9
Kyle saß immer noch in dem Käfig mitten im Park und wurde streng bewacht. Claire warf einen Blick auf den quadratischen vergitterten Kasten und registrierte die starke Polizeipräsenz, als sie mit dem Wagen über den Platz fuhren und dann die Rampe zu dem unterirdischen Parkhaus unter dem Gebäude hinunterrollten. Ein Parkplatz war für Hannah reserviert, und als sie auf den Aufzug zugingen, öffnete er sich mit einem Fauchen. Einer von Amelies Bodyguards in einem schwarzen Anzug - die Frau - nickte Hannah zu und sah Claire betont eindringlich an.
»Sie gehört zu mir«, sagte Hannah. »Ich übernehme die Verantwortung.«
»Das genügt mir«, bestätigte die Vampirin und drückte den Knopf für das Stockwerk, in dem die Versammlungen stattfanden. »Ich muss euch warnen, sie sind nicht gerade in bester Laune.«
»Das sind sie nie.«
Die Vampirin kicherte - ein sehr menschlicher Laut, aber irgendwie klang es trotzdem zwanzig Prozent unheilvoller. »Das ist wohl wahr. Viel Glück.«
Als sie aus dem Aufzug hinaustraten, gab sich die Vampirin wieder ganz geschäftsmäßig; sie folgte Hannah und Claire durch die lange marmorne Eingangshalle zu einer Reihe polierter Holztüren, die sich von innen öffneten, noch bevor sie dorthin kamen. Claire nahm an, dass das beeindrucken sollte, aber da steckte kein besonders toller Trick dahinter: Die Vampire konnten sie ganz deutlich kommen hören.
Dieses Mal war nur ein Bodyguard mit im Raum und ihre Begleiterin blieb draußen und machte die Tür hinter ihnen zu. Amelie saß auf ihrem Platz, Richard ebenfalls; auf dem Tisch lagen Mappen, jede einzelne war sorgfältig beschriftet.
Oliver ging auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
»Du bist spät dran«, fuhr er Hannah an. Die Vampirin hatte recht gehabt - er hatte ziemlich schlechte Laune. Hannah setzte sich neben Richard, Claire blieb unschlüssig stehen. »Du hast eine Freundin mitgebracht. Wie ... nett.«
Claire setzte sich schnell auf den nächstbesten Stuhl. Oliver musterte sie wie ein Stück Abfall, das er am liebsten gleich hinausbefördern würde.
»Claire«, sagte Amelie. »Das kommt überraschend.« Überraschend, dachte Claire, bedeutete nicht willkommen. Amelie sah ungewöhnlich angespannt aus, genau wie Hannah.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte Claire. »Mit Ihnen beiden.«
»Müssen wir immer durch das Kläffen deines Lieblingshaustiers gestört werden?«, sagte Oliver. Blitzschnell ging er durch den Raum, schlug mit beiden Händen flach auf den Tisch und funkelte Amelie an. »Bring sie zum Schweigen, bis wir fertig sind. Sie sollte gar nicht hier sein.«
Claire war geschockt. Sie hatte ihn noch nie zuvor der Gründerin gegenüber so aggressiv auftreten sehen. Vielleicht hätte ich Amelie vorher anrufen sollen, bevor ich hier aufkreuze, dachte sie beklommen.
Amelie zuckte nicht zusammen, blinzelte nicht und zeigte keinerlei Reaktion auf Olivers Zorn. »Sie ist nicht mein Haustier«, sagte sie ruhig, »und ich nehme keine Befehle von dir entgegen, Oliver. Das solltest du dir wirklich hin und wieder ins Gedächtnis rufen.«
Er zeigte seine Zähne, allerdings nicht seine Vampirzähne. Nicht ganz. Er stieß sich vom Tisch ab und ging wieder auf und ab, wie ein Löwe, der sich unbedingt auf eine Gazelle stürzen wollte.
Amelie wandte sich an Claire und sagte: »Du wartest, bis wir fertig sind. Er hat recht. Du solltest nicht hier sein.«
Claire nickte. Sie wollte eigentlich nicht warten - sie wollte mit allem herausplatzen -, aber in Amelies kalten grauen Augen lag eine Warnung, die ihr zu verstehen gab, dass Herausplatzen keine gute Idee war.
»Du bist nervös, Oliver«, sagte Amelie. »Bitte setz dich.«
Er warf ihr einen ungehaltenen Blick zu und ging weiter auf und ab. »Ich war gestern Nacht gezwungen, einen meiner Leute umzubringen wie einen tollwütigen Hund. Glaubst du, ich könnte mich jetzt entspannen?«
Claire beugte den Kopf zu Hannah hinüber und flüsterte: »Was ist passiert?«
Hannah schüttelte warnend den Kopf.
