6
»Mom?« Claire sah auf die Uhr, biss sich auf die Lippen und machte sich auf das Schlimmste gefasst. »Hey. Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Wir sind gerade aus dem Konzert gekommen - ihr wisst, dass Michael Glass heute Abend gespielt hat, oder? Ich bin jetzt im Glass House und übernachte heute hier. Wir sehen uns morgen, okay? Ich liebe euch. Bis dann.«
Sie legte auf und stieß einen langen Seufzer aus, während sie sich an Shanes Brust lehnte. »Zum Glück gibt es Anrufbeantworter«, sagte sie. »Das hätte ich nicht hingekriegt, wenn sie rangegangen wäre.«
Er küsste sie sanft auf den Hals. »Mir ist egal, was deine Eltern sagen, ich lasse dich nicht aus den Augen. Zumindest heute Nacht.«
Sie waren zu Hause, sicher im warmen Glass House. Michael war nach oben gegangen, um sich umzuziehen, doch Eve schlich nach wie vor in ihren Partyklamotten herum. Und Kim war - leider - auch noch da.
Aber irgendwie hatte Claire den Eindruck, als wären sie beide allein.
Shane schlang seine Arme um sie und sie entspannte sich. Ihre Angst löste sich allmählich auf. Ihre kleine Hand lag auf seinem Unterarm und sie fühlte sich so sicher, als sie spürte, wie sich seine Muskeln unter der samtigen Haut bewegten.
Auch wenn sie niemals wirklich sicher sein würde.
»Ich muss mich bei Michael bedanken«, sagte sie und hörte auf sich zu räuspern. Das machte es auch nicht besser. »Er hätte mir nicht zu folgen brauchen.«
»Ich hätte ihn fertiggemacht, wenn er es nicht getan hätte«, sagte Shane mit einer Wildheit, die sie zusammenzucken ließ. »Er wollte mich nicht mitkommen lassen.«
»Du hättest dich bei dem Zusammenstoß verletzt.«
»Um dich hat er sich dabei doch auch keine Sorgen gemacht.«
»Doch, hat er. Ich war kurz davor, das Abendessen zu werden.«
Shane seufzte und ließ die Stirn auf ihre Schulter fallen. »Und er hätte recht gehabt.«
»Er hat mir das Leben gerettet.«
»Schon kapiert. Könnten wir mal kurz aufhören, über Michael zu sprechen?« Er klang richtig gequält.
»Du bist doch jetzt wohl nicht eifersüchtig, oder?«
Shane hielt zwei Finger hoch und zeigte mit ihnen einen winzigen Zwischenraum an. »Vielleicht so viel. Aber nur weil er dieses Rockstar-Ding am Laufen hat. Ihr Mädels steht auf so was.«
»Halt die Klappe!«
»Im Ernst, ihr werft Slips und so. Zumindest habe ich das gehört.«
Sie drehte sich in seinen Armen um und schaute ihn an, starrte in sein Gesicht. Stumm. Er wurde zu ihr hinuntergezogen wie von der Erdanziehungskraft, seine Lippen auf ihren, zuerst träge, dann heißer, der Atem schneller. Ihr Gehirn explodierte in tausend Gedanken und Erinnerungen... die weiche Haut in seinem Nacken, die Art und Weise, wie er ihren Namen sagte in diesem süßen, beruhigenden Flüstern, seine schiere Hitze auf ihr.
»Hey.« Eves Stimme, die leicht amüsiert klang, ließ Claire aufschrecken. »Ich weiß, wahnsinnig verliebt und so weiter, aber könntet ihr euch im Wohnzimmer bitte zurückhalten? Ich möchte euren Eltern wirklich sagen können, dass ich nie etwas gesehen habe, wenn sie mit der Inquisition zum Abendessen anrücken.«
Shane küsste Claire noch einmal ganz leicht und strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. »Fortsetzung folgt«, sagte er.
