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Das Buch war schnell gelesen. Auf dem Nachhauseweg machte sie in einem Park eine Pause und setzte sich auf den von der Sonne ausgebleichten Gummisitz einer Schaukel. Sie schaukelte langsam vor und zurück, während sie sich durch die Seiten blätterte.

Es ging um Leute, von denen sie noch nie etwas gehört hatte... aber auch um Leute, die sie kannte. Um Amelie zum Beispiel. Um Amelies Auseinandersetzung mit verschiedenen Vampiren. Amelies Entscheidung, die eine Person für ein Vergehen zu bestrafen und die andere nicht. Verschiedene Vampire wurden porträtiert. Von manchen hatte Claire noch nie etwas gehört; wahrscheinlich waren sie gestorben oder weggegangen oder sie lebten zurückgezogen. Oliver kam in dem Buch nicht vor, weil er erst später in die Stadt gekommen war. Merkwürdigerweise auch Myrnin nicht. Claire nahm an, dass Myrnin von Anfang an ein gut gehütetes Geheimnis in der Stadt gewesen war.

Es war auf eigenartige Weise interessant, aber eigentlich verstand sie nicht, was es ihr brachte, wenn sie wusste, dass Amelie Anklage gegen einen Mann erhoben hatte, der einen Kurzwarenladen (was waren überhaupt Kurzwaren?) besessen und die menschliche Kundschaft betrogen hatte. Und dass ihm auf diese Anklage hin der Laden weggenommen wurde und er dann das erste Kino der Stadt eröffnet hatte.

Ziemlich langweilig.

Schließlich ließ Claire das Buch in ihren Rucksack fallen und überlegte, ob sie es anonym an die Bibliothek schicken sollte. Vielleicht gehörte es einfach dorthin. Aber dann kam ihr der beunruhigende Gedanke, dass Vampire vielleicht spüren konnten dass sie es in der Hand gehabt hatte. CSI :Vampire. Kein angenehmer Gedanke.

»Du kommst spät«, bemerkte Michael, als sie durch die Küchentür das Glass House betrat. Er stand an der Spüle und wusch ab; es gab nichts Seltsameres für sie, als zu sehen, wie ihr Mitbewohner, der in jeder Hinsicht absolut heiß und außerdem auch noch ein Vampir war, die Hände bis zu den Ellbogen ins Spülwasser tauchte. Erledigten Rockstars eigentlich ihre Hausarbeit selbst? »Außerdem bin ich heute gar nicht mit der Küche dran, sondern du.«

»Ist das deine passiv-aggressive Art, mich dazu zu bringen, deinen Wäschedienst zu übernehmen?«

»Ich weiß nicht. Würde das funktionieren?«

»Vielleicht.« Sie stellte ihre Taschen auf den Tisch und stellte sich neben ihn an die Spüle. Er wusch die Teller ab und sie spülte sie mit klarem Wasser nach und trocknete sie ab. Sehr häuslich. »Ich habe beim Lesen die Zeit vergessen.«

»Du Bücherwurm.« Er schnipste Schaum in ihre Richtung. Michael war wirklich guter Laune, daran gab es keinen Zweifel; das war er schon seit ein paar Monaten. Aus Morganville herauszukommen und seine Musik bei einer richtigen, echten Plattenfirma aufnehmen zu lassen, hatten ihm gutgetan. Es war hart gewesen, wieder zurückzukommen, aber schließlich hatte der Alltag ihn wieder. Sie alle. Es waren verrückte, seltsame Ferien gewesen, fast so, als hätten sie das alles nur geträumt, fand Claire.

Aber es hatte sich verdammt gut angefühlt, mit ihren Freunden eine Tour zu machen, ohne dass der Schatten von Morganville über ihnen hing.

Michael hörte unvermittelt auf zu lachen, er sah sie aus seinen großen blauen Augen an, sodass sie einen Augenblick lang ganz benommen war, und sie spürte, wie sie rot wurde. Er flirtete nicht mit ihr - nicht mehr als sonst -, aber er sah sie viel intensiver an als gewöhnlich und er blinzelte nicht.

Schließlich tat er es doch, wandte sich wieder der Spüle zu und wusch einen weiteren Teller ab. Dann sagte er: »Du bist wegen irgendwas nervös. Dein Herz schlägt schneller als sonst.«

»Du kannst mein ... ach ja, natürlich kannst du das.« Er hatte wohl weniger sie angestarrt, als vielmehr das Blut, das durch ihre Adern floss. Und das war irgendwie unheimlich. Bei Michael war es allerdings meistens hinreißend, wenn er unheimlich war. »Ich bin ein Stück zu Fuß gegangen, deshalb wahrscheinlich.«

»Hey, wenn du es mir nicht sagen willst, dann lass es. Aber ich weiß genau, wann du lügst.«

Okay, das war jetzt superunheimlich. »Echt?«

Finster blickte er auf das schmutzige Spülwasser hinunter. »Nee. Aber siehst du? Du bist trotzdem darauf hereingefallen. Sei vorsichtig, sonst lese ich mit meinen unglaublichen Vampir-Superkräften deine Gedanken.«

Sie seufzte und wischte sich die Hände ab, während er den Stöpsel herauszog und das Spülwasser in den dunklen Abfluss hinunterstrudeln ließ. Die Küche sah aus, als hätte sich tatsächlich jemand darum gekümmert. Wahrscheinlich schuldete sie ihm wirklich einen Wäschedienst.

Claire warf ihm das Geschirrtuch zu. »Das ist ein ganz gemeiner Trick.«

»Ich bin ja auch ein Vampir. Jetzt spuck’s schon aus!«

Während er sich Hände und Arme abtrocknete, öffnete sie die Tasche auf dem Tisch und kramte darin herum, um das schmale Bändchen zu suchen. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wo hast du das her?«

»Aus dem Antiquariat«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass Dan - der Typ, der den Laden führt - davon wusste. Wenn doch dann stehen vielleicht - ich weiß auch nicht - lauter Lügen drin? Aber das hier ist ein Foto von Amelie, oder?«

»Ich wusste gar nicht, dass es welche gibt, aber das hier ist auf jeden Fall eins.« Michael klappte das Buch zu und gab es ihr zurück. »Vielleicht ist es Morganville-Propaganda. Amelie hat so was anscheinend ab und zu gemacht und in dem Fall wäre das keine große Sache. Aber wenn nicht...«

»Wenn es die wahre Geschichte von Morganville ist, dann sollte ich das Buch zu Amelie bringen, bevor ich Ärger bekomme. Ja, danke, Dad. Darauf bin ich auch schon gekommen.«

Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, beugte sich vor und grinste. »Du bist ein schwieriges Kind. Aber ein kluges.«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte sie und zeigte ihm den Mittelfinger, genau wie Eve oder Shane es getan hätten. »Hey, wer ist mit dem Abendessen dr...«

Bevor sie das letzte Wort zu Ende sprechen konnte, wurde die Haustür aufgerissen und Eves fröhliche Stimme ertönte im Flur. »Halloooooo, ihr Wesen der Nacht! Macht euch locker! Hier kommt das Essen - und damit meine ich nicht mich!« Michael deutete stumm in ihre Richtung.