»Aber ich...«
Mit rot aufflackernden Augen stürzte Oliver zu ihr. »Du willst wissen, was passiert ist, Claire?«, sagte er. »Was genau? Wie eine meiner ältesten Verbündeten den Verstand verloren und angefangen hat, auf der Straße Menschen anzufallen? Oder wie ich sie nicht zur Vernunft bringen konnte? Oder wie ich sie auf Amelies Befehl töten musste?«
Es folgte eine Stille, die in den Ohren dröhnte. Amelie betrachtete ihn immer noch regungslos und mit ruhigem, mildem Gesicht. »Du bist total überreizt. Setz dich hin, Oliver. Bitte.«
»Nein, ich setze mich nicht hin«, fauchte er und drehte ihr den Rücken zu.
Wieder trat Stille ein, dann widmete Amelie sich wieder dem aufgeschlagenen Ordner. »Also befassen wir uns jetzt mit den anstehenden Dingen. Diese Anfrage hier, die Jagderlaubnis zu erweitern, ist
inakzeptabel. Sie wollen ein viermal größeres Gebiet als bisher und sie wollen den Uni-Campus dazuhaben. Das ist für uns alle hochriskant. Mein Vorschlag lautet folgendermaßen: Anstatt die Jagdlizenzen zu erweitern, hören wir ganz auf mit diesem Programm und suchen nach einer Alter-native. Es gibt immer ein paar Menschen, die sich freiwillig beißen lassen wollen.«
Richard wollte etwas sagen, doch Oliver kam ihm zuvor. »Das ist ein alter, ermüdender Streit. Sind wir Vampire oder nicht? Wir jagen eben. Das liegt in unserer Natur. Die Jagd einzuschränken oder gar ungesetzlich zu machen, zügelt unseren Instinkt nicht. Unser Instinkt würde uns dadurch nur zu Kriminellen machen.«
»Oh, aber ich erwarte von dir, dass du deinen Instinkt im Griff hast, so wie ich auch. Es sei denn, du hast dich selbst nicht im Griff. Wie steht’s damit, Oliver?« Amelies Tonfall war schärfer, als Claire erwartet hatte, sie klang fast zornig. Schließlich erkannte Claire, dass Amelie ebenfalls nervös war.
Ganz schlechte Kombination, dass beide zusammen, auf engem Raum, so gereizt waren.
Dieses Mal fuhr Oliver seine Vampirzähne aus. »Du bewegst dich auf gefährlichem Terrain, Frau. Treib es nicht zu weit.« Amelies Bodyguard trat einen Schritt von der Tür weg. »Und glaub bloß nicht, dass du mir mit deinen Hunden drohen kannst. Ich habe deine Herrschaft in dieser Stadt unterstützt. Ich habe deinen Experimenten und den sozialen Verhaltensregeln zugestimmt. Aber ich werde nicht zulassen, dass du uns Kopien von Menschen machst. Das sind wir nicht und das sollten wir auch nicht sein, das weißt du besser als irgendjemand sonst.«
»Wie ich sehe, hast du keine Alternative auf Lager«, sagte Amelie nach einer kurzen Pause. »Dann lassen wir das Programm so, wie es ist, mit einer begrenzten Anzahl von Lizenzen, und die Universität bleibt weiterhin geschütztes Terrain.«
Oliver lachte. »Hörst du mir überhaupt zu? Sie werden dir nicht mehr länger gehorchen. Sie werden tun, was sie wollen ohne Rücksicht auf die Gesetze. Sie sind wütend, Amelie. Du hast zugelassen, dass Menschen Vampire umbringen und damit durchkommen. Wenn du Vampire dafür bestrafen willst, dass sie ihrer Natur folgen, dann bist du genauso dumm wie damals, als du dachtest, du könntest dich als zwölfjähriges Mädchen auf den Thron hieven. Du hast dieses Ziel nie erreicht, nicht wahr? Als einfache Prinzessin zu sterben, hat dir nie gepasst. Deshalb hast du dich hier selbst zur Königin gekrönt.«
Amelie stand auf und es wurde ungemütlich still im Raum. Claire hatte nicht mehr das geringste Bedürfnis, etwas zu sagen, sondern hätte sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen. Es war, als wären sie, Richard und Hannah gar nicht mehr da, zumindest nicht für Amelie und Oliver.
»Willst du damit sagen, dass du nicht mehr mein Stellvertreter sein willst?«, fragte Amelie. »Denn so verstehe ich das.«
»Amelie...« Olivers Stimme klang wütend und frustriert. Zumindest er hatte nicht vergessen, dass noch andere Leute im Raum waren, denn er warf den drei Menschen einen schnellen Seitenblick zu. »Schick sie hinaus. Wir müssen das bereinigen. Das ist schon längst fällig.«
»Richard und Hannah sind gleichwertige Mitglieder dieses Rats. Ich werde sie nicht wegschicken wie Dienstboten.«
Er lachte und Claire sah seine spitzen Vampirzähne aufblitzen. »Gleichwertig? Mach dir doch nichts vor. Betrachtest du irgendeinen von ihnen als uns gleichwertig? Du trittst diese Stadt Stück für Stück an Narren und Sterbliche ab und darunter haben wir alle zu leiden. Das wird uns zugrunde richten. So kann es nicht weitergehen!«
»Setz dich«, sagte Amelie. »Und zwar sofort.«
»Nein. Du zerstörst uns, Amelie, und ich kann nicht – ich werde nicht zulassen, dass das so weitergeht.«
Sie starrten sich gegenseitig regungslos an und Claire wagte kaum zu atmen.