»Ich hasse es, wenn an der spannendsten Stelle unterbrochen wird.«
»Bedank dich bei Eve.«
Claire rückte ein Stück von ihm weg und die Welt um sie herum erwachte wieder zum Leben - seltsam, wie das alles zu verschwinden schien, wenn sie mit ihm zusammen war. Eve saß auf dem Sofa und zappte sich durch die Fernsehkanäle. Kim saß im Schneidersitz auf dem Boden und las die Rückseiten von Videospielhüllen. »Hey«, sagte Kim. »Wer spielt das Zombie-Spiel?«
»Igitt«, sagte Eve. »Ich nicht.«
»Ich, ab und zu«, gab Claire zu.
»Also ein Nein. Gibt es auch ein Vielleicht? Kommt schon, irgendwer muss doch hier der große Zocker sein?«
Schließlich hob Shane die Hand. Kim lächelte.
»Dann mal los, Collins«, sagte sie. »Sehen wir mal, was du drauf hast.«
Claires Lippen prickelten noch von den Küssen und ihr ganzer Körper bebte vor Vorfreude, aber als sie das Funkeln in Kims Augen sah, verspannte sich alles in ihr. Sie merkte, dass Shane zögerte, aber sie wusste auch, dass Shane sich normalerweise keine Herausforderung entgehen ließ.
Außer, dass er es dieses Mal doch tat. »Kann nicht«, sagte er. »Ich muss nach Michael sehen.«
»Hab ich schon gemacht«, sagte Eve, »und das wüsstest du auch, wenn ihr beiden nicht auf Wolke sieben geschwebt wärt. Und es geht ihm gut. Er telefoniert mit Amelie. Ich würde da jetzt nicht hingehen.«
»Oh.« Shanes Ausrede hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst und Claire wusste, dass er Kim keine direkte Abfuhr erteilen würde. Er ging zum Sofa. Eve rückte beiseite und gab ihm einen Controller. Kim schnappte sich den anderen vom Beistelltisch.
»Sichern und laden, nehme ich an.«
Claire ging nach oben. Das Badezimmer war frei und sie nahm eine Dusche. Danach machte sie alles sauber, bemitleidete sich wegen des Zustands ihres Gesichts und ihrer blauen Flecken, die sich schon an ihrem Hals abzuzeichnen begannen, und ging in ihr Zimmer. Dort zog sie eine Jeans und ein Oberteil an. Ein hübsches Oberteil. Und sie sorgte dafür, dass das Kreuz, das Shane ihr einmal geschenkt hatte, gut zur Geltung kam. Außerdem legte sie ein wenig Lipgloss auf. Nur ein wenig.
Als sie ihre Zimmertür aufmachte, konnte sie von unten die Rufe und das Kampfgeschrei hören; Kim und Shane waren in das Spiel vertieft, wodurch sie sich nicht weniger ausgeschlossen fühlte. »Komm schon, schluck es«, versuchte sie, sich mit einem rauen, heiseren Flüstern einzureden, setzte ein Lächeln auf und ging den Flur entlang.
Da öffnete sich die Geheimtür gegenüber Eves Zimmer mit einem leisen Klicken und im dämmrigen Lichtschein sah Claire das Flackern des Schwarz-Weiß-Bildes einer Frau in bauschigen viktorianischen Röcken. Es sah aus wie ein Geist. Überall sonst wäre Claire schreiend davongelaufen und zu den einheimischen Geisterjägern gerannt.
Doch sie befand sich in Morganville und Claire kannte Ada nur zu gut. »Was?«, fragte sie. Ada - oder zumindest Adas Projektion – legte den Finger an die Lippen. Sie drehte sich um und sah dabei aus wie etwas, das aus einem Karton ausgeschnitten war: Alles reduzierte sich auf eine Mittellinie, die sich dann wieder nach beiden Seiten hin zu einer Rückansicht ausbreitete. Dann glitt sie die Treppe hinauf, ohne das Holz zu berühren.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, seufzte Claire. »Großartig. Einfach großartig.«
Sie folgte Ada und die Tür fiel hinter ihr mit einem gedämpften Klicken zu. Am oberen Treppenabsatz erstrahlten die Tiffany-Lampen in einem Kaleidoskop aus Farben und Claire sah Adas Abbild - das Gesicht wieder nach vorne gerichtet. Sie stand in der Nähe des alten roten Samtsofas an der Wand. »Okay, ich bin hier«, sagte sie. »Was willst du?«
Doch Ada legte wieder nur den Finger an die Lippen, was mehr als nervig war. Ada war ein Computer - ein intelligenter und wohl auch menschlicher Computer, aber trotzdem... Sie benahm sich sehr geheimnisvoll und clever und Claire gefiel dieses recht grausame Lächeln auf diesen glatten dunkelgrauen Lippen ganz und gar nicht.
