6

Der nächste Tag begann mit einem Frühstück, Für das Myrnin gesorgt hatte. Während Claire noch ins Licht blinzelte, stellte er es auf den Tisch.

»Sie haben mich unter Drogen gesetzt.«

»Na ja, nur ein bisschen«, sagte er. Er trug ein verboten aussehendes Hawaiihemd in Pink, Gelb und Neongrün, eine karierte Hose, die wahrscheinlich schon hässlich gewesen war, als Karo noch in Mode war, und dazu Flipflops. »Hast du geschlafen?«

»Setzen Sie mich nie wieder unter Drogen.«

»Das wäre jetzt sowieso völlig unpassend. Du wirst nicht mehr schlafen können, das weißt du doch. Erst wenn wir fertig sind.«

»Erinnern Sie mich nicht daran.« Sie stand auf, streckte sich und wünschte, sie hätte frische Sachen zum Anziehen. Die, die sie anhatte, waren zerknittert und fingen schon an, komisch zu riechen. Na ja, Myrnin würde das wahrscheinlich gar nicht bemerken. »Was gibt’s zum Frühstück?«

»Donuts«, sagte er fröhlich. »Ich mag Donuts. Und Kaffee.«

Claire hatte Zweifel, was den Kaffee betraf, aber er hatte auch Kaffeesahne und Zucker dabei und die Schoko-Donuts überdeckten ohnehin jeglichen Geschmack. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie alles an Koffein brauchte, was sie kriegen konnte. Das Frühstück dauerte nicht lange genug.

Sie konnte nicht sagen, was sie zuerst darauf brachte, dass sich etwas verändert hatte; sie hatte in diesen Dingen eine Art sechsten Sinn entwickelt, weil sie schon eine ganze Weile mit Myrnin zu tun hatte. Vielleicht war er einfach nur ein bisschen zu lang in Schweigen verfallen. Sie blickte auf und sah ihn in der Tür stehen; er beobachtete sie mit großen, feuchten dunklen Augen, die... wehmütig wirkten? Sie war sich nicht ganz sicher. Er konnte wegen den seltsamsten Dingen die Stimmung wechseln.

Er lächelte ganz leicht und das wirkte ziemlich traurig. »Du hast mich gerade an jemanden erinnert.«

»An wen?«

»Du würdest dich nicht besser fühlen, wenn du es wüsstest.«

Raten konnte sie ja trotzdem. »Ada«, sagte sie. »Sie hatten gerade diesen >Ich-denke-an-Ada<-Blick.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Sie sehen aus, als würden Sie sie vermissen«, sagte Claire. »Sie vermissen sie doch, oder nicht?«

Sein Lächeln verblasste, als hätte er nicht mehr die Kraft, es beizubehalten. »Ada war lange Zeit meine Freundin und Kollegin«, sagte er. »Und wir hatten großen Respekt voreinander. Ja, ich vermisse sie. Ich vermisse sie seit dem Moment, da sie von uns gegangen ist, auch wenn dir das vielleicht seltsam vorkommt.«

Er stieß sich vom Türrahmen ab, als wollte er gehen. Claire konnte nicht mit ansehen, wie er mit dieser hoffnungslosen Miene wegging, deshalb fragte sie: »Wie haben Sie sie kennengelernt?«

Er hielt inne und sein Lächeln kehrte zurück. Diesmal schien es weniger wehmütig zu sein. »Ich hatte zuerst nur von ihr gehört. Sie war brillant, weißt du? Brillant und charmant und sie war ihrer Zeit voraus. Sie verstand das Prinzip von Rechnern von Anfang an, aber nicht nur das - sie hat sehr vieles studiert, unter anderem die Menschen. So haben wir uns kennengelernt. Sie hat mich eines Nachts in London in einer Menschenmenge entdeckt und wollte wissen, was ich war. Sie war fasziniert. Das war nicht weiter verwunderlich, denn ihr Vater und seine Freunde gehörten der ersten Gothic-Bewegung an, weißt du?« Claire musste verständnislos dreingeschaut haben, denn er seufzte. »Also wirklich, Kind. Lord Byron? Percy Shelley? Mary Shelley? John Polidori?«

»Äh ... Frankenstein?«

»Das Werk von Mary, ja. Dr. Polidori wurde durch ein ähnlich düsteres literarisches Werk berühmt... über einen Vampir. Daher war Ada viel scharfsichtiger, als man dachte. Und schrecklich hartnäckig. Es dauerte nicht lange und wir waren...« Er unterbrach sich, sah sie scharf an und sagte: »Enge Freunde.«

»Ich bin nicht mehr fünf.«

»Na schön, nenn es, wie du willst. Wir waren intim miteinander und ich glaube, dabei belassen wir es jetzt lieber.« Er räusperte sich, sah weg und sagte: »Danke.«

Sie räumte gerade ihre fettverschmierte Donut-Tüte weg. »Wofür?«

»Dass du mich dazu gebracht hast, daran zu denken«, sagte er leise. »Ich vermisse sie wirklich.« Darüber schien er selbst ein wenig erstaunt zu sein, riss sich aber mit sichtlicher Mühe aus seinen Gedanken. »Gut. Ich zeige dir jetzt, was ich geschafft habe, während du dich in so große Schwierigkeiten gebracht hast.«

