Bis Alice an Land gehen konnte, dauerte es noch eine ganze Weile. Zunächst einmal bekam sie es mit dem Kapitän des Fischerboots zu tun, einem sehr zornigen Mann, der sich mit ihr einen ziemlich unhöflichen Wortwechsel lieferte. Dann musste Alice sich von ihrem eigenen Skipper anhören, dass die Schiffsschrauben der Schicksal schwer beschädigt seien und sich das Boot nicht von der Stelle bewegen lasse, egal wie energisch sie das auch befahl. Zu guter Letzt bezirzte Alice mit ihrem reizendsten Lächeln den Besitzer eines Dingis, das gerade vorbeischipperte, und er brachte sie mitsamt Gepäck und Dalia zum Kai.

Endlich hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Alice machte sich sogleich daran, ihr Make-up aufzufrischen, während Dalia einige Telefonate für sie erledigte. Schließlich ließen sie sich auf einer Bank nieder, von der aus man den Hafen überblickte. Dalia vergoss schniefend weitere Tränen beim Anblick der glatten Wasserfläche, unter der sie die armen ertrunkenen Schafe vermutete. Alice streifte mit einem flüchtigen Blick die Schlepper, die aufs Meer hinaustuckerten, um die Schicksal zur Reparatur in ein Dock zu bringen. Dann erkundigte sie sich: »Und, was hat die Versicherung gesagt?«

»Ich fürchte, es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sie die Kosten für den Schaden übernimmt«, berichtete Dalia.

»Warum das?«

»Irgendwas von wegen der Schaden sei ein Fall von ›höherer Schafsgewalt‹.«

Alice knirschte mit den Zähnen, ließ das Thema jedoch fallen. »Na schön, hol den Laptop raus, Schätzchen«, forderte sie barsch. »Machen wir uns daran, meinen Erbschaftsanspruch durchzusetzen. Was muss ich als Erstes tun?«

Dalia öffnete Alices Posteingang auf dem Laptop. Eine E-Mail von Joseph Grusich, Rechtsberater, war eingetroffen. Sie las laut vor: »Für Ihre erste Prüfung fahren Sie nach Rotapangi, wo Sie …«, Dalia schnappte nach Luft, »einen Bungee-Sprung absolvieren werden!« Sie starrte Alice mit großen Augen an, dann las sie weiter: »Ich benötige ein Foto als Beweis, dass Sie die Aufgabe tatsächlich erfüllt haben. Das Gleiche gilt für die übrigen Prüfungen. Viel Glück.«

»Viel Glück!«, quiekte Alice. »Es braucht mehr als Glück für einen Bungee-Sprung.«

»Völlig richtig!«, ertönte eine Stimme über ihren Köpfen. »Man braucht nämlich ein gutes, kräftiges Gummiseil.«

Alice hob langsam den Kopf und ihr Blick wanderte von einem Paar staubiger Stiefel über kräftige sonnengebräunte Beine, leicht abgerissene Shorts und ein verwaschenes Buschhemd bis zu dem fröhlichen Gesicht der jungen Frau, die auf sie hinunterblickte und jetzt breit lächelte.

»Tag. Ich bin Shelly. Und du musst Alice sein. Du hast mich angeheuert.« Sie streckte die Hand aus. »Habe gesehen, dass ihr gerade angekommen seid.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Erstklassige Vorstellung!«

Alice schenkte der jungen Frau ein Lächeln, das kein Lächeln war, und schüttelte ihre Hand durchaus nicht. »Für meine Angestellten bin ich Miss Barton«, stellte sie richtig.

»Alles klar, Alice«, erwiderte Shelly, »was auch immer.«

Alice wandte sich wieder an Dalia. »Das ist tatsächlich die Beste, die du finden konntest, Schätzchen, hm?«

»Ähm, ja, Miss Barton, ich meine … sie beherrscht alle möglichen Sportarten und Sachen und kennt sich mit Erster Hilfe aus, außerdem kann sie kochen und fahren und …«

»Und ich kenne Neuseeland und Australien wie meine Rucksacktasche«, beendete Shelly den Satz. »Ich begleite seit Jahren Gruppen auf Abenteuertrips. Und ich hab natürlich meinen eigenen fahrbaren Untersatz.«

Alice musterte Shelly erneut von oben bis unten. Sie musste das Beste aus der ganzen Sache machen. Schließlich riss sie sich zusammen und stand auf. »Na schön. Bring mich nach Rotapangi. Dalia, kümmere dich um unsere Sachen.«

Shelly blickte von Alice zu Dalia und dann auf den Berg an Gepäck. Sie griff nach den beiden schwersten Koffern, als wären sie federleicht, und marschierte los. »So gefällt mir das«, rief sie. »Reisen mit leichtem Gepäck!«

Dalia eilte mit dem Laptop und den übrigen Taschen hinter ihr her.

