3
Die Fahrt in Michaels Wagen fühlte sich wie ein Albtraum an. Eve hatte jede Menge Decken mitgenommen und Claire erstickte fast darunter. Aber sie fror trotzdem noch und es wurde ihr immer kälter, als würde etwas mit dem Thermostat nicht stimmen. Ihre Haut wurde weiß, ihre Fingernägel und Lippen blau.
Sie sah allmählich richtig... tot aus.
Auch wenn sie versucht hätte zu sehen, wohin sie fuhren - es hätte nichts geholfen; Michaels Auto hatte die Standardausrüstung für Vampire mit ultragetönten Scheiben. Mit menschlichen Augen konnte man Lichter nur als dunklen Schimmer wahrnehmen, wenn man durch sie hindurchblickte, deshalb konzentrierte sich Claire auf den nächsten Atemzug. Und auf den darauf folgenden.
»Hey, Michael?«, hörte sie Eve sagen. »Beeil dich, ja?«
»Ich hab schon die erlaubte Höchstgeschwindigkeit überschritten.«
»Fahr schneller.«
Die Wucht der Beschleunigung drückte Claire in ihren Sitz. Shane hielt sie in den Armen, aber das konnte sie nicht spüren. Sie hatte aufgehört zu zittern, was sich besser anfühlte, aber sie war auch sehr, sehr müde und konnte sich kaum wach halten. Das Zittern war wenigstens etwas gewesen, woran man sich festhalten konnte, doch jetzt gab es nur noch Kälte und Stille. Alles schien sich von ihr zu entfernen und sie zurückzulassen.
»Hey!« Sie spürte etwas, einen heißen Blitz auf ihrer Haut. Sie schlug die Augen auf und sah Shanes Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Er sah ängstlich aus. Seine Hände lagen auf ihren Wangen, als würde er versuchen, Hitze in sie hineinzuzwingen. »Claire! Mach die Augen nicht zu. Bleib bei mir. Okay?«
»Okay«, flüsterte sie. »Müde.«
»Das sehe ich. Aber wag es nicht, mich zu verlassen, hörst du? Denk nicht einmal daran!« Er streichelte ihre Haut und ihr Haar mit Händen, die fast so sehr zitterten, wie sie es zuvor getan hatte. »Claire?«
»Hier.«
»Ich liebe dich.« Er sagte es leise, es war fast ein Flüstern, wie ein Geheimnis zwischen ihnen beiden, und sie fühlte so etwas wie Wärme durch ihre Brust wandern. »Hörst du mich?«
Sie schaffte es zu nicken und glaubte zu lächeln.
Michael brachte das Auto plötzlich und schlitternd zum Stehen. Er war aus dem Wagen gesprungen, noch bevor Claire erfasst hatte, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren. »Hey!«, protestierte Eve und kletterte ebenfalls hinaus. Shane öffnete die hintere Tür und hob Claire heraus - oder vielmehr das Wäschebündel, denn so fühlte sich Claire, eingewickelt in ein halbes Dutzend Decken.
Mondlicht fiel bläulich weiß auf Gras, Bäume und Grabsteine.
Sie waren auf Morganvilles offiziellem Friedhof.
»Verdammt«, keuchte Shane. »Nicht gerade meine Vorstellung von einer Partynacht, wisst ihr? Claire? Bist du noch bei uns?«
»Ja«, sagte sie. Sie fühlte sich fast ein wenig besser, wusste aber nicht, warum. Natürlich fühlte sie sich nicht gut. Aber auch nicht mehr auf der Schwelle zum Tod.
Ein Stückchen vor ihnen sah sie, dass sich Michael und Eve ihren Weg durch einen Irrgarten aus schiefen Grabsteinen, Kreuzen und Marmorstatuen bahnten. Auf einem Hügel stand ein großes weißes Mausoleum, aber sie gingen nicht in diese Richtung, sondern bogen stattdessen rechts ab.
Claire glaubte zu wissen, wohin sie gingen. »Sam«, flüsterte sie. Shane holte scharf Luft, atmete aus und steuerte ebenfalls in diese Richtung.
