16

Das Einzige, was Claire mit ähnlich tiefer Trauer erfüllte, war ihr Mitgefühl für Myrnin. Vielleicht war das völlig falsch; immerhin war es seine Schuld. Das alles. Aber durch die Zerstörung der Maschine hatte Frank Collins den Urzustand wieder hergestellt - einschließlich Myrnins geistiger Gesundheit. Nun begriff er, was er angerichtet hatte, und Claire konnte den bestürzten, entsetzten Ausdruck in seinen Augen kaum ertragen. Er hatte nicht ein Wort gesagt. Als Amelie versuchte, mit ihm zu reden, wandte er den Blick ab und saß mit gesenktem Kopf regungslos und still da.

Oliver hatte wie immer überhaupt kein Mitgefühl. »West ist tot«, sagte er ungerührt. »Oder vielleicht noch schlimmer. Collins hat sich selbst geopfert, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Lass ihn brüten, wenn er brüten will.«

Da hob Myrnin langsam den Kopf und heftete seinen finsteren, tragischen Blick auf Oliver. Er sagte nichts, doch in der Art und Weise, wie sie sich anblickten, lag etwas sehr Gehässiges.

»Nun?«, sagte Oliver. Myrnin sah weg. »Und alles nur, weil du deine kostbare Ada nicht verlieren wolltest. Versprich mir, Amelie, dass du mich eher mit Silber kreuzigst, als dass du zulässt, dass ich mich verliebe.«

»Ich glaube kaum, dass das je passieren wird«, sagte Amelie. »Ich bezweifle, dass du die Fähigkeit dazu hast.« Sie klang abweisend und kalt, aber es lag auch etwas beinahe Schmerzhafes in ihren Worten. »Es gibt wohl auch eine gute Nachricht. Die meisten Leute scheinen ihr Gedächtnis wiedererlangt zu haben. Der Schaden scheint nur vorübergehend zu sein.«

»Eine gute Nachricht«, echote Oliver. »Außer dass unsere Grenzen offen sind und die gesamte Verteidigung im Eimer ist. Du weißt, dass es so nicht bleiben kann. Die Maschine...«

»Funktioniert nicht«, sagte Claire und stand von ihrem Stuhl neben Shane auf. »Sie funktioniert nicht und sie wird auch so schnell nicht mehr wieder funktionieren, jedenfalls in den nächsten Monaten – falls sie überhaupt je wieder arbeitet. Damit musst du dich abfinden, Oliver.« Sie merkte, dass sie wütend war. Sie bebte. Und sie wusste, dass es wegen Shanes Dad war. »Kannst du dir vielleicht mal eine Minute Zeit nehmen? Einfach nur, um mal irgendetwas zu empfinden ?«

Amelie und Oliver sahen sie beide mit ähnlich überraschtem Gesicht an. »Was empfinden?«, fragte Oliver. »Trauer? Für Frank Collins? Bist du sicher, dass dein Gedächtnis ganz wiederhergestellt ist?«

Claire knirschte mit den Zähnen und widerstand dem Drang, ihm den Mittelfinger zu zeigen. Sie hätte sich nicht zurückhalten sollen. Schweigend erledigte Eve es für sie. Eve stand neben dem Portal und war gerade dabei, sich Staub und Dreck von den schwarzen Gothic-Klamotten zu klopfen. Ihre Stiefel hatte sie noch immer nicht geschnürt. »Hey, Oliver?«, rief sie. »Ich habe nicht mitgekriegt, dass du in den sauren Apfel gebissen und dich für die Gemeinschaft geopfert hättest. Du warst ja noch schneller draußen als ich.«

Das verdüsterte Olivers Stimmung gefährlich, aber Eve war das egal. Auch sie war erschüttert. Und wütend.

