12
Myrnin brachte sie so nah wie möglich an den Radiosender heran, dennoch waren sie noch einige Häuserblöcke entfernt. Claire war eigentlich ganz froh darüber, dass er sie nicht vorgewarnt hatte, sie war sich nicht sicher, ob sie durch das Portal hätte treten können, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartete.
German's Reifenfabrik war vor mindestens dreißig Jahren stillgelegt worden und das gigantische, mehrstöckige Gebäude war im Grunde nichts anderes als eine Goldmine des Gruseligen. Claire war bisher genau zweimal dort gewesen und an keinen ihrer Besuche hatte sie angenehme Erinnerungen - und dabei hatte es sich um Exkursionen bei Tag gehandelt. Nachts stieg der Angst-Level ins Unermessliche.
Sie wusste, dass sie in German's Reifenfabrik waren, weil die Tasche mit den Waffen, die Shane mitgebracht hatte, Taschenlampen enthielt und eines der ersten Dinge, die Claire damit anleuchtete, war das gruselige Graffito eines Clownsgesichts, das irgendjemand um eine Tür gesprüht hatte, die aussah, wie ein großer, offener Schlund. Sie würde dieses dumme Clownsgesicht nie vergessen. Niemals.
»Oh, Mann«, hauchte Shane. Auch ihm gefiel dieser Ort nicht so besonders.
»Stell dich nicht so an«, sagte Eve. »Wenigstens warst du hier nicht in einen Gefrierschrank eingeschlossen wie das Mittagessen für den kommenden Monat. Ich schon.«
Myrnin, der im Schein der Taschenlampe bläulich weiß aussah, wirkte gekränkt. »Ich habe dich dort eingeschlossen, um dich zu beschützen, junge Dame. Wenn ich vorgehabt hätte, dich zu fressen, dann hätte ich das getan.«
»Das tröstet mich jetzt«, erwiderte Eve. Und dann, etwas leiser: »Oder auch nicht.«
»Da lang.« Myrnin schirmte seine Augen gegen ihre Taschenlampen ab und bahnte sich seinen Weg um einen schwankenden Stapel leerer Bierdosen herum - die von abenteuerlustigen Highschoolschülern zurückgelassen worden waren - und zwischen einer zerrissenen Matratze und ein paar leeren Kisten hindurch. »Jemand war hier.«
»Ach nee!«
»Ich meine vor Kurzem«, sagte er. »Keine Menschen. Vampire. Viele Vampire.« Er klang ein wenig erstaunt. »Keine von meinen Kreaturen. Sie sind alle gestorben, weißt du? Die, die ich verwandelt habe.«
Früher, in seinen verrückten (noch verrückteren?) Tagen, hatte Myrnin mit einigen unglückseligen Opfern experimentiert und versucht, sie in Vampire zu verwandeln. Diese Versuche waren gescheitert, weil ihn seine Krankheit immer mehr beeinträchtigt hatte. Die Ergebnisse waren alles andere als schön gewesen - eher Zombies als Vampire, hatten diese Kreaturen nichts anderes im Kopf als zu töten. Claire fragte sich, wie sie wohl gestorben waren, und beschloss dann, dass sie das gar nicht so genau wissen wollte. Myrnin war Wissenschaftler. Er war daran gewöhnt, Labortiere am Ende eines Tests einzuschläfern.
»Hängen diese Vampire jetzt noch irgendwo hier herum?«, fragte Shane. Er hatte einen Pfahl in der linken Hand und ein mit Silber überzogenes Messer in der rechten - es war ein Steakmesser, das er mithilfe einer Autobatterie und einem Aquarium voll Chemikalien galvanisiert hatte. Es hatte zwar furchtbar gestunken, war aber billig und wirkungsvoll. »Eine Vorwarnung wäre nämlich ganz schön.«
»Nein. Sie sind weg.« Myrnin zögerte jedoch immer noch. »Ich frage mich...«
»Fragen Sie sich später. Los jetzt«, sagte Eve. Sie klang nervös und ließ das Licht ihrer Taschenlampe ziellos umherschweifen, wobei sie auf jedes Rascheln in der Dunkelheit reagierte. Und davon gab es viel. Ratten, Vögel, Fledermäuse.. die Fabrik steckte voller Leben. Claire richtete ihre Taschenlampe auf den Weg vor sich, wobei sie sicherstellte, dass sie nicht stolperte oder sich an hervorstehenden rostigen Metallstücken schnitt. Myrnin ging voraus. Hinter sich spürte sie Shanes Wärme, was sich gut anfühlte. Ebenso gut wie das Gewicht der Wasser-Pumpgun in ihren Armen.
Myrnin warf krachend eine Metalltür auf, indem er das Schloss zertrümmerte und die Glieder der großen Kette verstreute, durch die die Tür an der vernarbten Betonaußenwand verankert war. »Hier«, sagte er und deutete auf etwas, während sie sich um ihn scharten. Die Wolken lockerten etwas auf, sodass ein wenig diffuses Mondlicht kühle blaue und silbrige Muster auf den Boden malte. Ungefähr eineinhalb Kilometer entfernt ragten ein Betonklotz und ein hoher Turm wie ein Skelett in den Himmel. In großen weißen Buchstaben stand »KVV« an dem Turm - eines der V war längst verschwunden, ein anderes neigte sich wie ein Betrunkener zur Seite und war nicht mehr weit davon entfernt, vollends herunterzufallen und sich zu seinem fehlenden Kameraden zu gesellen. Das Gebäude wirkte verlassen. Der Wind fegte über die flache Landschaft, peitschte den Staub auf, blies Müll herum und verursachte ein geisterhaftes pfeifendes Geräusch im Metall des Turms.
»Ich sehe Michaels Auto nicht.«
»Es gibt nur einen Weg, wirklich sicher zu sein«, sagte Myrnin. »Gehen wir.«
***
Je näher sie dem Gebäude kamen, desto unheimlicher wirkte es. Claire war kein Fan von verfallenden Industriegebäuden, aber Morganville war voll davon - das halb zerstörte Krankenhaus, German's Reifenfabrik, selbst das alte Rathaus hatte seine verfallende Seite.
Dieses hier sah so... düster aus. Das ganze Gebäude bestand aus Betonziegeln, es war nicht besonders groß und das einzige Fenster auf der Vorderseite war vor langer Zeit herausgebrochen und durch Pappkarton ersetzt worden. Jemand hatte BETRETEN VERBOTEN auf die Ziegel gesprüht, der Rest war mit wildem buntem Graffiti bedeckt. Bierdosen, Zigarettenkippen, leere Plastiktüten... das Übliche.
»Ich weiß nicht, wie wir da hineinkommen sollen«, flüsterte Eve.
»Warum flüsterst du?«, flüsterte Myrnin zurück. »Vampire können uns sowieso hören.«
»Ist da ein Vampir drin?«, fragte Claire.
»Bin ich Hellseher? Keine Ahnung.«
»In der Reifenfabrik konnten Sie das sagen!«
Er tippte auf seine Nase. »Fünf Sinne. Nicht sechs. Es ist nicht so leicht, sie zu riechen, wenn man außerhalb des Gebäudes steht. Er schob vorsichtig das funktionale Ende der Pumpgun von sich weg. »Bitte. Ich hab schon gebadet und ich würde es ungern im Vampirpendant zu Pfefferspray wiederholen.«
»Tut mir leid.«
Sie gingen an der Seite, die den Turm am nächsten lag, um das Gebäude herum. Dort in den Schatten entdeckten sie auch Michaels Limousine.
Leer.
»Michael?«, rief Eve. »Michael!«
»Psst«, sagte Myrnin scharf und schoss übernatürlich schnell über die offene Fläche, um einen Türknauf zu packen, den Claire kaum erkennen konnte. Die Tür gab nach und er verschwand nach drinnen.
»Warten Sie!«, schrie Claire und flitzte ihm hinterher. Als sie die Tür erreicht hatte, knipste sie ihre Taschenlampe an, aber alles, was sie sah, war ein leerer Korridor mit abblätternder Farbe und einen mit Schlamm bedeckten Boden, was wohl ein Überbleibsel einer früheren Überschwemmung war. »Myrnin wo sind Sie?«
Keine Antwort. Sie schrie auf, als sich Shanes Hand um ihre Schulter schloss; sie holte tief Luft und nickte. Hinter ihnen drängte sich Eve herein.
Der Korridor endete ein Stück weiter in einer Sackgasse, rechts und links zweigten aber weitere Korridore ab. An der Wand war ein verblasstes Wandgemälde zu sehen, es zeigte eine Westernszene mit Kühen und Cowboys und das Logo KVVV in großen Druckbuchstaben.
Im ganzen Gebäude roch es nach Schimmel und toten Tieren.
»Hier entlang«, sagte Myrnins Stimme plötzlich leise und mit einem Summen gingen die Lichter um sie herum an. Einige der Glühbirnen brannten mit einem harten, knisternden Geräusch durch und ließen Teile des Raumes im Dunkeln.
Claire folgte dem Korridor bis zum Ende, wo er nach rechts in ein kleines Studio mit einer Art Schalttafel abbog. Die Ausrüstung sah alt aus, aber sauber; jemand war hier gewesen - wahrscheinlich Kim - und hatte dafür gesorgt, dass alles funktionierte. Mikrofone, ein Stuhl, eine Hintergrundkulisse, Beleuchtung... alles was man zum Filmen im Studio brauchte, einschließlich einer kleinen digitalen Videokamera auf einem Stativ.
