3

In den folgenden drei Tagen war Claire nicht viel zu Hause. Sie war wie besessen, wenn sie sich in ein Problem vertiefte, das wusste sie, aber das war total cool. Sie ging in einen Laden und kaufte Wagenladungen billiges Plastikspielzeug, das sie stundenlang einer immer gelangweilteren Eve - dann Michael, dann Shane - durch das Portal zuwarf. Die hatten ihren eigenen Vorrat an Spielzeug, das sie in die entgegengesetzte Richtung warfen.

Alles, was zweieinhalb Tage lang dabei herauskam, war Staub - so viel, dass Shane drohte, sie hätte jetzt dauerhaft Staubsaugdienst, falls sie je wieder nach Hause käme. Sie wusste, dass er knatschig war, erstens weil es langweilig war, Spielzeug hin und her zu werfen, zweitens weil er sie seit Tagen kaum zu Gesicht bekommen hatte. Wenn sie nach Hause kam, schaufelte sie nur noch das Essen in sich hinein und fiel ins Bett. Sie war deshalb auch unzufrieden, aber etwas in ihr konzentrierte sich bei diesem dummen Problem voll und ganz auf das Ziel und sie konnte einfach nicht aufhören. So lange, bis sie endlich weiterkam oder bis sie scheiterte.

Sie scheiterte nicht.

Am dritten lag hatte Shane noch immer Spielzeug-Fangdienst. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, an die Rückseite des Sofas gelehnt, und trug eine weiße Atemschutzmaske aus Baumwolle. Er hatte sie zur Selbstverteidigung gekauft, hatte er ihr gesagt; er wollte keinen Plastikspielzeugstaub einatmen und sich die Lunge aus dem Leib husten.

Sie nahm es ihm nicht übel, aber es sah echt witzig aus, zumindest bis sie merkte, dass sie auf ihrer Seite dasselbe Problem hatte, und sich ebenfalls eine Maske aus Myrnins kunterbuntem Haufen zog. Und eine Schutzbrille. Shane beneidete sie jetzt um ihre Schutzbrille.

»Warte mal«, sagte sie, nachdem sie versucht hatte, einen neonfarbenen Plastikball hindurchzu-werfen, und dieser am anderen Ende zu Staub zerfallen war. »Ich habe eine Idee.«

»Ich auch«, sagte Shane. »Einen Film, Hotdogs und Schluss damit. Wie klingt das?«

»Super«, sagte sie und sie meinte es auch so. »Aber lass mich noch dieses eine Teil ausprobieren, okay?«

Er seufzte und ließ den Kopf nach hinten gegen das Sofa fallen. »Klar, was soll’s.«

Sie war wirklich eine schreckliche Freundin, dachte Claire und flitzte durch das Labor, wobei sie sämtlichen Stolperfallen von Myrnin auswich - sie konnte ihn einfach nicht davon überzeugen, dass sie gefährlich waren -, bis sie zu dem Arbeitstisch kam, auf dem ihr Schaltkreis (mit Myrnins unbegreiflichen Ergänzungen) friedlich vor sich hin summte.

Sie stellte den Strom ab und prüfte die Anschlüsse noch einmal. Die Spannung war überall gleichmäßig; es gab keinen Grund, warum die andere Seite instabil sein sollte, es sei denn...

Es sei denn, Myrnin hatte daran herumgepfuscht.

Claire verfolgte die Leitungen, die in eine Feder mündeten, die wiederum zu einer komplizierten Reihe aus Zahnrädern und Hebeln führte, die in einer blubbernden, eisig grünen Flüssigkeit in einer versiegelten Kammer endete...

Nur dass die Flüssigkeit nicht blubberte. Sie tat überhaupt nichts, auch nicht als sie den Strom wieder einschaltete. Sie erinnerte sich genau, dass Myrnin erklärt hatte, dass sie blubbern sollte. Sie hatte keine Ahnung, warum das wichtig war, aber sie nahm an, dass das Blubbern vielleicht eine Art Druck erzeugte, der... was machte?

Gereizt stieß sie das Ding mit dem Finger an.

Die Flüssigkeit fing an zu blubbern.

Sie blinzelte, beobachtete das Ganze eine Weile, beschloss, dass es nicht in die Luft gehen oder überkochen würde, und ging wieder zurück. Auf der anderen Seite des Portals tat Shane, als würde er schnarchen.

»Aufgepasst, du Faulpelz!«, sagte sie und warf ihm einen weiteren neonfarbenen Ball scharf zu.

Shanes Reaktion war echt richtig gut, er schlug die Augen auf und riss gleichzeitig die Hände hoch ...

... und der Ball landete fest in seinem Griff.

Shane starrte ihn einen Augenblick an, dann nahm er die Atemmaske ab, während er ihn zwischen den Fingern drehte.

»Ist er noch heil?«, fragte Claire atemlos. »Ist er...«

»Fühlt sich gut an«, sagte er. »Verdammt. Unglaublich.« Er warf ihn zurück. Er fühlte sich noch genauso an wie zuvor - nicht mal wärmer oder kälter. Sie warf ihn erneut zu Shane und der fing ihn auf und schon bald lachten und jubelten sie, so aufgekratzt waren sie. Sie hielt den Ball über den Kopf und sprang im Kreis herum, genau wie Eve es gemacht hätte, und ihr wurde ganz schwindlig dabei.

Sie wirbelte herum, kam unsicher zum Stehen und Shane fing sie auf.

Weil er hier war, im Labor, statt auf der anderen Seite des Portals. Ihr Gehirn sandte ihr eine Botschaft: Oh, er fühlt sich so gut an. Aber dann, nur eine halbe Sekunde später, setzte der Verstand wieder ein.