Ada berührte die Wand, woraufhin diese anfing zu schimmern. Eines der Portale, die Ada in der ganzen Stadt kontrollierte, zeichnete sich dunkel darauf ab... eine Art magischer Tunnel, auch wenn Claire es hasste, wenn man das als Magie bezeichnete. Es war Physik, sonst nichts. Beängstigend fortgeschrittene Physik. Es bedeutete aber auch, dass das der ultimativ schnellste Weg war, aber auch ein gefährlicher. Claire blickte finster auf die Öffnung und versuchte zu erahnen, welcher Ort sich am anderen Ende befinden könnte. Nichts. Und es sah viel zu dunkel aus, um sicher zu sein.
»Nein«, sagte sie. »Wohl kaum. Tut mir leid.«
Sie entschuldigte sich bei einer verrückten Computerdame, die sie kaum kannte. Ada war nicht ihre Freundin. Ada mochte sie nicht einmal besonders, auch wenn ihr Ada - auf Myrnins Geheiß hin - irgendwie gehorchen musste.
Adas Lächeln verschwand. Sie zuckte die Achseln, drehte sich um und glitt durch das Portal.
Sie verschwand in der Dunkelheit. Nach ein paar Sekunden ragte eine schlanke graue Hand aus den Schatten und machte eine ungeduldige Komm-mit-Geste.
»Nein«, sagte Claire wieder und setzte sich dabei auf die Couch. »Keine Chance. Ich habe heute schon genug erlebt, du musst deine komische kleine Krise selbst lösen, Ada.«
Ihr Handy klingelte und das Geräusch, das in dem verborgenen Zimmer widerhallte, ließ Claire zusammenfahren. Sie zog das Handy aus der Tasche. Auf dem Display stand Anruf von Shane. Sie klappte es auf.
»Shane?«
Rauschen, dann Adas seltsame, flache Maschinenstimme. »Myrnin braucht dich. Sofort. Los, komm!« Sie klang zornig und kalt, aber so klang sie eigentlich immer, wenn sie nicht gerade Myrnin ansäuselte. Claire klappte das Handy zu, blies sich das Haar aus der Stirn und starrte in die Dunkelheit. Es könnte tatsächlich Myrnins Labor sein. Sie konnte es einfach nicht sagen. Myrnin hatte die vampirische Angewohnheit zu vergessen, das Licht einzuschalten, und das nervte.
»Ich muss mir wirklich angewöhnen, eine Taschenlampe dabeizuhaben«, murmelte sie. Dann hatte sie eine Idee. In der Ecke neben dem Sofa stand eine Tiffany-Stehlampe; Claire nahm den schweren Lampenschirm aus Glas ab, legte ihn beiseite und rollte die Basis so weit, wie es das Kabel erlaubte. Dann senkte sie die Lampe über die Schwelle in die Dunkelheit auf die andere Seite des Portals.
Sie sah Ada kalt und ausdruckslos und mit verschränkten Fingern dort stehen - umringt von mindestens zehn albinoblassen Vampiren, die aufschrien und vor dem Lichtstrahl zurückzuckten. Sie hatten übergroße Vampirzähne und scharfe Krallen – und sie waren nicht wie die normalen Vamps... Das hier waren Tunnelratten, die finstere Orte heimsuchten, sich vom Licht fernhielten und nur zum Töten existierten. Fehlschläge, wie Myrnin sie einmal genannt hatte.
