13
Claire wachte wieder auf, als ihr die Sonne in die Augen schien, und einen kostbaren, süßen Moment lang genoss sie die Wärme auf ihrem Körper und die Tatsache, dass Shane sich noch immer an ihren Rücken schmiegte und sein Arm schwer auf ihrer Hüfte lag. Bedauernd drehte sie sich dann zu ihm um. »Hey«, sagte sie. »Wach auf, du Schlafmütze, wir haben verschlafen.«
Shane murmelte etwas und versuchte, sich ein Kissen über den Kopf zu ziehen. Sie zog es weg. »Komm schon, steh auf, wir haben zu tun!«
»Lass mich, Lyss«, stöhnte er. Er schlug die Augen auf, blinzelte und heftete schließlich den Blick auf sie.
Und dann flippte er total aus.
Er schlug um sich, verhedderte sich in den Decken, und als er versuchte, sich herauszuschälen, fiel er aus dem Bett. Claire lachte und lehnte sich über die Bettkante, um zu ihm hinunterzuschauen. »Hey, geht es dir... gut...?«
Die Worte erstarben, weil er immer noch am Ausflippen war. Er wand sich in den Laken, packte die Decke und wickelte sie um sich, während er sich hochrappelte, barfuß, und vom Bett zurückwich.
Vor ihr.
Er streckte ihr die Hand aus, mit der er nicht die Decke festhielt. »Okay«, sagte er. »Okay, denk nach, Collins, denk nach – ja, okay, das ist jetzt peinlich und es tut mir wirklich leid, denn ich bin sicher, du bist wirklich... oh Mann. Was hab ich bloß getan, verdammt? Haben wir getrunken? Wir müssen getrunken haben.«
»Shane?« Claire hatte noch ein Laken, das sie jetzt über sich zog, weil sie plötzlich fror und sich sehr nackt fühlte. »Shane ...«
Er ging immer noch rückwärts, sah panisch aus und sehr verlegen. »Also, wir wurden einander offenbar irgendwann während meines irrsinnigen Saufgelages offiziell vorgestellt. Uh, hi. Hör mal, du musst leise sein, okay? Meine Eltern bringen mich um, wenn ...« Er verstummte und sah sich im Zimmer um. »Oh, Scheiße. Das ist nicht mein Zimmer, oder? Das ist deins. Das heißt wohl, ich bin die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen. Mein Dad bringt mich...« Er kniff die Augen zu. »Eine Hose. Ich brauche eine Hose. Wo ist meine Hose?«
Claire hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz brechen. Als würde es wirklich und wahrhaftig in gezackte, blutige Stücke zerspringen. Sie hätte am liebsten geschrien und geweint, aber vor allem wollte sie, dass das hier gerade nicht passierte. Sie schaffte es nicht, irgendetwas zu sagen, und er beachtete sie überhaupt nicht, während er herumsuchte. Er fand seine Hose und sein T-Shirt, dann zog er sich unter dem Laken ungeschickt die Hose an und ließ es dann fallen. Bevor er sein T-Shirt anzog, drehte er sich zu ihr um, und das tat weh, es tat schrecklich weh, dass er sie ansah, als würde er sie überhaupt nicht kennen.
Ihr Entsetzen und ihr tiefer Kummer mussten sich wohl in ihrem Gesichtsausdruck niedergeschlagen haben, denn seine Miene wurde ein wenig weicher. Er machte ein paar Schritte auf das Bett zu und sagte: »Ähm, hör mal - ich weiß … es tut mir leid. Ich bin wahrscheinlich ein totaler Depp, weil ich dir das angetan habe, und ich verspreche, dass das nicht … Eigentlich lasse ich mich nicht volllaufen und schleppe dann jemanden ab; du bist... du bist irgendwie gar nicht der Typ dafür. Ich meine, du bist schon hübsch, ich will damit nicht sagen, dass du nicht … tut mir leid. Ich bin echt schlecht in so was. Aber ich muss jetzt sofort nach Hause.« Er zog sein T-Shirt an und suchte nach seinen Schuhen; er fand sie, schlüpfte ohne Socken hinein und machte sich nicht die Mühe, die Schnürsenkel zu binden. »Hör mal, ich ruf dich an, okay? Ähm... wie heißt du nochmal...?«
»Claire«, flüsterte sie. Jetzt fing sie an zu weinen und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Ich heiße Claire. Es ist meine Schuld.«
»Hey, nicht doch, nicht... es tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld. Du bist irgendwie...« - er beugte sich über sie und küsste sie verlegen, es fühlte sich an, als wäre er ein Fremder - »ganz nett. Ich verspreche dir, dass wir später reden. Wir kriegen das schon hin. Oh Gott, hatten wir ein... Haben wir Vorsichtsmaßnahmen getroffen oder...?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Ich muss gehen. Bis später.«
»Warte!«, heulte sie auf, als er ihre Zimmertür aufmachte und durch den Flur rannte. »Shane, warte!« Er wartete nicht. Sie schnappte sich ihre Jeans und ihr T-Shirt vom Boden, zog sich hastig an, schlüpfte in die Schuhe und rannte ihm nach. Shane, bitte nicht...«
Er stand im Wohnzimmer, blickte um sich, und als sie atemlos die Treppe heruntergeklappert kam, drehte er sich um und sah sie wieder an. Dieses Mal schien er nicht mehr so verwirrt zu sein, aber auch noch nicht wieder er selbst. »Das ist Michaels Haus«, sagte er. »Was machen wir hier?«
»Shane … Shane, bitte hör mir zu. Wir wohnen hier! Mit Michael und Eve!«
»Sprich leiser!« Er machte hektische Handbewegungen und senkte die Stimme noch mehr. »Okay, du bist irgendwie ganz nett und jetzt bist du wahrscheinlich einfach nur erschöpft. Wir wohnen nicht hier. Vielleicht wohnst du hier – vielleicht bist du eine Cousine oder so, ich weiß nicht -, aber ich wohne
bei meinen Eltern und bei meiner Schwester. Nicht hier«
»Nein! Nein, deine Eltern...« Oh Gott. Was sollte sie denn jetzt sagen? Was konnte sie denn sagen? Ihr Kopf war vollkommen leer. Er wartete, dann hob er beide Hände und wich zurück.