»Jetzt sag bloß nicht, dass sie übrig gebliebene Sandwichs aus dem University Center mitgebracht hat«, stöhnte Claire, als Eve mit einer weißen Papiertüte in der Hand in die Küche stürmte.

»Das habe ich gehört«, sagte Eve. Dann öffnete sie den Kühlschrank und ließ die Tüte hineinplump-sen. »Einmal Bakterien Spezial für euch - ich weiß doch, wie sehr ihr das mögt. Viele Grüße vom UC-Personal. Was geht, toter Typ?«

»Noch bin ich nicht tot«, sagte Michael und stand auf, um sie zu küssen. Abgesehen von seinem kühlen bläulichen Teint sah er aus wie ein x-beliebiger neunzehnjähriger Junge; die spitzen Zähne waren eingezogen wie bei einer Schlange, und wenn er so war wie heute, vergaß Claire fast, dass er eigentlich ein Vampir war. Obwohl er ein verwaschenes T-Shirt trug, auf dem ein glückliches Gesicht mit Vampirzähnen abgebildet war. Wahrscheinlich hatte Eve es für ihn gekauft.

Eve musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen. Der Kuss dauerte etwa fünf Sekunden zu lang, als dass es nur ein Hallo-Schatz-ich-bin-wieder-da-Kuss gewesen sein konnte, und als sie sich wieder voneinander lösten, waren Eves Wangen selbst unter dem weißen Gothic-Make-up feuerrot. Auch nach einem langen Tag an der Kaffeemaschine des TPU- Cafés - sie arbeitete jetzt abwechselnd dort und im Common Grounds - wirkte sie noch immer fröhlich und wach. Vielleicht kam das von dem ganzen Koffein. Wahrscheinlich wurde es direkt von ihrem Körper aufgesaugt, ohne dass sie es erst trinken musste. Sie hatte eine schwarze Strumpfhose an mit orangefarbenen Kürbissen darauf - ein Überbleibsel von Halloween, vermutete Claire, aber für Eve war das ganze Jahr Halloween. Darüber trug sie einen engen schwarzen Rock und drei dünne verschiedenfarbige T-Shirts übereinander. Das oberste war rabenschwarz und mit einem traurigen Totenschädel bedruckt.

»Deine neuen Ohrringe gefallen mir«, sagte Claire. Es waren silberne Totenköpfe, deren kleine Augenhöhlen rot aufleuchteten, wenn Eve den Kopf drehte. »Sie passen so gut zu dir.«

»Ja, nicht? Cooler geht’s nicht.« Eve strahlte. »Ach übrigens, Bakterien Spezial war aus, deshalb habe ich euch die Schinken-Käse-Sandwichs mitgebracht. Die sind normalerweise am sichersten.«

Sicher war relativ, wenn es um UC-Essen ging. »Danke«, sagte Claire. »Morgen Abend koche ich Spaghetti. Ja, und bevor ihr fragt: mit Hackfleischsoße, ihr Fleischfresser.«

Eve machte ein kauendes Geräusch. Michael lächelte nur. Das Lächeln erlosch, als er fragte: »Aber du musst Amelie nicht gleich heute Abend treffen, oder?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Das Buch hat bestimmt schon wer weiß wie lange in dem Laden herumgelegen. Das kann bis morgen warten. Da muss ich sowieso ins Labor. Nach der obligatorischen Zeit mit meinem durchgeknallten Boss ist Amelie sicher eine nette Abwechslung.«

Eve holte sich eine kalte Cola aus dem Kühlschrank. Dann zog sie Claires Tasche von einem Stuhl und ließ sie in die Ecke plumpsen. »Wie geht’s dem verrückten Boss überhaupt?«

»Myrnin ist... na ja, Myrnin eben. Er wird allmählich ein bisschen seltsam.«

»Süße, wenn du das schon sagst, dann ist es echt beunruhigend. Deine Seltsamkeits-Skala umfasst ein furchtbar breites Spektrum.«

»Ich weiß.« Claire seufzte, setzte sich hin und stützte das Kinn auf die Fäuste. Sie rang mit sich, wie viel sie sagen sollte, selbst zu ihren Freunden, aber ehrlich gesagt gab es da keine Geheimnisse. Nicht im Glass House. »Ich glaube, er steht unter wahnsinnigem Druck, weil er die Maschine reparieren will. Ihr wisst schon, die Maschine, die ...«

»Ada?«, fragte Eve. »Äh, jetzt mal im Ernst: Er erweckt das doch wohl nicht wieder zum Leben, oder?« »Nicht... direkt, nein. Aber Ada war nicht vollkommen böse, weißt du? Na ja, Ada schon, die Person, meine ich. Aber die Maschine hat alles Mögliche gekonnt, was die Vamps brauchen. Zum Beispiel hat sie die Stadtgrenzen gesichert. Alarm geschlagen, wenn Einwohner weggehen wollten, Gedächtnisse

gelöscht, wenn sie eines gelöscht haben wollten... und die Portale betrieben.« Die Portale waren die transdimensionalen Durchgänge, die es überall in der Stadt gab. Myrnin hatte eine irre Methode gefunden, Teilchen zu beschleunigen und stabile Tunnels durch Raum und Zeit zu bauen - etwas, was Claire bis heute nicht so richtig verstanden hatte und was sie schon gar nicht beherrschte. Es war zwar nicht unbedingt magisch, aber manchmal verschwammen die Grenzen zwischen Magie und Myrnins Wissenschaft. »Das ist wichtig. Wisst ihr, wir versuchen gerade, den Ada-Faktor aus der Gleichung herauszunehmen und die mechanischen Teile ohne integriertes menschliches Gehirn zum Laufen zu bringen.«

»Killer-Computer.« Eve seufzte. »Als hätten wir in Morganville nicht schon genug Ärger. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendetwas von dem, was du da erzählst, gut für uns ist, Claire-Bär. Verstehst du, was ich meine?«

»Wenn du mit uns die normalen Menschen meinst, ja, dann weiß ich, was du meinst. Aber...« Claire zuckte mit den Schultern. »Tatsache ist, dass sie uns wegen dieser Sicherheitsmaßnahmen vertrauen, zumindest ein bisschen, und Vertrauen ist das, was diese Stadt am Laufen hält.«

Darauf erwiderte Eve nichts mehr. Sie wusste, dass Claire recht hatte. Morganville bestand aus einem empfindlichen, gefährlichen Gleichgewicht zwischen der Paranoia und der Gewalt der Vampire und der Paranoia und der Gewalt der Menschen, die den Vampiren zahlenmäßig überlegen waren. Genau durch dieses Gleichgewicht konnten sie Zusammenleben. Aber es brauchte nicht viel, dass die Stimmung kippte, und wenn das passierte, dann würde Morganville brennen.