Auf der anderen Seite des Raumes befand sich ein kompliziertes Mischpult mit einer ganzen Reihe von Bildschirmen. Sie gehörten offenbar nicht zur ursprünglichen Apparatur - sie waren um Jahrzehnte moderner als das Mischpult - und Claire entdeckte verschiedene weitere Elemente, die nachträglich eingebaut worden waren.
Dazu gehörte auch eine Reihe tragbarer schwarzer Festplatten im Terabyte-Bereich.
Am Mischpult saß Michael. »Michael!«, platzte Eve heraus und stürzte sich auf ihn; er stand auf, um sie aufzufangen, und umarmte sie fest. »Du bist so ein unglaublicher Volltrottel!«
Er küsste sie aufs Haar. »Ja, ich weiß.«
Sie schlug ihm auf den Arm. »Wirklich. Du bist ein Volltrottel!«
»Ich hab's gehört.« Er schob sie ein wenig weg, um sie anzuschauen. »Alles okay?«
»Nein, dank dir nicht. Du musstest ja unbedingt mitten in der Nacht davonlaufen, ohne etwas zu sagen...«
»Ich hätte wissen müssen, dass ihr nicht bleibt, wo ihr seid.«
»Wo ist Detective Hess?«, fragte Claire. »Ich dachte, du triffst dich mit ihm.«
»Ja, hab ich auch.«
»Wo ist er?«
»Das sage ich euch gleich.« Michael schien abgelenkt zu sein, als würde er sich gerade überlegen, wie er ihnen etwas sagen konnte, was ihnen überhaupt nicht gefallen würde. »Das hier ist Kims Datenspeicher. Zumindest der überwiegende Teil davon. Claire, das da ist ein Router, oder? Ich glaube, mit dieser Station empfängt sie die Signale.«
»Sie benutzt den Turm, um die Signale zu verstärken«, erklärte Claire. »Hast du gefunden, was...?« Sie wollte nicht genauer werden. Michael schüttelte den Kopf und ihr Mut sank. »Was ist mit den anderen?«
»Sie war ein fleißiges Mädchen«, sagte Michael. »Hier sind Videodateien vom Rathaus, vom Common Grounds und von allen möglichen Orten überall in der Stadt. Es wird Stunden, vielleicht sogar Wochen dauern, alles anzuschauen, aber sie hat einen Rohschnitt angefertigt.« Er drückte auf einige Knöpfe und deutete dann auf den mit deren Bildschirm. »Das ist er.«
Nach ein paar altmodischen Störsignalen kam eine Aufnahme vom Ortsschild von Morganville, das im Wind knarrte... und dann erschien direkt unter dem Schild durch Spezialeffekte aufgepeppt das Wort Vampire in blutigen Striemen.
»Sehr subtil«, schnaubte Eve. »Sie wird eine große Zukunft in Hollywood haben.«
Dann erklang Kims Stimme, die atemlos erzählte. »Willkommen in Morganville, der Stadt mit Biss. Wenn Sie jemals durch die karge Landschaft von West-Texas gefahren sind, werden Sie sich fragen, warum es Menschen gibt, die hier draußen mitten, im Nichts leben. Na ja, das Fragen hat jetzt ein Ende: Es liegt daran, dass sie nirgendwo anders leben können, ohne dass die Leute wissen, was sie sind.«
Das Bildmaterial, das zu ihren Worten lief war eine Montage des Alltags in Morganville - normales, langweiliges Zeug.
Dann erschien eine Nachtaufnahme von einem Vampir - Morley, erkannte Claire bestürzt -, der jemandem Blut aus dem Hals saugte, und zwar in einer extremen Nahaufnahme. Seine Augen sahen aus wie Silbermünzen, das Blut wirkte schwarz.
Schnitt. Eve, wie sie in ihrer ganzen Gothic-Pracht hinter der Theke der Cafeteria arbeitet. Eve sog scharf Luft ein, sagte aber nichts. Noch mehr Aufnahmen von Morganville, viele davon mit der Handkamera. Claire sah Filmmaterial mit Studenten und ihr fiel wieder ein, dass Kim mit der Digitalkamera auf dem Campus herumgerannt war und dumme Fragen gestellt hatte.
Das alles wurde gezeigt und auch Claire, wie sie sagte: »Ich habe zwei Worte für dich und das zweite davon lautet dich. Die Lücke bitte ausfüllen.«
Claire schlug sich beide Hände vor den Mund. Gott, sie sah so zornig aus. Und irgendwie wie eine Oberzicke.
Der Hintergrundkommentar machte alles noch schlimmer. »Nicht einmal die normalen Einwohner Morganvilles sind wirklich normal. Zum Beispiel meine Freunde, die in diesem Haus wohnen.«
Eine Aufnahme des Glass Houses bei vollem Tageslicht. Dann eine Aufnahme mit versteckter Kamera, als Kim an die Tür klopfte und Eve sie hereinließ.
Eine Aufnahme von Shane. Dann von Michael.
»In einer Stadt voller Schrecken zu leben, bedeutet nicht, dass man nicht die wahre Liebe finden kann - oder zumindest richtigen Sex.«
Das Video wechselte in Shanes Zimmer zu Claire und Shane. Oh, Gott, nein... Claire fühlte sich elend und atemlos, ihr wurde ganz heiß vor Schreck, als sie sich selbst auf diesem Bildschirm sah. Sie taumelte zurück und hätte sich fast in Shanes Arme geworfen.
Shane starrte mit leicht geöffneten Lippen auf den Film und sah dabei so bestürzt aus, wie sie sich fühlte. Allerdings konnte er seinen Blick nicht abwenden, während sie einfach nicht hinsehen konnte.
»Du liebe Güte«, sagte Myrnin leise. »Ich glaube nicht, dass ich mir das anschauen sollte. Ich glaube, ich bin dafür noch nicht alt genug.«
»Schalt es aus«, sagte Shane. »Michael.«
Anstatt es auszuschalten, drückte Michael auf Schnellvorlauf. Als die Szene wechselte, verlangsamte er das Bild wieder. Noch mehr von Kims Voyeur-Pornos, dieses Mal Michael und Eve. Kein Hintergrundkommentar. Claire konnte sich nicht vorstellen, was sie dazu hätte sagen wollen, aber es konnte nichts Gutes gewesen sein.
»Ich bring sie um«, sagte Eve. Sie klang ruhig, auch wenn sie das nicht war. »Warum zeigst du mir das?«
Michael sah sie an und Claires Magen schlug einen kleinen Salto, weil er so ein finsteres Gesicht machte. »Setz dich«, sagte er und rollte den Stuhl näher zu Eve. Mit gerunzelter Stirn sah sie erst den Stuhl, dann ihn an. »Vertrau mir.«
Sie setzte sich, noch immer mit gerunzelter Stirn, während sich die Szene auf dem Bildschirm änderte.
Es war ein dunkel getäfelter Raum mit einem großen runden Holztisch, auf dem ein kunstvolles Blumengebinde stand. Mehrere Leute saßen um den Tisch herum und Claire erschrak, als sie drei davon sofort erkannte. »Amelie«, platzte sie heraus. Amelie hatte offensichtlich keine Ahnung, dass sie gefilmt wurde; die Kamera musste weit oben in einer Ecke angebracht worden sein, doch die Gesichter waren deutlich zu erkennen. Neben Amelie saß Richard Morrell, der Bürgermeister, am Tisch; er war gepflegt und gut aussehend in seinem dunklen Anzug. Zu seiner Rechten saß Oliver, der - wie immer - zornig aussah. Mehrere andere Leute am Tisch redeten gleichzeitig. Sie stritten sich und schließlich schlug Oliver so fest mit der Hand auf den Tisch, dass sie alle verstummten.