Claire schob ihn entsetzt und erschrocken von sich weg. »Was zum Teufel machst du da?«

»Was?«, fragte Shane. »Was habe ich denn gemacht?«

»Du ... du bist durch das Portal gekommen?«

»Der Ball hat es überstanden.«

»Der Ball hat auch keine inneren Organe! Schwammartige Teile! Wie konntest du nur so etwas Bescheuertes tun?« Sie bebte jetzt buchstäblich, voller Angst, er könnte sich gleich in eine Staubwolke auflösen, schmelzen, in ihren Armen sterben. Wie konnte er nur so bescheuert sein?

Shane sah aus, als wäre er ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten, als hätte er so einen Empfang nicht erwartet, aber er sah zurück zum Portal, zu den Staubhäufchen, und sagte: »Oh. Ja, jetzt weiß ich, was du meinst. Aber es geht mir gut, Claire. Es hat funktioniert.«

»Woher willst du wissen, dass es dir gut geht? Shane, du könntest sterben!« Sie stürzte auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und konnte jetzt hören, dass sein Herz schnell schlug. Er erwiderte ihre Umarmung und hielt sie fest, während sie versuchte, ihre Panik unter Kontrolle zu bekommen. Dann küsste er sie auf den Kopf.

»Du hast recht, das war dämlich«, sagte er. »Stopp. Entspann dich. Du hast es geschafft, okay? Du hast es zum Funktionieren gebracht. Jetzt... atme einfach.«

»Nicht bevor du zum Arzt gehst«, sagte sie. »Du Volltrottel.« Sie hatte immer noch Angst, zitterte immer noch, aber sie versuchte, die alte Claire wieder heraufzubeschwören, die Claire, die fauchenden Vampiren entgegentreten konnte. Aber das hier war etwas anderes.

Was, wenn sie Shane umgebracht hätte? Wenn etwas in ihm kaputtgegangen wäre, unheilbar?

Myrnin kam aus dem hinteren Raum herein, mit einem großen Stapel Bücher, die er mit einem lauten Krachen fallen ließ, um die beiden anzustarren. »Entschuldigt mal«, sagte er, »seit wann ist mein Labor eine angemessene Umgebung zum Herumknutschen?«

»Was heißt denn hier Herumknutschen?«

»Alberne Zurschaustellung unangemessener Zuneigung, und das vor meinen Augen. Grob übersetzt. Und was hast du hier überhaupt zu suchen?« Myrnin war ehrlich gekränkt, merkte Claire. Nicht gut.

»Es ist meine Schuld«, sagte Claire eilig und machte einen Schritt von Shane weg, hielt aber immer noch seine Hand. »Ich ... Er hat mir bei den Experimenten geholfen.«

»In was - in Biologie?« Myrnin verschränkte die Arme. »Ist das hier ein Geheimlabor oder nicht? Denn wenn jetzt immer, wenn es ihnen beliebt, deine Freunde hier vorbeischauen ...«

»Lass mal, Mann, sie hat doch schon gesagt, dass es ihr leidtut«, sagte Shane. Er musterte Myrnin mit einem kalten Blick, ein echtes Alarmsignal. »Außerdem war es nicht ihre Schuld, sondern meine.«

»So?«, sagte Myrnin leise. »Und wie kommt es, dass du nicht kapierst, dass dieses Mädchen hier, an diesem Ort, mir gehört und nicht dir?«

Claire erstarrte vor Kälte, dann wurde ihr heiß. Sie spürte, dass ihre Wangen rot glühten, und sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, als sie schrie: »Ich gehöre Ihnen nicht, Myrnin! Ich arbeite für Sie. Ich bin nicht Ihre... Ihre Sklavin!« Sie war so wütend, dass sie nicht einmal mehr zitterte. »Ich

habe Ihre Portale repariert. Und wir gehen jetzt.«

»Du gehst erst, wenn ich... Warte, was hast du da gerade gesagt?«

Claire beachtete ihn nicht, nahm ihren Rucksack und ging die Treppe hinauf. Drei Stufen, dann sah sie sich um. Shane hatte sich immer noch nicht bewegt. Er beobachtete Myrnin. Immer noch zwischen ihr und Myrnin.

»Warte«, sagte Myrnin in einem ganz anderen Tonfall. »Claire, warte doch. Willst du damit sagen, dass du erfolgreich einen Gegenstand transportiert hast?«

»Nein, sie will damit sagen, dass sie mich erfolgreich transportiert hat«, fuhr Shane ihn an. »Und wir gehen jetzt.«

»Nein, nein, nein, warte - das geht nicht. Ich muss das testen. Ich brauche eine Blutprobe.« Myrnin wühlte hektisch in einer Schublade, zog ein uraltes Blutabnahmeset heraus und kam auf Shane zu.

Shane blickte über die Schulter zu Claire. »Ich bringe diesen Typen echt um, wenn er mich damit sticht.«

»Myrnin!«, fauchte Claire. »Nein. Nicht jetzt. Ich bringe ihn jetzt ins Krankenhaus, damit er untersucht wird. Ich sorge dafür, dass Sie Ihre Blutprobe kriegen. Und jetzt lassen Sie uns in Ruhe.«

Myrnin blieb stehen und sah jetzt wirklich verletzt aus. Ach, hören Sie doch auf, dachte Claire immer noch wütend. Ich hab nicht Ihr Hündchen getreten.

Sie war fast oben an der Treppe, Shane direkt hinter ihr, als Myrnin mit leiser Stimme sagte, und er klang jetzt so wie der alte Myrnin, den sie sehr mochte: »Tut mir leid, Claire. Ich wollte nicht... tut mir leid. Manchmal weiß ich nicht... ich weiß nicht, was ich denke. Ich wünschte... ich wünschte, alles wäre wieder so wie früher.«

»Ich auch«, murmelte Claire.

