10

Myrnin war nicht im Labor. Das war ungewöhnlich. Vielleicht schläft er, dachte sie, aber als sie in seinem kleinen Zimmer hinten nachschaute, war alles aufgeräumt und leer. Er war einfach weggegangen.

Naja, das machte die Sache leichter.

Claire rief zu Hause an und erreichte Michael und Shane. »Ich brauche euch hier, ihr müsst mir helfen«, sagte sie. »Und ich brauche eine Leiter.«

»Sag mir jetzt bloß nicht, du hast dich freiwillig gemeldet, um bei irgendjemandem das Haus zu streichen«, sagte Shane. »Das wäre nämlich dann so etwas wie Arbeit und ich arbeite sowieso schon viel zu viel.«

Michael dagegen verstand sofort. »Du musst durch die Falltür im Labor. Ist Myrnin nicht da?«

»Nein«, sagte Claire. »Kannst du mir helfen?«

»Klar. Mach das Portal auf und wir kommen direkt durch.«

Claire legte auf und schob den Schrank zur Seite, der das Portal verdeckte - keine leichte Aufgabe für einen Menschen, auch wenn Myrnin immerhin das Blei daraus entfernt hatte, was nett von ihm war. Dann schloss sie mit dem Schlüsselbund, den sie im Maul von einem von Myrnins ausrangierten Häschenpan-toffeln gefunden hatte, die Tür auf. Sie konzentrierte sich auf das Glass House; das Bild flackerte auf, schwankte, wurde scharf und formte sich zur Realität auf der anderen Seite der Tür.

Shane und Michael trugen eine ausziehbare Aluleiter. Claire streckte Shane durch das Portal die Hand entgegen und der machte einen Schritt hindurch, wobei er Michael mit der Leiter mitzog.

»Wow«, sagte Shane und schauderte. »Das ist ja vielleicht schräg.«

»Du hast das doch schon mal gemacht«, stellte Claire fest. „Als ich das Portal repariert hatte.«

»Damals habe ich nicht richtig darüber nachgedacht. Wird aber auch beim zweiten Mal nicht weniger schräg. Okay, wohin damit?«

»Hierhin.« Sie hatte die Falltür hinten im Labor bereits entriegelt und geöffnet; Shane beugte sich vor und starrte in die Dunkelheit hinunter. Michael zog ihn zurück.

»Was ist?«, fragte Shane.

»Lieber kein Ziel abgeben, bevor man nicht weiß, was da unten eigentlich ist, du Held. Stellen wir die Leiter rein und ich geh dann als Erster, okay?«

»Und ob, du tougher Kerl. Als ich das letzte Mal in einem dunklen Tunnel war, wäre mir fast das Gesicht weggefressen worden. Ich lerne nicht besonders schnell, aber ich lerne.«

Sie fuhren die Leiter nach unten aus und Shane hielt sie fest, während Michael hinunterstieg. Claire beugte sich vor und sagte. »Der Lichtschalter ist am Ende des Raums.«

»Ja, ich sehe ihn ... Wow!«

»Was ist?«

Michael war einen Moment lang still, dann sagte er: »Ich glaube, das sage ich euch lieber nicht. Beeilt euch einfach.«

Shane ging zuerst, danach Claire; die Leiter war ziemlich wacklig, aber sie hielt ganz gut. Sie sprang

die letzten paar Sprossen hinunter und landete auf dem Höhlenboden. Michael hatte die Llichter des Tunnels eingeschaltet, daher bestand keine Gefahr in einen Hinterhalt von was auch immer zu geraten,

aber sie fragte sich immer noch, was genau er gesehen hatte. Falls er nicht einfach nur Shane auf den Senkel gehen wollte, natürlich. Dessen wurde er nämlich nie müde.

Kein Anzeichen von Gefahr auf dem Weg zur großen Höhle und Michael drückte den Hauptschalter, um das Licht einzuschalten. Die Maschine - Claire hasste es, sie als Computer zu bezeichnen - war noch genau so, wie sie sie hinterlassen hatte; auf dem Bildschirm waren die üblichen Anzeigen zu sehen Alles bestens.

»Okay, ich muss ein Passwort eingeben«, sagte sie. »Moment.«

Sie dachte darüber nach und gab dann Myrnins Namen über die Tastatur ein. Nein, das rote Licht blieb an. Sie probierte es mit Amelie. Das rote Licht blieb an.

Sie versuchte es mit Adas Namen.

Das rote Licht blieb an.

