»Wer zum Teufel sind die denn?«
»Schafe, Skipper«, antwortete ein Deckarbeiter.
Es handelte sich in der Tat um Schafe. Um fünf Schafe. Sie standen am Ende der Gangway und blinzelten die beiden Männer an.
»Wo kommen die her?«
Der Deckarbeiter zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich aus einem der Transporter. Ich frage mal bei den Fahrern nach, wenn sie von ihrer Kaffeepause zurück sind.«
Der Skipper warf einen gereizten Blick auf seine Armbanduhr. »Nein. Sieh nur zu, dass sie da wegkommen.«
»Was, wenn das ihre Haustiere sind?«, gab der Deckarbeiter hilfsbereit zu bedenken.
»Sie hat nie erwähnt, dass sie Schafe an Bord bringen will!«
»Sie hat auch nie erwähnt, dass sie ihren eigenen Koch mitbringt«, erwiderte der Deckarbeiter, »und jetzt steht er schon in der Kombüse und schneidet Mangos in Scheiben.«
»Ja, schon gut, schon gut.« Der Skipper machte eine schroffe Handbewegung.
Die Schafe sahen es und flitzten rasch über die Gangway an Bord.
»Bring sie in Laderaum eins unter!«, befahl der Skipper.
»Geht nicht. Da stehen schon ihre Fitnessgeräte. Ich könnte unter den Rettungsbooten einen Pferch für sie einrichten?«
»O.k.«, stimmte Ed, der Skipper, zu und seufzte. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass ihm die nächsten Wochen der ein oder andere Sturm bevorstand.
»Kapitän Ted, nehme ich an? Wie schön, Sie kennenzulernen.«
Die Schiffseignerin war eingetroffen, eine untersetzte, pummelige Frau in rosafarbener Hose und Seidentunika, die in eine Wolke teuren Parfüms gehüllt war. Ed atmete Duft im Wert von mehreren Hundert Pfund ein, als er sich umdrehte, um dem Perlweißlächeln, dem makellosen Teint und der gepflegten, pflaumenfarbenen Frisur von Alice Barton entgegenzutreten.
»Ähm, ich heiße Ed, Madam, nicht Ted –«
»Oh, Verzeihung.« Sie rümpfte ihre sorgfältig gepuderte Nase. »Ted, hier liegt etwas Irritierendes in der Luft. Schaffen Sie Abhilfe, ja?«
Der Skipper starrte sie an. Wenn sie damit den Gestank meinte, dann hatte sie recht. Er war irritierend. Sie hatte schließlich eine Herde Schafe an Bord bringen lassen. Er biss sich auf die Zunge und schwieg. Alice Barton rauschte an ihm vorbei und erst jetzt bemerkte Ed die dünne, blasse junge Frau hinter ihr, die gerade über die Gangway stolperte. Sie wurde nahezu von dem Gewicht eines riesigen Rucksacks mit der Aufschrift »Laptops und andere wichtige Dinge« erdrückt. »Wo soll ich das Büro einrichten, Miss Barton?«, keuchte sie.
»In meinem Zimmer, Liebes«, rief Alice ihr über die Schulter zu.
»Kabine«, verbesserte Ed sie und wünschte sogleich, er hätte es gelassen. Alice drehte sich um. Ihr strahlendes Lächeln war gefroren.
»Mein Zimmer, Ted«, sagte sie. »Auf meinem Boot. Verstehen wir uns?«
Ed nickte schulterzuckend. »Ich denke, wir fangen gerade an«, antwortete er.
Miss Bartons Lächeln wurde wieder lebendig. »Dann ist ja alles bestens. Beeil dich ein bisschen, Dalia, Schätzchen. Ich habe einige Anrufe zu erledigen.«
Dalia, Alice Bartons neue persönliche Assistentin, schenkte Ed ein knappes, nervöses Lächeln und stolperte mit dem Gepäck an ihm vorbei.
In der Zwischenzeit hatte man für die Schafe einen kleinen Pferch unter den Rettungsbooten eingerichtet. Dort konnten sie die klagenden Rufe und das Poch-Poch-Pochen der Jungfer in Nöten nicht länger hören, sondern nur noch das dumpfe Tuckern der Maschinen und das Sprudeln des Wassers um das Heck des Schiffes.