Ada hatte gewollt, dass Claire ihnen direkt in die Arme lief.
Claire schrie erschrocken auf und schlug in Gedanken das Portal zu, dann legte sie die Hand auf die leere Wand des Zimmers, die wieder an Materie gewonnen hatte und real geworden war. Vielleicht gab es eine Methode, es zu verschließen, Claire suchte nach der richtigen Frequenz, um die Sicherheitsvorkehrungen auszulösen. Sie funktionierten ähnlich wie eine Verriegelung und würden Ada und jeden, der sonst noch hindurchkommen wollte, abhalten.
Zumindest hoffte sie das.
Durch das Schließen des Portals war die Stehlampe in zwei Hälften gehackt worden. Sie ließ den Teil mit der Basis, der knisterte und Funken sprühte, fallen und trat den Stecker aus der Steckdose. Claire stand da und starrte einen langen Moment lang mit geballten Fäusten auf die Wand und die zerstörte Lampe, dann holte sie das Handy heraus und rief in Myrnins Labor an.
»Wie nett von dir, dass du nach mir schaust«, sagte er. »Zufälligerweise geht es mir gut.«
»Wir haben ein Problem.«
»Tatsächlich? Nicht dass der Pfahl in meiner Brust darauf hingewiesen hätte. Ich muss Oliver noch die Rechnung für ein neues Hemd schicken.«
»Ada hat gerade versucht, mich umzubringen.«
Myrnin schwieg einen Moment. Claire konnte ihn förmlich vor sich sehen, wie er sich über das altmodische verkabelte Telefon beugte, das aussah, als würde es aus einem viktorianischen Trödelladen stammen. »Verstehe«, sagte er in einem völlig veränderten Tonfall. »Bist du sicher?«
»Sie sagte mir, dass Sie mich sehen müssten, und öffnete ein Portal zu einem Nest hungriger Vampire. Also, ja, ich bin mir ziemlich sicher.«
»Oje. Ich werde mit ihr reden. Ich bin mir sicher, das war ein Missverständnis.«
»Myrnin...« Claire kniff die Augen zu, zählte bis fünf und versuchte es noch einmal. »Sie hört nicht mehr auf Sie. Kapieren Sie das nicht? Sie macht ihr eigenes Ding und ihr eigenes Ding bedeutet, dass sie die Konkurrenz loswerden will.«
»Welche Konkurrenz?«
»Na, die um Sie«, sagte Claire. »Nicht dass ich eine Konkurrenz wäre. Aber sie glaubt das. Weil Sie mich nicht umgebracht haben.«
Sie stammelte ein wenig, weil ihr ein wenig übel und schwindlig wurde, als sie es aussprach. Sie war nicht verliebt in Myrnin, aber sie mochte ihn - ein bisschen. Er war verrückt, er war gefährlich, er war ein Vampir. Und doch war er in seinen besseren Momenten nichts davon.
»Claire.« Er klang ein wenig verletzt. »Ich finde dich nicht attraktiv, abgesehen von deinem Verstand. Ich hoffe, das weißt du. Ich würde dich nie auf diese Weise ausnutzen.« Er verstummte und dachte einen Moment lang darüber nach. »Außer wenn ich hungrig wäre natürlich. Aber wahrscheinlich eher nicht. Höchstwahrscheinlich nicht.«
»Oh, das ist sehr tröstlich. Der Punkt ist aber, dass Ada denkt, dass Sie mich mögen, und sie möchte mich aus dem Weg haben, weil sie glaubt, dass Sie sich dann mehr für sie interessieren. Richtig?«
»Richtig. Ich werde mit ihr reden.«
»Sie müssen ihren Stecker ziehen, Myrnin.«
»Wegen so etwas?« Pah. Das ist doch nur ein Fehlerchen in ihrer Programmierung. Ich werde mich darum kümmern.« Er hielt inne, dann fügte er hinzu: »Bis dahin würde ich ihr natürlich nirgendwohin folgen, wenn ich du wäre.«
»Nein, echt? Vielen Dank für den Hinweis.«
»Oh, keine Ursache, meine Liebe. Schönen Abend noch. Oh und sag Michael, dass mir sein Konzert gefallen hat.«
»Sie waren dort?«
Sie hörte an Myrnins Stimme, dass er lächelte. »Wir waren alle dort, Claire. Alle Vampire. Uns gefällt euer Unterhaltungsprogramm sehr.«
Das war nun wirklich ein bisschen unheimlich und Claire legte auf, ohne sich zu verabschieden.