Oliver blinzelte nicht. Schließlich sagte er: »Deine menschlichen Haustiere lehnen sich gegen uns auf. Sie lehnen sich gegen dich auf. Der Junge in dem Käfig da unten ist Beweis genug, wie die Menschen deine Regeln und auch dich missachten. Und sie haben recht, denn wir sind Killer und sie sind unsere natürlichen Opfer. Wenn wir ihnen die Herrschaft überlassen, werden sie uns zerstören. Sie haben keine andere Wahl.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Claire. Sie hatte nicht vorgehabt, das zu sagen, aber jetzt war es raus und der Satz stand im Raum und Olivers Aufmerksamkeit lastete auf ihr wie eine gefrorene Schneedecke. »So muss es nicht zwangsläufig sein.«
Er starrte sie an und sie wünschte, sie hätte die Klappe gehalten. »Wie sieht denn deine Lösung aus, kleine Claire? Uns in den Zoo zu sperren wie die Raubtiere, die euch bedrohen? Diejenigen ausrotten, die ihr nicht kontrollieren könnt? Genau das tun die Menschen nämlich. Wir wissen das. Wir hatten früher genauso unsere Fehler wie die Menschen.« Oliver sah wieder Amelie an. »Ich hätte damals, als ich noch geatmet habe, alle Vampire aus dem Land gejagt. Wenn ich gekonnt hätte.«
Sie lächelte schmallippig. »Ich weiß sehr gut, was du getan hättest«, sagte sie. »Du hast damals mit den Menschen, die andere Überzeugungen hatten als du und die Deinen, genau dasselbe gemacht. Aber nicht alle Menschen haben einen Hang zum Völkermord wie du.«
Er schlug heftig auf den Tisch, dass der vibrierte. »Ich habe getan, was richtig war!«
»Du hast getan, was für diejenigen richtig war, die deiner Meinung waren, aber das alles ist jetzt Vergangenheit. Wir reden hier von unserer Zukunft, Oliver, wir können so nicht weiterleben. Wir können uns nicht immer im Dunkeln verstecken und fliehen wie die Ratten, wenn wir entdeckt werden. Heutzutage können wir uns nicht mehr unter den Menschen verstecken, nicht lange jedenfalls. Das weißt du genau.« Sie zögerte, dann sagte sie leise: »Du musst mir vertrauen, so wie früher.«
Er stieß ein eingerostetes grobes Lachen aus und wandte sich zum Gehen.
Amelie fuhr um den Tisch herum wie ein weißer Blitz und versperrte ihm die Tür, bevor er dort war. Er hielt nur einen Schritt vor ihr inne. Als Claire sie so dicht voreinander stehen sah, fiel ihr auf, wie groß er war, um wie viel er Amelie überragte. Amelie sah plötzlich zerbrechlich aus. Und verletzlich.
»Zwing mich nicht dazu«, sagte Amelie. »Ich schätze dich. Zerstör den Frieden zwischen uns nicht.«
Er streckte die Hand aus und packte sie am Arm. Der Bodyguard kam auf sie zu. Amelie schüttelte den Kopf und der Bodyguard blieb stehen, hielt sich aber bereit. »Aus dem Weg«, sagte Oliver. »Es hat keinen Sinn. Ich beuge mich dir schon viel zu lange, und wenn ich das weiterhin tue, werden wir alle darunter leiden. Du kannst uns nicht ändern, Amelie. Du kannst mich nicht ändern. Versuch es gar nicht erst, um Gottes willen.«
»Setz. Dich. Hin.«
»Nein, ich war lange genug dein dressierter Hund.«
Sie riss sich aus seinem Griff los, presste sein Gesicht zwischen ihre Hände und hielt ihn fest. Ihre Augen ... ihre Augen wurden ganz weiß. Reines, kaltes, eisiges Weiß. Claire sah weg, denn jetzt heulte eine wilde Macht durch den Raum, wie sie sie noch nie bei Amelie gespürt hatte. Hannah und Richard
waren von ihren Stühlen aufgestanden und drückten sich an die gegenüberliegende Wand. Sogar der Bodyguard wich zurück.
»Fordere mich nicht heraus«, sagte Amelie wild. »Ich will dich nicht vernichten, aber ich werde es tun, bevor ich zulasse, dass du nach Belieben jagst und tötest. Hast du verstanden?«
Oliver hatte wohl keine andere Wahl, als zuzustimmen. Claire fühlte, wie der Druck im Raum stieg wie ein schweres Gewicht, sodass sie nach Luft schnappte und sich am liebsten ganz klein zusammengerollt hätte.