Es war schon Monate her, seit Sam Glass, Michaels Großvater, gestorben war... im Grunde hatte er sein Leben geopfert, um sie alle zu retten, vor allem aber Amelie. Soweit Claire wusste, war er der einzige Vampir, der auf dem Friedhof begraben wurde; es gab einen richtigen Gottesdienst, echte Trauergäste und er war vielleicht der einzige Vampir, den es jemals in Morganville gegeben hatte, der auf beiden Seiten von allen gemocht und respektiert wurde.
Aber er wurde auch geliebt - von Amelie. Nach Vampirmaßstäben war die Beziehung zwischen Amelie und Sam eine wilde Romanze gewesen; er war in Morganville geboren und war noch nicht einmal hundert Jahre alt gewesen, als er starb, aber nach allem, was Claire gesehen hatte, war es eine intensive Liebesaffäre im alten Stil gewesen - und eine, der sie mehr als ein Mal versucht hatten zu entsagen.
Sie fanden Amelie kniend vor seinem Grab.
Aus der Ferne sah sie aus wie einer der Marmorengel - bleich, weiß gekleidet, bewegungslos. Aber ihr langes blassblondes Haar war offen, es fiel ihr in Wellen um das Gesicht und den Rücken hinunter, der eisige Wind riss daran und ließ es flattern wie eine Flagge.
Sosehr Claire auch fror, Amelie sah aus, als wäre ihr noch viel kälter. In ihrer Miene lag keine Trauer. Da war nichts - einfach ... nichts. Sie schien die vier nicht zu sehen, als sie neben ihr stehen blieben; sie bewegte sich nicht, sprach nicht und reagierte auch sonst auf keine Weise.
»Hey«, sagte Shane. »Hören Sie auf damit, was immer Sie da gerade tun. Sie tun Claire weh.«
»Tue ich das?« Amelie sprach langsam und wie aus weiter Ferne, so als wäre sie meilenweit weg, aber als würde sie durch den Körper vor ihnen sprechen. »Entschuldige.«
Sie rührte sich nicht. Sie sagte auch nichts weiter. Shane und Michael wechselten einen Blick und Michael erhielt eine deutliche Botschaft: Wenn er nichts unternähme, dann würde Shane etwas unternehmen, und das wäre dann alles andere als schön.
Michael streckte die Hand nach Amelie aus, um ihr aufzuhelfen. Sie ging auf ihn los, ganz plötzlich vollkommen lebendig und furchtbar erzürnt. Ihre Augen loderten blutrot in ihrem absolut weißen Gesicht auf ihre Vampirzähne klappten in einem scharfen, tödlichen Winkel nach unten. »Rühr mich nicht an, Junge!«
Er trat zurück und hob kapitulierend die Hände hoch. Amelie blitzte ihn - sie alle - noch ein paar Sekunden lang an, dann starrte sie wieder auf das Grab vor sich. Das Rot verflüchtigte sich und ihre Augen waren jetzt blassgrau und wirkten wieder abwesend.
Amelies Wutausbruch war wie der Sommer durch Claire hindurchgeströmt und hatte für einen Augenblick die Kälte verjagt. Sie wand sich in Shanes Armen und er ließ sie herunter. Claire warf die Decken ab, alle bis auf die letzte, und kauerte sich gegenüber von Amelie auf der anderen Seite des Grabes nieder.
Amelie sah geradewegs durch sie hindurch, selbst als Claire ihr Handgelenk hochhielt und ihr das Armband zeigte. Das Gold überzog sich bereits wieder mit Eis und Claire spürte, wie die heimtückische Kälte wieder zurückkam.
»Sie sind feige«, sagte Claire.
Amelie fasste sie mit einem Mal ins Auge. Keine weitere Reaktion, aber das genügte schon: Claire wünschte sich, den Mund gehalten zu haben und alles zurückzunehmen.
Stattdessen holte sie jedoch tief Luft und machte weiter. »Glauben Sie etwa, Sam wollte, dass Sie hier herumsitzen und wünschten, Sie wären tot? Ich meine, ich verstehe, dass Sie leiden. Aber Sie benehmen sich, als wären Sie noch an der Highschool.«
Amelie machte ein finsteres Gesicht, ganz leicht - nur ein winziges Runzeln der Stirn. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Oh. Der Sonnenbrand. »Um mich geht es jetzt nicht. Was ist mit Ihnen? Es fühlt sich so... kalt an.«
Beim Reden fiel ihr auf, dass etwas mit Amelies Händen nicht stimmte. Sie trug Handschuhe... dunkle Handschuhe. Nein, das stimmte nicht. Man konnte an manchen Stellen weiße Haut durch... das Blut sehen.