»Ich habe mich nicht...«

»Claire.« Er warf ihr einen langen, vorwurfsvollen Blick zu und legte den Finger auf die Lippen. »Ruhe, wenn ich rede. Wir haben keine Zeit zum Streiten.«

Da hatte er wohl recht. Sie nickte und er führte sie zum nächsten Labortisch, auf dem unter grauem Segeltuch undefinierbare Klumpen lagen. Wie ein Zauberer, der seinen Trick enthüllte, riss Myrnin das Tuch weg und rief: »Ta-taaa!«

Es sah noch schlimmer aus als beim letzten Mal, da sie es gesehen hatte - wie eine vollkommen irrsinnige, willkürliche Ansammlung von Teilen, die ohne Sinn und Verstand zusammengeschustert worden war. Überall standen Drähte heraus, die sich zu Knäueln verwickelten, und Myrnin hatte bei den Drähten so viele Farben verwendet, dass das ganze Ding aussah wie ein seltsamer Regenbogen, was noch verwirrender war.

Da blieb nicht viel zu sagen, außer: »Was ist das?«

»Das ist mein neuester Versuch, die Barrieren rund um die Stadt wieder einzurichten. Was hältst du davon? Sieh mal, hier habe ich Vakuumpumpen eingesetzt, hier auch, und eine neue Baugruppe aus Zahnrädern und ...«

»Myrnin, stopp. Moment mal.« Sie schloss einen Moment lang die Augen, weil sie dachte: Ich werde sterben. Schließlich zwang sie sich, ihn wieder anzuschauen. »Lassen Sie uns ganz von vorn anfangen. Wo ist der Eingang?«

»Du meinst die Stelle, an der die Energie in das System fließt?«

»Ja.«

»Hier.« Er berührte etwas in der Mitte des Geräts. Es sah aus wie ein Trichter aus hell schimmerndem Messing. Eigentlich sah es fast aus wie eine Hupe.

»Und dann? Wo fließt die... ähm ... Energie dann hin?«

»Ist das nicht offensichtlich? Nein? Der Zustand der Staatsschulen ist ja zum Weinen.« Er fuhr zwei Drähte nach. Der eine spaltete sich ab und führte zu einem Gewirr aus Schläuchen. Der andere führte in etwas, das aussah wie eine Uhr, nur dass keine Zahlen auf dem Zifferblatt waren. »Am Tag zieht sie Strom, aber nachts, unter dem Einfluss des Mondes, ist sie am stärksten, deshalb habe ich bestimmte Teile aus Elementen gefertigt, die mit dem Mondzyklus mitschwingen. Ich habe versucht, die Wirkung der verschiedenen Elemente Tag und Nacht auszubalancieren, um eine perfekte Oszillation zu erreichen.

Das ist doch ganz klar.«

Ja wenn man verrückt war. Claire seufzte. »Noch mal von vorn« sagte sie. »Wir fangen noch mal ganz von vorn an und bauen es neu. Und Sie erklären mir bei jedem Bauteil, was es macht, okay?«

»Wir brauchen nicht von vorn anzufangen. Ich habe vollkommen ...«

»Myrnin«, unterbrach Claire. »Keine Zeit zum Streiten, schon vergessen? Es wird den ganzen Tag dauern, bis wir dieses Ding auseinandergenommen haben, aber ich muss verstehen, was Sie da machen, echt.«

Er dachte darüber nach und sah sie sehr lange an, dann nickte er zähneknirschend. »Na schön«, sagte er. »Fangen wir an.«

Myrnins Verrückte-Wissenschaftler-Maschine auseinanderzunehmen, war seltsamer als alles, was Claire in Morganville je gemacht hatte, und das war ein bemerkenswerter neuer Rekord. Einige Teile waren ganz glitschig und fühlten sich fast... lebendig an. Andere Teile waren eiskalt, wiederum andere waren heiß - so heiß, dass sie sich daran die Finger verbrannte. Zu fragen, warum das so war, würde wohl nichts bringen; Myrnin hatte keine Erklärungen parat, denen sie folgen konnte, denn sie gingen nun von der Wissenschaft in die Alchemie über. Aber sie nahm die Maschine systematisch auseinander, beschriftete jedes Teil mit einer Nummer und zeichnete ein Schaubild, auf dem sie festhielt, wo jedes Element hingehörte.

Für ein Gerät, das eine Art Erkennungsfeld um die Stadtgrenzen bilden, im zweiten Schritt Fahrzeuge ohne Ausgangsgenehmigung buchstäblich ausschalten und im dritten Schritt Erinnerungen selektiv löschen sollte , war es...

Eigentlich unbegreiflich. Einen Teil von dem, was Myrnin gebaut hatte, konnte sie verstehen; der Teil mit dem Erkennungsfeld war ganz einfach. Sie konnte sogar den rein mechanischen Abschnitt nachvollziehen, der mittels eines Senders das Abschalten der Elektronik eines Fahrzeuges steuerte - was zu dem komplizierteren Problem führte, wie die Gehirne von Menschen neu verdrahtet werden konnten. Aber alles zusammen war einfach nur... sonderbar.