Schließlich meldete sich Myrnin zu Wort. »Ich wusste es«, sagte er ganz leise. »Ich wusste, dass ich nicht... ich selbst war. Ich habe mir eingeredet, dass das, was ich da tat, sicher war. Aber das war es nicht. Vielleicht hat selbst da mein Gedächtnis... funktioniert.« Er blickte auf und sein Gesicht wirkte geistesabwesend und bekümmert. »Wenn ich Claire von Anfang an geglaubt hätte, hätten wir das verhindern können. Es hätte nicht so ausgehen müssen. Aber ich wollte... ich glaub tief drin wollte ich, dass alles...« Er holte tief Luft. »Ich wollte sie zurückhaben. Ich wollte die Vergangenheit. Ich wollte mich nicht so eingeschränkt fühlen von den Regeln. Und das hat die Maschine von mir übernommen. Das hat sie versucht zu erreichen.«

»Nun«, sagte Oliver. »Jetzt hast du ja, was du dir gewünscht hast.«

Amelie schüttelte den Kopf. »Das führt zu nichts«, sagte sie. »Frank Collins hat uns einen großen Dienst erwiesen, ungeachtet seiner Vergangenheit. Das werde ich würdigen.«

Shane blickte auf. »Wie?« Seine Stimme klang hohl und leer. »Mit einer Gedenkplakette?«

»Wie soll er deiner Meinung nach gewürdigt werden?«, fragte Amelie. »Wenn es in meiner Macht steht, werde ich deinen Wunsch erfüllen.«

Shane zögerte nicht eine Sekunde. Es war, als hätte er sich schon überlegt, was er sagen würde, dachte Claire. »Lassen Sie Kyle aus dem Käfig auf dem Founder’s Square«, sagte er. »Lassen Sie ihn auf Bewährung frei. Aber bringen Sie ihn nicht um.«

Ein langes, lastendes Schweigen entstand und ein paar schreckliche Sekunden lang dachte Claire, dass Amelie wütend werden würde. Aber sie dachte einfach nur nach. Schließlich sagte sie: »Also gut.«

Oliver gab einen frustrierten, wütenden Laut von sich, den unendlich tief aus seiner Kehle kam. Er nahm ein Becherglas, das die ganze Verwüstung irgendwie überstanden hatte, und warf es gegen die Wand, sodass es in tausend Stücke zerbarst. »Es reicht«, bellte er. »Willst du dich weiterhin jedem beugen, der atmet und ...«

Amelie packte ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. Dann sagte sie leise: »Hör auf.« Ihr Ton war eisig und todernst. »Wir werden uns nicht mehr gegenseitig zerfleischen, Oliver. Das tut keinem von uns gut. Und führt zu überhaupt nichts. Es erzeugt nur Misstrauen und Paranoia und negative Gefühle und wir sind in dieser Stadt nicht so viele, dass wir uns unsere Allüren leisten könnten. Ich habe dir schon gesagt, dass wir als Gleichberechtigte regieren. Aber denk daran: Wenn wir uns nicht ändern, wenn wir nicht lernen, dass wir Kompromisse schließen müssen, wenn es um unsere Sicherheit geht, dann werden sich die Menschen gegen uns auflehnen. Sie werden uns vernichten. Ich gewähre dies nicht, weil der Junge unschuldig ist. Ich gewähre es, weil hier Gnade unserer Sache mehr nützt als Gerechtigkeit.«

Oliver starrte sie regungslos an. Etwas Seltsames lag in seinem Gesichtsausdruck, etwas... Verletzliches? Claire war sich nicht sicher. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. »Und was, wenn ich beschließe, dass ich trotzdem allein regieren will?«

»Ich werde deswegen nicht gegen dich kämpfen«, sagte Amelie. »Aber deine Überheblichkeit würde Morganville und uns alle vernichten.«

»Ich habe früher schon Menschen regiert«, sagte er.