»Egal, du verrücktes Huhn - vielleicht wohnst du hier, vielleicht bist du auch einfach in Michaels Haus eingebrochen, als alle weg waren. Ich bin jedenfalls raus. Dir noch ’ne schöne Wahnvorstellung.«
Sie konnte ihn nicht gehen lassen, sie konnte einfach nicht. Als er durch den Flur lief, rannte sie ihm nach. »Shane, nicht! Geh nicht nach Hause. Du kannst nicht nach Hause!«
Darauf reagierte er schon gar nicht mehr. Er machte die Haustür auf und trat hinaus in die Morgensonne. Sie zögerte an der Tür und überlegte, ob sie zurückrennen und ihren Rucksack holen sollte, ob sie irgendetwas holen, ob sie irgendjemanden anrufen sollte, aber Shane war schnell und sie hatte keine Ahnung, wo das alte Haus der Collins’ gestanden hatte. Er hatte es ihr nie gesagt und nie gezeigt.
Sie schloss die Tür ab und folgte ihm.
Shane blickte sich kein einziges Mal um. Vielleicht merkte er, dass sie da war, und war entschlossen, sie nicht zu beachten, sie wusste es nicht. Sie ließ einen großen Abstand zwischen sich und ihm, weil sie nicht allzu stalkermäßig rüberkommen wollte. Wenn sie ihn allerdings aus den Augen ließ ...
Er bog um die nächste Ecke, und als sie sich beeilte, ihn einzuholen, sah sie, dass er rannte und schnell den Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Nein, nein, nein! Wenn sie ihn jetzt verlor, würde sie ihn vielleicht nie wiederfinden. Das war zu viel entsetzlich, nicht nur für sie, sondern auch für ihn. Er wusste es nur noch nicht.
Sie kam an einer Gasse vorbei und war sich sicher, dass er immer noch vor ihr war, als er sie plötzlich packte und heftig gegen die Wand eines Gebäudes schleuderte. Sie hatte vergessen, wie groß und stark Shane war. Oder dass er das normalerweise nur zeigte, wenn er wollte. So wie jetzt. Seine Augen loderten und er presste wütend und trotzig die Kiefer aufeinander. Shane im Kampfmodus.
Er hielt sie eine Zeit lang fest, so als würde er darüber nachdenken, was er jetzt mit ihr machen sollte.
»Es reicht«, sagte er dann und ließ sie los. »Hör mal, ich will dir nicht wehtun, aber du darfst mir nicht mehr folgen. Das ist total gestört. Verschwinde jetzt; das nächste Mal bin ich nämlich nicht mehr so nett.«
»Du würdest mir nicht wehtun«, sagte Claire. »Ich weiß, dass du das nicht tun würdest.«
»Ja, aber verlass dich lieber nicht darauf. Ich mag kein Mädchen schlagen, aber das heißt nicht, dass ich nicht zurückschlagen würde, wenn du anfängst. Frag Monica.« Daraufhin machte er ein finsteres Gesicht und sie sah echte Wut in seinen Augen. »Monica. Hat sie das Ganze hier eingefädelt? Hat sie mir irgendwelche Drogen untergejubelt? Hat sie Fotos gemacht, die sie auf Facebook stellt? Will sie mich erpressen?«
»Nein. Ich habe nichts zu tun mit Monica.«
»Blödsinn«, sagte Shane schonungslos. »Hör auf, mir zu folgen. Das meine ich ernst. Und hör auf zu heulen, das zieht bei mir nicht.«
Er drehte sich um und ging weiter. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste, dass es ihm ernst war: sie benahm sich tatsächlich seltsam, verrückt und bedrohlich und in Morganville konnte er sich niemand leisten, darüber hinwegzusehen. Deshalb würde er wahrscheinlich handeln, wenn sie ihm weiter folgte. Vielleicht ließ er sie sogar verhaften.
Das war ihr zwar egal, aber es musste noch einen anderen Weg geben. Irgendeinen. Sie konnte ihn nicht einfach gehen lassen.
Auf der Straße ging eine Frau vorbei, die verwirrt aussah und die Adressen der Häuser überprüfte. Wahrscheinlich suchte sie einen Laden, den es längst nicht mehr gab. Claire wartete, bis Shane um die Ecke gebogen und außer Sicht war, dann ging sie zu der Fremden. »Hallo«, sagte sie. Verzweifelt versuchte sie höflich und hilfsbereit zu klingen und sich ihre tiefe Verstörung nicht anmerken zu lassen. Die Frau lächelte sie zerstreut an. Sie trug ein Armband, also stammte sie aus Morganville und Claire war erleichtert. »Ähm, suchen Sie etwas?«
»Ach, es ist einfach bescheuert. Ich glaube, ich bin total durcheinander«, sagte die Frau. »Ich verstehe gar nicht, wie das kommt, ich arbeite hier schon seit Jahren - Grant’s chemische Reinigung. Ich hätte schwören können, sie ist... genau hier ...«
»Oh, ich glaube, die ist umgezogen«, sagte Claire. »Ist sie jetzt nicht einen Häuserblock weiter?«
»Wirklich?« Die Frau runzelte die Stirn und Claire bemerkte Angst und Verwirrung in ihren Augen. Sie wünschte, sie könnte ihr helfen, aber wie? »Ach, so muss es wohl sein. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ich... Ich verliere wohl allmählich den Verstand. Ist das nicht seltsam?«
Den verlieren wir gerade alle, dachte Claire, aber sie sagte: »Vor dem ersten Kaffee morgens erinnere ich mich an gar nichts« und lächelte. Die Frau sah ein wenig beruhigt aus. »Ähm, vielleicht können Sie mir weiterhelfen? Ich suche das Haus von Frank Collins, ich glaube, es muss hier irgendwo sein «
»Ach, Mr Collins.« Die Frau sah nicht gerade so aus, als würde sie ihn mögen, aber sie nickte. »Ja, zwei Blocks weiter, dann einen Block nach links, da wohnt er mit seiner Familie. Im Helicon Drive. Großes zweistöckiges Haus.«
»Danke«, sagte Claire aufrichtig. »Ich hoffe, Sie kommen noch gut zur Arbeit.«
»Ach, bestimmt. Aber vielleicht gehe ich doch lieber vorher noch einen Kaffee trinken.«
Claire winkte ihr zu und rannte davon. Die Dame rief ihr noch nach: »Du läufst in die falsche Richtung, Schätzchen!«
»Abkürzung!«, schrie Claire zurück.