Sie wusste jedoch, dass das nicht passieren würde.

Shane von einem Arzt untersuchen zu lassen, war kniffliger, als sie gedacht hatte. In der Notaufnahme konnte Claire nicht genau erklären, was vielleicht nicht mit ihm stimmte. Nachdem es dort zu einem totalen Desaster gekommen war, machte sie sich auf die Suche nach dem einzigen Arzt, den sie persönlich kannte. Dr Mills, der sie schon einmal behandelt hatte und der Myrnin kannte. Tatsächlich hatte er dabei geholfen, das Gegenmittel für die Vampirkrankheit herzustellen, deshalb war er vertrauenswürdig.

Trotzdem erklärte sie ihm die Sache mit den Portalen nicht, aber er drängte sie auch nicht. Er war ein netter Kerl mittleren Alters, erschöpft, wie die meisten Ärzte immer, aber er nickte einfach nur und sagte: »Ich schau ihn mir mal an. Shane?«

»Ich lass aber nicht die Unterhose runter«, sagte Shane. »Damit Sie’s bloß wissen.«

Dr. Mills lachte. »Nur die grundlegenden Sachen, okay? Aber wenn Claire besorgt ist, bin ich es auch. Wir wollen doch sichergehen, dass du gesund bist.«

Sie gingen zu seinem Behandlungszimmer und ließen Claire im Wartebereich zwischen Stapeln uralter Zeitschriften zurück, in denen noch immer die Frage aufgeworfen wurde, ob Brad Pitt und Jennifer Aniston wohl zusammenblieben. Nicht dass sie so etwas lesen würde. Jedenfalls nicht oft.

Sie war immer noch böse auf Myrnin, aber jetzt wurde ihr klar, dass es vor allem daran lag, dass sie so müde und gestresst war. Eigentlich war er auch nicht schlimmer gewesen als sonst. Und war das nicht auch total nervig?

Macht nichts, sagte sie sich. Ich habe etwas Erstaunliches geschafft und niemand ist dabei zu Schaden gekommen. Doch sie wusste, dass sie beide Glück gehabt hatten. Ihr wurde noch immer ganz kalt, wenn sie daran dachte, was hätte passieren können, und das alles, weil sie es versäumt hatte, Shane zu sagen, dass er nicht durch das Portal kommen durfte, ganz egal, wie sicher es wirkte.

Ärzte brauchten anscheinend immer ewig, und während Shane untersucht wurde, zappelte Claire herum und dachte an den Fortschritt, den sie gemacht hatte, und - was sie eher beunruhigte - an den Fortschritt, den Myrnin gemacht hatte. Offensichtlich. Was hatte er vor? Das konnte man unmöglich wissen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er seine Idee, ein Gehirn - nämlich ihr Gehirn - in ein Schraubglas zu stecken und an den Computer anzuschließen, nicht aufgegeben hatte.

Sie wollte echt nicht in einem Glas enden, so wie Ada vor ihr. Ada war ein Geist gewesen, der langsam wahnsinnig geworden war, weil sie nichts berühren und nicht berührt werden, weil sie nicht menschlich sein konnte. Auch wenn Ada ein Vampir gewesen war. Trotzdem hatte Ada nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt. Es hatte zwar so gewirkt, als würde sie ihren Job machen, nämlich die Systeme steuern. Sie hatte die Portale offen und die Grenzen geschlossen gehalten, hatte Alarm geschlagen, wenn jemand fliehen wollte, und sie hatte wahrscheinlich noch viel mehr getan, als Claire mitbekommen hatte. Doch am Ende war Ada immer verrückter geworden und wollte Myrnin ganz für sich allein haben. Der Rest von Morganville war ihr egal gewesen.

Und Myrnin hatte nicht zugeben können, dass das ein Problem war.

Das rief schlimme Erinnerungen an Ada als ordentliche viktorianische Schullehrerin wach, wie sie mit gefalteten Händen vor ihr stand und lächelte. Und darauf wartete, dass Claire starb.

Na ja, ich bin dann ja doch nicht gestorben, dachte Claire und unterdrückte ein Schaudern. Ada ist gestorben. Und ich werde ganz bestimmt nicht so enden wie Ada.

Sie zuckte zusammen, als jemand sie an der Schulter berührte, aber es war nur Shane. Grinsend sah er auf sie hinunter. »Krankenhäuser versetzen dich wohl in Panik?«

»Kein Wunder«, gab sie zurück, »wo du dauernd hier landest.«

»Das ist unfair. Immerhin warst du auch ab und zu hier.«

Ja, das stimmte, und zwar öfter, als ihr lieb war. Claire rappelte sich auf, nahm ihre Sachen und sah Dr. Mills ein paar Schritte weiter lächeln. Das war ein gutes Zeichen, oder?

»Es geht ihm gut«, sagte der Arzt mit einer so beruhigenden Stimme, dass Claire wusste, dass sie ängstlich aussah. Oder panisch. »Was immer es war, dem er da aus Versehen ausgesetzt war, ich kann nichts finden. Aber wenn du dich irgendwie seltsam fühlst, wenn dir schwindlig wird oder wenn du Schmerzen bekommst, dann ruf mich auf jeden Fall an, Shane.«

Shane, der mit dem Rücken zum Arzt stand, verdrehte die Augen, dann wandte er sich um und bedankte sich höflich. »Was bin ich Ihnen schuldig, Doktor?«

Dr. Mills zog die Augenbrauen hoch. »Wie ich sehe, trägst du Amelies Anstecknadel.«

Tatsächlich, sie hing unordentlich an seinem Hemdkragen. Zuerst hatte er sich gesträubt, doch Claire hatte darauf bestanden, dass sie sie alle die ganze Zeit trugen. Amelie hatte versprochen, dass sie dadurch eine besondere Art von Neutralität hätten und von keinem Vampir angegriffen würden - auch wenn Claire noch keine Gelegenheit gehabt hatte, diese Theorie zu testen.