Amelie machte den Mund auf und ihre Vampirzähne glitten langsam und elegant herunter. Jetzt war sie nicht mehr verletzlich. Überhaupt nicht. Sie war Furcht einflößend.
Oliver ging auf die Knie. Der Druck musste wie das Gewicht des Ozeans auf ihm lasten, sodass er gezwungen war, sich zu unterwerfen.
Er holte tief Luft, dann riss er die Arme hoch und schlug ihre Hände von seinem Gesicht weg. Amelies Augen weiteten sich vor Überraschung und nun legte er die Hände um ihr Gesicht.
Amelies Augen wurden wieder grau, dann ganz dunkel. »Nein«, sagte sie. »Nein.«
»Doch«, sagte Oliver. »Ich habe dich gewarnt. Ich lasse mich nicht beherrschen. Nicht einmal von dir. Ich wollte das nicht, aber du lässt mir keine andere Wahl.«
Amelie schauderte. Kraft strömte aus Oliver, und anders als Amelies kalte Kontrolle fühlte es sich bei ihm heiß an wie Blut und hämmernd wie ein Puls. Übermächtig. Claires Kopf drohte zu bersten unter dem Druck, und sie sah, dass Richard und Hannah die gleichen Schmerzen spürten.
»Unterwirf dich«, sagte Oliver. »Unterwirf dich, dann erspare ich dir die Demütigung, dich niederzuknien.«
»Nein«, flüsterte sie, aber es klang matt. Nur ein gehauchter Laut. Ihre Augen waren jetzt ganz schwarz. »Du wirst mich niemals beherrschen, Oliver. Niemals.«
»Ich beherrsche dich schon«, sagte er.
»Nein.«
»Das bahnt sich schon seit Jahren an. Du hast es gewusst. Lass los. Amelie, ich will dir nicht wehtun.«
Es schien Amelie ihre ganze Kraft zu kosten, aber sie schlug seine Hände von ihrem Gesicht weg, genau wie er es bei ihr getan hatte. Ihre Augen verblassten wieder zu Grau. Sie atmete, atmete sichtbar, was für einen Vampir bedeutete, dass er etwas extrem Schweres getan hatte. »Ich werde niemals dein Geschöpf sein, Oliver«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich werde dich als gleichberechtigt akzeptieren. Aber niemals als Bezwinger. Das solltest du inzwischen wissen.«
Er starrte auf sie hinunter und Claire spürte, wie der Druck im Raum allmählich nachließ. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen, aber stattdessen wäre sie am liebsten zusammengebrochen und hätte geschlafen. Sie merkte, dass Hannah und Richard sich an der Hand hielten. Das kam ihr komisch vor. Aber vielleicht waren sie einfach nur genauso panisch wie sie selbst.
»Gleichberechtigt«, sagte Oliver. »Wie kannst du glauben, dass wir jemals gleichberechtigt sein werden? Wir sind für so etwas nicht geschaffen. Wir müssen beide die Herrschaft haben. Das liegt in unserer Natur.«
»Dann zwing mich dazu, mich dir zu unterwerfen. Oder geh.«
Oliver schüttelte den Kopf und Claire dachte schon, er wird einlenken, aber dann fuhr seine rechte Hand vor und schloss sich um Amelies Kehle, sodass sie rückwärts gegen das Holz krachte. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sein Griff erstickte ihre Stimme.
»Wir können nicht gleichberechtigt sein«, sagte er. »Tut mir leid. Ich wollte nie, dass es so weit kommt.«
Und dann biss er sie in den Hals.
Claire schrie.
Oliver trank Amelies Blut. Amelie wehrte sich, doch er war zu stark und ihr Bodyguard... ihr Bodyguard bewegte sich nicht.
»Tun Sie doch etwas!«, schrie Claire den Bodyguard an, aber der stand einfach nur da. Sie stürzte zur Tür und riss sie auf. Dort hielt die Vampirin Wache; die drehte sich um, als Claire sie anschrie.
Aber auch die Vampirin tat nichts.
Plötzlich ließ Oliver Amelie los und wich zurück. Er wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund. Sie stand mit geschlossenen Augen da und legte ihre bebende Hand auf die Wunde am Hals. Ihre makellos weiße Jacke war blutbefleckt. Sie sagte nichts.
Oliver wandte sich an die Wache und sagte: »Bring sie zu einem Stuhl. Vorsichtig.«
Der Bodyguard nickte knapp, dann kam er zu ihr herüber. Amelie riss die Augen weit auf. »Fass mich nicht an«, fauchte sie, aber er gehorchte nicht. Er nahm sie am Arm und führte sie zu einem Stuhl an der Seite des Tisches, nicht zum Kopfende, wo sie zuvor gesessen hatte. Amelie schüttelte die Hand des Bodyguards ab und ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie sah elend aus, zornig und gedemütigt.