Dann kam Kims Hintergrundkommentar. »Morganville wird von einem Stadtrat regiert, der anders ist als in anderen Städten. Niemand wählt diese Leute. Das ist Amelie, die Gründerin Morganvilles. Sie ist über tausend Jahre alt und sie ist eine skrupellose Killerin. Oliver ist nicht viel jünger und er ist noch viel fieser. Der Bürgermeister, Richard Morrell, ist neu, aber seine Familie regiert die Menschen von Morganville schon seit hundert Jahren. Richard ist der einzige Mensch im Stadtrat. Und er wird dauernd überstimmt.«
Sie ließ den Ton weiterlaufen, als Richard gerade sagte: »... möchte ich die Entscheidung, die wir zuvor getroffen haben, noch mal aufgreifen. Es geht um Jason Rosser.«
»Was ist mit ihm?«, fragte Oliver gereizt. »Wir haben deine Argumente gehört. Lasst uns fortfahren.«
»Ihr könnt ihn nicht hinrichten. Er hat sich ergeben. Er hat versucht, das Mädchen zu retten.«
»Er hat nicht versucht, Claire zu retten«, sagte Amelie. »Er hat sie zurückgelassen, damit sie umkommt. Zugegeben, er hat sich tatsächlich der Polizei gestellt und hat uns von seinem Komplizen bei diesen Morden erzählt, aber eines muss klar sein: Er ist weit davon entfernt, unschuldig zu sein, und seine Biografie sagt uns, dass man ihm nicht trauen kann.«
»Er ist doch noch ein Kind«, versuchte es Richard erneut, »und wir können nicht einfach willkürlich beschließen, dass er hingerichtet wird. Nicht ohne Prozess.«
»Mit einem Mehrheitsbeschluss können wir das«, sagte Oliver. »Zwei dafür, einer dagegen. Ich glaube, das ist die Mehrheit. Es wird kein öffentliches Ereignis werden. Er wird einfach leise... verschwinden.«
Eves Mund klappte nach unten. Sie beugte sich vor und suchte hektisch den Bildschirm nach einem Hinweis ab. »Wann war das? Michael? Wann hat sie das aufgenommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich dachte, du solltest das wissen. Dein Bruder wurde zum Tode verurteilt.«
»Oliver... er hat nicht mal... er hat überhaupt nichts davon gesagt.«
»Nun«, sagte Myrnin. »Ich nehme an, er hat es nicht für wichtig gehalten. Sie haben wahrscheinlich etwas Ruhiges vor, vielleicht einen Unfall. Oder Selbstmord.«
Eve ließ sich auf dem Stuhl zurückfallen und griff blindlings nach Michael, der ihre Hand nahm. »Sie können ihn nicht einfach umbringen. Nicht einfach so, wie eine... Ratte im Käfig. Oh, Gott, Michael...«
»Ich habe gesagt, dass Detective Hess hier war. Er ist gleich, nachdem wir das hier gefunden haben, gegangen. Er geht direkt ins Gefängnis, um nachzuschauen, ob es Jason gut geht. Er wird ihn in Schutzhaft nehmen, okay? Mach dir keine Sorgen.«
Sie stieß ein atemloses, abgehacktes Lachen aus. »Keine Sorgen machen? Wie soll ich mir keine Sorgen machen, wenn du mir so etwas zeigst?«
»Da hat sie recht«, sagte Shane. »Michael, Kim hat das Stadtrat-Meeting verwanzt. Wie hat sie das geschafft?«
»Das konnte sie eigentlich gar nicht schaffen«, sagte Myrnin. »Was die Stadtteile der Menschen angeht, ja, natürlich, aber nicht die Vampirstadtteile. Sie hätte keinen Grund, dort zu sein, und sie wäre geschnappt worden, wenn sie auch nur in die Nähe der offiziellen Sitzungsräume gekommen wäre. Oder Amelies Haus.« Er hielt eine weitere schwarze Festplatte hoch, die klar und deutlich in Silber beschriftet war. »Oder auch Olivers.«
Claire hielt den Atem an. »Ihr Labor?«
»Nein. Seltsamerweise nichts. Aber die Beweise, die sie hier hat, sind belastend genug, würde ich sagen.«
»Aber niemand würde es glauben«, sagte Eve. »Ich meine, klar, vielleicht kann sie irgendeinen kleinen No-Name-Kabelsender dazu bringen, es zu senden, aber jeder würde glauben, das sei eine Art Jux.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Claire. »Selbst wenn es keiner glaubt, werden scharenweise Touristen in die Stadt kommen, und wie lange, denkst du, wird das gut gehen?«
»Ich würde auf eine Woche tippen«, sagte Myrnin. Er klang ruhig, aber keineswegs belustigt. »Das ist unser Rückzugsort, Claire. Unser letzter sicherer Ort auf der Welt. Lass dich nicht täuschen - wir gehen vielleicht Kompromisse ein, aber wir sind territorial eingestellt. Kim hat den bedeutendsten Pakt von Morganville verletzt. Das kann sie nicht überleben.«
»Sie hat es nicht allein getan, Sie haben es selbst gesagt. Es muss ein Vampir gewesen sein, der den Stadtrat verwanzt hat, ganz zu schweigen von Amelies Haus.«
»Und wir werden ihn finden«, sagte Myrnin. »Und wir werden sie vernichten. Es gibt Gesetze in Morganville und Kim und dieser Vampir haben sie irreparabel gebrochen. Amelie darf davon nie erfahren. Ich fürchte mich vor ihrer Reaktion.«
Das Ganze schien eine seltsame Wendung zu nehmen. »Warum? Wir werden sie fassen, nicht wahr? Wir haben das Video.«
»Haben wir das?« Myrnin schaute auf die Reihe von Festplatten. »Du hast von über siebzig Kameras gesprochen, aber ich sehe nur ungefähr sechzig Festplatten. Was fehlt, Claire? Du kennst Amelie. Du weißt, dass ihre erste Sorge ihrem Volk gilt. Wenn sie glaubt, dass wir hier gefährdet sind, wird sie die Verluste beschränken.«
»Verluste bezieht sich hier auf Menschenleben«, stellte Shane klar.
»Sie würde uns eher verlagern und jeden Beweis, dass wir je hier waren, zerstören. Das war schon immer ihr letzter Ausweg. Ihr habt keine Ahnung, wie oft sie in letzter Zeit kurz davor war, das zu tun.«
Claire schluckte. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Wir können sie nicht aufhalten«, sagte Myrnin. »Nicht einmal ich schaffe das. Aber was wir tun können, ist, die Beweise zu entfernen.«
Er zerquetschte die Festplatte, die er in der Hand hielt, bis sie nur noch Schrott war, und ließ sie auf den Boden fallen, dann nahm er sich eine nach der anderen vor.
Michael half Eve von ihrem Stuhl auf, schnappte ihn sich und ließ ihn in das Mischpult krachen. Er riss die Festplatte aus dem Videobearbeitungssystem und schmetterte sie gegen die Wand.
Claire und Eve wichen zur Wand zurück und hielten sich an den Händen, während die beiden Vampire systematisch sämtliche Datenspeichermedien im Raum zerstörten. Es dauerte eine Weile, aber sie waren gründlich, und als das letzte bisschen Ausrüstung zu Kleinholz verarbeitet worden war, sagte Shane: »Irgendwie dachte ich, das würde sich besser anfühlen.«
»Wir sind noch nicht fertig«, erklärte Myrnin. »Wir müssen jede einzelne Kamera finden und sie ebenfalls zerstören. Und wir müssen Kim finden und dazu zwingen, uns zu sagen, wer ihr geholfen hat. Da lass ich nicht mit mir diskutieren. Ein Vampirverräter ist viel zu gefährlich, als dass er weiterleben dürfte.«
***
Kim hatte Protokoll geführt - ein Ausdruck davon lag in einer Kommodenschublade neben dem zerstörten Mischpult. Darin waren insgesamt vierundsiebzig Kameras aufgelistet, die in ganz Morganville verteilt waren. »Sie muss in der letzten Minute ein paar hinzugefügt haben. Das wird Stunden dauern«, sagte Eve. »Wir werden uns aufteilen müssen, jeder nimmt fünfzehn oder so. Myrnin und Michael, ihr übernehmt die Kameras in Vamptown. Claire, Shane, bitte. Bedient euch.«
»Was ist mit Kim?«, fragte Claire, als sie die Seite mit den Orten an sich nahm. »Wir müssen sie finden.«
»Ich werde Ada darum bitten, sie zu lokalisieren«, sagte Myrnin.
»Kann sie so etwas?«, fragte Claire und blinzelte. »Klar, kann sie. Aber wird sie es auch tun?«
»Möglicherweise. Wenn sie in guter Stimmung ist, was immer ungewiss ist, wie du weißt. Aber ich versichere dir, Ada nicht mehr böse auf dich, also mach dir deswegen keine Sorgen.« Myrnin sah auf eine glänzend goldene Taschenuhr - ein kompliziertes, drachenförmiges Ding - das er in seiner Westentasche aufbewahrte. »Vor Sonnenaufgang müssen wir uns wieder treffen. Wo?«
»An irgendeinem verlassenen Ort«, sagte Claire. »Sosehr ich es auch hasse, wie wäre es mit German's Reifenfabrik? Ich möchte nicht, dass uns jemand belauscht.«
»Paranoid, was?«, fragte Eve. »Ich auch. Ich werde nie wieder meine Kleider ausziehen, das schwör ich.«
»German's ist gut«, befand Myrnin. »Du kennst die Portalfrequenz. Seid vor Sonnenaufgang dort und vermeidet, umgebracht zu werden, sofern das überhaupt möglich ist.«
Er ging als Erster aus dem Studio in die Nacht hinaus. Michael nahm seinen Wagen und fuhr mit seiner Liste mit Kamerastandorten davon. In German's Reifenfabrik trat Myrnin durch den dunklen Clownsmund-Durchgang, um seine eigenen Dinge zu erledigen, und ließ Shane, Eve und Claire zurück, die abgesehen vom schwachen Lichtkegel der Taschenlampe im Dunkeln standen.
»Also?«, stachelte Eve Claire an. »Dann schmeiß das Ding mal an, Teleport-Girl. Bringen wir es hinter uns.«
Claire schaute auf ihre Liste. »Gut. Die ersten zwanzig sind einfach - sie sind alle in öffentlichen Bereichen. Eve, ich schicke dich und Shane in die Gasse hinter dem Common Grounds. Ich übernehme die Universität.«
»Hey«, sagte Shane. »Warte mal. Ich will nicht, dass du allein da draußen rumläufst.«
»Universität«, erinnerte ihn Claire. »Geschützter Boden. Außerdem bin ja wohl ich diejenige mit dem Armband.« Sie ließ das Gold in seine Richtung aufblitzen. Er sah nicht glücklich aus, aber so, als würde er sich damit abfinden. »Außerdem haben wir keine Zeit zum Streiten. Geht.«
Shane blickte zu ihr zurück, bevor er durch das Portal trat, und Claire packte einen Augenblick lang die übelkeiterregende Angst, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen könnte. Morganville war ein gefährlicher Ort. Jeder Abschied konnte der letzte sein.
Wir stehen das durch.
Sie konzentrierte sich auf das Portal, verschob die Frequenzen und machte sich auf ihre Kamera-Zerstörungsmission.
Sie hoffte nur, dass Myrnin in Bezug auf Ada recht gehabt hatte.
***
Vier Stunden später, kurz vor Sonnenaufgang, war Claire todmüde. Sie hatte alle Kameras auf ihrer Liste einkassiert, einschließlich der, die im Duschraum des Football-Teams versteckt war, was eine interessante Erfahrung war. Kim hatte eindeutig das Geschäftliche mit persönlichem Vergnügen verbunden. Sie trat durch das Portal in die Gasse hinter dem Common Grounds, wo sie Shane und Eve abholen wollte, aber sie waren nirgends zu sehen. Sie rief Shane auf dem Handy an und hörte es irgendwo in der Nähe gedämpft klingeln.