Das Blut. Ihre Hände waren von Blut bedeckt. Und an ihren Handgelenken waren Schnitte, tiefe Schnitte. Sie müssten eigentlich heilen, dachte Claire, während sich die Haut auf ihrem ganzen Körper anspannte und sie vor Schock und Panik schauderte. Sie hatte keine Ahnung, weshalb Amelies Wunden offen blieben und weiterbluteten; Vampiren passierte das sonst nicht.
Doch Amelie hatte einen Weg gefunden. Und das bedeutete, dass sie versuchte, sich umzubringen, und zwar wirklich. Das war kein melodramatischer Hilferuf. Sie hatte keine Hilfe erwartet oder gesucht.
Deshalb war sie so zornig.
Claire war zu Tode erschrocken. Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Sie sah zu Michael hinauf, aber er stand ein Stückchen hinter Amelie - er konnte nicht sehen, was sie sah.
Aber Eve sah es. Anders als Claire zögerte sie nicht. Sie ließ sich neben Amelie ins kalte Gras auf die Knie fallen, packte den linken Arm der Vampirin und drehte ihn so, dass das Handgelenk nach oben zeigte. Etwas ragte aus der Wunde heraus und Claire wurde ein wenig blass, als ihr klar wurde, dass Amelie eine Silbermünze in die Wunde gesteckt hatte, um sie am Heilen zu hindern.
Eve zog sie heraus. Amelie erschauerte und in Sekundenschnelle schloss sich der Schnitt von selbst und das Blut hörte auf zu fließen.
»Närrisches Kind!«, zischte sie und stieß Eve zurück, als sie nach dem anderen Arm greifen wollte. »Du weißt nicht, was du tust!«
»Ihr Leben retten? Nein, ich weiß, was Sie beabsichtigen. Jetzt reißen Sie sich zusammen. Wenn Sie mich beißen, dann schwöre ich, dass ich Sie pfählen werde.«
In Amelies Augen wirbelte es rot, doch dann nahmen sie wieder ihre normale, nicht-ganz-menschliche graue Farbe an. »Du hast keinen Pfahl.«
»Wow, Sie nehmen's aber wörtlich. Vielleicht habe ich jetzt im Moment keinen, aber legen Sie es ruhig darauf an. Wenn Sie mich beißen, gilt die Wette, Alte... Ich meine damit nicht, dass sie alt sind, das sagt man nur so. Wissen Sie?«
Eve wollte sie mit ihrem Geplapper nur ablenken. Während sie redete, nahm sie Amelies rechten Arm und zog auch aus diesem Schnitt die Silbermünze.
Das Blut, das von Amelies Hand auf das Grab floss, verlangsamte sich zu einem Tröpfeln und versiegte dann ganz.
Und Claire fühlte, wie auch die Kälte in ihrem Körper nachließ, während Amelies Wunden heilten. Endlich spürte sie wieder Leben in sich - die Hitze in ihrem Körper, das Schlagen ihres Herzens. Sie fragte sich, ob sich Amelie wohl die ganze Zeit so fühlte – mit dieser eisigen, winterlichen Stille in ihrem Inneren.
Wenn es so war, dann verstand sie, warum Amelie jetzt hier war.
Der Nachtwind rüttelte an den Ästen der Bäume und wirbelte Amelies bleiches Haar um ihr Gesicht, sodass ihre Miene verborgen blieb. Claire beobachtete, wie die Wunden am Arm der Vampirin von roten Striemen zu bleichen Linien verblassten und dann ganz verschwanden.
»Was zum Teufel machst du?«, fragte Michael.