Jetzt da sie wusste, wo das Haus sein sollte, nahm sie eine Seitenstraße und folgte ein paar Gassen - das war gefährlich, aber unvermeidlich, wenn sie nicht den Anschein erwecken wollte, sie würde Shane immer noch folgen. Sie rannte schnell und kam genau in dem Moment, als Shane aus der anderen Richtung kam, in der richtigen Straße heraus, nur einen Block weiter.
Zwischen ihnen war nur ein großes, hässliches verlassenes Grundstück mit einem schiefen verrosteten Briefkasten. Das Grundstück war von Unkraut überwuchert, aber die Überreste des Hauses waren noch da... rissige Betongrundmauern, ein paar Stufen, die zu einer Haustür hinaufführten, die nicht mehr da war. Sonst nichts, nur noch ein paar verbrannte Holzbalken, die zu groß waren, als dass man sie einfach wegtragen könnte. Claire blieb stehen und beobachtete, wie Shane auf das Grundstück zulief... und ebenfalls stehen blieb.
Er sah zu den Ruinen, dann zu dem Briefkasten. Schließlich machte er den Briefkasten auf und schaute hinein. Die Klappe vom Briefkasten fiel ab, aber er fand ein paar alte vergilbte Papiere darin.
Rechnungen. Mit dem Namen der Familie darauf, nahm Claire an. Er starrte auf die Briefe, schüttelte den Kopf und steckte sie zurück in den Briefkasten.
Sie sah, wie die Erkenntnis durchsickerte, genau wie es bei allen anderen passiert war - die Erkenntnis, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten. Dass etwas mit der Zeit nicht stimmte. Dass alles verkehrt war.
Er taumelte und versuchte, sich am Briefkasten festzuhalten, doch der knickte um und fiel in das Unkraut. Hektisch versuchte Shane, ihn wieder aufzurichten, ihn wieder zu befestigen, es in Ordnung zu bringen, aber der Pfosten war vermodert. Dann setzte er sich daneben, verbarg den Kopf in den Händen und zitterte.
Claire ging ganz langsam auf ihn zu. »Shane«, sagte sie. »Shane, es tut mir so leid. Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Es tut mir so leid.«
»Unser Haus«, flüsterte er. »Es ist hier. Es sollte hier sein.« Er blickte zu ihr auf und seine dunklen Augen schwammen in Tränen. »Irgendetwas ist passiert. Aber was ist passiert?«
Sie fühlte sich elend und es war schrecklich, was sie ihm jetzt gleich antun musste. »Es gab... einen Unfall.«
»Wo sind sie?«, fragte Shane und sah sich den zerstörten Ort an, an dem sich sein Leben einmal abgespielt hatte. Weiter hinten stand eine verrostete Schaukel, sie war verbogen und kaputt. »Alyssa. Wo ist Alyssa? Wo ist meine Schwester?«
Claire streckte ihm die Hand hin. »Steh auf«, sagte sie leise. »Ich bringe dich hin.«
»Ich will meine Schwester sehen! Ich bin für sie verantwortlich!«
»Ich weiß. Vertrau mir einfach, okay? Ich bringe dich hin.«
Er war jetzt nicht mehr in der Verfassung, wütend zu sein oder auch nur misstrauisch. Er nahm einfach ihre Hand und sie zog ihn hoch, sie hielt seine Hand weiterhin fest und führte ihn die Straße hinunter. Die Sonne schien warm, aber der Wind fühlte sich kühl an, er brachte in kurzen, scharfen Böen den Winter mit.
»Wo gehen wir hin?«, fragte Shane, aber es klang nicht so, als würde ihn das wirklich kümmern. »Ich kann es nicht glauben … Es muss letzte Nacht passiert sein, als ich ...«
»Shane, du hast es doch gesehen. Das Unkraut steht dort hüfthoch. Der Briefkasten war verrottet. Da ist nichts mehr.« Claire holte tief Luft. »Das ist vor Jahren passiert, nicht über Nacht.«
»Du bist ja verrückt.« Er versuchte, sich von ihr loszureißen, aber sie hielt ihn fest. »Das ist nicht wahr. Gestern war es noch da!«
»Hör mir zu! Mein Gott, Shane, bitte! Ich weiß, dass du glaubst, es war erst gestern, aber es ist schon lange her. Du warst... woanders. Du erinnerst dich jetzt nur nicht mehr daran.« Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und versuchte, tapfer und ruhig zu klingen, als sie weitersprach. »Alles wird gut. Vertrau mir einfach.«
»Bring mich zu meiner Familie.«
Ich bringe dich zu Alyssa«, sagte sie. »Bitte. Vertrau mir.«
Sie kannte den Weg.