Offenbar waren sie auch Gold wert, denn Dr. Mills fuhr fort: »Die Behandlung von Freunden Morganvilles ist gratis.«

Shane runzelte die Stirn und sah aus, als wollte er widersprechen, doch Claire zog ihn am Arm und er ließ sich zum Aufzug führen. »Nie ablehnen, wenn es etwas umsonst gibt«, sagte sie.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Shane, noch bevor die Aufzugtür zuging. »Ich will kein Almosen-empfänger sein.«

»Glaub mir: Du hättest dir seine Behandlung sowieso nicht leisten können.« Während der Aufzug piepste und ins Erdgeschoss fuhr, machte sie einen Schritt auf ihn zu. »Du bist okay. Es geht dir wirklich gut?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt.« Er beugte sich zu ihr herunter und sie sah zu ihm auf, aber sie hatten nur Zeit für einen schnellen, süßen Kuss, denn dann ging die Tür auf und sie mussten einem Krankenbett ausweichen, auf dem ein Patient lag. Shane nahm Claire an der Hand und sie gingen durch die Krankenhauslobby hinaus in den spätnachmittäglichen Sonnenschein.

Auf dem Weg hinaus erhaschte Claire einen Blick auf ein Gesicht im Schatten, das bleich, markant und hart war. Ein älterer Mann, dessen Gesicht von einer langen Narbe entstellt war.

Claire blieb stehen und Shane ging einen Schritt weiter, bevor er sich nach ihr umdrehte. »Was ist?«, fragte er und schaute in die Richtung, in die sie starrte.

Jetzt war da nichts mehr, aber Claire war sich sicher, dass sie es gesehen hatte, auch wenn es nur ein ganz kurzer Moment war.

Shanes Vater, Frank Collins, hatte sie beobachtet. Das war verstörend, um nicht zu sagen gruselig. Sie hatte Frank eine ganze Weile nicht gesehen - seit er ihr das Leben gerettet hatte. Sie hatte gehört, dass er noch da war, aber ihn zu sehen war etwas ganz anderes.

Frank Collins hatte sich am heftigsten dagegen gesträubt, ein Vampir zu werden. Außerdem war sich Claire sicher, dass er der Letzte war, den Shane sehen wollte.

»Nichts«, sagte sie und drehte sich mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es glücklich aussah, wieder zu Shane. »Ich bin so froh, dass du okay bist.«

»Also, wie wollen wir das jetzt feiern? Heute ist mein freier Tag. Komm, wir machen irgendwas Verrücktes. Moonlight-Bowling zum Beispiel.«

»Nein.«

»Du darfst auch den Kinderball nehmen.«

»Halt die Klappe, ich brauch den Kinderball nicht.«

»So wie du kegelst, vielleicht doch.« Er riss sie in eine übertriebene Standardtanzposition und wirbelte sie samt Rucksack und allem herum, was sie nicht gerade elegant aussehen ließ. »Wir könnten zu einer Tanzveranstaltung gehen?«

»Bist du bescheuert?«

»Hey! Mädchen, die Tango tanzen, sind heiß.«

»Findest du mich nicht heiß, weil ich nicht Tango tanze?«

Er hörte auf mit dem Theater. Shane war ein kluger Junge. »Ich finde, du bist zu heiß für Tanzveranstaltungen und für Kegeln. Also, sag doch mal, was du machen willst? Und sag jetzt nicht, lernen.«

Nun, das hatte sie auch nicht vorgehabt. Auch wenn sie darüber nachgedacht hatte. »Wie wär’s mit Kino?«

»Wie wär’s, wenn wir uns Eves Auto ausleihen und ins Autokino fahren?«

»Morganville hat immer noch ein Autokino? In welcher Zeit leben wir denn, 1960?«

»Ich weiß, du Dummerchen, aber das ist irgendwie cool. Jemand hat es vor ein paar Jahren gekauft und hergerichtet. Ein toller Ort für ein tolles Date. Na ja, toller jedenfalls als die Kegelbahn, weil... mehr Privatsphäre.«

Es klang komisch, aber Claire musste zugeben, dass es wirklich romantischer war als eine Kegelbahn und weniger nach alten Leuten klang als irgendeine Tanzveranstaltung. »Was läuft denn?«

Shane sah sie von der Seite an. »Warum? Hast du vor, den Film anzuschauen?«

Sie lachte. Er kitzelte sie. Sie kreischte und rannte voraus, aber er holte sie ein und riss sie mit sich ins Gras des Parks an der Ecke. Ein paar Sekunden lang lachte sie und balgte sich mit ihm, aber dann küsste er sie und das Gefühl seiner warmen, weichen Lippen, die sich auf ihre pressten, nahm ihr jeglichen Kampfgeist. Es fühlte sich wundervoll an, hier im Gras zu liegen in der Sonne, und eine Weile schwebte sie in einer sanften warmen Wolke des Wohlbehagens, als könnte nichts auf der Welt dieses Gefühl je zerstören.

Bis eine Polizeisirene scharf aufheulte, Shane aufschrie und sich von ihr herunterrollte. Er rappelte sich hoch, bereit zum... was? Zum Kämpfen? Er wusste es besser. Außerdem sah Claire, als sie sich auf die Ellbogen stützte, dass in dem Polizeiwagen Chief Hannah Moses saß. Sie lachte, ihre Zähne leuchteten weiß gegen ihre dunkle Haut.