Claire kaute auf ihrer Unterlippe und fuhr fort: »Wir kriegen das schon hin, wirklich, aber er hat so was wie eine Deadline, von der er mir nichts erzählt, und ich mache mir Sorgen, dass er irgendetwas ... Verrücktes tut.«

»Er lebt in einem Loch im Boden, zieht sich komisch an und frisst ab und zu seine Assistenten auf«, sagte Eve. »Was heißt hier verrückt.«

Claire schloss die Augen. »Okay. Ich glaube, er will mein Gehirn in ein Glas stecken und an die Maschine anschließen.«

Totenstille. Sie schlug die Augen wieder auf. Michael starrte sie an, er hielt mitten in der Bewegung inne, als er den Kühlschrank öffnen wollte. Eve hatte ihre Cola abgestellt, ihre Augen waren größer als alles, was jemals in einem Comic gezeichnet worden war. Schließlich erinnerte sich Michael wieder daran, was er gerade tun wollte; er holte sich eine grüne Sporttrinkflasche aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Tisch. »Das wird nicht passieren«, sagte er. »Ich werde nicht zulassen, dass das passiert. Und Amelie auch nicht.«

Beim letzten Teil war Claire sich nicht ganz sicher, aber sie wusste, dass Michael meinte, was er sagte, und fühlte sich gleich ein bisschen besser. »Ich glaube nicht, dass er das ernst meint«, sagte Claire schwach. »Na ja, jedenfalls meistens nicht. Aber er sagt dauernd, dass ein Gehirn besser wäre als ein Zentralprozessor...«

»Das wird nicht passieren«, wiederholte Michael bestimmt. »Vorher bringe ich ihn um, Claire. Das meine ich ernst.«

Michael war ein Schatz, meistens zumindest, aber ehrlich gesagt lauerte etwas Kaltes in ihm - und das lag nicht nur daran, dass sein Herz nicht schlug. Es war... etwas anderes. Etwas Dunkleres. Meistens zeigte es sich nicht.

Doch manchmal war sie dankbar, dass es sich zeigte.

»Shane ist spät dran«, wechselte Eve das Thema. »Wo ist denn unser Mr Grillfleischschneider?« »Arbeitet heute länger«, erwiderte Claire. »Jemand von der Nachtschicht hat abgesagt, deshalb musste er den Abendessendienst übernehmen. Er hat gesagt, das wäre okay, er könnte die Überstunden gebrauchen. Und er mag es nicht, wenn du ihn Mr Grillfleischschneider nennst, aber das weißt du ja.«

»Hast du schon mal gesehen, wie er das Fleisch schneidet? Beim Schneiden ist er wie ein Künstler. Und das Messer ist so lang wie mein Arm. Er ist sehr wohl Mr Grillfleischschneider.«

Nachdem sie die etwas matschigen Sandwichs gegessen hatten, machte Claire sich auf den Weg nach oben in ihr Zimmer. Einem Impuls folgend, blieb sie im Flur stehen und griff nach dem verborgenen Riegel der Tür, die zum geheimen Zimmer führte. Die Täfelung öffnete sich mit einem Klicken und Claire ging hinein und machte die Tür hinter sich zu. Auf dieser Seite gab es keinen Türknauf, aber das war okay, sie wusste, wie man sie wieder öffnete. Sie rannte die schmale Treppe hinauf und gelangte in das fensterlose staubige Zimmer, von dem sie sich immer vorstellten, dass es Amelies Rückzugsort gewesen war, als sie einst in diesem Haus gewohnt hatte. Es sah nach ihr aus - alte viktorianische Möbel, Wandbehänge, bunte Tiffanylampen, die wahrscheinlich ein Vermögen wert waren. Irgendwie war es hier immer ein bisschen kalt. Claire streckte sich auf dem alten Samtsofa aus, starrte an die Decke und dachte daran, wie oft sie mit Shane hier gewesen war. Es war ihr privater Ort, wo sie sich einfach zurückziehen konnten. Die Decke, die über der Lehne lag, roch nach Shane. Sie breitete sie über sich und lächelte. Es fühlte sich an, als wäre Shanes Geist hier bei ihr und würde sich eng an sie schmiegen.

Sie merkte gar nicht, wie sie einschlief, und dann dachte sie, sie würde träumen, denn irgendjemand berührte sie. Es war nicht lästig oder so - irgendjemand strich ihr einfach nur mit der Fingerspitze über die Wange, über die Lippen ... ein langsames, zartes Streicheln.

Sie schlug die Augen auf und sah, dass Shane neben dem Sofa kniete. Seine langen Haare waren zerzaust wie immer und umrahmten sein Gesicht. Er roch nach Grill und nach Holzfeuerrauch und sein Lächeln war das Schönste, was sie je gesehen hatte.

»Hey du Schlafmütze«, sagte er. »Es ist drei Uhr morgens. Eve glaubt, dass irgendwelche Vampire dich entführt haben, aber nur weil du dein Bett heute Morgen nicht gemacht hast. Ich fürchte, ich habe einen schlechten Einfluss auf dich.«

Sie öffnete die Lippen und seine Finger verweilten dort; langsam fuhr er die Umrisse ihres Mundes nach. Sie sagte nichts. Sein Lächeln wurde breiter.

»Hast du mich vermisst?«

»Nein«, sagte sie. »Ich wollte nur Ruhe und Stille. Ich habe gar nicht gemerkt, dass du weg warst.«

Er presste die Hände auf die Brust, als hätte sie auf ihn geschossen, und stürzte zu Boden. Claire rollte sich vom Sofa und ließ sich auf ihn fallen, aber er weigerte sich, die Augen zu öffnen, bis sie ihn lange und ausführlich küsste. Danach leckte sie sich die Lippen. »Mmmm, Grillfleisch.«

»Hungrig?«

»Eve hat UC-Sandwichs mitgebracht.«

Shane verzog das Gesicht. »Da bin ich aber froh, dass ich das verpasst habe. Aber ich habe eigentlich nicht von einem Mitternachtssnack geredet.«

»Jungs. Habt ihr eigentlich immer nur das eine im Kopf?«

»Mitternachtssnacks?«

»Nennen die coolen Kids das heute so?«

Er lachte und sie spürte es auf ihrer Haut. Shane lachte nicht oft, außer wenn sie zusammen waren; sie liebte das Leuchten in seinen braunen Augen und die verschmitzte Art, wie er die Mundwinkel zum Lächeln nach oben zog. »Als ob ausgerechnet ich das wüsste«, sagte er. »Ich habe nie zu den coolen Kids gehört.«

»Bullshit.«

»Bitte achten Sie auf Ihre Sprache, Miss Danvers. Oh, Moment mal, Scheiße - ich habe ja einen schlechten Einfluss.«

Sie ließ den Kopf wieder auf seine Brust sinken, sodass sie seinen Atem hören konnte. »Erzähl mir, wie du in der Schule so warst.«

»Warum?«

»Weil ich es verpasst habe.«

»Da hast du nicht viel verpasst«, sagte er. »Mikey und ich sind zusammen abgehangen. Er war Mr Rockstar, weißt du, aber er war echt schüchtern. Mädchen ohne Ende, aber er war ziemlich wählerisch. Zumindest bis zu unserem Junior-Jahr.«

»Was ist in eurem Junior-Jahr passiert?«, fragte sie, ohne nachzudenken.