Es dauerte Stunden, aber als Claire gerade den Steckmechanismus einer Vakuumpumpe zeichnete, die sich anfühlte, als würde sie Kälte ausströmen, erkannte Claire plötzlich etwas darin. Es war wie ein intuitives Aufblitzen, ein Moment, wie sie es manchmal hatte, wenn sie über Probleme der höheren Physik nachdachte. Nicht direkt ein rechnerischer Vorgang, nicht Logik. Eben Instinkt.

Sie verstand, was Myrnin da machte, und einen Augenblick lang war es wunderschön. Verrückt, aber irgendwie schön. Wie alles, was Myrnin machte, verzerrte es die Gesetze der Physik, er beugte sie und formte sie neu, bis sie zu etwas... anderem wurden. Er ist ein Genie, dachte sie. Das hatte sie schon immer gewusst, aber das hier... das war etwas anderes. Es ging über seine sonstige Flickschusterei und seine übliche Seltsamkeit hinaus.

»Es wird funktionieren«, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam. Sie fügte die Vakuumpumpe sorgfältig an der entsprechenden Stelle auf dem akribisch beschrifteten Tuch ein.

Myrnin saß in seinem Lehnstuhl, die Füße gemütlich auf ein Sitzkissen gebettet, und blickte von seinem Buch auf. Er hatte eine winzige quadratische Brille auf, die vielleicht einmal Benjamin Franklin gehört hatte. »Nun, natürlich funktioniert es«, sagte er. »Was hast du denn erwartet? Ich weiß schon, was ich tue.«

Und das von einem Mann, der absolut unsägliche Klamotten und abgewetzte Vampirhäschenpantoffeln trug. Er hatte die Füße auf dem Sitzkissen übereinandergeschlagen, sodass die beiden Häschen das Maul aufklappten und ihre spitzen Vampirzähnchen zeigten.

Claire grinste und war plötzlich voller Begeisterung für das, sie tat. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte sie. »Wann gibt es Mittagessen?«

»Ihr Menschen seid dauernd am Essen. Ich koche dir eine Suppe. Du kannst sie nebenbei essen.« Myrnin legte das Buch weg und ging in den hinteren Teil des Labors.

»Nehmen Sie bloß nicht das Becherglas, das sie sonst zum Giftmischen nehmen!«, schrie Claire ihm nach. Er winkte mit seiner bleichen Hand. »Ich meine es ernst!«

Sie wandte sich wieder der Maschine zu. Die Intuition war verflogen, doch die Begeisterung blieb und sie machte sich an die Schrauben, mit denen das nächste Teil befestigt war.

Sie war erschöpft und sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. In Myrnins Labor gab es keine Zeit, die Lampen brannten immer. Es gab keine Fenster, keine Uhren, kein Gefühl dafür, wie lange sie schon an diesem Tisch stand und herumbastelte. Es fühlte sich an wie Tage. Nur wenn sie auf die Toilette ging, hatte sie Zeit, sich hinzusetzen. Er brachte ihr dauernd Tassen mit Suppe, wenn sie hungrig war, oder mit Kaffee oder Limonade. Einmal bemerkenswerterweise ein Glas Orangensaft, das nach Sonnenschein schmeckte - zumindest soweit sie sich noch an Sonnenschein erinnern konnte.

Sie war so müde, dass sie kaum noch ihr Werkzeug halten konnte, und ihre Hände waren ungeschickt und taten weh. Ihr Rücken schmerzte. Ihre Beine zitterten von dem anstrengenden Stehen. Sie konnte nicht im Sitzen arbeiten, weil der Tisch so hoch war, und immer wenn sie versuchte, einen Moment lang aufzuhören und sich hinzusetzen, war Myrnin da.

Als sie sich jetzt näher zu dem Hocker schob, stieß Myrnin plötzlich ein zorniges Geräusch aus und schlug ihn weg, sodass er durch das halbe Labor flog. »Nein!«, bellte Myrnin. »Wach bleiben. Glaubst du vielleicht, mir gefällt das?«

»Ich kann nicht mehr!«, rief sie. Tränen brannten ihr in den Augen. »Myrnin, ich bin so müde! Ich muss mich hinsetzen. Bitte, erlauben Sie mir, dass ich mich hinsetze! Amelie wird es nie erfahren!«

»Doch, das wird sie«, kam eine Stimme aus der dunklen Ecke neben einer der Lagerraumtüren. Claire blinzelte, bis sie dort etwas ausmachen konnte - an der Wand lehnte Oliver. »Du stehst unter ständiger Beobachtung, Claire. Du hast diese Strafe gewählt, jetzt musst du sie auch überleben. Ich persönlich halte das für unwahrscheinlich. Ich glaube, du wirst zusammenbrechen, bevor du die Arbeit beendet hast, und wir wissen beide, dass Amelie es sich nicht leisten kann, dir gegenüber Gnade walten zu lassen. Wenn du versagst, umso besser. Ich war nie einverstanden mit dieser Gefühlsduselei.« Er klang verächtlich und trotzdem wütend, weil sie nicht in einem Käfig auf dem Founder’s Square saß und auf ihre Verbrennung wartete. Sie spürte so großen Hass in sich aufwallen, dass sie richtig schockiert war. Wenn sie einen Pfahl zur Hand gehabt hätte, hätte sie Oliver gepfählt, ohne sich um die Folgen zu scheren.