Will bemühte sich, den anderen eine Erklärung für alles zu geben. »Einer der Männer hat gesagt, das Boot geht auf Jungfernfahrt«, wisperte er.
Linx nickte. »Das sagt alles, klar.«
Das hoffte Will auch. »Und dann ist da noch etwas. Das Schiff heißt Schicksal.«
Die anderen blickten ihn verständnislos an.
»Schicksal ist etwas, das vorherbestimmt ist zu passieren.«
»Was? Wie das Abendessen?«, erkundigte sich Oxo.
»Wichtiger als Abendessen«, sagte Will. Und bevor Oxo die Frage stellen konnte, ergänzte er rasch: »Auch wichtiger als Frühstück. Etwas wirklich Wichtiges. Etwas wie die Aufgabe, eine Jungfer in Nöten zu retten.«
Sally hatte begriffen und brach mit erhobenem Kopf in lautes Blöken aus. »Wir kommen, Tuftella! Es ist unser Schicksal!«
Die Schafe drängten sich dicht aneinander und blickten auf das unendlich weite Meer hinaus. Mit einem Mal verspürten sie Angst. War es tatsächlich möglich, dass die Zukunft nicht allein in ihren Hufen lag? Dass in Wahrheit das Schicksal sie führte? Vielleicht hatte es das schon immer getan.
Plötzlich wurde ihnen bewusst, dass sich das andere Schicksal, das Schiff mit Skipper Ed am Steuerrad, mittlerweile in Bewegung gesetzt hatte. Die Leinen der Schicksal waren gelöst worden und nun glitt sie elegant aus dem Hafen. Sobald sie auf dem offenen Meer war, nahm sie volle Fahrt auf und eine Zeit lang blieb den Schafen nichts weiter übrig, als Wind und Gischt zu trotzen und zu beobachten, wie das Städtchen Murkton hinter ihnen immer kleiner wurde. Schließlich erreichten sie die hohe See und Ed drosselte die Maschinen auf normale Reisegeschwindigkeit, worauf der Motorenlärm leiser und Wind und Gischt erträglicher wurden.
»AchduliebesGras …« Jasmine schüttelte ihren hübschen Kopf. »Was für eine Erleichterung. Ich kann mich wieder denken hören.«
»Keine Sorge«, grunzte Oxo, »taub wirst du davon nicht.«
Jasmine warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wandte sich dann an Will.
»Verbessere mich, falls ich mich irre«, setzte sie an. »Aber wir sind auf diesem Schiff, weil einige von uns glauben, eine Jungfer in Nöten würde uns rufen. Richtig?«
Will nickte vorsichtig. Er wusste, was sie als Nächstes sagen würde.
»Also, wenn sie tatsächlich in solchen Nöten ist«, fuhr Jasmine hitzig fort, »warum hören wir dann jetzt das Klagen und Seufzen und Poch-Poch-Pochen gar nicht mehr?«
Das war in der Tat genau die Frage, die Will sich ebenfalls stellte. Er dachte zurück an die Takelage der Jachten im Hafen und in ihm keimte die Furcht auf, dass er einen wahrhaft entsetzlichen Fehler gemacht haben könnte. Doch gerade als er den Mund aufmachte, um das zu gestehen, ergriff Sally das Wort.
»Das liegt an der Seeluft, Liebes«, erklärte sie und nickte weise. »Das Salz gerät in deine Ohren und dann hört man ein bisschen komisch. Meine Tante Sybil hat mir das erzählt, als ich noch ein Lamm war –«
»Jaha, und meine Mägen sind auch schon ganz komisch«, mischte sich Oxo ein. »Ich sterbe vor Hunger.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, während die anderen feststellten, dass auch sie hungrig waren.
»AchduliebesGras …«, wimmerte Jasmine und sah sich auf den nackten Holzplanken um. »AchduliebesGras … hier gibt es kein Gras!«
Aber Oxos Nase zuckte bereits. »Halt dich an mich, mein Kind«, sagte er zu Jasmine. »Kein Grund zur Sorge.«
Er duckte sich unter dem Seil hindurch, das der Deckarbeiter als Gehege für sie gespannt hatte, und trabte los. Rasch schlossen sich die übrigen Krieger an. Oxos Nase führte sie zu einer Kabine in der Mitte des Schiffs. Die Schafe drängten sich vor der Tür, die einen Spaltbreit geöffnet war, und spähten hinein.