Shane strich ihr immer noch mit den Fingern durch das Haar und sagte: »Haus abgebrannt, meine Schwester Alyssa tot, meine Familie auf der Flucht. Deshalb weiß ich nicht, wie Mikey in den letzten beiden Schuljahren so war. Als ich wieder zurückgekommen bin, haben wir einiges davon aufgearbeitet, aber das war nicht dasselbe. Irgendetwas war mit ihm passiert. Und auf jeden Fall war mit mir etwas passiert. Du weißt schon.« Obwohl ihr Gewicht auf ihm lag, zuckte er mit den Schultern. »Über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich war eine ziemlich langweilige Dumpfbacke.«

»Hast du Sport gemacht?«

Er lachte. »Football eine Weile. Hockey mochte ich lieber. Mehr Gelegenheiten, Leute zu verdreschen. Aber ich bin nicht unbedingt teamfähig, deshalb musste ich ungefähr doppelt so oft auf die Strafbank wie alle anderen. Das war nicht so witzig.« Er schwieg ein paar Sekunden lang, dann sagte er: »Du weißt bestimmt, dass Monica eine Zeit lang hinter mir her war.«

Das überraschte sie. »Monica Morrell? Du meinst, hinter dir her im Sinne von ...?«

»Ich meine, sie hat mir schmutzige kleine Botschaften zugesteckt und einmal hat sie sogar versucht, mir in einer Besenkammer die Klamotten vom Leib zu reißen. Für sie war das wohl Liebe. Für mich eher nicht.« Sein Gesicht wurde einen Augenblick lang hart und entspannte sich dann wieder. »Ich habe sie abblitzen lassen, und sie war sauer. Den Rest kennst du.«

Shane glaubte - und Claire hatte keinen Grund, daran zu zweifeln -, dass Monica das Feuer gelegt hatte, bei dem sein Zuhause niederbrannte, seine Schwester umkam und das seine Familie zerstört hatte. Diese Wunde würde nie verheilen; er würde Monica immer aus tiefstem Herzen hassen und er war immer kurz davor, gewalttätig zu werden. Und Monica stachelte ihn auch noch die meiste Zeit dazu an - sie schien Shanes Zorn zu genießen.

Claire wusste nicht recht, was sie sagen sollte, deshalb küsste sie ihn wieder, und das fühlte sich süß an und warm und bei ihm auch ein bisschen zerstreut. Sie hätte nicht davon anfangen sollen, dachte sie. Er wollte sich nicht mehr daran erinnern. »Hey«, sagte sie. »Ich wollte nicht...«

»Ich weiß.« Sein Lächeln kehrte zurück und sie hoffte, dass er jetzt wieder im Hier und Jetzt war, bei ihr, und nicht mehr in der schlimmen alten Zeit. »Eigentlich bin ich froh, dass du damals nicht dabei warst. Damals war es nicht besonders gut, mich zu kennen. Außerdem war ich in der Junior Highschool ehrlich gesagt ein Vollidiot.«

»Alle Jungs sind in der Junior High Vollidioten. Und die meisten auch noch in der Highschool. Und hinterher werden sie richtige Vollidioten.« Sie küsste ihn noch einmal. »Aber du nicht, Mr Grillfleischschneider.«

»Oh Mann, Eve kann’s nicht lassen, oder?«

»Absolut nicht.« Sie musste ebenfalls lächeln. Shane brachte irgendeine verrückte Seite an ihr zum Vorschein, von der sie bisher nichts gewusst hatte - wahrscheinlich waren ihre Eltern deshalb so beunruhigt in Bezug auf sie beide. Doch Claire mochte das. Wenn sie mit Shane zusammen war, konnte sie fühlen - sie fühlte, wie das Blut in ihren Adern pulsierte, wie jeder einzelne Nerv wach und lebendig war und sich nach Berührung sehnte. Alles war heller, klarer, sauberer. Ein bisschen verrückt war ganz gut. »Hast du Lust, ein bisschen rumzumachen?«

»Vielleicht sollte ich duschen. Ich rieche nach Schweiß und nach Grill.«

»Du riechst toll«, sagte sie. »Ich liebe deinen Geruch.«

»Jetzt wirst du eklig, weißt du das? Und vielleicht auch ein bisschen unheimlich.«

»Ach, halt die Klappe, das gefällt dir doch.«

Es gefiel ihm, das merkte sie, vor allem als sie sich auf dem Sofa unter der Decke aneinander-schmiegten und Amelies Refugium ihnen gehörte - ihr eigenes süßes Paradies, in dem niemand sie störte.

Na ja, bis auf Claires Handywecker, der auf sieben Uhr morgens gestellt war.

Das nervte.

Der Morgen war hart, teils weil sie beide nicht viel geschlafen hatten und teils weil Claire diesen Raum einfach nie wieder verlassen wollte, doch schließlich küsste sie sich ihren Weg nach draußen und ging die Treppe hinunter zu der geschlossenen Tür.

Die ging nicht auf. »Shane!«, schrie sie. »Ich muss los!«

Sein filmreif fieses Lachen drang zu ihr herunter, aber er drückte auf den Knopf und ließ sie hinaus. Eve stand nie freiwillig früh auf und heute war ihr freier Tag, deshalb konnte sich Claire unter dem heißen Wasser Zeit lassen und sich sammeln, ohne dass jemand an die Tür klopfte und sie zur Eile trieb. Als sie die Badezimmertür aufmachte und hinaustrat, saß Shane neben der Tür auf dem Boden und versperrte mit den Beinen den Flur. Er hatte seine zerknitterte Jeans an, aber noch kein Hemd.

Das war total unfair. Sie liebte es, seine Brust zu betrachten, und das wusste er auch.