Sie machte sich wieder an die Arbeit. Sie wusste nicht, wie sie es schaffte, aber sie machte sich so konzentriert daran, dass sie sich jedes Teil, jede schimmernde Metalloberfläche einprägte.

Vielleicht waren nur Minuten vergangen, vielleicht auch Stunden, jedenfalls wurde ihr bewusst, dass Oliver nicht mehr da war und Myrnin auch nicht. Er hatte alle Stühle zur Seite gestellt und die paar Meter Abstand kamen ihr unendlich weit vor. Sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, selbst wenn

sie sich getraut hätte.

Myrnin ging auf der anderen Seite des Labors mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen auf und ab. Er sah erregt aus. Sie war so erschöpft, dass sie seltsame Linien um ihn herum sah, gezackte Muster aus Farben, die ineinanderzufließen schienen wie ölige Regenbögen. Er murmelte vor sich hin. Sie musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen.

»Das wollte ich nicht«, sagte er gerade. »Ich wollte das nicht. Ich kann es nicht ertragen, sie leiden zu sehen. Ich muss etwas tun, etwas tun ... Aber was? Was soll ich nur tun ...?«

Claire dachte erst, es würde um sie gehen, aber dann blieb er stehen und zog ein kleines goldenes Medaillon aus seiner Tasche. Er starrte auf das Bild. Sein Gesicht sah verhärmt und gequält aus. Sie hatte ihn schon einmal so erlebt, sagte ihr erschöpftes Gehirn. Früher, in den schlechten alten Zeiten, bevor er geheilt wurde, hatte er solche Schübe gehabt.

Es ging überhaupt nicht um sie.

Es ging um Ada.

»Es tut mir so leid«, flüsterte Myrnin dem Bild in dem Medaillon zu. »Ich wollte das nicht. Ich wollte dir nicht wehtun. Aber du warst so krank. Und es war so einfach.«

Claire versuchte, sich zu bewegen, doch ihre Beine drohten nachzugeben. Sie suchte Halt an der Tischkante und warf dabei ein Becherglas um, das über den Tisch rollte und auf dem Steinboden zerbarst.

Myrnin wirbelte herum und fuhr seine Vampirzähne aus.

Genau das ist mit Ada passiert, dachte Claire und das schreckliche Gefühl, dass es unausweichlich war, stieg in ihr auf. Sie würde krank und schwach werden und er konnte nicht anders. Genau wie jetzt.

Als Myrnin auf sie zukam, sa sie jedoch in seinen Augen, dass die Wirklichkeit wieder die Oberhand gewonnen und die fremde Energie verdrängt hatte, die sie darin gesehen hatte. Er sah entsetzt aus. Und ängstlich. »Claire?«

»Ich arbeite«, flüsterte sie. »Ich bin nur so ... ich glaube nicht, dass ich es schaffe. Wirklich nicht.«

Er zögerte, dann stellte er sich neben sie. Seine kalte Hand schloss sich um ihr Handgelenk und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ihn. »Konzentrier dich«, sagte er ruhig. »Du kannst es. Wir sind schon ganz nah dran. Ganz nah dran.«

Nein. Das stimmte nicht. Sie hatte gedacht, sie würde es verstehen, aber sie war so müde; alles war durcheinander und verworren, ihre Augen brannten und ihr Rücken schmerzte und sie spürte ihre Füße nicht mehr...

»Hier«, sagte Myrnin, seine Stimme war immer noch sanft und leise. »Amelie hat gesagt, dass du arbeiten musst. Niemand hat gesagt, dass du es allein tun musst.« Er nahm das nächste Teil und fügte es ein. Dann nahm er Claire den Schraubenzieher aus den tauben Fingern und befestigte es mit schnellen geschickten Bewegungen. »Ich werde deine Hände durch meine ersetzen.«

Fast hätte sie geweint, weil das so süß war, aber das würde nichts nützen. Sie konnte nicht mehr denken. Selbst ihre sorgfältigen Beschriftungen und Zeichnungen sahen aus wie unzählige Puzzleteile, die durcheinander in einer Schachtel lagen. Sie hatte verstanden, wie alles zusammenpasste, wie erstaunlich und schön es sein würde, wenn es fertig war, aber... aber jetzt war da nur noch Lärm in ihrem Kopf.

Sie merkte, wie alles um sie herum grau wurde und dass ihr Herz laut und schnell schlug. Myrnin fasste sie um die Taille, um sie aufzufangen. Claire hatte schon gar nicht mehr gemerkt, dass sie beinahe umgekippt wäre. »Konzentrier dich«, sagte er. »Du kannst es zu Ende bringen. Du bist ganz kurz davor.« Er klang verzweifelt. »Lass nicht zu, dass ich dich so sehe, Claire. Sonst vergesse ich zu leicht, wer ich sein sollte.«

Sie schluckte schwer und versuchte, allein zu stehen. »Wie lange war das jetzt ?«

»Neunundvierzig Stunden, seit du angefangen hast«, sagte Oliver aus der dunklen Ecke. »Myrnin, ich glaube kaum, dass Amelie wollte, dass du sie aufrechthältst.«

Myrnin ließ sie los und wich zurück. Schuldbewusstsein flackerte auf seinem Gesicht auf und auch Erleichterung. Er nickte und ging ein Stück außer Reichweite.