***
Unten tobte noch immer das Videospiel; Kim konnte Shane an der Konsole offenbar das Wasser reichen, was Claire zwar nicht überraschte, aber irgendwie ziemlich deprimierte. Shane merkte nicht einmal, dass sie wieder da war; er zappelte auf der Couch herum und legte viel Körpersprache in seine Schüsse, während seine Spielfigur Zombieangriffen auswich und sich den Weg aus den Schwierigkeiten trat, schlug und schoss.
Kims Figur war ein spärlich bekleidetes, aufreizendes Mädchen mit schwarzem Haar und Pferdeschwanz. Sie kämpfte in hohen Absätzen.
Großartig.
Claire setzte sich auf die Treppe, schlang die Arme um die Knie und beobachtete das Geschehen durch das Geländer hindurch. Eve war nicht mehr da, wahrscheinlich war sie sich umziehen gegangen, weshalb nur noch Shane und Kim im Wohnzimmer waren.
Sie sahen aus, als hätten sie nur Augen für das Drama auf dem Bildschirm.
Claire schien eine Ar sechsten Sinn zu entwickeln, was Michael anging; er machte kein Geräusch, als er die Treppe herunterkam aber sie wusste, dass er kam, und drehte sich zu ihm um. Er hatte sein Rockstar-Outfit gegen Jeans - genau wie sie – und ein verwaschenes, altes graues T-Shirt gewechselt. Er warf einen Blick ins Wohnzimmer, dann kauerte er sich neben sie. »Hey«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
»Wenn du nicht mit uns zusammengestoßen wärst, wäre überhaupt nichts in Ordnung«, sagte Claire. »Vielen Dank.«
Er sah beschämt aus. »Na ja, das war eigentlich nicht der Plan, ich wollte ihn nur dazu zwingen anzuhalten. Ich dachte nicht, dass er tatsächlich mit mir zusammenstoßen würde.«
Sie hätte fast gelacht, weil er dabei so traurig klang. Sie nahm seine kalte Hand und drückte sie. Er drückte auch ihre. »Es war trotzdem ein guter Plan.«
»Abgesehen von dem Teil, in dem ich dich fast umgebracht und Olivers Limousine und mein eigenes Auto geschrottet habe? Ja, das ging echt ab.«
»Kaufen sie dir ein neues? Ich meine, ein Auto?«
»Amelie hat gesagt, sie würden.«
»Ich habe alle Portale zum Haus geschlossen«, sagte Claire. »Ada benimmt sich irgendwie komisch.«
»Ich dachte, das wäre normal.«
»Noch komischer.«
»Ah. Okay.« Michael schaute am Geländer vorbei zu Kim und Shane. »Machst du dir Gedanken wegen Kim?« Claire deutete mit Daumen und Zeigefinger eine winzige Menge an - genau so, wie Shane es zuvor getan hatte. »Na ja, das brauchst du nicht. Kim ist nicht sein Typ.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich sein Typ bin.« Okay, das klang jetzt ziemlich weinerlich. Claire biss sich auf die Lippen. »Sie ist einfach so... präsent.«
»Ja. Das ist sie.« Er stand auf und tapste lautlos die letzten paar Stufen hinunter. Dann schlich er sich von hinten an Kim heran, beugte sich über sie und sagte in einem schweren, aufgesetzten Dracula-Akzent: »Ich wiel trrinken deine Blut.« Sie kreischte, schlug um sich und auf dem Bildschirm fraß ein Zombie ihr Gehirn.