»Wir brauchen unbedingt noch ein zweites Bad in diesem Ungetüm«, sagte er und küsste sie, als er hineinging. »Du brauchst viel zu lang im Bad.«

»Gar nicht wahr!«, sagte sie aufgebracht, aber die Tür zwischen ihnen war bereits zu. »Ich brauche nur halb so lang wie Eve!«

»Das ist immer noch zu lang!«, rief er von drinnen. »Typisch Mädchen.«

Sie hämmerte gegen die Tür, dann zuckte sie zusammen und hoffte, dass sie Eve und Michael nicht geweckt hatte. Sie ging durch den Flur zu ihrem Zimmer. Shane hatte recht: Sie hatte gestern ihr Bett nicht gemacht, dafür klopfte sie heute sogar die Kissen zurecht. Dann zog sie alte verratzte Klamotten heraus und ihre schlimmsten knöchelhohen Turnschuhe.

Es hatte keinen Sinn, gut angezogen in Myrnins Labor zu kommen. Dort wurden die Sachen dann nur mit ekligem Zeug bespritzt oder mit etwas, das Löcher hineinbrannte, oder mit Substanzen, die nie wieder herausgingen, ganz egal, wie kreativ man mit Waschmittelzusätzen war. In der Küche schlang Claire eine Schale Cornflakes hinunter und wollte anschließend die Schale spülen, doch dann fiel ihr ein, dass Shane heute Küchendienst hatte, deshalb grinste sie und ließ sie ungespült stehen.

Das geschah ihm recht - immerhin hatte er versucht, sie aufzuhalten, damit sie zu spät kam.

Sie räumte ihren Rucksack aus und ließ nur die Sachen darin, die sie für ihr Projekt mit Myrnin brauchte, dann steckte sie das dünne Geschichtsbuch hinein und machte sich auf den Weg.

Es war ein schöner Morgen. Den Sonnenaufgang hatte sie verpasst und es war immer noch ein bisschen kühl. Der blaue Himmel war wunderbar klar, nur mit ein paar zerzausten Wolken am Horizont. Jetzt war die Sonne freundlich, noch nicht so ein alles versengendes Monster wie um die Mittagszeit. Claire sprang die Stufen hinunter und ging durch das Gartentor. Zuerst machte sie sich auf zum Common Grounds. Oliver war nicht da; dieses Mal waren beide Baristas neu. Wieder wurde ihr Name falsch geschrieben.

In jeder Hand einen Becher Kaffee ging sie zu Myrnins Labor.

Morganville war um diese Tageszeit lebendig; praktisch jeder, der kein Vampir war, nutzte den Sonnenschein und die Sicherheit, die er bot. Die Kinder waren trotzdem nur in Gruppen unterwegs; auch die meisten Erwachsenen waren nicht allein, aber immerhin waren sie unterwegs. Claire traf mehrere Bekannte.

Sie fühlte sich wie zu Hause. Und das war eigentlich ein bisschen traurig.

Ein Polizeiauto verlangsamte die Fahrt, schaltete herunter und fuhr im Schritttempo neben ihr her. Hannah Moses winkte ihr aus dem Wagen zu. Die Polizeichefin von Morganville kurbelte das Fenster herunter. »Willst du mitfahren, Claire?«

Hannah war beeindruckend. Sie hatte eine absolut kompetente Ausstrahlung an sich. Sie hatte eine Narbe im Gesicht, die eigentlich hätte entstellend aussehen müssen, doch damit wirkte sie nur noch einschüchternder - bis sie lächelte. Dann sah sie wunderschön aus. Heute hatte sie ihr geflochtenes Haar zu einem lockeren Knoten hochgesteckt; das sah elegant aus und irgendwie offiziell. Bei Hannah zumindest.

»Nein, danke«, rief Claire zurück. »Das ist nett von dir, aber es ist so schön heute. Und du hast wahrscheinlich zu tun.«

»Ja, ein paar Vampire streiten sich um den Essensnachschub«, sagte Hannah. »Das kann’s nicht sein, glaub mir. Gut, dann dir noch einen schönen Tag. Falls du Myrnin siehst, dann sag ihm, dass ich meinen Dampfkochtopf wiederhaben möchte.«

»Deinen... Du hast ihm etwas ausgeliehen, worin du Essen kochst?«

Hannahs Lächeln verschwand. »Warum?«

»Ähm, schon gut. Ich sorge dafür, dass er desinfiziert wird, bevor du ihn zurückbekommst. Aber borg ihm nichts mehr, was man nicht in irgendeinen Sterilisator stecken kann.«

Jetzt sah Hannah nervös aus. »Danke. Richte dem Spinner schöne Grüße von mir aus.«

»Das mach ich«, versprach Claire. »Hey, wenn ich fragen darf - wann hast du ihm den denn ausgeliehen?«

»Vor etwa einer Woche stand er vor meiner Tür und sagte: >Hi, schön, dich zu sehen. Kann ich mir deinen Dampfkochtopf ausleihen?< Typisch Myrnin.«

»Absolut«, stimmte Claire zu. »Na ja, ich muss dann mal los, der Kaffee wird kalt...«

»Pass auf dich auf«, sagte Hannah, beschleunigte und fuhr davon. Auch Claire legte einen Zahn zu und durchquerte ein paar Wohnviertel, bis sie zum Day House kam. Es sah genauso aus wie das Haus von Michael Glass, weil beides Gründerinnenhäuser waren, die ersten Häuser, die von Amelie und Myrnin gebaut worden waren. Die Gründerinnenhäuser sahen nicht nur gleich aus, sie waren auch mit der gleichen Art von Energie aufgeladen, wie Claire herausgefunden hatte. In manchen war sie stärker als in anderen, aber sie vermittelten alle das leicht beunruhigende Gefühl von... Intelligenz. Im Glass House war sie besonders stark, es war fast eine ganz eigene Persönlichkeit.

Das Day House stand am Ende einer Sackgasse. Hannahs Verwandte lebten dort, zumindest Gramma Day wohnte noch dort. Claire wusste nicht, wohin ihre Enkelin Lisa Day gegangen war, außer dass sie sich während des Morganville-Aufstands vor ein paar Monaten für die falsche Seite entschieden hatte, ins Gefängnis kam und nach ein paar Wochen wieder freigelassen wurde. Sie war nie mehr ins Day House zurückgekehrt, so viel war sicher. Claire wusste, dass Hannah noch immer nach ihrer Cousine suchte. Es gab nicht viele Möglichkeiten - entweder war es Lisa gelungen, aus Morganville zu entkommen, oder sie versteckte sich oder sie hatte es nie lebend aus dem Gefängnis herausgeschafft. Um Gramma Days willen hoffte Claire, dass Lisa entkommen war. Sie war kein besonders netter Mensch, aber die alte Dame liebte sie.