Auf dem Friedhof war es kalt und still und der Wind fühlte sich hier noch mehr nach Winter an, auch wenn die Sonne auf den Grabsteinen aus Granit und auf den weißen Marmormausoleum funkelte. An einigen Stellen war das Gras noch grün, aber meist war es braun.
Auf dem Grabstein stand ALYSSA COLLINS, GELIEBTE TOCHTER UND SCHWESTER sowie das Geburts- und Sterbedatum.
Shane las es und sein Gesicht wurde weiß und ganz starr, seine Augen wirkten seltsam, als er Claire ansah. »Das ist nicht wahr.«
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber es ist wahr.«
»Das ist ein übler Scherz.«
»Nein, Shane«, sagte sie. »Alyssa ist bei dem Feuer ums Leben gekommen. Sie ist vor drei Jahren gestorben, bevor du Morganville mit deiner Mom und deinem Dad verlassen hast. Bevor ich überhaupt hierhergekommen bin. Ich weiß, dass du dich nicht daran erinnerst, aber so war es. Ihr habt die Stadt verlassen und du bist zurückgekommen und in Michaels Haus eingezogen, zusammen mit ihm und Eve. Dann bin ich gekommen und bin ebenfalls dort eingezogen.«
»Nein«, sagte er und machte einen großen Schritt zurück, dann noch einen. Fast wäre er gegen einen anderen Grabstein gestoßen und er suchte daran Halt, als er ins Stolpern geriet. »Nein, du lügst. Das ist irgend so ein krankes Spiel, das Monica sich ausgedacht hat, aber das ist sogar für ihre Verhältnisse echt mies...«
»Shane, das war nicht Monica und es ist kein Spiel! Shan! Hör mir zu!«
»Ich habe dir lang genug zugehört!«, brüllte er. Er versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie hinfiel und sich fast an Marvis Johnsons Grabstein den Kopf gestoßen hätte. »Du hältst dich gefälligst von mir und meiner Familie fern, du irres Miststück! Das ist doch krank! Das ist alles gelogen!«
Er versuchte, Alyssas Grabstein umzuwerfen, doch der bewegte sich nicht. Keuchend trat Shane dagegen und CIaire blieb liegen und sah ihm zutiefst bekümmert zu. Sie gedacht, dass ihn das vielleicht überzeugen würde, vielleicht würde es ihn dazu zwingen, sich zu erinnern... aber er erinnerte sich nicht. Er konnte es nicht.
»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte, hör auf, Shane. Hör auf, dir selbst wehzutun. Das halte ich nicht aus.«
Er brach am Grabstein seiner Schwester zusammen und saß einfach nur da, mit dem Rücken zu Claire. Seine Schultern bebten. Sie stand auf und kniete sich neben ihn. Er sah aus, als wäre er am Boden zerstört, einfach... gebrochen. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
Wenigstens schlug er sie nicht. Er schien überhaupt nicht zu merken, dass sie noch da war. Er war blass; zitternd und schwitzend kauerte er da, als hätte jemand ihn wirklich heftig geschlagen. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Sie kann nicht tot sein. Ich … ich habe sie doch gerade noch gesehen. Sie hat sich über mein T-Shirt lustig gemacht. Mein T-Shirt ...« Er sah an sich hinunter, zog sein T-Shirt aus der Hose und sagte. »Das habe ich nicht angehabt. Das ist gar nicht mein T-Shirt. Das ist falsch. Alles ist falsch.«
»Ich weiß«, sagte Claire. »Ich weiß, dass es sich so anfühlt. Shane, bitte komm mit mir zurück. Bitte. Ich zeige dir das Zimmer, das du in Michaels Haus bewohnst. Du erkennst bestimmt einige Sachen dort wieder, vielleicht hilft das. Komm, steh auf. Du kannst nicht hierbleiben, es ist kalt.« Er bewegte sich nicht. »Alyssa würde nicht wollen, dass du hierbleibst.«
»Warum ist sie nicht mehr rausgekommen?«, fragte er. »Wenn es ein Brand war, wieso bin ich dann rausgekommen und sie nicht? Ich hätte sie nicht im Stich gelassen. Das hätte ich nie getan. Ich kann nicht einfach ... davongelaufen sein.«
»Das bist du auch nicht«, sagte Claire und legte den Arm um ihn. »Du hast versucht, sie zu retten. Das hast du mir erzählt, Shane. Ich weiß, wie verzweifelt du es versucht hast.«
Natürlich wischte er sich über die Augen und sah sie an. »Ich kenne dich nicht einmal«, sagte er. »Warum tust du das?«
Da war es wieder. Wie kam es, dass ihr das Herz immer wieder brechen konnte? Warum brach es nicht ein Mal – ein für alle Mal? Claire kämpfte gegen den Schmerz an, der in ihrer Stimme mitschwang. »Ich weiß, du glaubst, du kennst mich nicht«, sagte sie. »Aber ganz ehrlich. Shane, du kennst mich. Wir sind … Freunde.«
Er starrte sie lange an, dann sagte er: »Es tut mir leid, dass ich dich gestoßen habe. Ich... ich tue so etwas normalerweise nicht.«
»Ich weiß.«
»Stimmt das? Ist Lyss wirklich ...?«
Claire nickte nur. Die Haare wehten ihm ins Gesicht, aber er blinzelte nicht. Ohne nachzudenken, strich sie es ihm aus dem Gesicht. Er packte ihre Hand.
»Du berührst mich oft«, sagte er. »Nicht wahr?«
Sie senkte den Blick und spürte, wie sie rot wurde. »Stimmt!«, sagte sie. »Tut mir leid.« Sie warf einen kurzen Blick zu ihm. Er schaute sie an, als würde er sie zum allerersten Mal sehen.