Claire blickte mit halb zusammengekniffenen Augen darauf. Myrnin hatte nie mehr als drei Passwörter. Er konnte sich nie mehr als eins auf einmal merken. Er hatte kein Geburtsdatum, an das er sich erinnern könnte; er hatte keine Angehörigen. Was konnte er dann als Passwort benutzen?

Ah. Sie hatte es.

Claire.

Das rote Licht blieb an. Claire sah finster darauf. »Im Ernst? Ausgerechnet jetzt entwickeln Sie ein Sicherheitsbewusstsein?«

»Probleme?«, fragte Michael.

»Nein. Das haben wir gleich.« Sie versuchte es mit Bob, für Bob, die Spinne. Bob war gerade dabei, in einem Aquarium neben Myrnins Sessel ein Netz zu spinnen. Myrnin fütterte ihn regelmäßig mit Grillen und Fliegen, was Bob glücklich zu machen schien. Die Leute benutzten gern Haustiernamen als Passwort. Bob war es auch nicht.

Aus purer Verzweiflung probierte sie es mit Oliver. Auch nicht. Sie tippte die Namen von allen möglichen Vampiren ein, die ihr einfielen, einschließlich Bishop.

Keiner funktionierte.

»Wenigstens hat er keine Sperre eingebaut«, murmelte sie. Sie hatte mindestens dreißig Passwörter erfolglos ausprobiert. »Na, komm schon. Ich habe dich gebaut, du dummes Stück Schrott! Jetzt mach mal halblang!«

»Wie wäre es, wenn du den Stecker ziehst?«, fragte Shane. »Dreh ihr einfach den Saft ab.«

Sie dachte darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kenne nicht alle Funktionen der Teile hier drin. Ich könnte dadurch etwas ganz Wesentliches abschalten. Oder etwas zerstören, was wir nicht so leicht wieder nachbauen können.« Sie seufzte. »Er wird nicht glücklich sein, aber ich werde Myrnin nach dem Passwort fragen müssen.«

Plötzlich drehte Michael den Kopf, aber bevor er noch etwas sagen konnte, ertönte aus der Dunkelheit eine volltönende Stimme, die langsam sagte: »Was genau willst du Myrnin fragen?«

Das war Myrnins Stimme. Seine Jagd-Stimme. Claire hatte sie schon einmal gehört, und sie ließ sie sofort frösteln vor Todesangst. Er trat aus dem Dunkel. Die fröhlichen neonfarbenen Hawaii-Klamotten waren verschwunden. Er war in elegantes Schwarz gekleidet, mit einer blutroten Weste. Seine langen

Haare waren frisch gekämmt und fielen ihm in Wellen auf die Schultern. Er sah aus wie ein Gothic-Vamp der alten Schule. Und er lächelte.

Aber nicht auf die nette Art.

»Besuch«, sagte er, immer noch mit dieser unheimlichen und seltsam sanften Stimme. Sie hatte etwas an sich, was Claire ein bisschen schläfrig machte. Sie ein bisschen entspannte. »Es ist so schön, Gäste zu haben. Ich bekomme so selten Besuch. Vor allem hier.«

»Myrnin«, sagte Claire. Er kam weiter auf sie zu, doch es sah nicht so aus, als würde er sich bewegen. Seine großen glänzenden Augen waren auf sie gerichtet - faszinierend. Sie konnte nicht blinzeln.

»Ja, meine Liebe. Wie erstaunlich, dass du das weißt.«

»Dass ich was weiß?« Sie kam sich dumm vor, fast wie unter Drogen. Er war jetzt ganz nah und glitt auf sie zu. Sie spürte, wie seine kühlen Finger über ihre Wange strichen.

»Meinen Namen«, sagte er. »Wie erstaunlich, dass du meinen Namen kennst. Vielleicht solltest du mir die Höflichkeit erweisen, mir deinen zu verraten.«

Adrenalin schoss durch ihren Körper. Er kannte sie nicht. Auch Michael nicht. Und Shane nicht. Er benahm sich so, als wären sie Fremde.

Für ihn waren sie Eindringlinge.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: »Myrnin, ich arbeite für Sie. Ich bin Claire. Wissen Sie noch? Claire.«

»Netter Versuch, Kleine, aber ich habe schon eine Assistentin. Vielleicht hebe ich dich für sie auf, sie würde dich mögen.«

Ada. Claires Herz hämmerte schmerzhaft, als sie das begriff. Myrnin war von der Maschine verschlungen worden und dachte, Ada sei noch da. Sei noch am Leben.