Oliver beobachtete sie gleichmütig. »Ich gebe zu, du bist besser, als ich erwartet hätte. Du kannst dich immer noch dafür entscheiden, dass einer deiner Freunde deine Strafe auf sich nimmt. Ich hätte nichts gegen einen Wechsel.«

Das brachte sie wieder zu sich. Der Gedanke, dass Eve, Shane oder Michael für sie leiden müssten - oder noch schlimmer, ihre Mom oder ihr Dad -, mobilisierte ihre letzten Reserven. Neunundvierzig Stunden? So lange war sie noch nie wach gewesen; dreißig Stunden waren bis jetzt das Längste gewesen und da hatte sie gedacht, sie müsste sterben. Jetzt war sie noch immer auf, arbeitete noch, dachte noch. Das war doch ein Sieg, oder?

Myrnin blieb immer nah bei ihr, weil er Angst hatte, sie würde das Gleichgewicht verlieren, aber sie bemerkte es kaum. Claire konzentrierte sich auf die Maschine, auf die wenigen verbleibenden Teile. Sie musste einfach dahinterkommen.

Als sie eines der letzten Teile wieder an seinen Platz steckte, sah sie plötzlich, dass etwas fehlte. »Leitungen«, sagte sie langsam. Ihre Stimme klang schwer und fremd. »Von hier nach da.« Sie deutete auf die Kontaktstellen. »Damit Strom hinten rauskommt.«

Byrnin beugte sich vor, runzelte die Stirn und betrachtete die Stelle, auf die sie zeigte. Er schnappte sich ein riesiges Vergrößerungsglas und sah sich das Ganze genauer an. »Ich glaube, du hast recht«, sagte er. »Halt durch, Claire. Wir haben es fast geschafft.«

Sie nickte und hielt sich an der Tischkante fest. Ihr Körper fühlte sich an, als würde er zweihundert Kilo wiegen. Ihre Beine waren taub. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen, weil sie wusste, dass sie dann umkippen würde.

Innerhalb von Sekunden kam Myrnin mit einem Knäuel schwarz isoliertem Kabel und einer Lötpistole zurück. Fast hätte er sich damit die Haare verbrannt, weil er sich so weit vorbeugte, aber er machte es richtig.

Claire griff nach den letzten beiden Teilen - einem Uhrwerkmechanismus, der oben befestigt wurde, und einem Satz Leitungen, der ihn mit den Vakuumröhren verband. Sie setzte sie an den vorgesehen Stellen ein. Myrnin befestigte sie.

Das war alles. Die Maschine lag da als eine endlose, schwindelerregende Reihe aus Spiralen, Wirbeln und sonderbaren Mechanismen, aus denen Drähte herausragten wie Baumwurzeln. In ihren Augen sah die Maschine völlig unwirklich aus. Genau wie Myrnin, der sich ihr mit einem kaum verhohlenen roten Glühen in den Augen zuwandte.

»Ich glaube, wir sind fertig«, sagte sie. »Darf ich mich jetzt bitte setzen?«

»Ja«, sagte Oliver. »Das solltest du besser tun.«

Sie wurde ohnmächtig.

Sie wurde vom Klingeln eines Handys geweckt. Sie kannte diesen Klingelton, es war der, den sie für Shane ausgewählt hatte.

Sie versuchte, danach zu greifen, doch ihre Hand fühlte sich an wie ein Ballon und eine Million Kilo schwerer als sonst. Sie lag wieder auf Myrnins Liege, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und während sie nach dem Handy tastete, ging die Zellentür auf, Myrnin huschte herein und schnappte sich das Telefon. Er legte ihr seine kühle Hand auf die Stirn und sagte: »Schlaf. Du hast Fieber.«

»Danke«, flüsterte sie. »Danke, dass Sie sich um mich kümmern.«

Er betrachtete sie lange und lächelte. »Es ist schön, dass ich nicht allein bin, zumindest im Moment nicht«, sagte er. »Tut mir leid wegen vorhin. Ich war... nicht ich selbst. Verstehst du?«

Sie verstand, sie hatte das schon oft erlebt. Sie verstand sogar, was ihn so dicht an den Abgrund getrieben hatte - er hatte mitansehen müssen, wie sie immer schwächer wurde, immer erschöpfter und ängstlicher, und das Raubtier in ihm war erwacht. Wie damals bei Ada.

Ihr war es ein bisschen besser ergangen als Ada, aber sie fragte sich, ob das daran lag, dass Myrnin sich zusammengerissen hatte... oder ob Olivers Anwesenheit ihn davon abgehalten hatte. Es war so oder so knapp gewesen.