Oliver blieb einen Moment lang, wo er war, dann drehte und wandte sich an die Wache. »Hol Ysandre und John«, sagte er. »Ich möchte sie hierhaben.«
Die Wache nickte und ging. »Ysandre?«. sagte Claire. »Du holst sie hierher?« Ysandre war eine eiskalte Bedrohung. Amelie hatte sie eine Weile ins Gefängnis gesteckt, und Claire hatte sie in letzter Zeit nicht gesehen. Sie hatte gehofft, dass jemand sie aus Versehen vor einen Bus geworfen hatte.
Ysandre hatte versucht, Shane anzumachen. Und das allein war schon Grund genug, sie zu hassen.
»Ruhe«, sagte Oliver. »Setzt euch alle hin. Es gibt keinen Grund, in Panik zu geraten. Die Situation ist unter Kontrolle.« Unter seiner Kontrolle, was an sich schon ein Grund war, in Panik zu geraten, wenn nicht gar, in Hysterie zu verfallen. Aber Claire traute sich nicht, nicht zu gehorchen, solange sie nicht verstanden hatte, was da gerade vor sich ging und warum.
Richard sah Amelie an und fragte: »Alles in Ordnung?«
Sie ließ ihr Gesicht zu einer glatten Maske erstarren, die nichts von ihren Gefühlen preisgab. »Ja, einigermaßen«, sagte sie. Sie löste die Hand von ihrem Hals. Die Wunde hatte sich bereits geschlossen und heilte. »Mischt euch nicht ein. Das ist eine interne Angelegenheit.«
»Ich weiß, aber wenn Sie meine Hilfe brauchen ...«
»Ihr könnt nicht helfen. Ich habe versucht, meine Stellung zu halten, und ich habe versagt.« Sie senkte den Blick auf den Tisch. »Oliver regiert jetzt die Stadt.«
»Nein«, flüsterte Claire. »Nein, das kann doch nicht wahr sein. Das ist nicht richtig. Sie sind die Gründerin. Sie sind ...«
»Besiegt«, sagte Amelie. »Schon gut, Claire. Wir können im Moment nichts tun. Er hat mir ein paar demütigendere Momente erspart, die der Übergang der Macht hätte mit sich bringen können. Für diesen Gefallen will ich mich erkenntlich zeigen, indem ich mich jetzt nicht auflehne.«
Oliver sagte nichts. Er nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein und gleich darauf kam die Vampirwache mit zwei anderen zurück - John, dem das Krankenhaus und mehrere Kliniken in der Stadt gehörten, einschließlich der Blutbank. John hatte lange, lockige Haare und ein stolzes, markantes Gesicht! Er sah aus, als wäre er jetzt lieber woanders. Und bei ihm war Ysandre.
Ysandre war genauso, wie Claire sie kannte, als sie Anhängerin von Amelies Vater Bishop war. Sie war schön und sexy und hatte etwas Schlampenhaftes an sich - das lag vor allem ihren Klamotten; sie liebte tief ausgeschnittene Bustiers und extrem kurze Jeansshorts. Sie ließ die Finger über Richard Morrells Hals gleiten, doch der schlug sie mit funkelndem Blick weg.
»Mäßige dich«, schnurrte Ysandre und selbst in diesem kurzen Ausspruch hörte Claire den übelkeit-erregend süßlichen Südstaatenakzent heraus. »Ich will doch nur nett sein. Wir sind hier jetzt alle Freunde, nicht wahr?«
»Ach, um Himmels willen, halt bloß die Klappe«, sagte John müde. Er hatte einen britischen Akzent, was viel sympathischer war als Ysandres aufgesetzte, affektierte Sprechweise. »Wo ist die Gründerin? Sie hatten etwas zu...« Es dämmerte ihm und Claire nahm an, dass er verstanden hatte, was passiert war. Auf seinem Gesicht malte sich ein Anflug von Entsetzen und er starrte Oliver an. »Nein. Nein, das kann nicht sein.«
»Ich fürchte doch«, sagte Oliver. »Viele von Amelies engen Freunden und Unterstützern sind dir gegenüber loyal. Du musst die Nachricht verbreiten. Ich habe jetzt das Sagen. Sie selbst kann dir das bestätigen.«
John sah jetzt wirklich entsetzt aus. Das konnte Claire ihm nicht übel nehmen. Sie selbst fühlte sich auch ziemlich schrecklich. »Madam?« Er ließ sich neben Amelies Stuhl auf ein Knie sinken. »Befehlen Sie mir und ich werde gehorchen.«
»Es gibt nichts zu befehlen«, sagte sie. »Du spürst doch, dass sich die Macht verlagert hat. Das ist eine natürliche Tatsache, gegen die keiner von uns ankommt. Gehorche ihm, John. Ich will nicht, dass du – oder irgendjemand von euch - zu Schaden kommt.«
John nahm ihre Hand und presste sie an seine Stirn, was echten Kummer ausdrückte, dann stand er auf und blickte zu Oliver. »Niemand wird das unterstützen«, sagte er. »Nimm dich in Acht, Oliver. Du wurdest gut behandelt und du hast sie verraten. Das werden wir nicht vergessen.«
»John, nicht«, sagte Amelie. Sie klang erschöpft.