»Entspann dich, Shane, ich wollte nur nicht, dass ihr irgendwelche netten alten Damen vor den Kopf stoßt«, sagte Hannah. »Ich verhafte euch nicht. Es sei denn, ihr legt ein Geständnis ab.«

»Hey Chief, ich wusste gar nicht, dass Küssen ungesetzlich ist.«

»Wahrscheinlich gibt es irgendein Gesetz gegen die Zurschaustellung von Zuneigung in der Öffentlichkeit, aber das ist mir ziemlich schnuppe.« Sie deutete nach Westen, wo die Sonne bereits den Horizont streifte. »Zeit, nach Hause zu gehen.«

Shane blickte in die Richtung, in die sie zeigte, und nickte. Plötzlich war er wieder ernst. »Danke. Ich hab total die Zeit vergessen.«

»Na ja, schon klar, wie das passieren konnte.« Sie winkte und fuhr davon, um anderen potenziellen Opfern, die noch draußen herumspazierten, Beine zu machen. Das war anders, als Richard Morrell und vor ihm der alte Polizeichef es gehandhabt hatten, aber Claire gefiel das irgendwie. Es wirkte... fürsorglicher.

Shane streckte die Hand aus und zog sie hoch. Dann half er ihr, das Gras von ihren Kleidern zu zupfen, was vor allem ein Vorwand war, um an ihr herumzufummeln. Was ihr absolut nichts ausmachte. »Hast du meine Ninja-Kampfkünste gesehen? Ich war blitzschnell, oder?«

»Du bist kein Ninja, Shane.«

»Ich habe alle Filme gesehen. Ich habe nur noch nicht das Zeugnis vom Fernlehrgang bekommen.«

Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ihre Lippen prickelten noch und sie wollte, dass er sie noch einmal küsste, aber Hannah hatte recht - Sonnenuntergang war keine gute Zeit um in der Öffentlichkeit herumzumachen. »Ich habe über das Autokino nachgedacht.«

»Und?«

Sie gingen nebeneinanderher in Richtung Glass House. »Eigentlich ist es mir total egal, was für ein Film läuft.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Super.«

Michael war nicht zu Hause, als sie dort ankamen, aber Eve schwirrte im oberen Stock herum. Claire konnte das sofort sagen, denn entweder war das Eve mit ihren Schuhen oder das Hufgetrappel eines kleinen Ponys. Eve war zwar nicht riesengroß, aber sie... stampfte einfach. Das lag an ihren großen, schweren Stiefeln.

»Heute ist Chili-Dog-Abend«, sagte Shane. »Wie viele willst du?«

»Zwei«, sagte Claire.

»Echt? Ganz schön viel für dich.«

»Ich feiere, dass dir beim Albernsein nicht das Gehirn verbrutzelt ist.«

Er schielte und ließ die Zunge heraushängen, was eklig und lustig zugleich war; dann schlug er sich seitlich gegen den Kopf, um alles wieder an Ort und Stelle zu bringen. »Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Zwei Chili-Dogs, kommt sofort.«

Claire grinste, lehnte ihren Rucksack an die Wand und stürmte die Treppe hinauf, weil sie ins Bad wollte - aber Eve rannte gerade schon atemlos darauf zu. »Warte, warte, warte!«, quietschte sie. »Ich muss mich noch fertig schminken! Bitte!«

Claire blinzelte. Das Outfit war selbst für Eve zu dick aufgetragen... ein hautenges schwarzes Minikleid mit Unmengen Spitze und Schnallen, Netzstrümpfe und groß karierte, kniehohe Stiefel mit fünf Zentimeter dicken Sohlen. »Klar«, sagte Claire. »Ähm, wo gehst du denn hin?«

»Cory - du weißt schon, das Mädchen auf dem UC-Café, die Einzige dort, die keine Vollidiotin ist. Sie geht auf so ein Rave-Dings und ich habe versprochen, dass ich mitgehe - nur damit sie sich nicht so komisch vorkommt. Sie ist keine große Partygängerin. Es wird nicht sehr spät, aber ich habe gesagt, dass ich um sieben fertig bin ...«

»Holt sie dich ab?«

»Ja. Warum? Brauchst du das Auto?«

»Wenn du es nicht brauchst.«

»Ihr könnt es haben - aber bitte lass mich jetzt ins Bad!«

Claire seufzte. »Geh schon. Und danke. Ach und sei vorsichtig.«

»Also bitte, ich bin Queen Vorsichtig. Und Prinzessin Punk-Pracht.«

Da hatte sie wahrscheinlich recht, zumindest was den letzten Punkt betraf. Claire betrat ihr Zimmer, machte die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss, dann trat sie an die Kommode und schaute ihre Auswahl an Unterwäsche durch. Sie wollte etwas Hübsches. Etwas... Besonderes.

Ganz hinten in der Schublade fand sie ein ordentlich zusammengelegtes Set aus BH und Slip, das Eve ihr zum Geburtstag geschenkt hatte - und das Claires Meinung nach viel zu viel sehen ließ, weil es fast nur aus Netzstoff und rosa Röschen bestand. Aber... süß. Sehr süß. Eve hatte es ihr gegeben und geflüstert: »Nicht vor den Jungs aufmachen. Glaub mir. Du wirst rot dabei.« Also hatte sie das Geschenk erst aufgemacht, als sie allein war, und es ganz nach hinten in eine Schublade geschoben, obwohl sie es toll fand.