Claire hatte nicht vor, einen Zwischenstopp im Day House einzulegen, auch wenn Gramma Day, eine kleine alte Frau, in einem großen Schaukelstuhl davor saß und sie fragte, ob sie Brötchen zum Frühstück wollte. Claire lächelte sie an und schüttelte den Kopf - Gramma hörte nicht so besonders gut. Daraufhin winkte Gramma ihr freundlich zu und Claire bog rechts ab in die schmale, von einem Zaun begrenzte Gasse zwischen dem Day House und dem anonymen Reihenhaus auf der anderen Seite. Die Gasse war zu schmal für ein Auto und wurde hinten immer enger, wie ein Trichter. Außerdem war sie verdächtig sauber - es war nicht viel Müll hereingeweht worden.

Und Claire ging der Spinne geradewegs ins Netz.

Die Tür des baufälligen Schuppens am Ende der Gasse schwang auf, noch bevor sie dort war, und die Spinne selbst sprang heraus, riss Claire den Kaffee aus der Hand und stürzte mit Vampirgeschwin-digkeit wieder hinein, noch bevor Claire ein Wort sagen konnte. Soweit sie hatte sehen können, trug Myrnin eine schwarze Cargohose, die ihm viel zu groß war, Flipflops, auf denen Gänseblümchen prangten, und eine Art Satinweste ohne Hemd darunter - wahrscheinlich weil er einfach vergessen hatte, eines anzuziehen. Myrnin war bei seiner Kleiderwahl nicht gerade eitel, sondern zog sich ziemlich willkürlich an, so als würde er blind in seinen Schrank greifen und anziehen, was seine Hand als Erstes ertastete.

Claire folgte mit menschlicher Geschwindigkeit in den Schuppen. Sie kam in den großen Raum, der Myrnins Labor war und meistens auch sein Zuhause. (Sie glaubte zwar, dass er noch ein anderes Zuhause hatte, aber eigentlich traf man ihn fast immer hier an. Außerdem gab es hinten noch ein Zimmer mit ausrangierten Kleidungsstücken, in denen er herumwühlte, wenn ihm gerade danach war.)

Myrnin beugte sich über ein Mikroskop und studierte weiß der Himmel was. Er hatte alle Lichter angemacht, was ganz schön war, und das Labor wirkte heute sauber und kühl - alle steampunkartigen Elemente glänzten. Sie fragte sich, ob es einen Putzdienst extra für verrückte Wissenschaftler gab.

»Danke für den Kaffee«, sagte er. »Guten Morgen.«

»Morgen«, sagte Claire und ließ ihren Rucksack auf einen Stuhl fällen. »Woher wussten Sie, welcher Kaffee für Sie war?«

»Das wusste ich nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Du hast auf meine Anrufe hin nicht zurückgerufen. Und du weißt genau, wie ungern ich anrufe. Telefone sind kalt und unpersönlich.«

»Ich bin nicht drangegangen, weil der Streit dann wieder von losgegangen wäre. Das führt doch zu nichts, oder?«

Er blickte von seinem Mikroskop auf, schob seine altmodische quadratische Brille nach oben auf seine langen, lockigen schwarzen Haare und blickte sie mit einem hinreißenden Lächeln an. Für einen Vampir, der doppelt so alt aussah wie sie, der aber Tausende Jahre älter war, sah Myrnin ziemlich ... toll aus. Er konnte von einer Minute auf die andere lieb sein und herzlich und dann wieder wie ein kaltblütiges Raubtier - vor allem das hielt sie davon ab, sich in ihn zu verlieben. Tatsache war nämlich, dass er einen schrecklichen, vielleicht sogar todbringenden Freund abgeben würde.

Außerdem hatte sie keine Ahnung, was er tief drin für sie empfand. Meistens behandelte er sie wie ein ganz besonders schlaues Haustier.

»Ich liebe es, mit dir zu streiten, Claire. Du überraschst mich immer wieder. Und manchmal gibst du sogar etwas Sinnvolles von dir.«

Dasselbe hätte sie auch über ihn sagen können, aber es wäre nicht als Schmeichelei gemeint gewesen. Anstatt das irgendwie in Worte zu fassen, trug sie ihren Kaffee hinüber zu dem Labortisch mit der Granitplatte. Er benutzte ein modernes, digitales Mikroskop, das sie extra für ihn bestellt hatte. Damit schien er erst einmal glücklich zu sein, auch wenn er wahrscheinlich bald zu seinem alten Ungetüm aus Messing und Glas zurückkehren würde. Myrnin fühlte sich mit Technologie aus der viktorianischen Zeit einfach wohler. »Was machen Sie da?«

»Mein Blut untersuchen«, sagte er. »Das mache ich jede Woche. Bestimmt freut es dich zu hören, dass immer noch keine Spur des Bishop-Virus nachzuweisen ist.«

Bishop-Virus nannten sie die schreckliche Krankheit, die die Vampire befallen hatte, lange bevor sie Morganville erreichte. Es war ein künstlich hergestelltes Virus, das Bishop, Amelies Vater, freigesetzt hatte, weil nur er das Gegenmittel kannte.

Schlecht für ihn, dass sein Blut das Heilmittel für alle anderen war, weil er das Heilmittel zuerst bei sich selbst eingesetzt hatte. Jetzt war der fiese alte Vampir unter höchster Sicherheitsstufe irgendwo in Morganville eingesperrt. Niemand wusste, wo, nur Amelie und die Leute, die ihn bewachten.

Claire fand das gut so. Das Letzte, worüber sie nachdenken wollte, war, dass Bishop ausbrechen und sich an ihnen allen rächen könnte. Sie hatte schon viele fiese Vampire kennengelernt, aber Bishop war, wenn es nach ihr ging, der schlimmste von allen.

»Ich bin froh, dass Sie okay sind«, sagte sie. Das Bishop-Virus hatte dazu geführt, dass die Vampire sich selbst vergaßen - sie verloren das Gedächtnis, die Selbstbeherrschung. Bei den meisten vollzog sich der Prozess schleichend, was noch schlimmer war als Alzheimer bei einem Menschen, weil ein Vampir zu einer unberechenbaren, gefährlichen Bestie wurde. Anders als die anderen hatte Myrnin sich nicht vollständig davon erholt oder, was wahrscheinlicher war, er war schon immer ein bisschen neben der Spur gewesen. »Darf ich mal sehen?«

»Oh, gewiss«, sagte Myrnin. Er trat zurück und ließ sie durch das Okular des Mikroskops schauen. Dort betrachtete sie in lebhaften Farben das geschäftige Treiben in Myrnins Blutstropfen - eigentlich ja nicht sein eigenes Blut, sondern eher das von anderen. Vampirblut und Menschenblut war sehr unterschiedlich und es faszinierte Claire noch immer, wie das funktionierte. »Siehst du? Ich bin fit.«

»Glückwunsch.« Sie schaltete das Mikroskop aus, um die wahrscheinlich ohnehin schon horrende Stromrechnung des Labors nicht noch weiter in die Höhe zu treiben. Dann nippte sie an ihrem Kaffee, während Myrnin seinen trank. »Was machen wir heute?«

»Oh, ich habe mir gedacht, wir machen heute frei - gehen in den Park, bummeln ein bisschen, gehen ins Kino...«

»Echt jetzt.«

»Du kennst mich doch. Da du die ganze Woche nicht mit mir gesprochen hast, habe ich einen neuen Schaltkreis entworfen. Ich würde gern wissen, was du davon hältst.« Er flitzte hinüber zu einem anderen Tisch, über den ein weißes Tuch gebreitet war. Ein paar schreckliche Sekunden lang dachte Claire, es läge ein Mensch darunter... aber dann zog er es weg und da war nur haufenweise Metall, Glas und Plastik. Es sah gar nicht aus wie ein Schaltkreis. Die meisten Dinge, die Myrnin baute, sahen nicht nach dem aus, was sie darstellen sollten. Sie funktionierten einfach nur.