»Das sind keine Drohungen, sondern Tatsachen. Das weißt du sehr gut, Oliver.«
Oliver nickte. »Es ist mir egal, was du davon hältst; das musst du mit dir selbst ausmachen. Aber jetzt geh und sag deinen Anhängern, dass ich die Herrschaft übernommen habe, und ich werde nicht dulden, dass jemand meine Macht infrage stellt. Ich bin nicht Amelie. Wer mich herausfordert, wird vernichtet.«
Johns Augen flackerten in rebellischem Rot, aber er verbeugte sich steif und verließ den Raum.
Ysandre lachte. »Was für eine scheinheilige alte Kröte«, sagte sie. »Na, Ollie? Ich glaube, ich und meine Leute stehen dieses Mal auf der Gewinnerseite. Wir werden eine wundervolle Zeit erleben. Wo sollen wir anfangen? Lass uns die Jagdsaison auf die Menschen eröffnen und gleich loslegen.«
Oliver sah sie mit ebenso großem Abscheu an, wie John zuvor ihn angeschaut hatte. »Du bist nicht meine Stellvertreterin«, sagte er. »Also nimm dir keine Vertraulichkeiten heraus. Ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund verschont, aber glaub bloß nicht, dass das irgendetwas mit Sympathie zu tun hätte.«
Sie machte ein finsteres Gesicht. »Was meinst du damit, ich bin nicht deine Stellvertreterin? Wer sollte mir denn den Losten streitig machen, John vielleicht?«
»Niemand macht hier irgendjemandem etwas streitig. Amelie ist meine Stellvertreterin.«
»Amelie?« Ysandre klang wütend und Claire sah, wie ihre Hände sich verkrampften. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du kannst sie nicht in deine Nähe lassen. Sie wird dir bei der nächstbesten
Gelegenheit einen Dolch in den Rücken ...«
»So wie du das machen würdest? Ich habe gesehen, wie du Freunde behandelst und deine Feinde, falls du da überhaupt einen Unterschied machst. Dräng mich nicht. Ich habe eingegriffen, als Amelie dich zusammen mit Bishop in eine Zelle einmauern wollte. Du kannst deine Dankbarkeit zeigen, indem du dich erinnerst, wo dein Platz ist - nämlich ganz bestimmt nicht an meiner Seite«, sagte Oliver. »Geh zu meinen Leuten. Sag ihnen, was passiert ist. Sag ihnen, dass sich nichts ändern soll, bis sie etwas anderes hören - aber die Veränderung wird kommen. Sie wird jedoch kontrolliert und maßvoll vonstatten gehen. Und ich missbillige jeden Versuch, sie zu forcieren.«
Ysandre starrte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen an und Claire nahm an, dass sie genauso wütend war wie John, nur aus anderen Gründen. Schließlich zuckte Ysandre mit den Schultern und sagte: »Wie du willst, Boss. Wenn du dich so idiotisch verhalten möchtest, nur weiter so. Du hast den großen Stuhl gerade erst bekommen. Viel Spaß.« Sie wandte sich zu Claire, die auf der anderen Seite des Tisches war. »Na, wenn das nicht dieses kleine lächerliche Ding ist. Wie geht es Shane?« Sie leckte sich über die Lippen. »Ich habe ihn vermisst.«
Claire versuchte, die Vampirin mit einem Blick anzuschauen, der so kalt war wie der von Amelie. »Wenn ich dich in Shanes Nähe erwische, dann pfähle ich dich.«
Ysandre formte ihren Mund zu einem kleinen 0 und sagte dann: »Das ist keine leere Drohung, nicht wahr? Jede Wette, dass du irgendwo einen Pfahl bei dir hast. Ich wette, du gehstnirgends hin ohne so ein Ding.«
Claire sah zu ihrem Rucksack. Sie hatte ihn mitgebracht, ihn aber in die Ecke gestellt, damit er aus dem Weg war. Er stand auf Ysandres Seite des Tisches.
»Ich entwaffne sie lieber, Boss«, sagte Ysandre. »Sicherheit und so.«
Oliver sah irritiert aus, aber er hielt sie nicht auf. Sie ging Zu dem Rucksack, machte ihn auf und kippte Bücher und Papier auf den Boden.
Ein silberüberzogener Pfahl fiel vor ihr auf den Teppich. Außerdem ein silberbeschichtetes Messer.
»Na, na, na. Ich denke, die sind illegal, oder?« Ysandre schnappte sich ein paar von Claires Blättern und wickelte eines um den Griff des Pfahls und eines um das Messer. Dann kam sie wieder zum Tisch. »Gefährliche Waffen, und das in den Räumlichkeiten des Rats.«
Und noch bevor Claire oder irgendjemand sonst ahnen konnte, was sie vorhatte, rammte sie Amelie den Pfahl durch den Rücken und ins Herz. Amelie schrie auf, stürzte von ihrem Stuhl und glitt erschlafft auf den Boden. Claire spürte, wie sich die Welt mit albtraumhafter Geschwindigkeit drehte - Ysandre war zu schnell, Claire war zu langsam. Sie konnte nicht verhindern, dass Ysandre Amelie an den weißblonden Haaren riss und ihr das Messer an die entblößte Kehle hielt.