Die Krieger verspürten nach ihren ersten Surfversuchen das dringende Bedürfnis nach einem Imbiss. Sie trotteten vom Strand in Richtung Hafen, entdeckten eine ruhig gelegene Grasfläche neben einem Parkplatz und gruben ihre Schnauzen in das Grünzeug.

»Schmackhaft …«, nuschelte Oxo, während er gierig an dem Gras rupfte. »Mit einem Salzgeschmack wie in Murkton-on-Sea.«

»Und das Klagen und Seufzen und Poch-Poch-Pochen ist übrigens auch dasselbe«, bemerkte Jasmine. Sie war sich nach wie vor nicht sicher, ob sie das schönste Schaf im ganzen Land treffen wollte. Doch bei allen Kriegern kehrte die Abenteuerlust zurück, als sie ihre Mägen gefüllt hatten und ihr Fell in der Sonne trocknete.

Linx hob den Kopf und fing an zu wippen:

»Miss Tuftella, keine Bange, zumindest nicht mehr lange,
Wir sind schon auf dem Weg, also bleib bei der Stange!
Wir sind Surfer-Schafe, unser Ziel fest im Sinn,
Ein untrüglicher Instinkt führt uns zu dir hin!
Nach Down Under haben wir’s schon mal geschafft!
Und jetzt kommt’s, Kleine – gib gut acht:
Die Feedingsda ist von nun an unser Leitstern!
Also, Tuftella, wir sind nicht mehr fern.
Mit vereinten Kräften setzen wir an zum Sturm
Und holen dich raus aus dem finst’ren Turm!«

Der restliche Trupp stimmte ein:

»Ja, wir holen dich raus aus dem finst’ren Turm!«

Oxo brach abrupt mitten im Refrain ab und rief: »Hey, Leute! Ist sie das nicht, da drüben? Unsere Feedingsda?«

Die anderen blickten auf und sahen Alice Barton, die über den Parkplatz eilte, bemüht, mit einer Frau Schritt zu halten, die in jeder Hand einen riesigen Koffer trug. Das Mädchen Dalia hastete hinter den beiden her. Sie war beladen mit Taschen, die ihr immer wieder herunterfielen, sodass sie anhalten musste, um sie aufzuheben. Die fremde Frau ließ die großen Koffer neben einem verbeulten Geländewagen am anderen Ende des Parkplatzes auf den Boden plumpsen.

»Darf ich vorstellen: Das ist Trevor«, sagte Shelly. »Er wird uns in den nächsten Tagen zuverlässig überall hinbringen. Oder Wochen. Oder wie lange auch immer es dauert, bis du deine Angelegenheiten in Neuseeland erledigt hast.«

»Das soll ja wohl ein Scherz sein?« Alice starrte ungläubig das staubbedeckte Fahrzeug an.

»Sei nicht unhöflich zu Trevor«, erwiderte Shelly. »Wir haben schon viel miteinander durchgestanden.« Sie öffnete die Beifahrertür. »Steig ein und such dir aus, wo du sitzen willst. Wir haben jede Menge Platz. Normalerweise sind wir mit sechs Leuten unterwegs.«

Alice wandte sich an ihre Assistentin: »Kannst du denn gar nichts richtig machen? Warum hast du nicht überprüft, was für ein Fahrzeug sie hat?«

»Aber bei sämtlichen Veranstaltern von Abenteuertouren ist es das Gleiche«, verteidigte sich Dalia. »Sie haben alle solche Geländewagen.«

»Geländewagen sind nicht mein Stil, Schätzchen«, sagte Alice. »Ich fahre Sportwagen, schnittige, schnelle, teure Sportwagen.«

»Aber nicht im Outback. Im australischen Hinterland kommst du damit nicht weit«, widersprach Shelly. »Und in weiten Teilen von Neuseeland ebenso wenig. Und in Rotapangi schon gar nicht.« Sie ging zum Heck des Wagens. Er war dicht an einer niedrigen Mauer geparkt. Shelly sprang auf das Mäuerchen und von dort auf Trevors Dach, das mit einer Metallreling versehen war und mit Riemen, die normalerweise zum Festzurren von Rucksäcken dienten. »Reicht mir euer Gepäck hoch, ich binde es auf dem Dach fest«, rief sie.