Alice Barton saß an einem Frisiertisch. Ihre kurzen Beine reichten gerade so bis zum Boden und ihr ziemlich ausladendes Hinterteil quoll zu beiden Seiten über die Sitzfläche des eleganten, zierlichen Stuhls. Rings um sie herum standen Tiegel und Flakons mit teuren Hautcremes, Make-up und Parfüm. Miss Barton war damit beschäftigt, kleine Kleckse von diesem mit kleinen Klecksen von jenem zu mischen. Und zu guter Letzt schmierte sie sich ein wenig Creme in ihr leicht aufgedunsenes Gesicht.
»Ah, das tut gut …«, murmelte sie, während sie sich im Spiegel betrachtete. »Alice, vernachlässige nie dein hübsches Gesicht.«
Sie nahm eine Mangoscheibe von dem großen Teller mit geschnittenem Obst, der neben ihr stand. Oxos Nase zuckte heftig, aber Will hielt ihn zurück.
»Noch nicht«, flüsterte er.
»Verzeihung, Miss Barton.« Die Zwischentür zum Nachbarraum öffnete sich und Dalia betrat auf Zehenspitzen die Kabine ihrer Chefin.
»Was gibt’s, Schätzchen?«, seufzte Alice und wandte sich vom Spiegel ab.
»Da ist jemand am Telefon, der mit mir nicht sprechen will. Er sagt, es sei privat und er müsse mit Ihnen persönlich reden. Es geht um den Jungfernturm.«
Alices Augenbrauen stießen ruckartig an ihren pflaumenblauen Pony. Auch Will riss die Augen auf.
»Ich gehe nach nebenan zum Telefonieren«, erklärte sie, griff nach dem Telefon, das Dalia ihr hinhielt, und eilte mit schnellen Schritten in die Nachbarkabine. »Sei so gut und besorge mir einen Eistee, mein Engel.«
»Ja, Miss Bart…« Die Tür knallte vor Dalias Nase zu.
Will und Oxo drückten sich flach an die Wand neben der Tür, als Dalia aufs Deck hinaustrat, aber sie wandte sich in die andere Richtung.
Schon wieder rasten Will Gedanken durch den Kopf. Diese Frau Alice sprach jetzt gerade mit jemandem über einen Ort, der Jungfernturm genannt wurde. War das womöglich der Turm, in dem man Tuftella, die Jungfer in Nöten, gefangen hielt? Und falls ja, warum sollte ein Mensch davon wissen?
Oxos Gedanken hingegen kreisten nach wie vor um seine Mägen. Sobald Dalia außer Sicht war, stand er auch schon im Türrahmen. Diesmal konnte er sich nicht zurückhalten. Er stürzte in die Kabine, schnappte sich ein Maulvoll Mangostücke vom Teller und kaute schmatzend.
Jasmine folgte ihm, sprang auf den Frisiertisch und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Was soll ich bloß als Erstes ausprobieren?«, überlegte sie aufgeregt und atmete schnuppernd die parfümierte Luft ein.
»Runter da!«, rief Will, so laut er sich traute.
Genau in diesem Augenblick rutschte der Teller unter Oxos Schnauze weg und zersprang auf dem Boden.
»AchduliebesGras …«, blökte Jasmine erschrocken. »AchduliebesGras!«
Sie drehte sich zu hastig um, trat in eines der kleinen Gefäße mit fettiger Gesichtscreme, verlor das Gleichgewicht und plumpste vom Tisch. Es hagelte Dosen, Fläschchen und Tiegel auf sie. Der Inhalt spritzte in alle Richtungen.
»Dalia?«, schrie Miss Burton aus der Nachbarkabine. »Was ist da drüben los?«
Unter Oxos Führung traten die Krieger den Rückzug an, hasteten über den verdreckten Boden und stürmten durch die Tür. Auf ihren cremeverschmierten Hufen schlitterten und rutschten sie zurück zu dem kleinen, mit einem Seil abgetrennten Pferch unter den Rettungsbooten.