»Nein!«, brüllte Oliver und sprang auf.
»Ich werde deine Stellvertreterin sein, ob es dir gefällt oder nicht!«, schrie Ysandre zurück. »Und als Erstes schalte ich die Konkurrenz aus!«
Oliver machte einen Satz über den Tisch. Er schlug sie so heftig, dass sie bis zur Tür flog, diese aus den Angeln riss und samt der Tür noch sechs Meter durch den marmornen Flur rutschte, bevor sie liegen blieb. Sie bewegte sich noch, doch Oliver schnippte mit den Fingern und winkte die Wachen in Ysandres Richtung.
»Nein«, sagte er. »Du bist am Ende. Amelie hatte recht: Du bist zu dumm, als dass man dich am Leben lassen könnte.«
Er ging zu Amelie, kickte das heruntergefallene Messer aus dem Weg und sank neben ihr auf die Knie. Durch den Pfahl war sie gelähmt und wo das Silber sie berührte, verbrannte es sie. Das Papier, das Ysandre um den Griff gewickelt hatte, war heruntergefallen, aber Oliver zögerte nicht. Er packte das Silber, ihr den Pfahl mit einer raschen Bewegung aus dem Rücken und warf ihn in die Ecke. Claires Blick fiel auf seine Hand, die schwarz geworden war von der Berührung, aber er hielt nicht inne, als würde er den Schmerz gar nicht spüren.
Er barg Amelies Kopf in seinen Händen. »Er ist weg«, sagte er. »Kannst du mich hören? Amelie?«
Sie bewegte sich nicht. Oliver nahm sie in die Arme. Die wachhabende Vampirin kam zurück und schleifte Ysandre, die sich heftig wehrte, an den Haaren hinter sich her. »Geh und hol Theo Goldman«, fuhr Oliver sie an. »Und zwar sofort. Und steck die da in einen Käfig, bis ich entschieden habe, wie wir sie loswerden. Vorzugsweise auf eine schmerzhafte Art und Weise.«
Amelie blinzelte langsam. Sie richtete den Blick auf Olivers Gesicht. Claire hatte sie noch nie so bleich gesehen; ihre Lippen waren bläulich und sogar ihre Augen schienen blasser geworden zu sein. »Du hättest sie lassen sollen, damit sie es zu Ende bringt«, flüsterte sie. »Der Tod ist besser als die Schmach. Ist das nicht dein Kodex?«
»Vor Hunderten von Jahren«, stimmte er zu. Seine Stimme war jetzt anders. Sanft. »Du bist die Letzte, die sich an die Vergangenheit klammern würde. Wie schlimm sind die Schmerzen?«
Sie schien darüber nachzudenken. »Im Vergleich zu was? Im Vergleich zu dem, was dumir angetan hast?«
Er hielt ihre Hand und jetzt hob er sie an seine Lippen. »Ich hätte nicht gehandelt, wenn du mich nicht dazu gezwungen hättest. Aber wir wissen beide, dass ich nicht verliere, wenn man mich herausfordert.«
»Doch«, flüsterte sie. »Ein Mal. Gegen mich.«
Er hielt ihre Hand immer noch an seine Lippen. »Ja, das stimmt«, sagte er, so leise, dass Claire es fast überhört hätte »Ich werde dir nie wieder wehtun. Das schwöre ich.« Er zögerte, dann zog er einen spitzen Fingernagel über sein Handgelenk. »Trink. Ich gebe es dir freiwillig.«
Ein Tropfen Blut fiel auf ihre Lippen; sie schnappte nach Luft und riss die Augen weit auf. Sie packte seinen Arm und zog ihn an ihre Lippen, trank aus dem Schnitt und ließ dann los. Sie seufzte und wurde wieder schlaff. Ihre Augen schlossen sich. Claire schnürte es die Kehle zu. Sie wollte etwas fragen, doch sie konnte nicht.
Richard fragte an ihrer Stelle: »Ist sie tot?«
»Noch nicht«, sagte Oliver. »Ein Silberpfahl würde sie in ihrem Alter nicht sofort umbringen, auch nicht in ihrem geschwächten Zustand nach dem Blutverlust. Aber sie braucht eine zusätzliche Behandlung.« Er sah Richard an, dann Hannah und schließlich Claire. »Keiner erzählt irgendetwas weiter. Keiner.«
»Du meinst, wir sagen nicht, dass du sie gerettet hast?«, fragte Richard. »Oder dass du sie liebst?«
Ohne zu blinzeln, sagte Oliver: »Sag das noch mal und wir wählen einen neuen Bürgermeister, Junge. Ich bin heute nicht in der Stimmung, noch mehr menschlichen Quatsch zu ertragen. Hast du verstanden?«
»Ich habe verstanden, dass du diese Stadt in einen Viehpferch verwandeln willst. Dass meine Leute unbarmherzig gejagt und getötet werden. Weißt du, was, Oliver? Wenn du Morganville auf deine Weise regieren willst, musst du dir nicht nur einen neuen Bürgermeister suchen. Du musst dir einen Ort suchen, wo du dich verstecken kannst, wenn wir diese Stadt auseinandernehmen.« Richard stand auf... und ging einfach hinaus. Hannah blieb einen Augenblick sitzen, dann stand sie auf und folgte ihm.