Jetzt holte sie tief Luft, zog ihre Jeans, ihr Oberteil und ihre schlichte Unterwäsche aus und schlüpfte in den neuen BH und den neuen Slip. Es passte - aber das hatte sie von Eve, die ein Auge für so etwas hatte, auch nicht anders erwartet. Claire zwang sich, zu dem Spiegel an der Tür hinüberzugehen - sie fürchtete sich davor hineinzuschauen.

Sie sah ... nackt aus. Na ja, fast. Aber... je länger sie sich anschaute, desto besser gefiel sie sich. Sie spürte ein ganz leichtes Prickeln. Die Vorstellung, was Shane sagen würde, wenn er sie so sah, verursachte ein richtiges Prickeln.

Die Jeans und das T-Shirt kamen ihr jetzt nicht mehr gut genug vor. Claire ging zu ihrem Schrank, zog wahllos Sachen heraus, bis sie ein Oberteil fand, das sie schon fast vergessen hatte - ein Spontankauf aus Dallas, genau wie die rosa Perücke oben auf dem Regal, die sie trug, wenn sie in alberner Stimmung war. Das Oberteil war ein weiches, seidiges dunkelrotes Shirt mit Knöpfen, das ihr wirklich gut stand - zu gut, um sich damit in der Schule, im Labor oder sonst wo wohlzufühlen.

Aber für heute war es perfekt.

Sie zog sich an, legte einen Hauch Lippenstift auf und ging wieder zurück. Eve war natürlich immer noch im Bad. Claire hämmerte an die Tür und brüllte: »Vampirangriff!«

»Sag ihnen, sie können mich ein andermal«, brüllte Eve zurück.

Claire grinste, sprang die Treppe hinunter und war genau in dem Moment unten, als Shane mit zwei Tellern voll Chili-Dogs aus der Küche kam.

Fast hätte er sie fallen lassen. Er stellte sie auf den Tisch, starrte sie an und sagte: »Neues Shirt?«

Sie lächelte. »Das hab ich in Dallas gekauft. Gefällt es dir?«

»Na, warum sollte es mir nicht gefallen? Vor allem, da es sich so leicht aufknöpfen lässt.«

Claire ließ sich auf ihren Stuhl sinken. »Lecker«, murmelte sie mit vollem Mund; dann fiel ihr ein, dass das wahrscheinlich ihren schicken neuen Look beeinträchtigte.

Ihr schicker neuer Look war nichts gegen Eves Outfit; als es an der Tür klingelte, kam Eve in Schnallen und Spitze und Netzstrümpfen und Stiefeln die Treppe heruntergeklappert und Shane zog die Augenbrauen sehr weit hoch. Er kaute seinen Chili-Dog, schluckte und sagte dann: »Hab ich irgendeinen Feiertag verpasst? Den Tag der aufgedonnerten Mädchen oder so was?«

»Ja, Shane, und das ist ein Geheimnis, hinter das du nie kommen wirst«, sagte Eve. »Du profitierst nur davon, also halt die Klappe.«

»Du siehst aus, als wäre dir eine ganze Gothic-Fabrik um die Ohren geflogen!«, rief er ihr nach, als sie durch den Flur rannte.

»Ich liebe dich auch, du Blödmann!«

Die Tür knallte zu. Shane grinste und nahm einen riesigen Bissen von seinem zweiten Hotdog. »Sie ist immer so sensibel«, murmelte er.

»Weil du es nicht bist.«

»Was?«

Claire seufzte.

Shane schlang den Rest seiner Mahlzeit in Rekordzeit hinunter, noch bevor sie ihren zweiten Hotdog überhaupt angerührt hatte. Sie schüttelte den Kopf, trug ihren Teller in die Küche und stellte den Hotdog für später in den Kühlschrank.

Als sie mit den Autoschlüsseln zurückkam, hüpfte er fast auf und ab weil er loswollte; sie warf sie ihm zu. Er fing sie auf dem Weg zur Tür auf, ohne stehen zu bleiben.

»Ich sitze vorn!«, schrie Claire.

Er lachte und machte die Haustür auf. Dann wich er einen großen Schritt zurück, weil ausgerechnet Amelie vor der Tür stand. Sie kam nicht herein, obwohl sie gekonnt hätte. Claire trat neben Shane, Amelie blickte von einem zum anderen mit ihren kühlen grauen Augen, in denen sich das Flurlicht seltsam spiegelte. Sie trug ihr Haar jetzt offen, was für Claire noch immer ein merkwürdiger Anblick war, weil sie sich so daran gewöhnt hatte, dass Amelies weißgoldenes Haar hochgesteckt war. Mit den offenen Haaren sah sie viel jünger aus. Auch ihren Kleidungsstil hatte sie verändert - statt der steifen, formellen Kombination aus Blazer und Rock hatte sie eine dunkle Hose und eine schwarze Seidenbluse an. Sie trug einen hübschen goldenen Anhänger in Form einer Lilie mit einem roten Stein in der Mitte. Er sah teuer und alt aus.

»Oh ... hi, Amelie. Wollen Sie hereinkommen?« Claire trat zurück, um sie durchzulassen. Amelie lächelte leicht und nickte, während sie an ihnen vorbeiging. Sie roch nach tiefgekühlten Rosen.

Shane stand immer noch an der Haustür. »Wo sind die Speerträger?«

»Wie bitte?« Amelie zog die blassen Augenbrauen hoch.

»Sie wissen schon, Ihre Typen. Die Bodyguards.«

»Die sind draußen. Da bleiben sie auch, es sei denn, sie werden gebraucht. Ich vertraue aber darauf, dass sie hier nicht gebraucht werden, Mr Collins.«

Shane schloss die Tür und folgte Claire ins Wohnzimmer. Er verschränkte abwartend die Arme.