»Sie reden von Ada«, sagte sie und versuchte, ruhig zu sprechen. »Sie ist nicht hier, Myrnin. Sie kommt auch nicht mehr zurück. Ada ist tot.«

Es war ziemlich grausam, das einfach so zu sagen, abei sie musste ihn da herausreißen, und das war eine kräftige verbale Ohrfeige.

Myrnin blickte sie aus seinen dunklen Augen, die kühl und undurchdringlich geworden waren, abweisend an, dann verzog er langsam den Mund zu einem Lächeln. »Ich würde es wissen, wenn sie weg wäre«, sagte er. »Kannst du sie nicht spüren? Sie ist hier. Sie wird zurückkommen. Ich weiß, dass sie zurückkommen wird.«

»Claire?«, sagte Shane. Er kam auf sie zu, aber Myrnin versetzte ihm plötzlich einen so heftigen Schlag, dass er gegen die Wand taumelte.

»Keine Unterbrechungen«, sagte Myrnin. »Ich rede gerade!« Plötzlich war er erschreckend zornig. »Warum sagst du so etwas? Das wundert mich. Es sei denn, du hast Ada etwas angetan...«

»Stopp!«, sagte Michael eindringlich. »Claire, komm hier rüber.«

Myrnin machte eine übertriebene, verärgerte Handbewegung und wandte sich an Michael. »Ich habe doch gesagt: Keine Unterbrechungen! Ach, du bist kein Mensch, nicht wahr? Hmmm. Einer von Amelies Neuen, nehme ich an. Ich dachte, sie hätte nach dem letzten Desaster neuen Zöglingen abgeschworen.«

Michael packte Claire am Arm und zog sie zu sich. »Ja genau, ich gehöre zu Amelie und die da gehört mir. Der andere auch.«

Dafür würde Shane ihn schlagen, dachte Claire. Wenn er endlich aufstehen würde.

Myrnins Augenbrauen wanderten langsam nach oben. »Willst du damit sagen, dass du Snacks mitgebracht hast, aber dass du nicht teilen willst? Wie unhöflich. Du bist auch ein Eindringling, weißt du das? Auf dich habe ich gerade keine Lust, aber die beiden anderen ... Na ja, ich habe schon seit einer Ewigkeit keinen guten Eindringling mehr ausgesaugt.«

»Myrnin, wach auf!«, schrie Claire. »Ich bin es, Claire! Sie wissen doch, wer ich bin.«

Myrnin schüttelte traurig den Kopf- »Du frisst sie jetzt lieber auf«, sagte er zu Michael. »Sie ist viel zu laut. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.«

Und dann schlug er sich immer wieder beängstigend hart mit dem Handballen gegen die Stirn. Claire klammerte sich an Michael. Sie hatte Myrnin schon verrückte Dinge tun sehen, aber das hier war einfach ... gruselig.

Er hörte auf. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn, und Blut, blasser als menschliches Blut, lief ihm in die Augen. Die Wunde schloss sich innerhalb von Sekunden. »Schon besser«, hauchte er. »Also, du neuer Zögling. Du schuldest mir einen Tribut, weil du ohne Erlaubnis hierhergekommen bist. Triff eine Wahl.«

»Was für eine Wahl?«, fragte Michael.

»Wen du haben willst.« Myrnins Vampirzähne glitten träge und drohend herunter und er packte Claire. »Ich glaube, ich mag die hier.«

Michael trat ihm direkt gegen die Brust. Myrnin taumelte zurück, aber nicht besonders weit.

Lächelnd kam er zum Stehen und neigte den Kopf. Jetzt sah er noch irrsinniger aus. »Das war nicht sehr klug, Blutkind. Gar nicht klug.«

»Lauf«, sagte Michael zu Claire und stieß sie auf den Tunnel zu. Myrnin fauchte und machte einen Satz, aber Michael packte ihn im Sprung und riss ihn nach unten.

Myrnin wollte nach Claires Fuß greifen, verfehlte ihn aber um etwa zehn Zentimeter. Am Fuß der Leiter zögerte sie. Shane war noch immer da drin, vielleicht war er verletzt. Sie konnte nicht einfach weglaufen.