»Fühlen Sie sich krank?«, fragte sie. Sie hatte eigentlich nicht so unverblümt fragen wollen, aber sie war zu müde, um diplomatisch zu sein. »Ich meine, so wie früher?«

»Ich kann mich beherrschen, ich habe nur Stimmungsschwankungen. Das weißt du ja.«

»Sie würden es mir sagen, wenn Sie Probleme hätten.«

Er lächelte, doch irgendwie sah es nicht echt aus. »Natürlich würde ich dir das sagen«, sagte er. »Jetzt ruh dich aus.«

Als sie das nächste Mal aufwachte, fühlte sie sich schon besser. Schwach und leer, aber klar. Oh Gott, sie musste aufs Klo. Zum Glück gehörte eine kleine Toilette zu Myrnins Kammer; als sie aus dem Bett stieg, stöhnte sie, weil ihre Beine sich anfühlten, als hätte man sie ins Feuer gehalten. Die Muskeln zitterten immer noch. Sie ging vorsichtig und stützte sich ab, wo sie konnte. Auf der Toilette machte sie eine Bestandsaufnahme, wie sie sich sonst fühlte.

Schwach, klar. Aber es fühlte sich so gut an, wieder richtig wach zu sein. Oh und sie fühlte sich so richtig schmutzig. Sie brauchte eine Dusche, frische Sachen und mindestens eine Woche Bettruhe, beschloss sie. Aber da momentan nichts davon zu bekommen war, spritzte sie sich Wasser ins Gesicht, kämmte sich die Haare mit den Fingern und versuchte, die Tür zu öffnen.

Sie war nicht abgeschlossen. Das Labor sah aus wie immer - na ja, außer dass mehr Leute da waren als sonst. Myrnin natürlich. Oliver lungerte immer noch hier herum oder er war wiedergekommen; er stand mit verschränkten Armen an der Seite und sein langes kantiges Gesicht zeigte diesen finsteren Überzeug-mich-Blick. Sie sah noch einen weiteren Vampir, dessen Namen sie nicht kannte. Er kam manchmal bei Myrnin vorbei, aber Myrnin hatte ihn ihr nie vorgestellt.

Auf der anderen Seite des Arbeitstisches stand Amelie, tadellos gekleidet, in einem himmelblauen Anzug und in hochhackigen Schuhen. Die Haare hatte sie wieder zu der geflochtenen Hochfrisur aufgesteckt.

Claire fühlte sich jetzt noch schmuddeliger.

Sie alle unterbrachen ihre Tätigkeit, als sie durch die Tür trat, und ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann lächelte Myrnin breit und trat zur Seite; die Maschine, die sie gebaut hatten, leuchtete in sanftem blauem Licht.

Ihre Augen weiteten sich. »Funktioniert sie?«

»Und wie sie funktioniert«, sagte Myrnin. »Sehr gute Arbeit, Claire. Ich habe sie an die Schnittstelle angeschlossen. Schau!« Er drehte den Computerbildschirm in ihre Richtung, auf der ihre künstlerische Steampunk-Benutzeroberfläche in Rostbraun und Goldtönen zu sehen war. Claire trat näher, um es sich genauer anzuschauen. Alle Anzeigen, die sie eingebaut hatte, zeigten normale Werte an.

Sie berührte die Status-Schaltfläche. Eine forsche Computerstimme sagte: »Morganville-Barrieren aktiviert, alle Kenngrößen normal.«

»Aber... Moment mal. Ich habe das Ganze doch noch gar nicht programmiert«, sagte Claire. »Die Hardware ist eine Sache, aber man muss die Maschine noch programmieren.«

»Oh, das habe ich schon erledigt«, sagte Myrnin, noch immer lächelnd. »Du hast das Ziel, das dir Amelie gesteckt hat, praktisch erreicht. Ich habe keinen Grund gesehen, dich mit den paar einfachen Instruktionen noch weiter zu quälen.«

»Aber... es muss auf ein bestimmtes Vampirhirn abgestimmt werden und Sie haben mir gesagt, dass...«

»Ist es schon«, sagte er. »Es ist auf meins abgestimmt. Nur als Vorlage, wohlgemerkt. Ich werde die Programmierung verbessern, während wir weitermachen.«

Myrnins Gehirn. Myrnins brillantes, glühendes, halb irres Gehirn. Claire blinzelte und sah Amelie an, die ihre beste Frostige-Schneekönigin-Show abzog.

»Dass die Wahl auf Myrnin fiel, ist logisch«, sagte Amelie. »Er hat die größte natürliche Begabung von allen Vampiren in Morganville, wenn es darum geht, Menschen zu beeinflussen; auch wenn er nur selten beschließt, das auszunutzen. Er wird die Maschine nicht steuern, sondern nur eine Art Grundmuster bereitstellen, auf dem die Berechnungen und Entscheidungen der Maschine beruhen.«

Claire wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Myrnin war kein Programmierer, und wenn irgendetwas auf Myrnins Gehirn beruhen sollte, dann war ihr das suspekt. Trotzdem schien der Computer ziemlich genau zu sein. Alles funktionierte. Die Barrieren waren intakt. Alle Anzeigen waren normal.

Sie war also ... fertig?