»Was ist?«, fragte sie unsicher.
»Gehen wir miteinander?«
Sie nickte. Er sagte kein Wort. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Doch bevor sie sich überlegen konnte, wie sie ihn fragen sollte, was er empfand, stand er auf und sie tat das Gleiche.
»Ich habe also eine Amnesie«, sagte er. »Willst du mir das damit sagen? Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen, eine Menge Zeit verloren und alles vergessen. Und dich auch.«
Das war... so viel einfacher als das, was sie hatte sagen wollen. »Ja.« Sie nickte. »Eine Amnesie. Deshalb musst du mir vertrauen, Shane. Es ist gefährlich hier draußen. Du weißt gar nicht, wie gefährlich.«
Zum ersten Mal bedachte er sie mit einem dieser ironischen Blicke, die sie so gut kannte - typisch Shane. »Das ist Morganville. Natürlich ist es gefährlich.« Er warf einen Blick auf Alyssons Grabstein und der Moment, in dem er wieder der Shane war, den sie kannte, flackerte auf und verschwand fast. Fast. »Sie würde nicht wollen, dass ich hier auf dem Friedhof Trübsal blasé wie ein Volltrottel. Sie würde sich über mich lustig machen.« Shane holte tief Luft. »Ich nehme also an … Ich nehme an, ich kann zu Michael nach Hause gehen. Wenigstens kenne ich ihn, wenn ich dich schon nicht kenne.«
Sie lächelte. Es fühlte sich gezwungen an. »Wir arbeiten daran.« Sie streckte die Hand aus, aber er steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Nichts für ungut«, sagte er, »aber ich muss nachdenken. Ich brauche Zeit.«
Ihr zerschmettertes Herz brach gleich noch einmal. Und es fühlte sich wieder genauso schlimm an.
»Klar«, brachte sie heraus. »Verstehe ich.«
Als sie ins Glass House zurückkehrten, war noch immer niemand da, aber Claire verspürte trotzdem eine ungeheure Erleichterung, zu Hause zu sein. Shane blickte sich argwöhnisch um, aber er ging hinein und protestierte nicht, als sie hinter ihm abschloss. »Willst du dein Zimmer sehen?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf, die Hände immer noch in den Taschen. Willst du einen Kaffee?«
»Ich hasse Kaffee«, sagte er. »Ich hab das Zeug noch nie angerührt.«
»Echt?« Vielleicht hatte er damit angefangen, als er mit seiner Mom und seinem Dad auf der Flucht war. »Okay, wie wäre es mit … Cola?«
»Gern. Wer mag Cola nicht?«
Sie ließ ihn beim Fernseher und den Spielekonsolen zurück und holte die letzten beiden Dosen aus dem Kühlschrank. Jemand würde einkaufen gehen müssen. Wahrscheinlich sollte sie das so schnell wie möglich erledigen, bevor sie auch noch den Verstand verlor. Selbst in einer Katastrophe wie dieser wäre es geradezu der Weltuntergang, wenn die Cola ausgehen würde.
Shane saß auf dem Sofa, als sie zurückkam. Sie gab ihm eine der Dosen und setzte sich ans andere Ende, um genügend Abstand zwischen ihnen zu lassen. Er nickte und machte die Dose auf. »Ich wohne also hier?«
»Ja. Gleich da oben.«
»Das ist Michaels Zimmer.«
»Nein, Michael wohnt jetzt da drüben.«
»Was? Aber das Zimmer da hat ihm doch immer besser gefallen.« Er zeigte auf die Konsole. »Und wir haben eine Xbox.«
»Genau genommen hast du eine Xbox 360«, sagte sie. »Du hast sie letztes Jahr gekauft.«
»Nett. Wo ist der Unterschied?«
»Willst du jetzt wirklich über Computerspiele reden?«
Er hörte auf, an der Konsole herumzufingern, und legte sie weg. »Eigentlich nicht. Die anderen Leute da draußen, die, die sich so komisch benehmen - sie haben das, was ich auch habe, oder? Dieses Erinnerungsproblem. Niemand hat mir eins übergezogen oder mich unter Drogen gesetzt oder so.«
»Nein«, sagte Claire. »Es gibt eine unterirdische Maschine, die die Erinnerungen der Leute löscht, wenn sie die Stadt verlassen. Aber sie funktioniert gerade nicht richtig. Sie löscht die Erinnerungen der Leute in der Stadt.«
Er hielt inne, um darüber nachzudenken. Es sagte etwas über seine Kindheit in Morganville aus, dass er das nicht für total unglaubwürdig hielt. »Wie viele Leute sind davon betroffen?«
»Eine Menge. Letztendlich vielleicht sogar alle. Michael hat es gestern erwischt. Eve auch. Und Amelie.«
Shane sah sie scharf an. »Wen?«
»Du weißt schon. Die Gründerin.«
»Du kennst ihren Namen?«
»Du auch. Aber momentan sitzt sie in der Zeit von vor drei Jahren fest, genau wie du. Sie erinnert sich nicht an mich. Sie erinnert sich auch nicht an Oliver oder...«
»Wer ist Oliver?«
Das würde schwieriger werden, als sie gedacht hatte. »Vergiss es. Wichtig ist, dass wir gestern Abend, bevor wir schlafen gegangen sind, abgemacht haben, dass wir andere Leute suchen, die uns helfen könnten, die Maschine abzuschalten.«
»Wir sind zusammen schlafen gegangen?«, sagte er. »Ohne Kleider?«
»Ähm ... ja. Aber wir hatten Unterwäsche an.«