Sie hörte, wie Michael einen gedämpften Schrei ausstieß, dann sagte Myrnin mit einer schmeichelnden Stimme, die von den Tunnelwänden widerhallte: »Ich mag Ratten, die fliehen. Hier, du kleine Ratte. Ich werde dich für Ada aufheben.«

Sie flitzte, so schnell sie konnte, die Leiter hinauf. Sie war schon halb oben, als sie spürte, dass die Leiter vibrierte. Myrnin war auf die Sprossen direkt unter ihr gesprungen.

Claire trat ihm ins Gesicht, sobald er näher kam.

»Au!«, heulte er überrascht auf. Sie trat noch einmal zu. »Au, hör auf, du Satansbraten! Was fällt dir ein?«

Sie trat erneut nach ihm. Er ließ die Leiter los und fiel. Er landete auf dem Rücken und sah überrascht aus. Seine Nase war schief und blutig. Er rückte sie gerade und sie rastete mit einem leisen Knirschen wieder ein.

»Au«, sagte er wieder und schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht mehr lang genug leben, um das noch bereuen zu können.«

Claire stieg hastig die letzten paar Sprossen hinauf und warf sich im Labor auf den Boden, gerade als Myrnin die Beine anspannte und zum Sprung ansetzte, um sie oben an der Leiter zu erwischen. Er verfehlte sie, schlug ungeschickt auf dem Boden auf und rollte sich geschmeidig ab, sodass er in die Hocke kam.

Claire rappelte sich auf und rannte zu ihrem Rucksack. Eigentlich wollte sie das Silber nicht verwenden, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Sie konnte nicht einfach zulassen, dass er sie auffraß.

Myrnin schien vorübergehend das Interesse an ihr verloren zu haben. Er war aufgestanden und sah sich mit halb geöffnetem Mund im Labor um. »Was zum Teufel ist hier passiert? Hat Ada das getan? Sieh mal einer an. Sie ist wirklich eine gute Haushälterin, nicht wahr? Hier war es doch immer viel unordentlicher.«

Im Laufen schnappte Claire ihren Rucksack und machte den Reißverschluss auf. Sie schnitt sich an dem Messer, das sie hineingestopft hatte, doch dann tastete sie nach dem Griff und bekam ihn zu fassen, gerade als Myrnin aufhörte, das Szenario zu bestaunen, und auf sie zugerannt kam.

Er sprang von Tisch zu Tisch, im Zickzack genau wie sie; seine Augen glühten in mattem Rot. Sie sah, wie Michael aus dem Tunnel kletterte und Shane hinter sich herzog. Keiner von beiden sah besonders gut aus.

Claire wartete, bis Myrnin nah genug war, dann fuhr sie ihm mit dem Messer quer über die Brust, wobei sie nur knapp sein Gesicht verfehlte.

Er hielt inne, sah an sich hinunter und sagte: »Oh nein, ich liebe diese Weste.« Und dann fing das Silber an, ihn zu verbrennen. Seine Augen wechselten von Blassrot zu einem hellen, zornigen Karmesinrot.

Er sah Claire an. »Niemand darf sich wehren. Das ist gegen die Regeln.«

»Sie sind nicht Sie selbst«, sagte sie. »Bitte tun Sie das nicht.«

Einen Augenblick lang glaubte sie, dass tatsächlich etwas in ihm an die Oberfläche drängte, etwas, das sie wiedererkannte... aber dann war es weg, und der alte Myrnin, der grausame, war wieder da. »Wenn du je hierher zurückkommst«, sagte er. »Dann zerfetze ich dich. Das ist mein Zuhause. Du bist hier nicht willkommen.«

»Claire!«, schrie Michael. »Das Portal! Lauf zum Portal!«

Sie war nicht weit davon entfernt, aber sie würde es nicht schnell genug dorthin schaffen. Er war teuflisch schnell und sehr wütend. Sie musste ihn so schwer verletzen, dass er aufgehalten wurde, wenigstens vorübergehend.

Sie holte aus, stieß ihm das Messer in die Schulter und ließ es stecken. Es widerstrebte ihr, aber es war das Einzige, was ihr innerhalb von Bruchteilen von Sekunden einfiel. Myrnin war alt, vielleicht sogar älter als Amelie; das Silber würde ihm Schmerzen bereiten, aber es würde lange dauern, bis es ihn umbrachte. Sie musste das Risiko eingehen.

Es funktionierte. Myrnin heulte auf, fasste nach ihr, doch er verfehlte sie. Dann schlug er nach dem Messer, aber es war reines Silber. Er konnte es nicht packen, ohne sich zu verbrennen. Claire zögerte nicht. Sie rannte zum Portal, wo Michael gerade Shane vor sich hindurchschob.