Eigentlich hätte sich das anfühlen sollen wie ein Sieg, doch stattdessen hatte sie das Gefühl, als hätte sie irgendetwas übersehen. Als würde irgendetwas nicht stimmen, doch sie wusste nicht, was das sein könnte.

Es war die Stimme. Die Computerstimme. Sie erinnerte sie an ... Ada. Und das war wirklich megagruselig. Vielleicht hatte Myrnin das absichtlich gemacht, um sie sich zurückzuholen, wenigstens ein ganz kleines bisschen. Das wäre vielleicht romantisch gewesen, wenn Ada nicht alles darangesetzt hätte, sie alle zu vernichten.

Amelie wurde etwas lockerer und lächelte Claire an - was wohl zum ersten Mal passierte. Sie sah dadurch viel jünger aus - und noch schöner. »Das hast du sehr gut gemacht«, sagte sie. »Ich weiß, wie viel ich von dir verlangt habe, und ich weiß, dass du mir vielleicht nie verzeihen wirst, dass ich dich vor diese schwierige Wahl gestellt habe, aber ich musste an die Stadt denken. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Druck wir hatten, dass wir überhaupt zu solch drastischen Mitteln greifen mussten. Ich war absolut zuversichtlich, dass du es schaffen würdest.«

Claire wurde verlegen und errötete. Sie hegte immer noch einen Groll gegen Amelie; außerdem fand sie die lässige Art furchtbar, mit der Amelie ihre Freunde und ihre Familie derart bedroht hatte. Und sie bemühte sich im Moment nicht um Höflichkeit: »Tun Sie das nie wieder. Bedrohen Sie nie wieder die Leute, die ich liebe.«

Die anderen Vampire - sogar Myrnin - sahen verlegen aus, schockiert oder einfach wütend (Oliver). Amelie nicht. Die zog die Augenbrauen hoch. »Die Leute, die du liebst, sind ständig in Gefahr, genau wie die Menschen überall. Sogar meine Leute. Damit solltest du dich abfinden, Claire. Ich bin nur eins von den Dingen, die ihre Sicherheit bedrohen. Genau wie sie ab und zu meine bedrohen. So ist das Leben.«

Claire ballte die Hände zu Fäusten, aber sie war nicht wie Shane. Sie konnte nicht um sich schlagen. Sie konnte nur tief durchatmen gegen den aufwallenden Zorn, der Blitze vor ihren Augen zucken ließ, bis es wieder vorbeiging.

Amelie musste gewusst haben, dass Claire ihr nicht gerade dankbar sein würde; sie nickte den anderen zu, drehte sich um und ging. Sie war nicht allein gekommen, stellte Claire fest. Wie üblich hatte sie ihre Bodyguards dabei, die in einer dunklen Ecke gestanden hatten und ihr jetzt aus dem Labor folgten.

Zurück blieben Myrnin, Oliver und der andere Vampir, der jetzt eine steife Verbeugung vor ihr machte. »Frederick von Hesse«, sagte er mit einem wahrscheinlich deutschen Akzent. »Sehr erfreut, nun offiziell deine Bekanntschaft zu machen. Das ist eine beeindruckende Arbeit. Erzähl mir, wie es kommt, dass du so viel von der hermetischen Kunst verstehst.«

»Ich verstehe nicht viel davon«, sagte Claire rundheraus. »Und vieles ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Oliver lachte - er lachte tatsächlich. »Ich mag die neue Claire«, sagte er. »Du solltest sie immer so hart arbeiten lassen, Myrnin. Sie ist interessant, wenn sie so direkt ist.«

Claire zeigte ihm ganz in Eves Sinn den Mittelfinger. Das brachte ihn wieder zum Lachen; er schüttelte den Kopf und gingTreppe hinauf. Und weg war er. Und ließ sie mit von Hesse und Myrnin allein. Von Hesse war Oliver ähnlich, insofern als auch er aussah wie ein alternder Hippie, aber das lag vor allem daran, dass seine Haare ebenfalls schulterlang, blond und kraus waren. Er sah älter aus als die meisten Vampire, er hatte ein faltiges Gesicht und schwermütige blaue Augen, aber er hatte ein nettes, fast schüchternes Lächeln. »Bitte entschuldige«, sagte er. »Ich wollte dich nicht kränken.«

Claire seufzte. »Das haben Sie nicht.« Aus irgendwelchen Gründen fiel es ihr schwer, böse auf von Hesse zu sein. Bei Oliver war das gar kein Problem, aber dieser Vampir wirkte ... nervös? Zerbrechlich vielleicht. »Ich heiße Claire.«

»Jaja, natürlich. Du hast etwas Erstaunliches geschafft, Claire. Wirklich etwas Erstaunliches.« Er trat vom Tisch zurück und betrachtete voll Bewunderung die schimmernde Maschine. »Ich hätte nie gedacht, dass das möglich wäre ohne die Schnittstelle eines organischen...«

»Bitte fangen Sie nicht wieder von den Gehirnen an«, sagte Claire. »Ich bin müde. Ich gehe jetzt nach Hause, okay?«

Myrnin, der bisher nicht viel gesagt hatte, streckte plötzlich die Arme aus und schlang sie um Claire. Sie wurde steif vor Schreck und einen Augenblick lang fragte sie sich, ob er sie in den Hals beißen wollte... aber es war einfach nur eine Umarmung. Sein Körper fühlte sich kalt an im Vergleich zu ihrem und er war viel zu nah, doch dann ließ er sie los und trat zurück. »Das hast du sehr gut gemacht. Ich bin außerordentlich stolz auf dich«, sagte er. Auf seinen bleichen Wangen erschien ein Hauch von Farbe. »Geh nach Hause. Und nimm eine Dusche. Du stinkst wie die Toten.«

Was ziemlich absurd klang, wenn es von einem Vampir kam.

