelte noch angestrengter, bis er plötzlich spürte, wie er seitlich aus der Strömung in das seichte Wasser der kleinen Bucht getragen wurde. Sally folgte, dann Linx. Aber Will und Jasmine waren zu klein und schwach, um die Strömung zu passieren. Sie wurden an der kleinen Bucht vorübergeschwemmt und trieben schon auf die nächsten Stromschnellen zu.

»Hört nicht auf zu paddeln!«, schrie Oxo ihnen zu. Dann warf er sich zurück in den reißenden Fluss und kämpfte sich zu den beiden strampelnden Lämmern durch die Fluten. Er öffnete das Maul und packte Will am Nacken, so wie eine Katzenmutter ihr Junges. »’ab disch«, stieß er grunzend hervor.

Jasmine hielt sich mit den Zähnen an Oxos Schwanz fest und er machte kehrt und paddelte zu der Bucht zurück. Oxo war zwar stark, doch wenn Linx ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre, hätte er es nicht geschafft. Gemeinsam schubsten und zerrten sie die beiden erschöpften Lämmer aus dem Sog der Strömung und kletterten schließlich alle taumelnd in der kleinen Bucht ans Ufer.

»Hierher, meine Lieben«, rief ihnen Sally vom oberen Ende einer kurzen Betonböschung zu. »Ich glaube, wir können alle eine ordentliche Verschnaufpause brauchen.«

Die Rampe war eine Gleitbahn vor einem Bootshaus aus Holz. Ein paar Schlauchboote, die man aus dem Wasser gezogen hatte, lagen am Rand der Rampe an Metallringen festgebunden. Vor dem Bootshaus stand ein Gestell mit ordentlich gestapelten Kajaks, daneben eines mit Paddeln. Die Tür war abgeschlossen. Es war schon spät und die Menschen, die hier arbeiteten, hatten Feierabend gemacht. Nur ein einzelner junger Mann am gegenüberliegenden Ufer sah die tropfnasse Schafherde aus dem Wasser klettern. Er stieß einen Freudenschrei aus, machte auf dem Absatz kehrt und rannte den ganzen Weg zurück zum Bungee-Turm, um die gute Nachricht zu verkünden.

Bei den Kriegern hatte Oxos Nase das Kommando übernommen und führte sie hinter das Gebäude, wo sie eine Wiese fanden.

»Von diesem ganzen Mit-dem-Strom-Schwimmen bekommt man Hunger«, stellte Oxo fest und rupfte ein Maulvoll Gras.

Sally ließ sich mit einem schwerfälligen Plumps nieder. »Schon möglich, mein Junge«, sagte sie. »Aber meine Mägen wissen gerade nicht, wo oben und unten ist. Ich sitze hier erst mal und denke nach.«

Jasmine und Will sanken neben Sally ins Gras. Ihre Flanken bebten immer noch heftig. Das Fell klebte an ihren kleinen Körpern.

»Mann, Will, du bist echt mager«, erklärte Linx.

Will antwortete nicht. Er war schon fest eingeschlafen. Erschöpft.

Jasmine hatte ebenfalls die Augen geschlossen.

Die älteren Schafe kauten noch eine Weile schmatzend vor sich hin. Doch es dauerte nicht lange, da begannen sie ebenfalls zu dösen und von Ställen und zu Hause zu träumen … und von Jungfern in Nöten.

Auch in Australien rückte die Schlafenszeit näher. Trotzdem waren Todd und Ida hellwach. Sie dachten an ihre kleine Herde seltener Rasseschafe. Ja, sie machten sich zunehmend Sorgen um ihre Tiere.

»Ist es noch zu früh, um mit Tante Rose zu skypen?«, überlegte Todd und warf einen Blick auf die Wanduhr in Onkel Franks Küche.

»Also wenn hier in Australien Abendessenszeit ist, dann ist Frühstückszeit in England«, sagte Ida. »Und nein: Das ist nicht zu früh.« Sie nippte an ihrem Kakao. »Warum trinke ich das eigentlich, Todd? Es ist viel zu warm für Kakao.«

»Weil es gut für dich ist, Oma«, erwiderte Todd. »Du brauchst Milch, damit du groß und stark wirst. Hier, nimm eine Kugel Eis, um ihn abzukühlen.«

Er versenkte einen Löffel Eiscreme im Kakaobecher seiner Oma. »Können wir uns bitte noch mal deinen Laptop leihen, Onkel Frank?«, bat er dann.

Frank schob den geöffneten Laptop über den Tisch. »Ich bin euch einen Schritt voraus. Die Verbindung zu Rose steht schon. Sie ist taufrisch wie ein Löwenzahn.«

Rose fühlte sich überhaupt nicht taufrisch wie ein Löwenzahn oder wie ein Gänseblümchen oder wie irgendeine andere Blume. Sie fühlte sich ganz und gar nicht frisch. Seit Nächten hatte sie nicht mehr gut geschlafen, genauer gesagt, seit Idas Schafe spurlos von ihrer Weide am Meer verschwunden waren.