»Ohne langfristigen Erfolg. Du hast versucht, diejenigen, über die du herrschst, zu verändern. Doch das konntest du nicht.« Amelie ließ ihn los und legte ihm sanft die Hand auf die Bust. »Deine Ideale haben dich nicht überlebt. Meine müssen das, sonst werden wir alle zusammen untergehen. Ich bin mir sicher, dass du das nicht willst.«

»Nein«, sagte Oliver seltsam leise. »Nein, das will ich nicht.«

»Was willst du dann?«

Er zögerte, dann neigte er den Kopf. »Ich werde dir Bescheid geben«, sagte er. »Aber vorerst... vorerst schließen wir einen Waffenstillstand.«

Amelie ließ einen Moment verstreichen, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ich schicke Polizeistreifen aus, damit sie die Ausfallstraßen überwachen. Wir können bloß hoffen, dass wir die Ordnung mit konventionelleren Mitteln aufrechterhalten können, bis...«

»Bis wann?«, fragte Myrnin verbittert. »Bis ich noch ein Wunder vollbringe? Noch eine brillante Meisterleistung, die sich als tödlich herausstellt, weil ihr mir nicht erlaubt, sie so zu bauen, wie sie gebaut werden muss? Nein. Nein, ich werde nichts mehr bauen, Amelie. Ich kann das nicht ordentlich erledigen, wenn du mir sagst, wie ich meinen Job zu machen habe!«

»Ah«, sagte Oliver. »Ich glaube, jetzt weiß ich, was ich will. Ich will mir nie wieder sein Gejammer anhören müssen.«

Amelie zog ihre blassen Augenbrauen nach oben, starrte Myrnin an und wandte sich dann an Claire.

»Das ist nicht mehr Myrnins Job«, sagte sie. »Und du denkst jetzt wohl am besten mal darüber nach, wie du unsere Probleme lösen willst, Claire.«

»Was?«

»Du solltest eigentlich in ein paar Jahren die Verantwortung dafür übernehmen. Ich glaube, damit verschieben sich unsere Pläne nur ein wenig nach vorn. Myrnin kann dir assistieren, aber ich erwarte noch diese Woche Ergebnisse.«

Ein Gefühl der Mutlosigkeit überkam Claire, als ihr klar wurde, dass sie soeben... der neue Myrnin geworden war? Wie war das nur möglich? Schlimmer konnte es nicht mehr kommen - außer wenn sie jetzt scheiterte. Wenigstens hatte eine Woche Zeit.

Myrnin schüttelte den Kopf. »Amelie. Sei nicht albern. Das Mädchen ist nicht ...«

»Es reicht«, sagte Amelie und der scharfe Befehlston, den sie anschlug, brachte ihn zum Verstummen. »Du hast schon genug angerichtet. Es hat Tote gegeben, Myrnin.«

Claire musste zugeben, dass sie damit recht hatte.

Shane räusperte sich. »Ähm, wegen Kyle ...«

Amelie wandte sich an Oliver. »Ruf an«, sagte sie. »Es sei denn, du hast immer noch vor, meine Stelle einzunehmen.«

Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann zog er sein Handy heraus und gab die Anweisung durch, dass der Gefangene auf dem Founder's Square freigelassen werden sollte.

Na ja, dachte Claire. Wenigstens einer war jetzt glücklich.

Sie hatte keine Ahnung, ob sie das jemals sein würde.

Als die vier am Abend wieder zu Hause waren, setzten sie sich zum Abendessen. Es verlief in ziemlich unbehaglichem Schweigen, weil keiner von ihnen wusste, wie er anfangen sollte. Erstens hatten alle blaue Flecken, Schnittwunden und waren fix und fertig; zweitens wollte niemand wirklich sagen, was er dachte, oder die Sprache auf Shanes Dad bringen.

Eve beschloss anscheinend, das Ganze von der anderen Seite her aufzurollen. »Ich fass es einfach nicht, dass ich nach Hause zu meinen Eltern gegangen bin«, sagte sie etwas zu fröhlich. »Würg. Widerlich. Meine Mom hat mein Zimmer in ein Messieparadies verwandelt, ihr wisst schon, alles voller Kartons und Zeug. Die sollte mal in so einer blöden Realityshow auftreten. Und das Abgedrehteste war: Ich habe eigentlich gar nichts anderes erwartet. Ich habe nur gedacht, sie hätte mein ganzes Zeug rausgeworfen und würde so tun, als wäre ich nie da gewesen. Ich habe ja oft genug so getan.« Eve spielte mit ihren Spaghetti herum, ohne etwas zu essen. »Ich habe sie dauernd gefragt, wo mein Dad ist. Sie hat gesagt, dass er auf dem Heimweg sei.« Eves Vater war vor einem Jahr gestorben, erinnerte sich Claire. Kein Wunder, dass sie keinen Appetit hatte. Eve trank einen Schluck Wasser. »Ich überlege, ob ich sie anrufen soll, um zu hören, ob es ihr gut geht.«