Claire blickte über die Schulter zurück. Myrnin wickelte sich die zerrissene Weste um die Hand, um das Messer herauszuziehen.

Sie stürzte durch das Portal und brachte das Netzwerk dazu, den Eingang zu verschließen. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig; sie spürte noch die Wucht, mit der Myrnin versuchte das Portal zu überwinden, aber sie hatte inzwischen Übung darin und er hatte Schmerzen. Seine Versuche, zum Glass House durchzubrechen, hörten schließlich auf.

Claire wich zurück, bis sie gegen das Sofa stieß, und starrte weiter auf die leere Wand. »Hey, Haus?«, rief sie. »Wir müssen Myrnin draußenhalten. Es ist wichtig.«

Das Glass House hatte ein seltsames Empfindungsvermögen - nichts, was sie genau hätte in Worte fassen können, aber manchmal bat sie es um Hilfe und manchmal gehorchte es ihr auch. Jetzt spürte sie eine warme Welle, eine Art Energiefluss, der durch sie hindurch zum Portal hin strömte und es versiegelte.

Ein übernatürliches Schloss, das besser war, als sie selbst es jemals hinbekommen hätte.

»Danke«, sagte sie. Sie wäre am liebsten zusammengebrochen, doch stattdessen schaute sie nach Michael und Shane.

Shane lag auf dem Sofa. Michael stand einfach nur da, sein T-Shirt hing in Fetzen herunter und sie sah die blassen Umrisse der Wunden, die gerade dabei waren zu heilen.

Shane hate eine Platzwunde am Kopf und sah immer noch benommen aus.

»Fein«, murmelte er. »Ich hoffe, jemand hat an die Leiter gedacht. Das war eine gute Leiter.«

Claire zitterten die Knie und sie musste sich schnell setzen. Das war witzig und doch überhaupt nicht witzig. Eher beängstigend.

Was hatte Hannah noch einmal über die Vampirin aus dein Imbiss gesagt? Sie ist nicht zu sich gekommen. Soweit wir das bisher beurteilen können, wird sie nie wieder zu sich kommen. Und Oliver war erst letzte Nacht gezwungen gewesen, eine andere Vampirin, die verrückt geworden war, zu töten.

Myrnin war der alte Myrnin. Der verrückte Myrnin, so wie er gewesen war, als er Ada umgebracht und ihr Gehirn in die Maschine gesteckt hatte. Er war grausam gewesen. Und wahnsinnig.

Das war nicht mehr der Mann, den sie kannte. Und jetzt wusste er, was sie wollten.

»Wir müssen ihn zurückholen«, sagte Claire laut, sie war total entsetzt und fühlte sich elend. »Unbedingt.«

Weil sie ihn mochte, aber auch weil Myrnin der Einzige war, der das Passwort kannte, um die Maschine abzuschalten.

Sie versuchte, Amelie zu erreichen, aber sie hatte nur die Mailbox dran. Sie hinterließ eine Nachricht, dass sie jemanden schicken sollte, um Myrnin festzunehmen - mehr als eine Person, und wenn möglich, schwer bewaffnet. Claire versprach, die Maschine am nächsten Morgen abzuschalten, wenn das Labor Myrnin-frei sei. Falls sie das Passwort nicht knacken konnte würde sie genau das tun, was Shane vorgeschlagen hatte: Sie würde den Stecker ziehen. Lieber alles zerstören als riskieren, dass das so weiterging.

Shane im Krankenhaus untersuchen zu lassen war ein ziemlich irres Erlebnis wegen der vielen seltsamen Vorfälle und Verletzungen, die jetzt dauernd passierten. Er hatte keine Gehirnerschütterung, aber er musste am Haaransatz genäht werden. Wieder einmal.

Das machte ihm keine allzu großen Sorgen. »Mädchen lieben interessante Narben«, sagte er. »Stimmt’s? Mädchen? Oder nicht?« Eve hob die Hand. Claire ebenfalls. Michael und Shane klatschten sich ab, aber nicht so kräftig, denn Shane zuckte zusammen. »Was immer da vor sich geht - wenigstens hat es keinen von uns vieren getroffen. Das ist gut.«

Claire sah Michael an, aber der schien nicht zu wissen, warum sie in seine Richtung starrte. Er erinnerte sich nicht daran. Und wenn doch, dann hatte er als Traum verbucht, so wie viele andere Leute das bestimmt auch getan hatten.