»Klar. Warum habe ich das Gefühl, dass wir sie vorher schon mal ausgezogen hatten?« Er starrte sie lange an, sodass ihr ganz unbehaglich wurde, als würde er sich daran erinnern, wie sie beinahe nackt ausgesehen hatte. »Okay, das klingt ja einfach. Dann machen wir das doch, wenn damit alles wieder in Ordnung kommt.« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck und sagte dann: »Aber es ist nicht so einfach. Stimmt’s?«
»Die Vamps werden uns gar nicht erst in die Nähe des Ortes lassen, zu dem wir gehen müssen«, sagte sie. »Mir fällt kein Vampir ein, auf den wir jetzt noch zählen könnten. Nicht einmal mehr Michael.«
Warte mal, was? Michael Glass? Er ist kein Vampir. Du meinst wohl seinen Großvater Sam. Bist du sicher, dass du wirklich hir wohnst? Das ist nämlich echt ein gewaltiger Irrtum.«
»Ich rede nicht von Sam«, sagte Claire. »Michael... Michael wurde gebissen. Und jetzt ist er ein Vampir. Aber er erinnert sich nicht mehr daran, wie er einer geworden ist, und das ist ein großes Problem. Wenn du ihn also siehst, dann umarme ihn nicht. Er beißt. Aber er denkt sich nichts Schlimmes dabei.«
»Du bist total verrückt! Ich hatte von Anfang an recht, was dich angeht. Michael ein Vampir? Niemals.« Doch obwohl Shane das sagte, machte er keine Anstalten, aufzustehen und zu gehen. »Du bist nicht aus Morganville. Wenn du von hier wärst, würde ich mich an dich erinnern, oder? Wer bist du also?«
»Ich bin an die Uni gekommen. So habe ich euch kennengelernt.«
Er lachte. »Ich? Auf dem College? Jaja, träum weiter. Hör mal, ich hätte das letzte Highschool-Jahr fast nicht gepackt. Ich glaube kaum, dass mir irgendjemand eine Zulassung fürs College geben würde, nicht mal für die TPU, die mieseste Uni in ganz Texas.«
»So schlecht ist die gar nicht«, sagte Claire, obwohl sie keine Ahnung hatte, warum sie den Laden verteidigte. Er hatte ja nicht viel Gutes gebracht. »Ich habe euch nicht auf dem College kennengelernt, sondern wegen dem College. Wegen Monica.
»Morrell.«
»Dem Obermiststück von Morganville«, sagte Claire. »Also, das ist sie immer noch und immer mehr. Wahrscheinlich war sie ziemlich schlimm auf der Highschool, aber glaub mir, jetzt ist sie noch schlimmer.«
»Gut zu wissen, dass sich ein paar Dinge nicht geändert haben.« Shane holte tief Luft. »Ich wollte eigentlich nicht fragen, aber... was ist mit meiner Mom und meinem Dad? Wo sind sie?«
Sie sah ihn einfach nur an und schließlich drehte er den Kopf weg. »Okay«, sagte er. »Schon verstanden. Sie sind auch tot?«
»Deine Mom ... deine Mom, ja«, sagte Claire. »Ich weiß nicht, wo sie begraben ist. Dein Dad ... na ja...«
»Ist immer noch ein alkoholabhängiger Mistkerl? Ein richtiger Schock.«
»Nein«, sagte sie. »Dein Dad ist ein Vampir.«
Shane erstarrte mit geweiteten Augen, dann lachte er verbittert auf. »Na klar. Da würde er sich vorher lieber umbringen.«
»Glaub mir, wahrscheinlich hat er darüber nachgedacht, nachdem das passiert war. Aber dann hat er wohl doch beschlossen, noch unter uns zu bleiben. Warte mal … wir können ihn suchen. Vielleicht hat es ihn noch nicht erwischt. Er könnte uns helfen.«
»Mein Dad? Selbst wenn er kein Vampir wäre – und ich kaufe dir übrigens nicht ab, dass er einer ist -, war er nie besonders groß darin, anderen einen Gefallen zu tun. Nicht mal seinen eigenen Kindern. Vielleicht lassen wir das mit der Familienzusammenführung besser aus.«
Claire war sich nicht so sicher, aber sie wollte Shane nicht mehr als nötig in Panik versetzen. Frank Collins als Vampir würde jeden in Panik versetzen. Ganz zu schweigen von seinem eigenen Sohn. »Okay«, sagte sie. »Aber wir müssen einen Weg finden, zu dieser Maschine zu kommen und sie auszuschalten. Und wir brauchen Hilfe, jede erdenkliche Hilfe.«
»Ich bin froh, dass du das gesagt hast«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Ihr habt nämlich keine Ahnung, wie viel Hilfe ihr braucht.«
Claire und Shane sprangen vom Sofa auf; Shane hatte sich sogar vor ihr aufgebaut, eine Art Beschützerinstinkt, den er schon immer gehabt hatte - seit sie sich kannten. Vielleicht glaubte oder vertraute er ihr nicht, aber er würde trotzdem für sie kämpfen.
Womöglich weil er sich irgendwo tief drin doch erinnerte.
Claire und Shane erkannten ungefähr zur gleichen Zeit, wer dort im Dunkeln an der Treppe stand. Zuerst fiel einem die Narbe in seinem Gesicht ins Auge und dann der ganze Rest … lange, im Nacken zusammengebundene Haare, das harte, gnadenlose Gesicht, der dünne zähe Körper. Über seinem Harley-Davidson-T-Shirt trug er eine Lederweste, dazu eine alte Jeans und Springerstiefel. An seiner Taille hing ein großes, Furcht einflößendes Messer in einem Futteral.
Frank Collins.
Der Vampir.
»Dad«, flüsterte Shane.
»Hallo, mein Sohn.«
»Wie sind Sie hier hereingekommen?«, brach es aus Claire heraus, denn sie wusste genau, dass sich das Haus gegen Frank gesträubt hätte. Aber sie hatte gar nichts gespürt, als er eingetreten war - keine Warnung, nichts.