Amelie setzte sich auf das Sofa und schlug die Beine übereinander, sie starrte Claire und Shane immer noch an. Plötzlich fühlte sich Claire, als wäre sie ins Büro des Schuldirektors zitiert worden. Was hatte sie verbrochen?

Amelie sagte: »Verzeiht die Störung. Ich hätte angerufen, aber ich war gerade in der Gegend und hatte Zeit, kurz vorbeizukommen.« Claire bemerkte, dass sie nicht fragte, ob sie kurz Zeit hätten... aber das würde sie sowieso nicht tun. »Setzt euch bitte.«

»Nein danke«, sagte Shane. »Wir wollten gerade gehen.«

»Aha. Na gut, ich werde mich kurz fassen.« Sie wandte sich an Shane. »Dein Vater ist zu mir gekommen und hat mich darum gebeten, ihn ins Vampirverzeichnis von Morganville aufzunehmen. Ich habe mein Einverständnis gegeben. Ich habe das Gefühl, das bin ich ihm schuldig, trotz der Verbrechen, die er gegen uns begangen hat. Immerhin war es mein eigener Vater, der ihn zu diesem Leben verdammt hat, und ich weiß, dass dein Vater das nicht wollte.« Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Shane gerichtet, der angespannt dastand und sehr still geworden war.

Sein Blick war einen Moment lang leer und ausdruckslos, aber dann richtete er sich auf und holte tief Luft. »Es ist mir egal, was er macht«, sagte er. »Nehmen Sie ihn auf, wenn Sie wollen. Aber er ist nicht mehr mein Vater. Mein Vater ist gestorben.«

Claire und Shane waren dabei, als es passierte. Frank Collins, der furchtlose Vampirjäger, war von Amelies fiesem alten Vampir-Daddy Bishop angegriffen und ausgesaugt worden. Es war schrecklich gewesen, das mitansehen zu müssen, vor allem für Shane. Aber noch schlimmer war es zu wissen, dass sein Dad jetzt ein Vampir war. Und dass er immer noch irgendwo da draußen herumlief.

Deshalb hatte Claire auch nicht erwähnt, dass sie ihn heute gesehen hatte.

»Ich dachte mir schon, dass du das so siehst«, sagte Amelie. Ihr Tonfall war kühl und sehr neutral und Claire fröstelte dabei ein bisschen. »Ich dachte, es wäre einen Versuch wert, dir eine Chance zu geben, wieder Kontakt aufzunehmen. Frank Collins hat mit einem Trainingsprogramm angefangen, das wir für neue Vampire anbieten. Sie sollen ihre schlechten Gewohnheiten ablegen und die Gesetze von Morganville verinnerlichen. Er wird das Training noch diese Woche abschließen. Danach wird er denselben Status bekommen wie jeder andere Vampir, der das Abkommen von Morganville unterzeichnet hat. Ohne meine Zustimmung darf niemand ihm etwas antun. Sollte es jemand versuchen, nehme ich das persönlich.« Sie starrte Shane unverwandt an. »Das gilt für jeden. Ich gehe davon aus, dass ihr versteht, was ich euch damit sagen will.«

Shane schüttelte den Kopf, sein Gesicht war hart und verschlossen. Claire wollte seine Hand nehmen, aber er hatte die Arme immer noch abwehrend vor der Brust verschränkt. Er sah Amelie nicht in die Augen.

»Shane«, sagte die Gründerin von Morganville und benutzte damit zum ersten Mal seinen Namen. »Es tut mir leid. Ich weiß, das wird ... schwierig für dich, wenn man bedenkt, was für eine Vergangenheit du und dein Vater habt und was ihm zugestoßen ist. Aber laut den Gesetzen von Morganville ist es ihm auch erlaubt, ein Schutzherr zu werden, wenn er das wünscht. Er hat gesagt, dass er gern Verantwortung übernehmen und als dein Schutzherr auftreten würde, wenn du möchtest...«

»Auf gar keinen Fall. Gehen Sie«, unterbrach Shane sie. Er sagte es nicht laut, aber sein Blick war beängstigend, so als hätte er sich nicht mehr unter Kontrolle. »Gehen Sie einfach. Darüber rede ich nicht.«

Amelie bewegte sich nicht. Sie starrte ihn an. Er sah ihr jetzt in die Augen und nach einem langen angespannten Moment breitete sie mit einer anmutigen Geste die Arme aus, schwang das übergeschlagene Bein zurück und stand auf. »Ich habe euch jetzt lang genug aufgehalten«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass ich dich in Aufregung versetzt habe. Kann sein, dass dein Vater dich besuchen kommt, deshalb merk dir bitte, was ich gesagt habe: Ganz gleich, was du empfindest, du kannst ihn nicht angreifen, ohne dass das Konsequenzen hat. Auch ein Freund von Morganville hat seine Grenzen.« Der Blick aus ihren eisgrauen Augen richtete sich auf Claire und die erstarrte. »Claire, ich verlasse mich darauf, dass du ihn daran erinnerst, falls er es vergessen sollte.«

Claire nickte und brachte kein Wort mehr heraus. Sie sah den reglosen Shane an und eilte dann durch den Flur, um Amelie die Tür zu öffnen. Dort standen zwei von Amelies kräftigen Vampirbodyguards in schwarzem Anzug und Krawatte auf der Veranda und beobachteten die Straße.

Amelie ging ohne ein weiteres Wort an Claire vorbei die Treppe hinunter. Die Bodyguards folgten ihr und halfen ihr in die große schwarze Limousine, die am Straßenrand parkte. Der Wagen glitt durch die Dunkelheit davon und Claire blickte ihnen nach.