»Wir können sie auch besuchen, wenn du willst«, bot Michael an. »Ich weiß, du gehst nicht gern allein hin.«

Eve warf ihm ein dankbares Lächeln zu. »Du bist klasse«, sagte sie. »Vielleicht morgen.«

»Klar.«

Shane sagte gar nichts. Aber er aß; er hatte schon einen Teller Spaghetti gegessen und war gerade beim zweiten. Sie wollte mit ihm reden, aber sie wusste, er wollte nicht, dass sie das Thema ansprach; nicht vor den anderen. Shane wollte nicht verletzlich erscheinen, nicht einmal vor seinen Freunden. Er wusste, dass sie es verstehen würden, aber das war nicht der Punkt. Er wollte einfach nur... stärker sein als alle anderen.

Eve sagte: »Wenigstens hast du Appetit, Shane.«

Wieder breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus, denn Shane ging überhaupt nicht darauf ein. Er aß einfach weiter. Claire drehte ein paar Nudeln um ihre Gabel und sagte: »Meine Mom hat angerufen. Dad wird am Wochenende in Dallas operiert. Sie sagen, dass er eine neue Herzklappe braucht, aber es sieht so aus, als würde dann alles gut, wirklich gut. Ich bitte um die Erlaubnis, am Freitag hinzufahren.«

»Du brauchst nicht um Erlaubnis zu bitten«, sagte Shane. »Du kannst einfach gehen. Die Maschine ist tot. Geh einfach.« Seine Stimme klang ausdruckslos und irgendwie falsch.

Die anderen blickten sich gegenseitig an.

»Es wird Straßensperren geben«, sagte Michael schließlich »So einfach ist das nicht.«

»Klar, es ist nie einfach, oder?« Shane warf seine Gabel hin, schob seinen Stuhl zurück und brachte sein Geschirr in die Küche. Claire ging ihm nach, aber als sie durch die Tür trat, warf er gerade seine Essensreste in den Mülleimer und seinen Teller in die Spüle und wandte sich zum Gehen.

»Shane ...«

Er hielt beide Hände hoch, als wollte er sie wegschieben. »Lass mir ein bisschen Raum, okay? Ich brauche Freiraum.« Dann ging er. Sie stand da, blickte auf seinen Teller in der Spüle und wieder einmal brach ihr das Herz. Warum wollte er nicht mit ihr reden? Was hatte sie getan? Das tat weh, richtig weh. Sie hatte das Gefühl, als … als würde sie ihn noch einmal verlieren. Doch sie hatte es satt, ihn zu verlieren.

Claire ging wieder zurück zum Esstisch. Shane war bereits nach oben verschwunden und seine Tür schlug krachend zu. Michael und Eve hielten den Blick auf den Teller gesenkt. »Ungeschickt«, sagte Eve schließlich.

Michael schüttelte den Kopf. »Er hat seinen Dad verloren. Das tut weh.«

»Ich weiß«, sagte Eve scharf. »Ich habe das auch schon durchgemacht.«

»Tut mir leid. Ich hab ja nur gemeint...«

»Ich weiß«, seufzte Eve und fasste nach seiner Hand. »Ich weiß. Sorry. Ich bin nur ein bisschen ... schräg drauf. Ich glaube, das sind wir alle.«

»Tatsache ist, dass er seinen Dad schon vor langer Zeit verloren hat. Vielleicht als seine Schwester gestorben ist. Vielleicht als Frank... ähm...« Claire wusste nicht so recht, wie sie es ausdrücken sollte.