»Kann ich das Portal benutzen?«, fragte Claire.

Myrnin schob den Bücherschrank beiseite, der das Portal verdeckte, und schloss die Tür auf. Dann verbeugte er sich so tief, dass er fast den Boden streifte. Außerdem zog er ihr Handy aus der Tasche seiner Baggy-Shorts. Claire trat heran und konzentrierte sich, bis das Wohnzimmer des Glass House deutlich zu erkennen war. Anscheinend war noch niemand wach. Draußen vor den Fenstern war es noch dunkel.

Bevor sie durch das Portal ging, sah sie Myrnin an und sagte: »Danke, dass Sie sich um mich gekümmert haben.«

Er lächelte leicht, aber irgendwie gequält. »Hab ich gar nicht«, sagte er. »Ich habe dich der Gefahr nur ausgesetzt, weil ich tue, was Amelie sagt. Und das tut mir leid. Aber sie hatte recht. Wir mussten es tun. Und zwar schnell. Allein hätte ich das nicht geschafft, Claire.«

»Auf Wiedersehen«, sagte von Hesse und winkte. Claire winkte verlegen zurück und trat durch das Portal.

Zu Hause. Sie holte tief Luft und blickte hinter sich, wo nur noch eine feste Wand zu sehen war. Vielleicht hatte sie das alles ja nur geträumt, aber sie war noch immer zittrig und fühlte sich seltsam leer. Das Haus roch so gut. Chili - das war normal - und jemand musste Wäsche gewaschen haben, denn es roch nach Weichspüler. Zu viel, wie immer. Das war Shanes Markenzeichen. Sie wollte direkt zu ihm nach oben gehen, aber die Treppe war zu viel. Viel zu viel. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, geschweige denn Treppen steigen.

Sie machte einen Kompromiss, indem sie zum Sofa ging, die Gamecontroller wegschob und sich auf das durchgesessene Polster fallen ließ. Über dem einen Ende des Sofas hing eine unordentlich zusammengeknüllte Decke; sie wickelte sich darin ein und fühlte sich sofort besser. Sicherer.

Sie bewegte ich ein bisschen unter der Decke, fand das Handy, dass sie in ihre Tasche gesteckt hatte, und rief Shane an.

»'lo?« Er hustete und versuchte es noch einmal. Seine Stimme war heiser und leise. »Hallo?« Er musste wohl auf das Display geschaut haben, denn auf einmal klang er hellwach - und beunruhigt. »Claire, wo bist du?«

»Unten auf dem Sofa«, sagte sie gähnend. »Ich kann nicht hochkommen, bin zu müde.«

»Bleib, wo du bist.« Er legte auf und sie hörte über sich Fußgetrappel. Nur eine Minute später kam Shane die Treppe heruntergerannt. Er hatte eine Jeans an, sonst nichts - kein Oberteil -, und ihr wurde durch und durch warm, als sie ihn so sah. Schlitternd kam er neben dem Sofa zum Stehen, er starrte auf sie hinunter und ging dann in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe waren. »Hey«, sagte er. »Alles okay?«

»Klar. Ich bin nur müde.« Als Beweis gähnte sie wieder. »Wie lange war ich weg?«

»Ewig«, sagte Shane. Etwas stimmte nicht mit seiner Stimme, sie klang seltsam erstickt. »Mach das nie wieder, okay? Ich hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Wir alle hier.« Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und sie tat das Gleiche bei ihm. Seine Haare bekamen jetzt wirklich Emo-Länge, hauptsächlich weil er zu faul war, zum Friseur zu gehen.

»Du hast aber nichts Verrücktes angestellt, oder?« Es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten, aber es fühlte sich so gut an, ihn zu berühren. Unheimlich gut.

»Michael musste mich einige Male schlagen, um mich davon abzuhaiten, eine Rettungsaktion zu starten.« Shane zuckte mit den Schultern. »Dafür, dass er ein Vampir ist, schlägt er zu wie ein Mädchen.«

»Er wollte dir nicht wehtun, du Dummkopf.«

»Ja, ich weiß. Rutsch mal.«

Sie rückte beiseite und schlug die Decke auf. Er schlüpfte neben sie, legte sich auf die Seite und küsste sie, noch bevor sie protestieren und sagen konnte, dass sie dringend eine Dusche und Zahnpasta und all so was brauchte.

Er schlang die Arme um sie. »Jetzt bist du sicher«, sagte er. »Ganz sicher.«

Innerhalb von Sekunden driftete sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.