Sie fand die beiden: Shane lehnte an einer Mauer und hielt Eve, die auf seinen Schultern stand, an den Fußknöcheln fest. Sie versuchte gerade, eine Kamera auf dem Dach eines Schuppens zu erreichen. »Hab sie!«, rief Eve und wäre fast nach hinten gefallen. Shane schwankte, fand sein Gleichgewicht wieder und half ihr herunter auf den Boden. »Wir sollten uns beim Zirkus anmelden.«
»Einer von uns sieht ja schon aus wie ein Clown.«
»Hi, Leute«, begrüßte Claire sie. Sie zuckten beide zusammen und sahen sich zu ihr um. »Sorry. Wollte euch nicht erschrecken.«
Shane umarmte sie. »Wie war's?«
»Zwanzig Kameras. Eine hat gefehlt, ich nehme an, jemand hat sie gefunden und aus dem University Center geklaut. Und ihr?«
»Das war die letzte auf der Liste«, sagte er. »Schauen wir mal, was Team Vampire zustande gebracht hat.«
Claire öffnete das Portal zu German's Reifenfabrik und trat hindurch. Shane und Eve waren direkt hinter ihr. Das Portal klappte zu. Claire knipste die Taschenlampe an.
„Ähm...« Eve schaltete ebenfalls ihre Lampe an. »Okay. Falsche Nummer, Claire.«
»Nein«, sagte Claire. »Das kann nicht passieren, ich meine, es ist die richtige Frequenz. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir müssten eigentlich im German's sein.«
»Na ja, sind wir aber nicht«, sagte Shane und leuchtete mit der Taschenlampe umher. Sie waren in einem unterirdischen Tunnel. Es war dunkel und feucht und es roch wirklich widerlich – viel schlimmer als die meisten Vampirverkehrswege, die unter Morganville verliefen. Dieser hier sah noch nicht einmal so aus, als wäre er als Straße benutzt worden. »Falsch abgebogen.«
»So was von falsch abgebogen«, sagte Eve. Ihre Stimme klang anders als zuvor, als sie in den Tunnel zeigte. Claire sah, dass sich in der Dunkelheit Gestalten bewegten. Bleiche Haut. Glänzende rote Augen. »Oh, Mann. Bring uns bitte hier raus!«
Das einzige Problem war, dass das Portalsystem die Kontaktaufnahme verweigerte. Sie waren ausgeschlossen.
Claire blickte Shane und Eve an und schüttelte den Kopf. Ihr Herz überschlug sich und sie sah, wie das Licht der Taschenlampe durch das heftige Pulsieren ihres Blutes flackerte. »Wir sitzen fest«, sagte sie.
Shane ließ die Tasche fallen, die er über der Schulter trug, machte den Reißverschluss auf und reichte Eve Waffen. Dann nahm er einen furchtbar lebensgefährlich aussehenden Bogen, zu dem Pfeile mit Silberspitzen gehörten. »Irgendwer da oben mag dich nicht, Claire.«
Claire machte ihre Wasser-Pumpgun schussbereit »Es ist Ada«, sagte sie. »Dieses Mal lasse ich mir das nicht wieder von Myrnin ausreden.«
Die vampirähnlichen Kreaturen sahen aus wie Myrnins experimentelle Versuche, die er in seinen verrückten Tagen unternommen hatte, um Menschen in Vampire zu verwandeln. Sie stürzten sich mit hohem, fledermausartigem Geschrei aus der Dunkelheit. Claire widerstand dem Bedürfnis zu schreien und legte mit der Pumpgun los. Ein Schwall Wasser traf drei von ihnen mitten im Sprung und ihr Kreischen wurde noch lauter. Sie fielen zu Boden, wälzten sich hin und her. Sie konnte das geisterhafte blaue Flackern von Flammen an ihnen sehen, als sich das Silber in die bloße Haut fraß - und es war ziemlich viel Haut, denn diese Kreaturen waren eher Tunnelratten als auch nur im Ansatz menschlich. Gigantische, untote Tunnelratten.
Nur in Morganville...
Shane zielte und feuerte. Er schaltete eine der Kreaturen aus, als sie gerade zum Sprung ansetzte. Dann legte er mit einer Routine, die Claire zeigte, dass er geübt hatte, den nächsten Pfeil nach. Eve hatte etwas in der Hand, was aussah wie Darts - vorschriftsmäßige Darts, wie man sie in Bars auf eine Zielscheibe warf. Und sie traf tödlich genau mit ihnen, sobald sich die Tunnelratten auf drei Meter Abstand genähert hatten.
Als Claire sich allmählich Sorgen um ihren Wasservorrat machte und Shane die Pfeile ausgingen, ergriffen die angreifenden Kreaturen die Flucht. »Gehen wir«, sagte Eve, während sie einen weiteren Dartpfeil losschleuderte, der im Hintern eines flüchtigen Vampirs stecken blieb. »Ooooh, Volltreffer! »Das macht dir viel zu viel Spaß« bemerkte Shane. »Darts? Wann ist dir denn das eingefallen?«
»Ich habe mit deinem Galvanisier-Dingens herumgespielt. Nachdem ich meinen ganzen Schmuck überarbeitet hatte, bin ich zu den spitzen Dingen übergegangen.« Eve hielt ihnen einen Dart hin, damit sie ihn begutachten konnten. Das gefiederte Ende hatte sie - natürlich - mit einem Totenkopf verziert. »Niedlich, was?«
»Entzückend. Zeit abzuhauen.
Claire warf sich die Wasser-Pumpgun über die Schulter und rannte die Steigung hoch, Shane hinterher, der wie immer schneller war - weil er längere Beine hatte und nicht weil er so gut trainiert gewesen wäre. Shane rannte nur, wenn jemand ihn verfolgte; er hielt mehr von Gewichten.
Dass der Tunnel aufwärts führte, war eigentlich ein gutes Zeichen - er stellte im Grunde eine Eingangsrampe dar, was bedeutete, dass sie bald an die Oberfläche gelangen mussten. Dann konnte Claire herausfinden, wo sie waren, wie sie ein funktionierendes Portal finden und zurück an ihre Arbeit gehen konnten: Kim finden, Kim wie eine Taiko-Trommel schlagen, um herauszufinden, wer ihr vampirischer Mitverschwörer war, und auf Adas RESET-Taste drücken.
Klang doch einfach.
Außer natürlich, dass es das nicht war.
Shane wurde langsamer und Claire wäre fast mit ihm zusammengeprallt. Er stürzte hinüber zur Tunnelwand und drückte sich an sie; Claire und Eve drängten sich neben ihn. »Was?«, fragte Eve zwischen atemlosem Keuchen. Sie stand auch nicht so auf rennen.
»Da kommt jemand«, sagte Shane. »Psst.«
Eve würgte und erstickte fast an einem Hustenanfall. »Ich sollte weniger rauchen«, murmelte sie.
»Du rauchst doch gar nicht«, flüsterte Claire.
»Dann bin ich erst recht im Eimer.«
Shane wirbelte zu ihnen herum und legte beiden je eine Hand auf den Mund. Sein Gesicht war finster. Sie nickten.
Es war dunkel, da wo sie waren, aber nicht dunkel genug. Vor ihnen tauchte eine Gestalt auf, sie kam durch den Tunnel... dann noch eine. Und dahinter noch mehr. Sechs, nein zehn. Claire war nicht mehr nach witzigen Bemerkungen zumute und Eves großen Augen nach zu urteilen, empfand sie wohl genauso. Sie hatten sich gegen die Tunnelratten wacker geschlagen, aber das hier waren echte Vampire.
Jäger.
Morley blieb etwa sechs Meter vor ihnen stehen. Er schaute noch immer stur geradeaus und hob eine Hand zum Zeichen, dass die Gruppe Vampire, die ihm folgte, stehen bleiben sollte. Claire erkannte ein paar von ihnen von dem Vorfall am frühen Abend. Bei einigen von ihnen heilten gerade die Verbrennungen, die sie ihnen mit ihrer Wasser-Pumpgun zugefügt hatte.
»Sieh mal einer an, wer uns da besuchen kommt«, sagte er und drehte dabei den Kopf zur Seite des Tunnels, in ihre Richtung. »Claire und ihre Freunde. Ob sie wohl zum Abendessen bleiben?«
Shane riss den Bogen hoch und zielte auf Morley. »Denk nicht mal daran.«
Morley steckte die Hände in die Taschen seines schmutzigen Regenmantels. »Ich zittere vor Angst, Junge. Mein ganzes langes Leben lang hat mich wohl noch nie jemand mit einer Waffe bedroht.« Sein Tonfall veränderte sich, wurde schärfer. »Leg den Bogen weg, wenn du am Leben bleiben willst.«
»Nicht«, flüsterte Eve.
Morley lächelte. »Der Junge hat zwei Pfeile übrig«, sagte er. »Du hast eine Handvoll Darts. Die Wasser-Pumpgun der kleinen Claire ist fast leer. Außerdem bin ich mir eurer strategischen Situation bewusst. Ich hasse es, mich zu wiederholen, aber ich sage es noch einmal: Legt die Waffen nieder, wenn ihr überleben wollt.«
»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Shane und schluckte schwer. Er bückte sich und legte den Bogen auf den Betonboden, dann richtete er sich mit erhobenen Händen wieder auf.