Vielleicht war das Haus auch der Meinung, dass sie ihn brauchten. Oder - was besorgniserregender war - vielleicht hatte die Maschine dem Haus seine Schutzfunktion geraubt. Sie zerstörte allmählich alles, was gut war in Morganville.
Frank zuckte mit den Schultern. »Ich folge euch beiden schon seit ein paar Tagen. Ich musste wissen, was ihr jetzt unternehmen wollt«, sagte er. »Es wundert mich nicht, was mein Sohn über mich gesagt hat, falls es das ist, was dir Sorgen macht. Ich habe es verdient. Ich verdiene es immer noch.« Er sah zu Shane hinüber. »Aber ich trinke nicht mehr viel. Na ja, jedenfalls keinen Alkohol.« Er lächelte und entblößte dabei seine Vampirzähne.
Shane wich einen Schritt zurück und stieß gegen Claire. Sie hielt ihn fest und flüsterte: »Hab ich es dir nicht gesagt?«
»Das kann nicht sein«, sagte er. »Das muss ein ...«
»Irrtum sein?«, sagte Frank. Mit einer geschmeidigen, unheilvollen Vampirbewegung sprang er über das Sofa und landete direkt vor ihnen. Sie standen jetzt mit dem Rücken zur Wand neben dem Fernseher. »Der einzige wirkliche Fehler, den ich je gemacht habe, war, dass ich in diese verfluchte Stadt zurückgekehrt bin, Shane. Und dich hierher zuriickgeschickt habe, um zu helfen. Wenn wir weiter weggelaufen wären, wären wir zwar immer noch auf der Flucht, aber wenigstens wären wir zusammen.«
»Auf der Flucht. Flucht wovor?«
»Ach, komm schon, mein Sohn. Glaubst du wirklich, sie hätten uns einfach so gehen lassen? Man hat uns geholfen, hier rauszukommen, aber wenn sie uns geschnappt hätten, hätten sie uns zurückgebracht oder uns getötet. Genau wie sie deine Mutter getötet haben.«
Shane stöhnte auf, als hätte sein Vater ihn geschlagen. Claire legte ihm die Hand auf die Schulter und funkelte Frank an. »Hören Sie auf«, sagte sie.
»Du hast damit angefangen«, sagte Frank. »Du hast ihm einen Teil der Wahrheit erzählt, nicht wahr? Von Alyssa? Nun, er muss alles erfahren. Er muss erfahren, dass seine Mutter drogenabhängig wurde, um den Schmerz zu vergessen. Er muss wissen, dass wir durch den ganzen Bundesstaat gejagt wurden, von einem verratzten Motel zum nächsten. Er muss wissen, dass diese Mistkerle ihr die Pulsadern aufgeschnitten und sie in die Badewanne gelegt haben, damit es wie Selbstmord aussah...«
»Hören Sie auf!«, schrie Claire und stellte sich vor Shane, als könnte sie ihn damit vor Franks Worten beschützen, so wie Shane sie vor Faustschlägen beschützte.
»Und dass er sie in der Badewanne gefunden hat«, schloss Frank leise. »Tot. Ich dachte damals, ich hätte dich auch verloren, mein Sohn. Du hast tagelang nicht gesprochen, nicht geschlafen, nicht gegessen. Aber dann hast du mir gesagt, dass du hierher nach Morganville zurückkehren willst. Weil sie dafür bezahlen sollten.«
Shane war jetzt ebenso bleich wie sein Vampirvater und seine Augen waren riesig, dunkel und leer. Claire drehte sich zu ihm um und legte ihm die Hände auf die Wangen, weil sie wollte, dass er sie ansah. Doch das tat er nicht. Er konnte seinen Blick nicht von Frank abwenden. »Shane, Shane, hör mir zu, er versucht, dir wehzutun. Er versucht immer , dir wehzutun ...«
»Nicht immer«, sagte Frank. »Jemand muss dem Jungen schließlich sagen, was er wissen muss, auch wenn es wehtut. Er muss wissen, was seiner Mom zugestoßen ist. Du wolltest es ihm nicht sagen, oder?«
»Es gab keinen Grund dafür! Ihnen gefällt es einfach, ihn leider zu sehen«, fuhr Claire ihn an. »Sie sind ein gemeiner, niederträchtiger, fieser ...«
»Ich liebe meinen Sohn«, sagte Frank. »Aber er musste in diesen drei Jahren nach Alyssas Tod erwachsen werden. Und jetzt muss er das noch einmal, nur schneller. Das lässt sich nicht beschönigen, Claire.«
Shane legte die Hände auf Claires Schultern und schob sie aus dem Weg - es war die erste sanfte Berührung, seit sie heute Morgen aufgewacht waren, bemerkte Claire. »Ich bin jetzt also, was, achtzehn? Nicht fünfzehn?«
»Fast neunzehn«, sagte sein Dad.
»Gut«, sagte Shane und schlug ihm ins Gesicht.