Auf einmal hob Eve den Kopf, als beobachtete sie jemanden, der hinter Claire vorbeiging. »Wow«, sagte sie. »Nicht mal hier kann man den bösen Elementen entkommen. Monica auf sechs Uhr, Claire-Bär.«

Claire sah sich um. Es war tatsächlich Monica, die da direkt auf sie zusteuerte. Sie hatte Gina im Schlepptau, aber nicht Jennifer. Beide sahen aus, als würden sie erwarten, dass jeden Augenblick eine Party losging, aber sie hatten furchtbar altmodische Sachen an. Die Art, wie Monica sich bewegte, war irgendwie seltsam. Es sah weniger elegant aus, als Claire gewohnt war, es wirkte beinahe plump.

Monica ging geradewegs an ihr vorbei, ohne Claire eines Blickes zu würdigen. Sie funkelte Eve an, lächelte Michael zu und heftete ihren Blick auf Shane. »Ach Gott, du bist auch da! Ich habe mich schon gefragt, wo du gesteckt hast. Hast du meine SMS-Nachrichten nicht bekommen?«

Shane sah sie an, zuckte zusammen und schloss die Augen. »Bitte mach, dass die schlimmen Dinge vorbeigehen.« Er stöhnte. »Ich habe schon Kopfweh.«

Monicas breites Lächeln wurde unsicher und Claire hätte schwören können, dass ganz kurz ein verletzter Ausdruck über ihr Gesicht huschte. Dann wurde ihr Lächeln einfach noch breiter. »Oh«, sagte sie. »Du hast sie wohl nicht bekommen. Gemailt habe ich dir auch. Ich schicke dir alles noch mal.«

»Lieber nicht«, sagte Shane. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Was sind wir - Freunde?«

Monica sah ihn finster an. »Hör auf, den Mistkerl zu spielen, Shane. Natürlich sind wir Freunde.« Sie kicherte. Kicherte. »Na ja, weißt du, wir küssen uns doch sogar.«

Shane riss die Augen auf und starrte sie an. Er machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu, dann schaute er zu Michael, der Monica ebenso verständnislos ansah.

»Vielleicht könnte ja noch mehr daraus werden«, sagte Monica und zwinkerte ihm zu. »Weißt du noch, wie wir in der Besenkammer in der Schule rumgemacht haben? Das war heiß, oder?«

Shane wurde tatsächlich rot. Auf seinen Wangen bildeten sich kleine rote Flecken. Claire starrte sie fasziniert an und dachte: Als würde man so eine Realityshow mit Opfern eines Zugunglücks anschauen. Es war beinahe amüsant. »Halt die Klappe«, sagte Shane. Er sah aus, als würde er gerade fast an etwas ersticken.

»Komm, mach dich locker. Es ist ja nicht so, dass wir es miteinander getrieben hätten. Noch nicht.«

»Im Ernst. Halt. Die. Klappe.«

Monica musste wohl endlich mitbekommen haben, dass Shane echt keine Witze machte, denn sie sah ein bisschen mitgenommen aus. Dann wechselte sie hastig das Thema. »Was ist denn mit dir passiert? Ach, wir sind hier, weil Jennifer wohlf tief in die Ginflasche ihrer Mom geschaut und dann vergessen hat, wie man Auto fährt, auch wenn sie es gerade erst gelernt hat. Total witzig! Sie hat das Auto ihrer Mom geschrottet - zumindest glaube ich, dass es das Auto ihrer Mom war. So ein rotes Cabrio. Total protzig! Sie liegt ein paar Zimmer weiter. Und ihr?«

»Tu mir einfach den Gefallen und geh, Monica. Ich kan diese Nerverei jetzt einfach nicht brauchen.« Wenn Shane wollte, konnte er ganz schön direkt und fast schon gemein sein; Claire tat es beinahe leid, als sie sah, wie Monicas Lächeln in sich zusammenfiel.