Ich könnte sie noch einmal ordentlich nass machen, dachte Claire, aber sie wusste, dass das eine schreckliche Idee war. Sie zog sich den Riemen ihrer Spielzeugwaffe über den Kopf und ließ sie fallen. Sie klang leer.
»Shit«, sagte Eve und warf ihre Dartpfeile zu Boden. »Also gut. Was jetzt? Willst du einen auf Nosferatu machen, oder was? Wenn du einen Vampir aus mir machst, dann sorge ich dafür, dass du dich an deinen Eckzähnen verschluckst.«
Morley beäugte sie mit leicht gerunzelter Stirn. »Das glaube ich dir gern«, sagte er. »Aber ich habe kein Interesse daran, jemanden zu verwandeln. Ich suche Verbündete.«
»Verbündete?«, wiederholte Claire. »Ihr wolltet uns allesamt umbringen.«
»Es ging gar nicht um euch«, sagte er. »Das erste Mal wart ihr einfach nur mit Amelie da. Das nächste Mal, na ja, da habe ich jemandem einen Gefallen getan. Einem anderen Verbündeten übrigens.«
»Was wollt ihr?«
»Wir wollen Freiheit«, erklärte Morley. »Wir wollen so leben, wie es von Gott bestimmt ist. Ist das denn so schlimm?«
Claire war unangenehm überrascht, als sie ein paar Vampire in der Gruppe erkannte. »Jacob«, sagte sie. »Jacob Goldman?« Ein Mitglied aus Theo Goldmans Familie - Theo war eigentlich der letzte Vampir, von dem sie erwartet hätte, dass er in so etwas drinsteckte. Seine Enkel... die kannte sie nicht besonders gut.
Jacob sah weg. Seine Schwester hingegen, Claire kannte ihren Namen nicht, starrte sie an und streckte ihr Kinn vor, als wollte sie Claire davor warnen weiterzusprechen. Von ihrer letzten Begegnung mit den Goldmans wusste Claire, dass die jüngere Generation die Lebensanschauung ihrer Eltern immer mehr hasste; daher ergab es einen Sinn, dass sie hier in Morganville jemanden gefunden hatten, der ihre Einstellung teilte.
»Amelie und Oliver wollen etwas aus uns machen, das wir niemals waren«, sagte das Mädchen. »Zahme Tiger. Tanzbären. Zahnlose Löwen. Aber wir können das nicht sein. Die Vampire sind nicht die Betreuer der Menschheit. Tut mir leid, aber das wird niemals wahr werden, so sehr wir es auch wünschten.«
»Das trägt nicht gerade zu dieser Lasst-uns-Freunde-sein-Diskussion bei«, sagte Eve. »Ich mein ja nur.«
Morley stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und schaute sich zu den anderen Vampiren um. »Sicherlich wollt ihr, dass wir aus eurer Stadt verschwinden«, sagte er. »So gern wir auch gehen würden - Amelie erlaubt es uns nicht. Wir haben zwei Möglichkeiten; Morganville zerstören oder Amelie vernichten. Morganville zu zerstören, erscheint in vielerlei Hinsicht die einfachere Lösung zu sein.«
Langsam fiel der Groschen. »Ihr arbeitet mit Kim zusammen. Sie hat das mit den Kameras vorgeschlagen, nicht wahr?«
»Es schien eine gute Möglichkeit, das zu erreichen, was sie wollte, und das, was wir wollten«, räumte er ein. »Das Ende Morganvilles. Der Anfang ihrer Karriere. Bespitzelung ist zugegebenermaßen eine unfeine Methode, dies zu erreichen, aber wahrscheinlich ist es weniger verwerflich als Mord.«
»Bis die Kamera plötzlich auf dich gerichtet war«, schoss Eve zurück.
»Berechtigter Einwand.« Morley neigte leicht den Kopf in ihre Richtung.
»Du hast die Kameras für sie in Vamptown platziert.«
»Ich?« Seine buschigen Augenbrauen verschwanden unter seinem verworrenen Haar. »Nein. Ich bin dort ja wohl kaum willkommen, wie ihr wisst. Weder ich noch meine Leute. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hat.«
»Dann lass uns herausfinden, wer es getan hat.«
»Wisst ihr, ich brauche nicht mit euch zu verhandeln. Ich könnte euch einfach unter meinen Gefolgsleuten als Belohnung verteilen, wenn ihr das bevorzugt.«
»Nein« sagte Jacob Goldman. Er wechselte einen Blick mit seiner Schwester. Es wirkte wie ein stummer Streit, dann trat er vor. »Nicht sie, Morley. Wenn du ihr etwas antust, gehen wir.«
»Du auch?«
Jacobs Schwester seufzte und schüttelte den Kopf. »Das Mädchen hat uns mal geholfen«, sagte sie. »Theo würde nicht wollen, dass wir ihr etwas tun.«
»Das Mädchen hat euch in einer Zelle zurückgelassen, damit ihr von Bishops Händen sterbt!«
»Das war der Fehler meines Vaters, nicht ihrer«, sagte Jacob. Ich würde viel tun, um meine Freiheit zu erlangen, aber nicht das.«
Die Spannung baute sich rasend schnell auf. Claire schluckte. »Dann lasst uns einen Deal schließen«, sagte sie. »Wir wollen Kim und das Video, das sie euch gegeben hat.«
Morley schaute sie finster an. »Im Tausch gegen...?«
»Ich werde Amelie darum bitten, dass sie euch gehen lässt.«
»Um etwas zu bitten, ist keine schwere Aufgabe. Dafür ist keinerlei Einsatz nötig. Etwas zu tun, ist eine Leistung. Du wirst Amelie dazu bringen, uns gehen zu lassen. Hier ist mein Angebot: Wenn du es nicht schaffst, ihre Erlaubnis zu bekommen, werden deine beiden Freunde lebenslange Verträge mit mir unterzeichnen.« Morley wandte sich an Jacob und seine Schwester, die nickten. »Seht ihr? Sogar sie sind damit einverstanden.«
»Oh, zur Hölle, niemals«, rief Eve.
»Und wie genau willst du aus deiner Position heraus verhandeln?«
Shane streckte die Hand nach Eve aus, um sie ein wenig zurückzuhalten. »Keine lebenslangen Verträge«, sagte er. »Einen halben Liter pro Monat. Nur über die Blutbank. Zehn Prozent von unserem Einkommen.«
»Hmmmm.« Morley zog das Geräusch in die Länge und starrte ihn aus halb geschlossenen Augen an. »Verlockend. Aber weißt du, ich kann einfach auf einem lebenslangen Vertrag bestehen, ohne deine dummen Einschränkungen, oder euch gleich jetzt umbringen.«
»Das wirst du nicht«, sagte Shane. Morley riss die Augen auf.
»Warum nicht? Jacob hat sich in Bezug auf Claire deutlich ausgedrückt, nicht in Bezug auf dich, Junge.«
»Wenn du Eve und mich umbringst, wirst du sie zum Feind haben. Das Mädchen da wird erst aufhören, wenn ihr alle dafür bezahlt habt.«
Claire hatte keine Ahnung, wen er damit meinte - sie fühlte sich ganz und gar nicht wie diese Person. Bis sie sich vorstellte, wie Eve und Shane tot am Boden lagen.
Dann verstand sie. »Ich werde euch zur Strecke bringen«, sagte sie ruhig. »Ich würde alle Ressourcen nutzen, die ich habe. Und du weißt, dass ich gewinnen würde.«
Morley schien beeindruckt zu sein. »Sie ist klein, aber ich verstehe, was du meinst, Junge. Außerdem schenken ihr Amelie, Oliver und Myrnin Gehör, und das ist keine Kombination, bei der ich es darauf ankommen lassen würde. Na schön. Beschränkter Vertrag, ein Jahr lang, ein halber Liter pro Monat über die Blutbank, zehn Prozent eures Einkommens in bar direkt an mich. Aber ich bestehe auf den Standardklauseln zur Bestrafung.«
»Hey«, sagte Eve. »Darf ich auch mitreden?«
»Klar«, versicherte Morley. »Was denkst du?«
»Lieber würde ich sterben«, sagte sie rundheraus. Shane drehte sich zu ihr um und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte. »Sieh mich nicht so an. Ich sagte dir doch schon, dass ich niemals einen Vertrag unterzeichnen würde. Niemals. Wenn Morlock hier mich umbringen will, bitte, ich kann ihn nicht daran hindern. Aber ich muss auch nicht stückchenweise sterben, denn das ist es, was diese Stadt aus uns macht, Shane: Sie raubt uns immer noch ein Stückchen mehr, bis nichts mehr da ist. Und ich werde nicht unterzeichnen!« Tränen quollen aus Eves Augen, aber sie hatte keine Angst, sondern war vielmehr zornig. »Los, beiß mich, Vampir! Bringen wir es hinter uns. Aber das ist eine einmalige Sache!«
Morley zuckte mit den Achseln. »Und du, Junge?«
Shane holte tief Luft. »Keine Deals, wenn Eve nicht damit einverstanden ist.«
Claire hatte den Geschmack von Asche im Mund und sie überlegte hektisch, was sie tun könnte. Sie versuchte, ein Portal hinter ihnen aufzubauen, aber das System ließ sie schon bei dem Versuch, den Prozess zu beginnen, abblitzen.
Ada.
Sie ergriff Shanes Hand. »Dann wirst du mich auch umbringen müssen«, sagte sie. »Und das kannst du nicht. Nicht ohne dass es Konsequenzen hat.«
Morley sah jetzt ziemlich unglücklich aus. »Das wird alles viel zu kompliziert. Gut, dann machen wir es so: Ich gebe euch das Video, das ihr sucht, und wenn ihr es nicht schafft, Amelies Erlaubnis in - sagen wir mal - einem Monat einzuholen, ist das Leben deiner Freunde verwirkt. Okay?« Als sie zögerte, entblößte er seine dreckigen Zähne. »Das ist eigentlich keine Frage. Und mir reißt gleich der Geduldsfaden. Er ist schon ganz fadenscheinig.«
»Ja«, gab Claire von sich.