Claire trat an den Tisch und versuchte herauszufinden, wo der Anfang war - wahrscheinlich bei der offenen Leitung, die zu einer Art Vakuumröhrenkonstruktion führte, dann zu etwas, was aussah wie eine Leiterplatte, die einmal Bestandteil von etwas Vernünftigem gewesen war, danach in mehrere Drahtbündel, die alle dieselbe Farbe hatten und sich wie Spaghetti zu anderen Dingen schlängelten, die unter Schlauchrollen begraben waren.

Sie gab auf. »Was ist das?«

»Was glaubst du denn, was da ist?«

»Soweit ich das beurteilen kann, könnte das alles Mögliche sein, vom Rasenmäher bis hin zu einer Bombe.«

»Ich würde niemals einen Rasenmäher bauen«, sagte Myrnin. »Was hat mir der arme Rasen getan? Nein, es ist eine Schnittstelle. Für den Computer.«

»Eine Schnittstelle«, wiederholte Claire langsam. »Zwischen was und was?«

Er bedachte sie mit einem langen Blick, der ihr sagte: Stell keine Fragen, deren Antwort du schon kennst. Claires Magen zog sich zusammen.

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie das tun«, sagte sie. »Es werden keine Gehirne in Ihre Maschinen eingebaut. Auf keinen Fall. Sie können nicht jemanden umbringen, nur um Ihren blöden Computer zu betreiben, Myrnin. Das ist nicht richtig!«

»Nun, wie du weißt, töte ich Menschen wegen ihres Blutes. Ich dachte mir, das wäre eher so, als würde man jemanden konservieren - spare in der Zeit, dann hast du in der Not und so weiter. Wenn ich sie sowieso umbringe.«

Claire verdrehte die Augen. »Sie bringen keine Menschen wegen ihres Blutes um, nicht in Morganville. Ich weiß ganz genau, dass Sie, seit es Ihnen besser geht, nicht mehr ...« Naja, wusste sie das wirklich? War sie sich da sicher? »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das nicht getan haben.«

Er lächelte ein trauriges, süßes Lächeln, das ihr das Herz brach. »Oh Claire«, sagte er. »Du hältst mich für einen viel besseren Menschen, als ich wirklich bin. Das ist sehr nett und es schmeichelt mir.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie...«

»Donuts!«, unterbrach Myrnin sie und schoss davon. Sekunden später kam er mit einer offenen Schachtel wieder. »Mit Schokoguss. Deine Lieblingsdonuts.«

Sie starrte ihn hilflos an und griff schließlich zu. Sie waren frisch, er war also tatsächlich rausgegangen und hatte eingekauft. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das im Donutladen abgelaufen war, vor allem wenn man bedachte, was er heute anhatte. »Myrnin, waren Sie jagen?«

Er zog die Augenbrauen hoch und biss in einen gefüllten Donut. Himbeermarmelade triefte heraus und Claire schluckte schwer.

Nachdem er sich die Lippen abgeleckt hatte, sagte er: »Sollen wir uns jetzt mal deinen letzten Durchbruch anschauen?«

Sie folgte ihm in den hinteren Teil des Labors, wo ihr eigener, sehr viel normaler aussehender Schaltkreis, ebenfalls mit einem Tuch zugedeckt, auf einem Tisch stand. Er hatte ein paar, nun ja, Ergänzungen vorgenommen, auf seine übliche unkonventionelle Weise. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Kupferleitungen und altmodische Federn und Hebel ihr Werk verbessern sollten, und eine Sekunde lang empfand sie richtiggehend Wut. Sie hatte hart daran gearbeitet und Myrnin hatte es zerstört wie ein mutwilliges kleines Kind.

»Was haben Sie getan?«, fragte sie etwas zu scharf und Myrnin starrte sie an.

»Ich habe die Bauweise verbessert«, sagte er und dieses Mal war seine Stimme kühl und klang ganz und gar nicht belustigt. »Wissenschaft ist Zusammenarbeit, kleines Mädchen. Du bist ganz und gar keine Wissenschaftlerin, wenn du keine Verbesserung deiner Theorie akzeptieren kannst.«

»Aber...« Frustriert biss sie in ihren Donut. Wochenlang hatte sie an diesem Schaltkreis gearbeitet und er hatte versprochen, dass er ihn nicht anrühren würde, wenn sie nicht da war. Sie war so kurz davor gewesen, ihn zum Laufen zu bringen!

»Worin genau bestehen denn Ihre Verbesserungen?«

Als Antwort griff er nach dem Stromkabel - das Gott sei Dank noch modern war - und steckte es in die Steckdose seitlich am Tisch.

Der Computerbildschirm - ein richtig guter LCD-Monitor - war ebenfalls der Jules-Verne-Behandlung unterzogen worden. Er verschwand fast in einem Nest aus Röhren, Federn und Zahnrädern... aber er leuchtete auf und Claire erkannte die Grafikoberfläche, die sie dafür entworfen hatte. Sie hatte sich dabei natürlich vom Steampunk inspirieren lassen, weil sie wusste, dass ihn das freuen würde, aber wenn diese Elemente außen am Bildschirm befestigt waren, sah das einfach nur verrückt aus.

Also perfekt für Myrnin.

Rasch ging sie durch die Touchscreen-Menüs. Stadtsicherheit. Städtische Gedächtniskontrolle. Nahverkehr... Nahverkehr und Gedächtniskontrolle hatten nicht funktioniert, doch jetzt schienen sie zu laufen, zumindest laut Benutzeroberfläche. Sie tippte auf Nahverkehr und eine Karte öffnete sich, auf der jeder der stabilen Portaldurchgänge mit einem leuchtend grünen Punkt gekennzeichnet war. Sie sahen aus wie Wurmlöcher und verliefen zwischen den Gründerinnenhäusern der Stadt und zwischen den meisten öffentlichen Gebäuden. Zwei befanden sich in der TPU, zwei im Gericht, einer im Krankenhaus und noch an ein paar Orten, die sie nicht kannte.