»Mein Gott, ich wollte doch nur nett sein, Collins«, sagte Monica. »Du bist ein richtiger Penner. So süß bist du nun auch wieder nicht. Ich finde was Besseres. Was viel Besseres.«

Mit wippenden Haaren stolzierte sie davon. Wie seltsam. Schließlich sagte Shane: »Woran erinnert euch das?«

Eve tippte sich mit ihrem blutrot lackierten Fingernagel auf die Unterlippe. »Daran, dass ich sie am liebsten kahl scheren würde, während sie schläft?«

»Das habe ich nicht gemeint. Mike?«

»An die Schule«, sagte Michael sofort. »So war sie in der Schule. als sie sich an dich rangeschmissen hat.«

»Wo wir gerade von der Schule sprechen ...«, sagte Eve. »Was zum Teufel war das mit dem Rumgemache in der Besenkammer?«

»Nichts.«

»Du hast Monica allen Ernstes die Zunge in den Hals gesteckt in dieser...«

»Eve, halt die Klappe.«

»Nein, im Ernst, ich muss das wissen. Warstdu high? Denn das ist ehrlich gesagt die einzige Entschuldigung, die mir dafür einfällt.«

»Es war nicht meine Schuld. Sie hat mich gepackt und hineingezerrt.« Shane schoss wieder das Blut in die Wangen. »Ein Mal. Es war eine einmalige Sache. Und am nächsten tag habe ich zu ihr gesagt, sie soll sich verpissen.« Shanes Augen weiteten sich und Claire sah, wie seine Miene sich veränderte. »Der nächste Tag. Das war der Tag, an dem sie … der Tag, an dem sie gesagt hat, dass ich das noch bereuen würde.«

»Oh Mann«, sagte Michael. »Das war nur ein paar Wochen bevor...«

Shane schloss wieder die Augen. »Ich will nicht darüber reden.«

Sogar Eve ließ das durchgehen, denn was unausgesprochen blieb, war, dass zwei Wochen später bei Shane zu Hause ein Feuer ausbrach und Monica schuld gewesen war. Vielleicht.

Und Shanes Schwester gestorben war.

»Sie hat mich nicht mal angeschaut«, sagte Claire. »Sie schaut mich sonst immer an.«

»Was?«, fragte Michael zerstreut.

»Monica. Sie lässt keine Gelegenheit aus, etwas Fieses zu mir zu sagen. Hat sie aber nicht. Es war, als würde sie gar nicht wissen, dass ich existiere.«

Genau deshalb hatte Monica sie nicht beachtet, dämmerte es Claire endlich. Sie war nicht der Feind. Monica kannte sie gar nicht. Sie war mental zurück in der... was war das, zehnten Klasse? Bevor Shanes Zuhause abgebrannt war und seine Familie die Stadt verlassen hatte.

Monica dachte, sie wären immer noch in der Highschool.

»Ist ja unheimlich«, sagte Claire.

Shane schluckte. »Du hast ja keine Ahnung. Monica ist mir überallhin nachgelaufen. Hat mir Porno-Briefchen und -SMS geschickt. Sie hat jedem erzählt, dass ich mit ihr zusammen bin, und hat jedes Mädchen verprügelt, mit dem ich geredet habe. Das war echt übel.«

Wow. Monica war eine Stalkerin. Das warf ein ganz neues Licht auf die Sache. »Wie lange ging das so?«

»Ich glaube, ungefähr drei Monate. Michael?«

»Ja, das kommt hin. Das war, nachdem sie entschieden hatte, dass ich außen vor bin.« Er schüttelte den Kopf, als Claire den Mund aufmachte. »Frag nicht. Sie war eine Serien-Stalkerin. Hat fast alle

Sportler durchgemacht, aber warum sie sich ausgerechnet uns beide ausgesucht hat, ist mir ein Rätsel.«

»Na ja, wie wär’s mit: Du bist hinreißend süß und wahnsinnig begabt?«, sagte Eve. »Ich war auch total in dich verknallt. Nicht in dich Collins. In dich, Glass.«.

Da kam der Arzt vorbei und schickte sie hinaus, um Shanes Wunde zu nähen. Claire war froh, dass sie diesen Teil nicht mitbekam. Nähen tat weh, das wusste sie aus Erfahrung.

Monica und Gina tranken Dosencola mit dem Strohhalm und kicherten, während sie den Hintern der Assistenten und Ärzte begutachteten. Es war ganz... untypisch für sie. Und doch war es gleichzeitig auch wieder typisch. Monica schaute immer wieder mit gierigen Augen fasziniert zu dem Vorhang hinüber, der Shane verbarg; Claire wurde es ganz heiß vor Wut und sie fühlte sich schmutzig.

Monica dachte immer noch, dass Shane Interesse an ihr hatte. Allen Beweisen zum Trotz.