Gut, die Sorge, dass sie ins Hafenbecken gefallen sein könnten, hatte sie mittlerweile nicht mehr. Denn wenn sie ertrunken wären, hätte man sie längst finden müssen. Aber das war nur ein schwacher Trost. Wo steckten die Schafe?

Besonders schwer fiel es Rose, dass sie Ausreden für Ida und Todd erfinden musste, wenn sie anriefen. Und wenn wie jetzt gerade die Webcam eingeschaltet war, wurde das noch schwieriger, weil die beiden sie während des Gesprächs sehen konnten.

»Hallo, Todd! Hallo, Frank! Hallo, Ida!«, brüllte sie, sobald die drei auf dem Bildschirm erschienen. Das Mikrofon fing ihre Stimme ein und Tausende von Kilometern entfernt in Australien dröhnten ihre Worte aus dem Lautsprecher des Laptops, der bei ihrem Bruder Frank in der Küche stand.

»Hallo, Rose!«, schrie Ida. »Wie geht es dir?«

»Gut! Mir geht es gut!« Roses gellende Stimme brachte die Wanduhr in Franks Küche zum Wackeln.

»Diese technischen Spielereien sind erstaunlich, was?«, sagte Frank.

»Fantastisch«, pflichtete Todd ihm bei. »Und ohrenbetäubend.«

»Wie geht es unseren Schafen?«, brüllte Ida. »Können wir sie heute endlich sehen?«

»Ja«, schwindelte Rose. »Ich bringe gleich den Laptop nach draußen auf die Weide.« Und vorsichtig trug sie das Gerät hinaus und stellte es so auf, dass die Webcam auf den Zaun zeigte. »Da sind wir. Seht ihr sie?«

Ida und Todd starrten erwartungsvoll auf den Bildschirm.

»Kannst du bitte die Kamera ein bisschen bewegen, Tante Rose«, sagte Todd. »Wir sehen nur Gras.«

»Ein Glück«, murmelte Rose leise. Sie verrückte den Laptop ein klein bisschen. »Ist es jetzt besser?«

Todd und Ida blickten wieder auf den Bildschirm. In der Ferne am Zaun konnten sie ein paar weißlich-braune Flecken ausmachen.

»Kannst du nicht ein bisschen näher rangehen, Rose?«, bat Ida. »Wir erkennen sie nur undeutlich.«

»Nein!«, wehrte Rose ab. »Sie bleiben nicht ruhig stehen, wenn ich ihnen zu nahe komme.« Sie wartete noch einige Sekunden, dann rief sie: »Das war’s. Ich gehe jetzt wieder ins Haus. Mir wird kalt. Hier hat es keine dreißig Grad, wisst ihr. Aber wir sprechen uns bald wieder. Auf Wiederhören!« Und der Laptop klappte zu.

»Na gut«, seufzte Ida, als der Bildschirm vor ihr schwarz wurde.

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Todd … findest du nicht, dass die Schafe ein wenig … merkwürdig aussahen?«

Todd schüttelte den Kopf. »Nein, Oma.«

»Nein?«

»Nein. Sie sahen überhaupt nicht aus wie Schafe.«

Im frostigen Herbstwind von Murkton-on-Sea auf der anderen Seite der Erdkugel hastete Rose zum Weidezaun. Sie bückte sich und machte sich daran, die Schafe von den Drähten zu lösen. Das heißt die fünf ausgeschnittenen Papierschafe, die sie mit Filzstift und Strickwolle dekoriert hatte.

Rose stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie wollte Ida und Todd die Ferien nicht verderben. Aber war es richtig, ihnen die Wahrheit zu verschweigen?

»Zum Glück hat es nicht geregnet«, sagte sie zu den Papierschafen. »Lange halte ich diese Komödie allerdings nicht mehr durch. Ich muss ihnen die Wahrheit sagen.«

Die Schafgäääng: Lamm über Bord!
titlepage.xhtml
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_000.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_001.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_002.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_003.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_004.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_005.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_006.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_007.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_008.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_009.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_010.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_011.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_012.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_013.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_014.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_015.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_016.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_017.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_018.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_019.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_020.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_021.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_022.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_023.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_024.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_025.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_026.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_027.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_028.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_029.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_030.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_031.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_032.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_033.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_034.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_035.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_036.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_037.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_038.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_039.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_040.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_041.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_042.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_043.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_044.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_045.html
CR!91RG7Y4TE12XKF777HKTDE82C8QN_split_046.html