Er spuckte auf seine Handfläche und streckte sie ihnen entgegen. Sie schauten ihn alle nur an. »Nun?«, sagte er auffordernd.
»Die schüttle ich nicht«, sagte Shane. »Du hast gerade draufgespuckt.«
»So werden Deals besiegelt...« Morley gab einen frustrierten Laut von sich und wischte sich die Hand an seinen schmutzigen Klamotten ab. »Vielleicht gilt das ja nicht mehr. So besser?«
»Nicht wirklich«, sagte Shane.
Claire trat vor und schüttelte Morleys Hand. Sie hatte schon Schlimmeres gemacht.
Er drehte sich um, wobei sein schmutziger Regenmantel flatterte, und die anderen Vampire folgten ihm. Jacob Goldman blieb ein wenig zurück und starrte Claire an. Er sah unglücklich und gequält aus.
»Ich hätte es nicht zugelassen«, sagte er. »Bei keinem von euch. Aber verstehst du, warum ich das tun muss? Für mich und meine Schwester?«
»Ich verstehe es«, sagte Claire. Das tat sie eigentlich nicht, aber er schien sich dadurch besser zu fühlen.
Claire, Eve und Shane hoben ihre Waffen auf und folgten ihnen in die Dunkelheit.
***
Morleys Schlupfwinkel bestand aus einer Reihe von Räumen, die aussahen wie Kalksteinhöhlen, die zu richtigen Zimmern mit Türen und Fenstern ausgehöhlt worden waren - eine unterirdische Stadt. Nichts Raffiniertes, aber definitiv bewohnbar, wenn man lichtscheu war. Noch mehr Vampire waren da, die obdachlos waren und hier Unterschlupf gefunden hatten. Claire nahm an, dass viele von denen, die sich im Kampf zwischen Amelie und Bishop nicht für eine der beiden Seiten entschieden hatten, hierher geflohen waren und sich Morleys Gruppe angeschlossen hatten.
»Sie sind also gar nicht obdachlos«, sagte sie. Morley schaute sich zu ihr um, während er die uralte, knarrende Tür zu einem der Zimmer öffnete. »Fließend Wasser wäre jedoch nicht schlecht.« Das Versteck stank nämlich erbärmlich. Ebenso wie die Vampire.
»Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der fließend Wasser noch Flüsse und Ströme bedeutete«, sagte er. »Wir haben uns mit modernem Luxus nie so richtig anfreunden können.«
»Bäder zum Beispiel?«
»Oh, wir hatten Bäder in den alten Tagen. Es waren öffentliche Dampfbäder und man holte sich dort Krankheiten.« Er stieß die Tür auf und zündete eine Reihe von Kerzen an, die auf einer Art Regal an der Seite des Raumes standen. Sie spendeten gerade so viel Licht, dass Claire das Gefühl hatte, ihre Taschenlampe ausschalten zu können. »Was du suchst, ist dort in der Schachtel.«
Es war eine klapprig aussehende Kiste mit Griffen aus Seil. Darin lagen mehrere Festplatten - die, die im Radiosender gefehlt hatten - und ein paar DVDs. Eine trug ein Etikett, auf dem mit schwarzem Edding MICHAEL & EVE geschrieben war. Claire musste schlucken, als sie das sah. Hektisch sah sie die übrigen durch, aber sie fand keine, auf der SHANE & CLAIRE stand.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Shane. »Die Beleuchtung war bei uns ohnehin nicht gut.«
»Sehr witzig.«
»Ich weiß.« Er legte den Arm um sie. »Ich weiß. Apropos witzig, wo ist Kim? Ich würde ihr gern mal sagen, wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass sie Stars aus uns machen wollte.«
Morley nickte. »Folgt mir.«
Drei Türen weiter war eine sehr kleine Höhle - eher eine Zelle. Morley sah einen alten Ring mit uralten Schlüsseln durch, bis er den fand, der in das riesige, rostige Schloss passte. »Ich habe sie zu ihrer eigenen Sicherheit hier eingesperrt«, sagte er. »Gleich siehst du, warum.«
Er machte die Tür auf. Abseits des einfallenden Lichtes kauerte Kim am Boden - aber nicht die Kim, die sie kannten. Das Gesicht war dasselbe, aber die Gothic-Bemalung war, abgesehen von dem gefärbten Haar, verschwunden. Sie war schmutzig, hatte verdreckte Kleider an und von ihrer Anti-Haltung war nichts mehr übrig geblieben.
Claire hatte sich schon bereit gemacht, ihrem Ärger endlich Luft zu machen, aber das hier war nur... armselig. »Kim?« Keine Antwort. »Kim! Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Nichts. Sie reagiert nicht auf ihren Namen«, sagte Morley. »Sieht aus, als hätte sie den Verstand verloren.«
»So ein Quatsch«, fauchte Eve. »Sie ist Schauspielerin.«
»Ich habe ein paar Proben gesehen«, antwortete Morley. »So gut ist sie auch wieder nicht.«
Eve drängte sich an ihm vorbei, um sich neben Kim zu kauern, die ihr Gesicht bedeckte und versuchte, sich zu einer Kugel zusammenzurollen. »Hey!«, sagte Eve und schüttelte sie heftig. »Kim, es reicht! Ich bin es, Eve! Sieh mich an!«
Kim schrie und Claire hielt den Atem an bei dem Geräusch.
Das waren echte Panik, Schmerz und Horror. Eve ließ von ihr ab und lehnte sich mit finsterem Gesicht an die nächste Wand.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Shane. Morley zuckte die Achseln.
»Etwas Schlimmes«, sagte er. »Etwas, das bleibende Schäden hinterlassen hat, soweit ich das beurteilen kann. Sie ist jemandem begegnet, der ihre Initiative nicht so besonders gut aufgenommen hat.«
»Du sagtest, ihr habt sie zu ihrem eigenen Schutz eingesperrt.«
Er warf Claire ein finsteres Lächeln zu. »Betrachte es so, als würde man den Weinkeller abschließen. Das Mädchen ist immer noch ein guter Jahrgang und eine großartige Gesellschafterin.«
Urgh. »Ich brauche sie«, sagte Claire. »Ich muss sie mitnehmen.«
Morleys Vampireskorte schien von ihrer freundlichen Geste nicht besonders begeistert zu sein. »Sie hat keine Familie«, sagte Jacob. »Niemand wird sie vermissen. Niemand hat sich je um sie gekümmert.«
»Wir schon.«
»Um sie zu bestrafen! Das erledigen wir schon für euch.«
Jetzt sah sogar Shane aus, als wäre ihm ein wenig übel. »Wir bestrafen sie auf unsere Art, besten Dank«, sagte er. »Wir Menschen, meine ich. Nicht ich persönlich.«
Morleys Augen wurden schmal, aber er zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm nicht so wichtig. »Nehmt sie mit«, sagte er. »Und nehmt die schwarzen Schachteln mit, die sie für so wichtig hielt. Nehmt alles und denk an dein Versprechen, Claire. Du hast einen Monat Zeit, um bei Amelie die Erlaubnis einzuholen, dass wir Morganville verlassen dürfen. Wenn du sie nicht bekommst, werde ich deinen Freunden einen Besuch abstatten.«
Kim war zu verängstigt, um sich zu wehren, aber Shane schnürte ihr sicherheitshalber mit ein paar Stoffstreifen die Handgelenke und Fußknöchel zusammen, bevor er sie sich über die Schulter warf. Eve nahm den Karton mit den Festplatten und DVDs.
Morley und seine Vampire blockierten den Weg.
»Einen Monat«, sagte er. »Denk daran, was ich dir gesagt habe.«
Dann machten sie ihnen Platz und die drei machten sich auf den Weg, Kim aus dem Tunnel zu bringen. Sie liefen auf das Licht zu, das am Ende des Tunnels schon zu sehen war.
Doch dann stand plötzlich Ada genau im Übergang von Dunkel zu Hell, die Hände verschränkt, die Augen wie in Papier gebrannte Löcher.
»Ich sehe, ihr habt sie gefunden«, sagte sie. »Gut. Ich will sie haben.«
»Warum? Warum hast du uns dann zu ihr gebracht?«
»Morley sollte euch umbringen. Aber so wie es aussieht, muss man heutzutage alles selbst machen.«
Claire dämmerte es und eine Welle der Übelkeit schwappte über sie hinweg. »Du«, sagte sie. »Du hast alles über diese Kameras gewusst. Du hast es wahrscheinlich schon bei der ersten, die Kim installiert hat, herausgefunden.«
Ada lächelte.
