Kreuzberg 36, 1. Mai

Nun ist er also da, der liebe schöne Monat Mai, auf den wir den ganzen Winter lang gewartet haben, und er kam ganz unspektakulär und friedlich dieses Jahr. Der Mai ist ja der Monat der Überforderung, schon am 1. Mai hätte man sich in Berlin zwischen 41 angemeldeten Demonstrationen entscheiden müssen.

Wer seit 26 Jahren den ersten Mai bis auf wenige Ausnahmen in Kreuzberg verbringt, muss mit Wiederholungen rechnen, denn es sind doch immer die gleichen schönen Bilder und Gefühle: Das »MyFest« auf dem Mariannenplatz, die Köfte-Rauchschwaden über der Adalbertstraße, die Oriental-Dance-Szenen am Feuerwehrbrunnen, das Auftauchen sämtlicher fast schon vergessener Musik- und Jugendkulturen in der Oranienstraße. Dann das schleichende Eintreten einer großen Müdigkeit, Überforderung und die Erkenntnis, dass das Rumlatschen auf Stadtfesten doch recht sinnlos ist.

Trotz dieser festen Größen gab es dieses Jahr doch ein paar Neuerungen: Die Demo der Maoisten fiel aus, dafür waren die Hells Angels als Anti-Konflikt-Team unterwegs. Neben den üblichen »MyFest«-Helfern gab es »MyFest«-Flaschenbeauftragte, die entsprechende T-Shirts trugen, sich wohl ums Glas kümmern sollten, aber eher auf unnachahmliche Jungsart wichtigtuerisch herumlungerten. Gleichzeitig war zu beobachten, dass sich die »Späti«-Kultur immer weiter verfeinert und professionalisiert. Die Skalitzer Straße entlang hieß es: Kein Falafelladen ohne DJ-Line-Up!

Während in der Oranienstraße modisch das Polit-Outfit überwog, traf man am Spreewaldplatz wandelnde Freiheitsstatuen, Balletttänzerinnen, Barbies mit goldenen Hula-Hoop-Reifen als Accessoires, und im Görlitzer Park wurde gleich an drei Stellen – vor dem Edelweiß, am Pisstunnel und am Hügel – open air geravt.

Viele neue Fragen kamen an diesem Tag der Arbeit auf: Ist der 1. Mai jetzt eine informelle Loveparade? Wie schafft man es, einen ganzen Hügel unter Federn zu setzen? Und gehören der blasse Typ im Häschenkostüm, der fortwährend theatralisch »Ich bin die Revolution!« ausruft, und sein Kollege, ein effekthascherisch Meditierender in schwarzem Satin, zur Generation der neuen Raver, oder sind es nur dämliche Performer?

Mai also. Und jetzt geht das Überangebot grad so weiter. Auf einen Schlag soll man also die Winterdepression überwinden und outdoor aktiv werden. Was alles im Mai neu aufmacht: Das Kreuzberger Badeschiff, sämtliche Schwimmbäder, das Wannseebad, die neue Bar 25, aber auch dreißig andere Strandbars, achtzehn Freilichtkinos und so fort.

Lange hatte ich auf die kahlen Bäume im trostlosen Hinterhof gestarrt, und jetzt dieses Grün plötzlich, diese weißen, blühenden Kerzen der Kastanienbäume! Es ist schön, aber es kam dann so plötzlich. Kann ich es auch wirklich genießen? Bin ich lange genug draußen, hätte ich nicht schon längst das Fahrrad flottmachen müssen und mich zu den Tausenden von jungen Müttern, alten Punks, Kleindealern, Studenten und Langzeitarbeitslosen in den überbevölkerten Parks gesellen sollen, die da stillen, chillen und grillen? Müsste ich mich nicht wie die anderen ausziehen, ausstrecken, bräunen, Frisbee, Fußball, Hacky-Sack, Akustikgitarre, Diabolo spielen? Guerillagärtnern? Muskeln ausdefinieren? Bälle jonglieren, Hunde rumkommandieren?

Zum Glück ist es wieder kühler geworden, damit bleibt noch eine Schonfrist, sich an die neue Jahreszeit zu gewöhnen. An all die idiotischen Liebespaare, die unter blühenden Bäumen stehen oder auf Decken im Park lagern und sich stumpf-romantisch in die Augen glotzen, ihre Gesichter betrachten und mit empfindsamen Fingern zart die Augenbrauen des anderen nachzeichnen. Ekelhaft.