»Das ist nicht richtig«, sagte Michael und sah sich um. »Das fühlt sich einfach nicht richtig an, weißt du? Es ist, als wäre alles... verstimmt. Ich weiß nicht, ob du das auch so empfindest wie ich. Vampire nehmen die Dinge anders wahr.«

»Deshalb wurden wohl einige von ihnen gewalttätig«, sagte Claire. »Wir müssen das in Ordnung bringen. Irgendwie. Sonst wird es noch schlimmer.«

»Na ja, du kannst nicht zu Myrnin zurückgehen. Nicht nachdem...«

»Michael, ich muss! Diese Sache hier kommt und geht, stimmt's? Die Leute kommen da wieder raus. Myrnin wird auch wieder zu sich kommen, und wenn es so weit ist, muss ich da sein und herausfinden, was zu tun ist.« Sie holte tief Luft. »Oder wir müssen den Stecker ziehen, wie Shane gesagt hat. Das ist die einzge andere Lösung.«

»Ich wäre dafür, das ganze Gelände von oben mit Nuklearwaffen zu beschießen«, sagte Eve. »Ist die einzige Lösung, die auch wirklich sicher ist.«

»Komm mir jetzt bloß nicht mit Aliens-Zitaten, ich dreh sowieso schon durch!«

»Sorry. Aber das ist immer ein guter Rat.«

»Das ist wirklich ein guter Rat«, sagte Michael. »Ich kann gehen und den Stecker ziehen. Myrnin wird mir nichts tun...«

»Doch«, sagte Claire. »Myrnin hat früher schon andere Vampire gebissen, falls du das vergessen hast. Du brauchst nicht zu glauben, dass du davonkommst, nur weil du zum Blutklub gehörst. Außerdem ist er stark und echt schnell. Tu es nicht. Lass Amelie gehen oder Oliver. Ich glaube nicht, dass er sie beißen würde.«

»Du glaubst es nicht?«

Sie zuckte unglücklich mit den Schultern. »Ich erkenne ihn nicht mehr wieder, wenn er so ist. Ich weiß nicht, wozu er dann fähig ist.«

»Wir sind total im Arsch«, sagte Eve. »Was ist mit Amelie? Was macht die so?«

Das öffnete die Büchse der Pandora in Claires Magengrube. Sie war sich absolut sicher, dass Amelie und Oliver nicht wollten, dass sie irgendjemandem erzählte, was sie zuvor miterlebt hatte, nicht einmal - oder vielleicht erst recht nicht - Eve und Michael. Sie beschloss, eine ausweichende Antwort zu geben. »Ich weiß nicht. Oliver hat gesagt, ich soll mich darum kümmern, aber...« Wieder musste Claire mit den Schultern zucken. »Vielleicht sind die beiden ja inzwischen selbst betroffen.«

»Also, das wäre schlimm. Das wäre eine Katastrophe.«

Der Meinung war Claire auch. »Am besten, ich frage nach, was sie tun wollen. Komisch, dass mich niemand zurückgerufen hat«, sagte sie. »Michael, könntest du hierbleiben und auf Shane warten ...«

Der Vorhand wurde aufgerissen, sie mussten nicht warten. Shane kam langsam zu ihnen herüber. Die Wunde war genäht und mit einem weißen Verband zugeklebt worden. Claire nahm seine Hand und er lächelte. Er sah ein bisschen blass aus. »Ich bin startklar. Was machen wir jetzt?«

„Dich nach Hause bringen«, erwiderte Claire.

»Nicht, wenn ihr woandershin geht.«

»Du bist verletzt«, sagte Michael. »Ich glaube, du hast da keine Wahlfreiheit.«

»Ach ja? Willst du mich aufhalten?«, sagte Shane grinsend. »Ich kenne dich. Du würdest keinen Kerl verprügeln, der schon angeschlagen ist.«

Eve streckte ihm die Hand zum Abklatschen hin. »Applaus für Shane Collins, den Meistermanipulator!«

Er schlug ein und zuckte wieder ein bisschen zusammen. »Na ja, man kann nicht mit meinem Dad aufwachsen, ohne ein paar Sachen zu wissen. Also, wo gehen wir hin?«

»Zu Amelie«, sagte Claire. »Sie kann mit uns ins Labor gehen und Myrnin festhalten, während wir den Stecker ziehen, wenn es ihm inzwischen nicht... besser geht.«

»Was heißt da besser bei dem Typen?«

»Keine Vampirzähne und raaaaaar .«

»Oh. Okay. Kleiner Zwischenstopp zu Hause, ich will die Ausrüstung holen.«

Falls Shane Widerspruch erwartet hatte - es kam keiner. Claire dachte dasselbe.