»Du hast es zugelassen.«
»Oh, nein«, sagte Ada. »Ich habe ihr geholfen. Das Mädchen hat mir versprochen, die Videoaufnahmen dafür zu verwenden, mir Amelie und Oliver vom Hals zu schaffen, deshalb habe ich ihr Zugang verschafft. Ich habe ihr geholfen, die Kameras aufzustellen. Aber sie hat gelogen. Sie ist eine Betrügerin. Eine Diebin.« Adas Bild verzerrte sich, für einen kurzen Moment flackerte ein Monster vor ihnen auf, dann erschien sie wieder in ihrer viktorianischen Verkleidung. »Sie wollte mich um meine Rache bringen und Morganville samt und sonders vernichten. Das werde ich nicht dulden. Anders als Morley und sein Gesindel kann ich nicht einfach von hier weggehen. Ich bin Morganville. Ich muss überleben.«
»Du bist nicht Morganville«, sagte Claire. Kim, die über Shanes Schulter hing, hatte Ada entdeckt und schlug schreiend um sich. Shane konnte sie gerade so noch festhalten. »Du bist nur ein wissenschaftliches Projekt. Und obendrein noch eins, das nicht richtig funktioniert.«
»Ich bin die Kraft, die diese Lüge von einer Stadt zusammenhält«, sagte Ada und glitt näher. So nah, dass Claire die eisige Kälte spürte, die durch ihre Bildprojektion entstand. »Ich bin sozusagen die Göttin von Morganville.«
»Kleiner Tipp«, sagte Eve. »Es wird Zeit, mal die Religion zu wechseln.«
Adas Bild verzerrte sich erneut und sie streckte die Hand aus. Claire unterdrückte den natürlichen Impuls zurückzuweichen. Sie ist nicht echt. Sie ist nur ein Geist...
Adas Finger berührten ihr Gesicht. Nicht wirklich, aber fast.
Claire machte einen Satz nach hinten. »Raus hier!«, brüllte sie. »Alle raus!«
Ada lächelte. »Wir sehen uns bald wieder.«
***
Sie schafften es nach draußen, in die ersten Strahlen des Sonnenaufgangs, ohne dass sich noch jemand auf sie stürzte.
Claire hielt einen vorbeifahrenden Streifenwagen an und brachte die Polizisten dazu, Kim mitzunehmen, die sich so heftig wehrte und brüllte, dass sie eine Elektroschockwaffe einsetzen mussten. Eve zuckte zusammen, auch Shane erschrak.
Claire blieb ruhig. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen deswegen, aber sie konnte einfach kein Mitleid für Kim aufbringen. Karma, dachte sie. Sie werden sie letztendlich in eine Gummizelle sperren und vielleicht würde sich Kim wieder so weit erholen, dass sie wie ein normaler Mensch funktionieren würde. Vielleicht sogar ein besserer. Claire würde ihr das nicht einmal missgönnen, solange sie nur nie, nie wieder mit ihr sprechen musste.
Niemals.
Gegen zehn Uhr morgens waren sie wieder im Glass House, wo Michael auf sie wartete. »Wo wart ihr?«, fragte er, als sie Tür hereinkamen. Claire antwortete nicht; er konzentrierte sich ohnehin nur auf Eve. »Ich habe angerufen und es war sofort die Mailbox dran.«
»Ich hab das Handy ausgeschaltet«, erklärte Eve. »Wir mussten uns sozusagen anschleichen.«
»Seit wann schaltest du dein Handy aus?« Michael legte den Arm um sie und Eve lehnte sich entspannt an ihn. Einen Moment lang sah es so aus, als wäre alles wieder beim Alten.
Dann befreite sich Eve und ging mit gesenktem Kopf den Flur entlang.
Michael sah schrecklich aus. »Was soll ich nur tun...?«
Shane klopfte ihm beim Vorbeigehen auf die Schulter. »Gib ihr den Raum, den sie braucht«, sagte er. »Wir hatten ein paar harte Tage. Wo ist Myrnin?«
»Er ist nicht zu unserer Verabredung aufgetaucht«, sagte Michael. »Aber um ihn habe ich mir keine Sorgen gemacht. Eher um euch.«
»Ja, was das angeht - wir mussten auf einen Deal mit Morley eingehen. Du weißt schon, mit diesem Friedhofstypen?«
»Was für einen Deal?«
»Die Art von Deal, zu dem wir nicht zur Kasse gebeten werden wollen«, sagte Shane. »Frag Claire.«
Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. »Frag Shane«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig für heute.«
»Was?« Shane packte sie am Handgelenk und brachte sie zum Stehenbleiben. Sein Gesicht war angespannt und blass. »Das kann nicht dein Ernst sein. Nicht fertig womit? Wir haben die Videos, die Kameras, Kim. Was noch?«
»Myrnin«, sagte sie. »Er ist nicht zur Verabredung gekommen.«
»Und? Der Kerl ist durchgeknallt, für den Fall, dass du das noch nicht gemerkt hast. Wahrscheinlich ist er Schmetterlinge jagen gegangen oder so etwas.«
»Er wäre da gewesen. Ihm ist etwas zugestoßen.« Claire wusste es schon die ganze Zeit, sie hatte es tief in ihrem Inneren gewusst.
»Ada hat etwas getan. Sie hat uns zu Morley geschickt, weil sie glaubte, er würde uns umbringen. Sie ist auch hinter Myrnin her. Ich muss ihn finden.«
»Nicht allein.«
»Nein«, stimmte Michael zu.
»Dito«, sagte Eve und schnappte sich eine neue Waffentasche aus dem Schrank, die sie sich über die Schulter hängte. »Definitiv nicht allein.«
Claire sah sie alle der Reihe nach an, zuletzt Shane. »Seid ihr sicher? Das wird nämlich gefährlich.«
»Du bist hinter Ada her, oder?« Eve steckte sich Pfähle in die Tasche, dann warf sie Shane Pfeil und Bogen zu. Er fing sie auf.
»Du wirst Unterstützung brauchen. Vor allem, wenn sie Myrnin hat. Außerdem - wenn wir einfach hier herumsitzen und warten, dann kann sie uns jederzeit erwischen.«
»Wir sollten das Auto nehmen«, sagte Claire und ging zum Schrank, um sich auch einen Waffenvorrat zu holen. »Es ist jetzt nicht mehr sicher, durch die Portale zu gehen...«
In dem Moment tat sich ein schwarzes Loch neben ihr an der Wand auf und Claire spürte die Kraft, die das Haus wie ein Sturm durchwehte.
Das Portal flackerte, als sich das Haus dagegen wehrte und versuchte, den Riss zu heilen, aber was immer den Eingang hineingerissen hatte - es hielt stand. Ada.
Claire blieb keine Zeit zu fliehen.
Adas bläulich weiße Hand kam aus der Dunkelheit, packte Claire am T-Shirt und zog sie in das Portal.
Es schnappte vor den erschrockenen und zornigen Gesichtern ihrer Freunde zu.
Sie hörte nur noch, wie Shane ihren Namen brüllte.
***
Ada konnte also wirklich Dinge anfassen. Claire wünschte, sie hätte diesen Gedanken ernster genommen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf kaltem, feuchtem Stein und spürte, wie kleine klamme Füße über ihren Arm huschten – wahrscheinlich Ratten. Sie hoffte, dass es keine Kakerlaken waren.
Es war dunkel - vollkommene, samtige Dunkelheit hatte sich auf sie gesenkt wie ein erstickendes Tuch. Als sie sich bewegte, hörte sie in der Ferne das Scharren von Schuhen.
Eine Höhle. Wahrscheinlich nicht Adas Höhle, weil Claire das typische Zischen und Klirren von Adas Zahnrädern und Rohren nicht hören konnte. Es muss nicht unbedingt ihre Höhle sein, rief Claire sich ins Gedächtnis. Ada konnte jedes beliebige Portal innerhalb Morganvilles - oder darunter - öffnen. Der stümperhaften, rohen Art nach zu urteilen, mit der sie es im Glass House getan hatte, konnte sie es aber offensichtlich nicht lange aufrechterhalten.
Ihre Selbstbeherrschung ließ nach, obwohl ihre schiere Macht immer stärker wurde.
»Ada«, sagte eine Stimme aus der Ferne - sie war schwach und leise. »Ada, du musst mich gehen lassen. Ich befehle dir, mich gehen zu lassen.«
»Nein.« Adas Stimme kam von überall und nirgends; dieses Mal aber nicht aus Claires Handy. Claire klopfte auf ihre Taschen, aber sie hatte nichts dabei - keine Waffen, kein Handy. Ada hatte ihr alles abgenommen. »Du gehst nirgendwohin. Ich habe all die Jahre gewartet, weißt du? So viele Jahre habe ich darauf gewartet, dass du mich liebst.«
»Ada bitte.« Myrnin klang sehr schwach; Claire konnte kaum glauben, dass es wirklich er war. »Ich liebe dich doch. Ich habe dich immer geliebt. Bitte hör auf damit. Du weißt nicht, was du da tust Es geht dir nicht gut. Lass mich dir helfen...«
Er verstummte mit einem erstickten Keuchen. Sie hatte ihm wehgetan - und es brauchte eine ganze Menge, um Myrnin wehzutun.
Claire rappelte sich langsam auf, legte die Hände an die nächste Steinwand und begann, in der Dunkelheit herumzutasten.
»Wohin soll es denn gehen?«, fragte Adas Stimme direkt hinter ihr, als würde sich der Computer über Claires Schulter beugen. Claire schrie auf und schlug wild mit der Hand um sich, aber da war nichts. »Ich habe dich hierhergebracht, damit ich dich ein für alle Mal loswerden kann. Und gleichzeitig kannst du dazu beitragen, dass es Myrnin besser geht. Ist das nicht clever von mir?«
Ihre Stimme löste sich in seltsame Klänge auf - eigentlich war es keine richtige Stimme mehr, sondern es waren bloße Geräusche. »Wie kannst du sprechen?«, fragte Claire. »Du verwendest gar nicht mein Handy.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein«, sagte Claire. Sie klang viel weniger ängstlich, als ihr eigentlich zumute war, was wahrscheinlich ganz gut war. »Ich hin nur neugierig.«
»Du wärst wohl noch auf deine eigene Autopsie neugierig«, sagte Ada und brach in ein verzerrtes Gelächter aus, wild und völlig außer Kontrolle. »Das würde ich ja zu gerne sehen.«
»Wo ist Myrnin?«
»Wag es nicht zu versuchen, ihn mir wegzunehmen!«, kreischte Ada. Das Echo erfüllte die Höhle, wurde zurückgeworfen und vervielfältigt, bis Claire sich die Ohren zuhalten musste. Sie konnte die Schallwellen auf ihrer Haut spüren, wie von den Lautsprechern auf einer Technoparty. »Er gehört mir. Er hat schon immer mir gehört. Ich werde ihn niemals aufgeben. Niemals!«
»Ich versuche nicht, ihn dir wegzunehmen!«, schrie Claire. »Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht!«
Der Ton brach ab, einfach so. Sogar das Echo. Claire ließ langsam ihre Hände sinken und berührte wieder die Wand. Sie hatte Angst, sich zu bewegen, ohne sie unter ihren Fingern zu spüren, weil absolut nichts zu sehen war. Nicht mit menschlichen Augen jedenfalls.