Alice setzte sich mit Nachdruck auf ihren größten Koffer. »Was glauben Sie, was ich bin? Ein Backpacker?«, entgegnete sie. »Ich habe Kleidung dabei, die den Namen auch verdient. Teure Garderobe. Und Kosmetika. Mein mobiles Büro. Nichts davon wird auf dem Dach verstaut.«

Shelly zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Aber dann wird es ziemlich eng für euch im Wagen.«

Alice stand auf und deutete mit dem Kinn auf die offene Wagentür. »Dalia!«

»Jawohl, Miss Barton.« Die Assistentin hievte den schwersten Koffer auf den nächstbesten Sitz. Ihre Chefin starrte wütend zu Shelly nach oben, bis sämtliche Gepäckstücke im Auto verstaut waren. Dann schubste sie Dalia hinterher.

»Du kannst hinten sitzen«, sagte sie zu ihr. »Da soll es am meisten holpern, also übergib dich bitte nicht.« Sie stieg ebenfalls ein und knallte die Tür zu.

Die Schafe am anderen Ende des Parkplatzes gerieten in Panik.

»AchduliebesGrasachdumeineFeedingsda …«, heulte Jasmine auf. »Sie verschwindet mit all ihren Zaubermittelchen!«

»Ihr nach, ihr nach!«, schrie Sally. »Sie ist unser Leitstern. Wir dürfen ihr nicht von der Seite weichen. Ohne sie werden wir unser Ziel nicht erreichen!«

Mit Sally an der Spitze galoppierten die fünf über den Parkplatz.

Shelly sah sie nicht kommen, weil sie sich gerade umgedreht hatte, um vom Wagendach zu springen. Sie quetschte sich hinter das Steuer. »Okay. Auf geht’s nach Rotapangi«, rief sie und drehte den Zündschlüssel um.

»Schnell, schnell!«, blökte Sally und ihr mächtiges Hinterteil schaukelte beim Rennen hin und her.

»Auf die Mauer!«, schrie Will und sprang. Dann rannte er auf dem Mäuerchen entlang, während neben ihm Trevor langsam anfuhr. Die übrigen Schafe, sogar Sally, schafften es, ihm zu folgen. Nur Oxo landete mit einem Hechtsprung auf der anderen Seite der Mauer und musste von dort ein zweites Mal hochspringen.

»Hoppla«, grummelte er, »ein bisschen zu viel Schwung.«

Er landete genau in dem Augenblick mit den Hufen auf der Mauer, als Will bereits mit einem Satz auf das Dach des Geländewagens hopste.

»Los, jetzt alle!«, rief Will. »Springt!«

Hoppeldi, hoppeldi, hoppeldi, hopp!

Trevor schwankte, als die vier Krieger Wills Befehl gehorchten und von dem Mäuerchen aus auf das Wagendach sprangen.

»Was für ein fabelhaftes Fahrzeug«, seufzte Alice im Wageninneren. »Sogar das Dach rumpelt.«

Shelly vermutete, dass nur die teuren Koffer hinten im Wagen umgefallen waren, und Dalia war schon so übel, dass sie gar nichts mehr wahrnahm.

Oben auf dem Dach verschnauften die Schafe.

»Sie hätte uns wenigstens das Mittagessen beenden lassen können«, beschwerte sich Oxo.

»Setzt euch hin und stemmt euch gegen die Metallstangen«, riet Will.

»AchduliebesGrasachmeinFellachundüberhaupt …«, schrie Jasmine, als Shelly das Gaspedal durchdrückte und Trevor in Richtung Highway peste. Das hübsche Jacobschaf kauerte sich hastig zusammen, um nicht vom Dach zu purzeln. Alle fünf Krieger drückten sich eng aneinander und bald schon genossen sie es, den Fahrtwind in ihrem Fell zu spüren.

Unter ihnen machte Alice es sich in ihrem Sitz bequem. »Dalia, such mir etwas ruhige Musik raus«, rief sie, ohne sich umzudrehen. »Ich muss mich entspannen. Das war ein traumatischer Tag.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Na, wenigstens bin ich diese räudigen Schafe los.«

Die Schafgäääng: Lamm über Bord!
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