Doch Michael wusste es. »Als er umgewandelt wurde.«

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube aber nicht, dass er sich damit je auseinandergesetzt hat. Jetzt ist er direkt damit konfrontiert. Er kann es nicht mehr verdrängen. Sein Dad ist einfach... tot.«

»Das ist es nicht«, kam es von der Treppe her. Alle zuckten zusammen, sogar Michael, der ihn wohl auch nicht hatte kommen hören. Shane konnte ziemlich leise sein, wenn er wollte. »Es liegt nicht daran, dass er tot ist. Das Problem ist: Ich kannte meinen Dad. Ich hatte Angst vor ihm und dann wollte ich ihm alles recht machen und dann habe ich ihn gehasst, weil ich dachte, er wäre absolut böse, vor allem nachdem er ein Vamp geworden ist. Aber das stimmt nicht. Ich habe ihn verkannt. Er ist uns zu Hilfe gekommen und ist dabei gestorben, um uns zu retten.« Alle sahen ihn schweigend an. Shane setzte sich auf die Stufen. »Der Punkt ist«, sagte er, »dass es jetzt zu spät ist, ihm zu zeigen, dass ich ihn liebe. Das tut weh.«

Claire stand auf und nahm ihren Teller, aber Eve nahm ihn ihr ab. »Geh«, sagte sie. »Ich mach das schon. Aber du schuldest mir einen Wäschedienst.«

Claire nickte und ging die Treppe hinauf. Shane hob den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Sie streckte ihm die Hand hin.

Nach einer kleinen Ewigkeit nahm er sie und stand auf. »Weißt du, sogar als ich dich nicht erkannt habe, wollte ich dich kennenlernen«, sagte er. »Deshalb hast du mich jetzt wohl am Hals. Tut mir leid.«

»Mir tut es nicht leid«, sagte Claire und brachte ihn nach oben.

Ihr Handy klingelte gegen vier Uhr morgens, es vibrierte auf dem Nachttisch und sie tastete verschlafen danach. Claire wand sich vorsichtig unter Shanes schwerem Arm hervor und schlüpfte aus dem Bett. Sie schnappte sich ihren Morgenmantel und ging hinaus in den Flur, um ranzugehen.

Das Display zeigte Myrnin an. Einen Moment lang kniff Claire die Augen zu, dann klappte sie das Handy auf und sagte: »Es ist vier Uhr morgens und es war nicht gerade ein leichter Tag.«

Myrnin sagte: »Ich kann die Grenzen errichten.«

Die Art, wie er das sagte, gab ihr zu denken, denn es klang nicht manisch, nicht verrückt; es war einfach nur … die Feststellung einer Tatsache. »Echt? Wie denn? Das ganze Ding war … zerstört.«

»Ja«, sagte er. »Das stimmt. Aber wie ich dir einmal gesagt habe, war die Maschine nur ein Unterstützungssystem. Ein Verstärker. Der wichtige Teil bei der Errichtung der Grenzen und der Gedächtniskontrolle ist nicht die Maschine, sondern das Gehirn.«

»Myrnin...«Claire hätte am liebsten geschrien, mit dem Telefon geworfen, etwas Verrücktes getan. Aber sie tat es nicht. Sie schluckte alles und zwang sich dazu, sehr behutsam zu sagen: »Myrnin, ich stecke mein Gehirn nicht in ein Glas, um dir bei Amelie aus der Patsche zu helfen. Auf keinen Fall.«

»Das weiß ich«, sagte Myrnin. »Das brauchst du auch nicht.« Claire holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Brauche ich nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Komm ins Labor«, sagte er. »Komm jetzt gleich.«

Er legte auf. Claire sah aus kleinen, verschlafenen Augen auf das Handy, dann ging sie in ihr Zimmer. Sich im Dunkeln leise anzuziehen, stellte eine Herausforderung dar, aber sie schaffte es und schlich sich dann vorsichtig die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer hüpfte sie auf einem Bein, um sich die Schuhe anzuziehen. Sie machte das Licht an und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah aus... na ja, eben so, als wäre sie nach einer zu kurzen Nacht aus dem Bett gescheucht worden. Wirre Haare. Fettig glänzende Haut. Zerknitterte Klamotten.