Alice rauschte indes in ihre Kabine, betrachtete kurz das Ausmaß der Verwüstung und marschierte dann mit energischen Schritten hinaus aufs Deck, wo sie mit Dalia zusammenstieß, die auf ihre Schreie hin zurückgeeilt war. Die Assistentin spähte entgeistert in den Raum.
»Das war ich nicht, Miss Barton. Ehrlich nicht.«
Alice stieß sie beiseite und folgte der schmierigen Cremespur. »Dann sollten wir herausfinden, wer es war, oder?«
In ihrem kleinen Gehege auf dem Achterdeck drängten sich die Schafe eng aneinander.
»Ich wollte doch nur ein bisschen Parfüm ausprobieren«, wimmerte Jasmine.
»Gar nicht übel das Zeug«, nuschelte Oxo, das Maul voll mit Gesichtscreme. »Keine Ahnung, was das ist, aber geschmacklich in Ordnung …«
Linx musterte Will, der vor Aufregung bebte. »Spuck’s schon aus. Was geht dir durch den Kopf?«, flüsterte er ihm zu. »Du explodierst doch gleich, oder?«
»Hast du das denn nicht gehört?«, stieß Will leise hervor. »Jungfernturm! Sie war dabei, irgendwelche Zaubertränke und Wundermittel zusammenzumischen, und sie weiß etwas über einen Jungfernturm!«
»Mmmh …«, war von Oxo zu hören, der sich die letzten Reste Creme aus den Mundwinkeln leckte. »Zaubertränke und Wundermittel, was? Das muss ich mir merken …«
»Hört zu«, wisperte Will aufgeregt. »Als ich auf der Farm noch im Haus gelebt habe, da hat mir Todd ein Buch über Ritter gezeigt. Ritter sind eine Art Krieger. So wie wir. Nur, dass sie vor langer Zeit gelebt haben.«
Sally hörte jetzt aufmerksam zu. Die alten Zeiten interessierten sie. Selbst wenn es um Menschen ging.
»Und diese Ritter«, fuhr Will fort, »waren ständig mit guten Taten beschäftigt. Wie zum Beispiel mit der Rettung von Jungfern in Nöten.«
»Was, sogar wenn es tattelige Jungfern waren?«, fragte Jasmine.
»Ja! Und jetzt kommt das Merkwürdige: Manchmal bekamen sie dabei Hilfe von einer Dame. Ich glaube, Todd nannte sie eine gute Fee. Jedenfalls hat diese Frau immer jede Menge Zaubertränke und Wundermittel zusammengemischt, die dafür gesorgt haben, dass anderen Leuten irgendetwas passiert.«
»AchduliebesGras …« Jasmine riss ihre Augen weit auf. »Meinst du also, diese Frau Alice ist eine gute Wiehießdasgleich?«
Will zuckte mit den Schultern. »Ja … vielleicht.«
»AchduliebesGras …«, jammerte Jasmine wieder. »Du glaubst doch … du glaubst doch nicht, dass sie böse wird und macht, dass mir etwas zustößt, Will? Sie wird mich doch nicht etwa hässlich machen?«
»Nein, Jasmine«, beruhigte Will sie. »Das ist es ja gerade. Wenn wir mit dieser Vermutung recht haben, dann steht sie auf unserer Seite!«
Aber noch während er sprach, fiel ein Schatten auf die Schafe. Über ihnen erschien die Gestalt von Alice Barton.
Sie starrte schweigend auf die Tiere herab, drehte sich dann abrupt um und schritt davon. Ed, der Skipper, hatte den vorangegangenen Tumult gehört und kam jetzt die Stufen von der Brücke herunter. Alice versperrte ihm den Weg.
»Was …«, fuhr sie ihn an, als sie sich gegenüberstanden, »was haben diese schmutzigen Viecher auf meinem Boot zu suchen?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Eigentlich will ich es gar nicht wissen«, fauchte sie durch zusammengepresste Zähne. »Sorgen Sie dafür, dass die Viecher verschwinden. Sofort! Werfen Sie sie über Bord!«