»Du Mistkerl!«, schrie sie, ließ den Controller fallen und schlug Michael hart auf die Brust, »ich kann das einfach nicht glauben! Das ist doch Sabotage!«
»Ich kann nicht zulassen, dass er verliert«, sagte Michael, als Shane den Highscore knackte und die Siegesmusik ertönte. »Ich wohne mit dem Kerl zusammen.«
Sie gaben sich einen Highfive.
»Du betrachtest das doch wohl nicht ernsthaft als Sieg«, sagte Kim. »Er hat total geschummelt.«
»Doch«, sagte Shane, »tu ich. Ernsthaft.« Er schaltete das Spiel ab, legte die Steuerung weg und stand auf, um sich zu strecken und zu gähnen. »Verdammt. Es ist spät. Musst du nicht noch irgendwohin oder so?«
Kim sah einen Moment lang wirklich verletzt aus und Claire fühlte einen kleinen Anflug von... na ja, irgendwas. Mitleid vielleicht. Sie hoffte es nicht.
»Klar«, sagte sie. »Zu Hause wartet Johnny Depp auf mich. Dann mach ich mich jetzt wohl besser vom Acker. Hey, wo ist Eve?«
»Was, gehst du schon?«, fragte Eve in dem Moment vom oberen Treppenabsatz und sprang aufgeregt an Claire vorbei die Stufen hinunter. »Das geht nicht! Kim, wir müssen noch den Text durchgehen!«
»Nein, Shane hat recht. Es ist wirklich spät. Lass uns das auf morgen verschieben, ja? Wir können uns im Common Grounds treffen - wie wäre es mit drei Uhr? So lange musst du ungefähr arbeiten, oder?«
»Ja«, sagte Eve. Sie klang noch immer enttäuscht. »Klar, das ist okay. Hey möchtest du morgen Abend vielleicht ausgehen? Vielleicht ins Kino? Ähm... Claire, willst du vielleicht auch mit?«
Großartig. Jetzt war sie offiziell das fünfte Rad am Wagen. »Nein danke«, sagte sie. »Ich habe schon was vor.«
»Echt? Was denn?«
Claire blickte Shane an, der den Wink sofort verstand. »Abendessen mit mir«, sagte er. »Es ist eine Art Jubiläum.«
»Ooooh, echt? Wie süß!« Eve deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Führ sie aber nicht in diesen Chili-Dog-Laden aus.«
»Nein, in ein echtes Restaurant. Mit Tischdecken. Hey, ich bin doch kein Volltrottel.«
Kim starrte Shane an und in diesem Augenblick merkte Claire, dass das nicht nur gespielt war... Kim mochte Shane wirklich – und zwar sehr.
Sie konnte den Schmerz erkennen.
»Also«, sagte Eve und wandte sich wieder Kim zu. »Kino, okay? Irgendwas Gruseliges?«
Kim riss sich zusammen, bevor Eve dasselbe wie Claire erkennen konnte. »Klar«, sagte sie. »Was auch immer. Du suchst dir etwas aus. Aber keine Mädchenfilme.«
Eve sah sie zutiefst verletzt an. »Ich? Mädchenfilme? Beiß dir sofort die Zunge ab. Nein, im Ernst. Jetzt sofort.«
Kim lachte, und als Eve sie zur Tür begleitete, wandte Claire sich zu Shane und fragte: »Jubiläum?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Das kommt immer darauf an, wie man die Dinge zählt«, sagte er. »Ja. Es ist eine Art Jubiläum. Ein Tag, an dem sich jährt, dass niemand von uns umgebracht wurde.«
»Sprich für dich selbst, Mann«, sagte Michael, nahm einen Controller und startete das Spiel neu. »Ich kann nicht glauben, dass du sie fast hättest gewinnen lassen.«
»Mann, ich lass dich auch ab und zu fast gewinnen«, gab Shane zurück und ließ sich auf seinen Platz am anderen Ende der Couch plumpsen.«Das Spiel beginnt.«