Doch dass sie auf dem Bildschirm grün leuchteten, hieß natürlich nicht, dass sie auch funktionierten.

»Haben Sie es getestet?«, fragte sie.

Myrnin aß seinen Donut auf. Er wischte sich etwas Rotes von den Lippen und sagte: »Natürlich nicht. Ich bin viel zu wertvoll, um bei einem Experiment verschwendet zu werden. Als Assistentin ist das deine Aufgabe.«

»Aber es funktioniert?«

»Theoretisch schon«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Natürlich würde ich nicht empfehlen, es an dir selbst auszuprobieren. Versuch es zuerst mit etwas Unorganischem.«

Unwillkürlich wurde Claire von einer leichten Erregung erfasst. Es funktionierte. Vielleicht. Nahverkehr und Gedächtniskontrolle waren zwei unlösbare Probleme gewesen und vielleicht – nur vielleicht - hatte sie tatsächlich eines davon gelöst. Das bedeutete, dass auch das zweite nicht unüberwindlich war.

Sie bemühte sich, dies nicht in ihrem Gesichtsausdruck zu zeigen; sie nickte nur und ging zu dem Holzschrank, der das Portal verdeckte, das zum Labor führte. Sie versuchte, ihn wegzuschieben, aber er ließ sich nicht bewegen. »Haben Sie ihn am Boden festgenagelt oder so?«

»Oh nein, ich habe da drin nur etwas Blei gelagert«, sagte Myrnin fröhlich und schob das schwere Ungetüm mit einer Hand aus dem Weg. »Ich hatte ganz vergessen, dass du nicht gerade Berge versetzen kannst; du bist sehr gut darin, so zu tun, als ob. Ich bringe das Blei woandershin.«

Sie wusste nicht so recht, ob das ein Kompliment sein sollte, deshalb sagte sie nichts, sondern konzentrierte sich auf das Portal vor ihr. Um es zu verbergen, hatte er eine neue Tür eingesetzt, die normalerweise verschlossen war. Sie musste sich auf die Suche nach dem Schlüssel für das Vorhängeschloss machen, denn natürlich war er nicht an dem Haken, an dem er hängen sollte. Sie brauchte zwanzig Minuten, um ihn in der Tasche von Myrnins verratztem altem Morgenmantel zu finden, der einem mit Drähten zusammengehaltenen menschlichen Skelett in der Ecke des Labors umgehängt war - ein altes Studienobjekt, wie sie hoffte, kein ehemaliger Inhaber ihres Jobs.

Sie öffnete die Tür und dahinter lag ein leerer dunkler Raum, der... na ja, möglicherweise in einen schrecklichen Tod führte.

Claire schnappte sich ein Buch von einem Stapel, las den Titel und beschloss, dass es auch ohne dieses Buch gehen müsste. Dann konzentrierte sie sich darauf, sich das Wohnzimmer des Glass House vorzustellen. Es war schwieriger als zuvor, dieses Bild in das Portal zu projizieren, fast so, als wäre da eine Art Kraft, die dagegen ankämpfte, dass sie die Verbindung öffnete. Doch dann drang das Bild mit einem fast hörbaren Knall durch und Farben breiteten sich vor ihr aus. Zuerst verschwommen, dann immer klarer.

»Mein Gott«, hauchte sie. »Er hat es tatsächlich zum Funktionieren gebracht.«

Sie sah die Rückseite des abgenutzten Sofas zu Hause vor sich. Daneben konnte sie Michaels akustische Gitarre auf einem Stuhl sehen. Der Fernseher war aus, also war Shane offenbar noch nicht aufgestanden.

Sie zuckte zusammen, als ein Schatten an ihr vorbeihuschte, aber es war nur Eve, die vom Fernseher zum Sofa lief und dann in Richtung Küche, während sie ihre Haare zu Zöpfen flocht.

»Hey!«, rief Claire. »Hey Eve!«

Eve blieb verwirrt stehen und drehte sich um; sie starrte hinauf zum ersten Stock, dann zum Fernseher.

»Hier!«, sagte Claire. »Eve!«

Eve wandte sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Claire? Oh, funktionieren die Portale?«

»Nein, bleib, wo du bist. Ich teste es gerade.« Claire hielt das Buch hoch. »Hier. Fang.«

Sie warf das Buch durch die offene Verbindung und sah, wie Eve auf der anderen Seite die Hände hob.

Das Buch traf Eves Handflächen und zerfiel zu Staub. Eve quietschte überrascht auf und sprang zurück; dann schüttelte sie den Staub von den Händen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Claire besorgt.

»Ja, nur überrascht. Und dreckig.« Eve hielt ihre staubigen Handflächen hoch. »Noch nicht ganz ausgereift, was? Es sei denn, ihr wolltet Leute pulverisieren.«

»Eigentlich nicht.« Claire seufzte. »Danke. Ich arbeite weiter daran. Tut mir leid wegen dem Dreck.«

»Na ja, der Boden hier ist ja auch nicht gerade sauber. Michael sollte eigentlich fegen. Glaubst du, er hat es gemacht?« Eve grinste. »Netter Versuch übrigens mit der verrückten Wissenschaft, aber ich glaube, ich gehe erst mal weiter zu Fuß.«

Sie warf Claire eine Kusshand zu und Claire winkte und trat zurück. Die Farben verblassten wieder, verwandelten Eve und den Raum zunächst in Schwarz-Weiß und danach in ein Meer aus Finsternis.

Myrnin stand direkt neben ihr, als sie sich zu ihm umschaute. Er tippte sich mit dem Finger auf die Lippen. »Das«, sagte er, »war sehr interessant. Außerdem schuldest du mir eine Drittausgabe von Johannes Magnus.«

»Sie haben doch schon sechs. Aber das Wichtigste ist, dass es fast funktioniert«, sagte Claire. »Die Stabilisierung funktioniert nicht, aber immerhin die Verbindung. Das ist ein großer Fortschritt.«

»Kein besonders großer, wenn wir zu Asche zerfallen bei der Ankunft. Das kann ich auch, wenn ich lange genug draußen in der Sonne herumlaufe. Na ja, das ist jetzt dein Problem, Claire. Ich arbeite an dem anderen Teil.«

»An welchem anderen... Oh. Die Erinnerung von Menschen löschen, wenn sie Morganville verlassen.«

»Genau. Ich glaube, ich bin nah dran.«

»Aber Sie werden kein Gehirn benutzen. Außer Ihrem eigenen, meine ich.«

»Da du darauf bestehst, werde ich es auf die harte Tour versuchen. Ich bin ganz und gar nicht zuversichtlich, dass das jemals klappt«, sagte er und holte mit der Geste eines Zauberers die Schachtel mit den Donuts wieder hervor. »Noch einen?«

Sie konnte einfach nicht widerstehen, wenn er sie so anlächelte.