»Ich bringe ihn um, wenn das hier umsonst war«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und schnappte sich ihren Rucksack, der in der Ecke stand. Sie warf ihn sich über die Schulter und ging hinüber zu der nackten Wand, an der das Portal erscheinen würde. Ein paar Sekunden Konzentration und der schwarze Durchgang erschien und bekam feste Umrisse. Sie ging hindurch in Myrnins Labor. Es herrschte immer noch totales Chaos. Glassplitter glitzerten auf dem Boden. Tische waren umgeworfen. In der Luft hing Staub.

Dann schoss ein Gedanke durch ihr müdes, hinterherhinkendes Hirn, der wirklich schockierend war: Das hätte gar nicht möglich sein dürfen. Sie hätte eigentlich nicht durch das Portal kommen dürfen. Die Maschine hatte die Portale gesteuert und die Maschine war zu einem Metallklumpen im Keller zerquetscht. Warum hatte es funktioniert?

Myrnin war hinten im Labor, er stand vor etwas, was sie nicht richtig erkennen konnte. Er drehte sich nicht um. »Claire«, sagte er. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Klar. Weiß Amelie, dass Sie das tun?«

»Sie hat mir befohlen, mich auszuruhen«, sagte er. »Das heißt also, nein, sie weiß es nicht. Aber letztendlich glaube ich nicht, dass sie böse darüber sein wird.«

»Das glauben Sie nicht? Sind Sie verrückt?«

Darauf gab er keine Antwort. »Ich habe die ganze Nacht gearbeitet«, sagte er. »Einige Teile waren noch verwendbar, aber ich konnte nur die grundlegendsten Elemente zusammenbasteln.«

»Elemente wovon?«

Endlich bewegte sich Myrnin, und Claire machte noch ein paar Schritte auf ihn zu, bevor sie unvermittelt stehen blieb; ihr schnürte sich die Kehle zu, ihr Herz setzte einen Schlag aus und begann dann, ganz, ganz schnell zu hämmern.

Denn da war ein Gehirn. In einem Glas. ln einem Glas mit einer blassgrünen, blubbernden Flüssigkeit. Da waren auch Schläuche, Kupferrohre, zirkulierende Flüssigkeit, und da waren Drähte und tickende Uhrwerke, aber vor allem war da ein Gehirn.

In einem Glas.

»Was haben Sie getan?« Claires Stimme klang ganz fremd. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie es laut gesagt hatte, bis Myrnin sie direkt ansah.

»Ich habe getan, was ich tun musste«, sagte er. »Anders funktioniert es nicht. Es ist zu gefährlich. Ich kann nicht riskieren, dass so etwas noch einmal passiert, und du solltest das auch nicht riskieren, Claire. Nächstes Mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück.«

»Sie haben jemanden umgebracht«, sagte sie. Ihre Kehle war so fest zugeschnürt, dass sie glaubte, sie müsse an ihren Worten ersticken. »Oh, mein Gott, Sie haben jemanden umgebracht und ... sein Gehirn in ...«

»Die Sache ist die, dass die Barrieren jetzt errichtet sind«, sagte Myrnin. »Und wir sind in Sicherheit. Ich habe getan, was getan werden musste. Aber du darfst es ihm nicht sagen.«

»Wem?« Claire wusste nicht, ob sie wütend war oder entsetzt. Wahrscheinlich beides.

Myrnin antwortete nicht. Die Stimme kam stattdessen aus dem Lautsprecher ihres Handys und klang durch ihre Tasche leicht gedämpft - es war eine unheimliche, körperlose Stimme, die dennoch vertraut war. Das Letzte, was sie diese Stimme hatte sagen hören, war Lebt wohl.

»Er meint Shane«, sagte Frank Collins. Das Gehirn im Glas. »Sag es Shane nicht, Claire. Das muss unser Geheimnis bleiben.«