Und ließ Claire allein mit Oliver.
Oliver blickte hinunter auf Amelies stilles, unbewegtes Gesicht. Ohne den Kopf zu heben, sagte er: »Du hättest mit ihnen gehen sollen. Du gehörst hier nicht dazu.«
»Ich kann nicht gehen«, sagte Claire. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Dann sag es und geh.«
Ihre Kehle war trocken und sie wusste, dass er inzwischen so weit war, die nächstbeste Person, die ihn wütend machte, umzubringen. Amelie würde ihn nicht aufhalten können. Aber sie musste es ihm sagen. Sie musste es zumindest versuchen.
»Du hast gesagt, du hättest letzte Nacht einen Vampir töten müssen«, sagte sie. »Es war nicht die Vampirin aus dem Imbiss?«
»Nein«, sagte Oliver. Er blickte nicht zu ihr auf. »Eine alte Freundin. Ich konnte sie nicht anders aufhalten.«
»Hat sie irgendetwas gesagt?«
»Was?« Oliver sah sie stirnrunzelnd an. »Nein. Nichts, was einen Sinn ergeben hätte.«
»Aber gesprochen hat sie.«
»Sie hat nur geschrien, dass nichts mehr stimmt.«
Das war die Bestätigung und Claire empfand ein kaltes, schwer lastendes Schuldgefühl. »Die Leute vergessen, wer sie sind. Oder wo sie sind. Oder sie wissen, dass etwas nicht stimmt, aber sie wissen nicht, was, und das macht sie verrückt.«
»Dann beschränkt es sich offensichtlichnicht nur auf die Menschen«, sagte Oliver. »Eine Blutanalyse der betroffenen Vampire hat nichts ergeben. Es ist nicht wie bei der Krankheit, unter der wir früher gelitten haben.« Er wusste also Bescheid und hatte sogar etwas dagegen getan oder es zumindest ver- sucht.
»Dann muss es die Maschine sein. Die, die Myrnin und ich repariert haben. Es hat ungefähr zu der Zeit angefangen, als wir sie eingeschaltet haben.« Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen; ihr Mund wurde noch trockener. »Myrnin glaubt nicht, dass irgendwas nicht in Ordnung ist damit. Ich ... ich wünschte, das stimmt, aber ich glaube, er will es nur nicht wahrhaben. Ich glaube, die Maschine löst das aus, und je länger sie an ist, desto schlimmer wird es.«
Oliver schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Und wenn wir sie abschalten?«
»Dann brechen die Schutzbarrieren zusammen. Aber ich glaube, dass dann auch die Gedächtnis-probleme weg sind.«
»Und du bist dir da sicher?«
War sie das? Sie wusste nämlich, dass ihr Leben davon abhing. »Ja.«
Tief aus Olivers Kehle drang ein Knurren, dann sagte er: »Dann schalt das verdammte Ding ab und bring es in Ordnung. Finde heraus, was nicht stimmt. Es geht nicht lange ohne die Barrieren. Unsere menschlichen Mitbürger rebellieren schon gegen die Obrigkeit, und wenn sie erst mal merken, dass die Barrieren nicht funktionieren, dann verlieren wir vollständig die Kontrolle und es kommt zu einem Blutbad. Verstehst du?«
»Ja. Ich schalte sie ab. Wir werden sie reparieren.«
»Dann fang am besten gleich damit an. Raus mit dir.«
Claire schnappte ihren Rucksack. Bei dem Pfahl und dem Messer zögerte sie, aber dann hob sie sie auf, stopfte beides in den Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Dann rannte sie zur Tür. Sie sah sich um, aber Oliver schien gar nicht zu bemerken, dass sie ging. Er hielt Amelie immer noch in den
Armen und zum ersten Mal sah sie ein echtes, unverstelltes Gefühl in seinem Gesicht.
Trauer.
Theo Goldman trat mit seinem Arztkoffer in der Hand aus dem Aufzug. Er zwinkerte Claire zu, als sie sich vor der Tür aneinander vorbeischoben. Er sagte: »Man hat mir gesagt, ich hätte eine Patientin. Das hier ist ein seltsamer Ort für so etwas.«
»Es ist Amelie«, sagte Claire. »Da entlang. Theo?«
Er blickte sich um, ging aber weiter.
»Bitte, helfen Sie ihr.«
Er nickte, lächelte beruhigend, und bevor sie noch etwas sagen konnte, schlossen sich die Aufzugstüren.