Das heißt, er versuchte es. Frank fing Shanes Faust ab, kurz bevor sie traf. Er schlug nicht zurück, stieß ihn nicht weg und zerquetschte ihm auch nicht die Hand, auch wenn er das gekonnt hätte. Er hielt sie einfach fest, obwohl Shane versuchte, sie zurückzuziehen. »Mein Sohn«, sagte er, »ich war ein schlechter Vater und in allem anderen war ich auch schlecht. Du warst derjenige, der für deine Mutter und für Alyssa gesorgt hat. Seit du acht Jahre alt warst, hast du die Aufgabe übernommen, die eigentlich ich als Mann im Haus hätte erledigen sollen. Und das tut mir leid.«
Er zog Shane an sich und umarmte ihn. Shane machte sich so steif wie eine Rolle Draht, aber gleich darauf entspannte er sich ein wenig und wich zurück. Frank ließ ihn los.«
»Und jetzt willst du das also wiedergutmachen«, sagte Shane. »Aber das kannst du nicht. Ich habe dir noch nie getraut. Und einem Blutsauger traue ich erst recht nicht, verdammt.«
»Aber jetzt braucht ihr beiden einen Blutsauger«, sagte Frank. »Zumindest hat die Kleine das gesagt. Nicht wahr, Claire?«
Es passte ihr überhaupt nicht, dass sie Frank Collins zustimmen musste, aber sie nickte. »Sie sind noch nicht betroffen von dem Gedächtnisschwund.«
»Es gibt noch ein paar, die nicht betroffen sind«, sagte Frank. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht sind unsere Gehirne einfach anders verdrahtet, vielleicht ist es aber auch bloß Zufall. Die meisten verstecken sich irgendwo da draußen. Und ich kann es ihnen nicht verdenken. Es könnte sein, dass ich es schaffe, noch ein paar Leute mit ins Boot zu holen, falls wir sie brauchen.«
»Vampire.«
Frank entblößte seine Vampirzähne. »Ich habe Freunde auf beiden Seiten der Blutlinie. Wollt ihr sie oder wollt ihr sie nicht?«
Claire und Shane wechselten einen Blick. Er kannte sie immer noch nicht, dachte sie. Er traute ihr immer noch nicht recht. Aber gegenüber Frank war sie in seinem Ansehen mächtig gestiegen.
»Es liegt bei dir«, sagte Shane. »Du bist diejenige, die weiß, was da vorgeht. Ich hab nur Muskeln.«
»Das ist nicht wahr. Du bist klug, Shane. Du zeigst es nur nicht.«
Frank lächelte. »Du musstest auch noch nie seine Schulzeugnisse unterschreiben.«
»Halten Sie die Klappe, Frank, ich habe nicht mit Ihnen geredet«, sagte Claire scharf. »Gehen Sie … und legen Sie sich irgendwo auf die Lauer. Ich muss mit Shane unter vier Augen sprechen.«
Frank zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Er nahm Shanes Coladose und trank sie leer, während er im Wohnzimmer herumtigerte und an allen möglichen Sachen herumfingerte.
»Und wagen Sie es ja nicht, Michaels Gitarren anzufassen «
Er winkte in ihre Richtung, ohne sich umzuschauen.
Claire packte Shane am T-Shirt und zog ihn in den selten genutzten Salon vorne im Haus, so weit weg von Frank, wie es nur ging, auch wenn sie wusste, dass das nichts nützte. Er war ein Vampir, wahrscheinlich konnte er sogar die Schritte von Ameisen hören. Na ja, wenigstens fühlte es sich irgendwie nach Privatsphäre an.
Sie ließ Shane los, der auf sie herunterblickte und sich über irgendetwas zu amüsieren schien. »Weißt du«, sagte er, »die meisten Leute hatten Todesangst vor meinem Dad, zumindest wenn er getrunken hatte. Einschließlich mir, meistens. Jetzt ist er ein Vampir und du hast ihn gerade herumkommandiert, als wäre dir das alles total schnuppe.«
»Ich mag ihn nicht besonders.«
»Ja, schon kapiert. Du siehst so aus, als würde dich ein starker Wind umwehen, aber du bist ein zähes kleines Ding, oder?«
Sie lächelte und wünschte, sie würde ein einziges Mal nicht rot werden, wenn sie ein Kompliment bekam, aber das war aussichtslos. »Wahrscheinlich schon«, sagte sie. »Ich bin immer noch da. Und nur das zählt.«
»Ja«, sagte er und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nur das zählt.« Plötzlich wurde ihm offenbar bewusst, was er da gerade tat, und er räusperte sich. »Okay, wie sieht der Plan aus? Wir holen Frankenstein und seine Freunde als Unterstützung dazu?«
»Das habe ich gehört!«, schrie Frank aus dem Wohnzimmer. Shane zeigte ihm schweigend den Mittelfinger und Claire schlug ihm auf die Hand.
»Nicht!«, flüsterte sie.
»Glaubst du, das merkt er mit seinen magischen Vampirkräften?«
»Wir brauchen ihn, Shane.«
Er lächelte düster. »Na ja, Frank war nie da, wenn ich ihn gebraucht habe, verlass dich also nicht zu sehr auf ihn.«
»Wir müssen die Sache von zwei Seiten angehen«, sagte Claire. »Zuerst gehen wir beide zum Eingang des Labors. Und wenn wir Myrnin abgelenkt haben ...«
»Wer ist Myrnin?«
Claire hätte am liebsten die Augen verdreht. »Der fiese, verrückte Vampirwissenschaftler, der mein Boss ist.«
»Du merkst schon, dass dein Satz keinen Sinn ergibt, oder?«
»Geh ihm einfach aus dem Weg. Lass ihn nicht zu nah herankommen.«
»Ja, das ist einfach.«
»Wenn du einen Pfeil oder einen Pfahl in ihn treiben kannst, dann tu es«, sagte Claire. »Das wird ihn nicht umbringen, wenn du kein Silber benutzt, aber es wird ihn außer Gefecht setzen, und damit ist er aus dem Weg, bis wir fertig sind.«
»Was, wenn er Freunde hat. Irgendwelche Unterstützung?«
»Dann mach mit denen das Gleiche.«
Shane deutete mit dem Daumen zum Wohnzimmer. »Und was ist mit ihm und mit seinen Freunden?«
»Die kommen durch den Hintereingang rein«, sagte Claire. »Durch das Portal.«
»Guter Plan«, sagte Shane und schwieg einen Augenblick. »Was ist ein Portal?«
Claire seufzte. »Wir haben noch einiges zu tun.«