Sie fühlte sich ganz zittrig. Dann fiel ihr ein, dass man in Morganville schnell zum Opfer wurde, wenn man bei weit offener Tür draußen stand, deshalb machte sie sie schnell zu und schloss ab; sie holte tief Luft und ging zu Shane.

Der saß an einem Ende des Sofas und starrte auf den dunklen Fernseher. Er spielte mit der Fernbedienung herum, drückte aber nicht auf den Einschaltknopf.

»Shane...«

»Es ist mir egal«, sagte er. »Es ist mir egal, dass Frank noch am Leben ist, weil er nicht mein Dad ist. Er ist schon seit Jahren nicht mehr mein Dad, seit Alyssa... Seit Alyssa gestorben ist, ist er das nicht mehr. Und jetzt ist er noch viel weniger mein Dad als früher. Außerdem war er sowieso nie Anwärter auf den Titel >Vater des Jahres<. Ich will nichts von ihm wissen. Ich will nichts mit ihm zu tun haben.«

»Ich weiß«, sagte Claire und setzte sich neben ihn. »Es tut mir leid. Allerdings hat er mir tatsächlich mal das Leben gerettet, vielleicht kann er... sich ändern.«

Shane schnaubte. »Er hat sich schon verändert... in einen blutsaugenden Freak. Was mich nervt, ist, dass er eine Minute lang Reue zeigt und damit Jahre ungeschehen machen will, in denen er ein betrunkener Mistkerl war, mich halb totgeprügelt hat und uns ein paarmal fast umgebracht hätte... Nein. Ich bin froh, dass er dich gerettet hat. Aber das macht die anderen Sachen nicht annähernd wieder gut. Ich will nichts mit ihm zu tun haben.«

Darauf wusste Claire nichts zu sagen. Er war wirklich erregt, das konnte sie sehen; sie konnte es spüren. »Alles okay?« Das war eine blöde Frage, das merkte sie in dem Moment, als sie sie ausgesprochen hatte. Natürlich war gar nichts okay. Denn sonst würde er nicht auf dem Sofa hängen wie ein nasser Sack und auf den toten Fernseher starren, aus noch toteren Augen.

»Wenn er hierherkommt...« Shane schluckte. »Wenn er hierherkommt, dann musst du mir versprechen, dass du mich davon abhältst, etwas Dummes zu tun. Denn das werde ich, Claire.«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Claire und nahm schließlich doch seine Hand. »Shane, das wirst du nicht. Ich weiß, dass es ziemlich kompliziert ist und irrsinnig und dass es wehtut, aber lass das nicht zu. Ich werde Michael und Eve sagen, dass sie ihn wegschicken sollen, wenn er hier aufkreuzt. Er wird nie durch diese Tür kommen.«

Wieder fröstelte sie - es war eisig - und sie spürte, wie ihre Nerven vibrierten. Was war das? Das war kein Luftzug. Ganz bestimmt kein Luftzug. Es fühlte sich an wie... Zorn. Kalter, harter Zorn, wie der, der gerade in Shane tobte - nur dass das Gefühl von außen kam.

Das Haus.

Sie hatte sich daran gewöhnt, dass es so etwas nicht mehr machte; das Glass House hatte für sie immer eine Art Wesenheit, etwas, was ihre Gefühle, ihre Ängste widerspiegelte... aber es war zusammen mit dem Portalsystem gestorben. Das hatte sie zumindest gedacht.

Du hast das Portalsystem aber repariert! Offenbar war das Haus dadurch auch wieder im System, deshalb reagierte es jetzt auf Shanes Stimmung. Sie wusste nie so genau, was das Haus verstand, aber sie war sich absolut sicher, dass es auf ihrer Seite war. Vielleicht würde es dafür sorgen, dass Frank Collins nie wieder hier hereinkam.

Immer noch fröstelnd griff sie nach der Decke und zog sie sich über die Schultern. Wenn das Haus ihr eine Spiegelung von Shanes Gefühlen vermittelte, dann war er zutiefst verstört, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen.

Schließlich schaltete Shane doch noch den Fernseher ein und ließ den linken Arm über ihre Schulter fallen. Sie spürte, wie das Frösteln ein wenig nachließ. »Danke«, sagte er. »Wenn du nicht da gewesen wärst, hätte ich wahrscheinlich was ziemlich Bescheuertes getan. Oder noch schlimmere Sachen gesagt.«

»Nein, hättest du nicht. Du hast nämlich einen Überlebenswillen.«

Er küsste sie auf die Stirn. »Das sagt genau die Richtige.«

»Also kein Autokino?«

»Heute läuft ein Zombiefilm.«

»Na ja, Zombiefilme haben auch ihr Gutes. Aus irgendwelchen Gründen gibt es dort normalerweise ein kluges Mädchen. Und die klugen Mädchen werden selten umgebracht.« Claire küsste ihn auf die Wange. »Außerdem weiß ich, wie sehr du Zombiefilme magst. Vor allem, wenn Kettensägen und so was im Spiel sind.«

»Kettensägen«, wiederholte er. »Ja, das ist wahrscheinlich genau das, was ich jetzt brauche.« Nachdem er ihr aufgeholfen hatte, ließ er ihre Hand nicht los; stattdessen legte er sie auf seine Brust, über seinem Herzen. Sie spürte, wie es stark und gleichmäßig schlug. »Du siehst hinreißend aus. Aber wahrscheinlich weißt du das schon.«

Sie küsste ihn lange, bis Shane den Kuss unterbrach. »Spar es dir fürs Autokino«, sagte er und berührte ihre Lippen mit dem Finger. »Ich fahre auch ganz schnell.«