»Claire?« Das war wieder Myrnins Stimme, sie kam von rechts vor ihr. Er klang schwach und besorgt. »Du musst hier raus. Bitte geh.«
»Das ist irgendwie keine Option«, antwortete sie. »Es sei denn, Ada will ein Portal für mich öffnen...?«
Ada lachte leise.
»Sieht nicht so aus.« Claire machte ein paar Schritte vorwärts, aber das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr wusste, aus welcher Richtung Myrnins Stimme gekommen war. »Myrnin, ich kann nichts sehen. Ich versuche jetzt, zu Ihnen zu kommen, aber Sie müssen weiterreden, okay?«
»Komm nicht«, sagte er. »Versuch nicht, zu mir zu gelangen, Claire, ich bitte dich, bleib, wo du bist. Verschwinde von hier, wenn du kannst. Komm nicht in meine Nähe!«
Sie ignorierte ihn, hauptsächlich aus dem Grund, dass die Vorstellung, allein im Dunkeln zu sitzen und zuzuhören, wie Ada ihm Grausamkeiten zufügte, schlimmer war als alles, was er selbst ihr antun konnte. »Reden Sie weiter«, sagte sie. Sie hörte, wie er tief Luft holte und dann wieder ausatmete. Aber er sagte kein Wort. Wahrscheinlich dachte er, sie würde aufgeben, wenn er sie nicht ermutigte.
Er hätte es besser wissen müssen.
»Stopp!«, erklang plötzlich Myrnins Stimme scharf und eindringlich aus der Finsternis. Claire hielt inne, den rechten Fuß zum Schritt erhoben. »Zurück. Langsam. Zwei Schritte. Tu es, Claire!«
Sie hörte auf ihn, setzte vorsichtig einen Fuß hinter den anderen und blieb dann stehen. »Was ist los?«
»Der Boden ist nicht stabil. Wenn du es auf diesem Weg versuchst, wird er unter deinem Gewicht einbrechen. Du musst bleiben, wo du bist!«
»So besorgt um das neue Mädchen«, sagte Adas Stimme, die die Felswände zum Vibrieren brachte. »Um mich warst du nie so besorgt, nicht wahr? Auch wenn du immer wusstest, wie sehr ich dich liebte. Wie gern ich bei dir sein wollte. Ich ließ dich mein Blut trinken, Myrnin. Du durftest dir alles von mir nehmen. Und dann hast du mir das angetan.«
»Oh, hör auf herumzujammern«, zischte Myrnin. »Du warst mehr als dankbar, in einen Vampir verwandelt worden zu sein, und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass du ein liebeskrankes Schulmädchen warst. Du wolltest tausend Leben zur Verfügung haben, um die Welt zu erkunden, um zu forschen und zu lernen. Das habe ich dir gegeben, Ada.«
»Du hättest auf mich aufpassen sollen.«
»Wer sagt das?«
»Ich!« Das Echo baute sich wieder auf und hallte schrill von den Wänden wider; Claire kauerte sich dort, wo sie war, auf den Boden und hielt sich fest die Ohren zu. Dieses Mal ebbte das Echo stufenweise ab. Als es still war, rappelte sich Claire wieder auf und bewegte sich vorsichtig auf einem kleinen Umweg weiter in ihre ursprüngliche Richtung. Dabei prüfte sie bei jedem Schritt den Boden, bevor sie ihr volles Gewicht auf den Stein verlagerte.
Er fühlte sich fest an.
»Claire, bitte bleib stehen«, sagte Myrnin mit brüchiger Stimme.»Du kannst nichts sehen. Du hast keine Ahnung, wie gefährlich das ist.«
»Beschreiben Sie es mir. Helfen Sie mir! Wenn Sie das nicht tun, gehe ich einfach weiter.«
»Das ist genau das, was sie erreichen will. Sie will, dass du versuchst, zu mir zu kommen...« Myrnin stieß einen leisen Schmerzensschrei aus und verstummte.
»Myrnin?« Claire vergaß alle Vorsicht und machte einen Schritt nach vorne. Zu schnell. Sie spürte, wie der Stein unter ihr bröckelte, abbrach und ins Bodenlose fiel. Claire verlor das Gleichgewicht und taumelte am Rand eines Loches, das offensichtlich zum Mittelpunkt der Erde führte. Sie hörte die fallenden Felsbrocken nicht unten aufschlagen.
Claire schaffte es, langsam ihr Gewicht wieder auf den hinteren Fuß zu verlagern, und gelangte wieder auf festen Boden. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es wehtat, und sie konnte ein panisches Keuchen nicht unterdrücken.
»Myrnin, Sie müssen mir helfen«, sagte sie. »Sagen Sie mir, in welche Richtung ich gehen muss. Wir kriegen das hin.«
»Selbst wenn du mich erreichst, ist keinem von uns geholfen«, sagte er. »Sie hat mich. Es ist sinnlos, wenn du ebenfalls umkommst.«
»Sagen Sie mir einfach, wie ich zu Ihnen komme.«
Nach ein paar Minuten des Schweigens begann Myrnin zu erklären: »Zwei Schritte nach rechts, dann einen nach vorne.« Während sie sich vorsichtig vortastete, sagte er: »Claire, sie hat recht. Ich habe sie ausgenutzt. Sie hat mich tatsächlich geliebt. Das habe ich ausgenutzt, um von ihr zu bekommen, was ich wollte.«
»Sie meinen als Mann?« Claire zählte sorgfältig die Schritte und blieb dann stehen. »Weiter.«
»Ein Schritt nach vorne und dann einen diagonal nach links. Was ich getan habe, war um einiges schlimmer, als du denkst. Ich habe eine Vampirin aus ihr gemacht, um eine verlässliche Assistentin zu haben, eine, die mich liebte und mich nie verraten würde. Ich habe eine Sklavin aus ihr gemacht.«
»Weiter. Eines kann ich Ihnen über Ada sagen: Sie war nie eine Sklavin, weder Ihre noch die von jemand anderem. Und Sie haben sie wirklich geliebt, sonst hätten Sie nicht all die Jahre ihr Medaillon aufbewahrt.«
»Noch ein Schritt scharf links, dann sechs nach vorne. Und sei nicht albern. Ich bewahre auch Kaugummipapierchen auf. Das bedeutet doch nicht, dass ich den Kaugummi liebe, der mal darin war.«
Sie zählte. Er sagte nichts mehr. Als sie seine Anweisungen befolgt hatte, forderte sie: »Weiter. Ich täusche mich nicht in Bezug auf Ada. Sie haben sie geliebt.«
»Einen Schritt geradeaus.«
»Sie wollen mir nicht sagen, dass ich mich irre?«
»Wozu würde das nützen? Drei Schritte nach rechts.«
»Ich will, dass wir reden, damit ich nicht vor Angst den Verstand verliere«, sagte sie. »Was werden Sie ihretwegen unternehmen?«
»Nichts. Es gibt nichts, was wir tun können.«
»Ich bin da. Weiter? Und: Es muss etwas geben. Wie wäre es mit...« Sie wollte gerade Reset-Code sagen. Das musste er gewusst haben, denn er stieß ein scharfes Zischen aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie schluckte die Worte hinunter.
»Konzentrier dich«, befahl Myrnin. »Drei kleine Schritte nach vorne. Pass auf, dass du nicht über das Ziel hinausschießt.« Als sie die drei Schritte gemacht hatte, fand sie heraus, warum er sie gewarnt hatte: Ihre Zehen hingen über etwas, das sich wie ein weiterer Krater anfühlte.
Myrnins Stimme war jetzt nah, sehr nah. »Weiter«, sagte sie. »Jetzt kommt der schwierige Teil«, sagte er. »Du musst springen.«
»Springen?« Sie war nicht sicher, ob sie noch klar denken konnte. »Ich kann nicht springen, ich kann nichts sehen!«
»Du wolltest zu mir kommen und dieser Teil gehört nun einmal dazu. Wenn du bleiben willst, wo du bist...«
»Nein. Fahren Sie fort.«
»Zwei Schritte nach links, dann weit nach vorne springen, ich fange dich auf.«
»Myrnin...«
»Ich werde dich auffangen«, flüsterte er in die Dunkelheit.
»Spring!«
Sie nahm zwei Schritte Anlauf, und bevor sie sich selbst erlaubte, darüber nachzudenken, was sie da tat, stieß sie sich mit den Fußballen ab und sprang.
Sie prallte gegen Myrnins festen Körper, seine kalten Arme schlangen sich um sie und ein paar Atemzüge lang hielt er sie fest und sie erschauerte. Er roch nach Metall. Nach etwas Kaltem.
Er ließ sie nicht los.
»Myrnin?«
»Es tut mir leid«, sagte er.
Und dann biss er sie.