Amelie zuckte mit den Schultern. »Das ist ein alter Brauch«, sagte sie. »Den Verlorenen Blut zu opfern. Man braucht einen starken Willen und Geschick, um es richtig zu machen.«
»Und Dummheit sollten Sie nicht vergessen«, sagte Eve. »Die meisten Menschen und erst recht die meisten Vampire würden bei so etwas umkommen.«
Amelie nickte langsam. »Das hätte passieren können.«
Michael, der, seinem Gesicht nach zu urteilen, entsetzter war als jeder andere von ihnen, fand endlich seine Sprache wieder. »Warum?«, fragte er. »Warum wolltest du das tun? Wegen Sam?«
Ein Lächeln oder wenigstens ein Ansatz dazu erschien auf ihren bleichen Lippen. »Dein Großvater wäre sehr böse auf mich, wenn er annehmen würde, dass er der Grund dafür sei. Er würde mich für eine hoffnungslose Romantikerin halten.«
Eve schnaubte. »Es gibt romantisch und dramatisch und dann gibt es noch idiotisch. Raten Sie mal, was davon hier zutreffen würde.«
Amelies Lächeln verschwand und etwas von diesem Funkeln trat wieder in ihre Augen. Sie hob ihr Kinn und starrte Eve von oben herab an. »Und du? Wachst du nicht täglich auf und malst dir dein Clown-Make-up ins Gesicht, weil du weißt, dass du dich dadurch von deinen Zeitgenossen unterscheidest? Wie sagt man in deiner Generation noch so schön? Das sagt genau die Richtige?«
»Bestimmt hätte man das vor ungefähr fünfzehn Generationen so gesagt, aber ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und vielleicht stehe ich ja auf Drama, aber hey, wenigstens bin ich keine Ritzerin.«
»Eine was?«
»Eine Ritzerin.« Eve zeigte auf Amelies blutige Handgelenke. »Sie wissen schon - schlechte Gedichte, Emo-Musik, ich muss mich selbst verletzen, um mich zu spüren, weil die Welt so schrecklich ist?«
»Deshalb habe ich nicht...«Amelie verstummte einen Augenblick lang, dann nickte sie langsam. »Vielleicht. Vielleicht fühle ich mich genau so, ja.«
»Nun, was für ein gottverdammter Jammer«, sagte Eve. In ihrer Stimme lag eine seltsame Kälte, die Claire zum Blinzeln brachte. »Sie wollen am Grab ihres Geliebten dahinsiechen? Bitte schön! Ich bin Goth, ich verstehe das. Aber wagen Sie es nicht, Claire da mithineinzuziehen, sonst werde ich sie auch noch in der Hölle aufspüren und Sie dort pfählen.«
Selbst Shane starrte Eve an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Claire machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es fiel ihr beim besten Willen nichts ein. Das Schweigen zog sich in die Länge. Schließlich wandte sich Amelie Claire zu und sagte: »Das Armband. Es hat dich über meine... Situation alarmiert.«
»Alarmiert? Es hätte sie fast umgebracht«, sagte Shane. »Sie haben sie mit sich gezogen. Aber das wussten Sie, oder?«
Amelie schüttelte den Kopf. »Das wusste ich nicht.« Sie seufzte und sah dabei sehr jung und sehr menschlich aus. Und – wie Claire fand - sehr erschöpft. »Ich hatte vergessen, dass so etwas passieren kann, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, erscheint es mir gut möglich. Ich muss mich bei dir entschuldigen, Claire. Geht es dir jetzt besser?«
Claire fror immer noch, aber sie nahm an, dass das eher an dem eisigen Wind und an dem kalten Boden lag als an Magie. Sie nickte und versuchte zu verbergen, dass sie fröstelte. »Mir geht es gut. Aber Sie haben eine Menge Blut verloren.«
Amelie zuckte die Achseln, nur eine kleine Bewegung der Schultern, als wäre das gleichgültig. »Ich werde mich wieder erholen.« Sie klang nicht besonders begeistert davon. »Geht jetzt. Ich muss es Samuel gegenüber wiedergutmachen.«
»Sie können ein anderes Mal Ihr Blut über seinem Grab vergießen«, sagte Eve. »Kommen Sie schon, Lady. Stehen Sie auf. Wir bringen Sie nach Hause.«
Sie streckte die Hand aus und wieder ließ sich Amelie berühren. Seltsam, dachte Claire; Michael war der Vampir, aber im Moment vertraute Amelie eher Eve. Michael spürte das auch; sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, aber Besorgnis war deutlich zu erkennen.
»Nicht beißen«, sagte Eve, als sie Amelie auf die Füße half. Die Vampirin warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Hey, alle meine Lehrer sagen, dass Wiederholung der einzige Weg sei zu lernen. Haben Sie einen Wagen oder so was dabei?«
»Nein.«
»Ähm... was ist mit Ihren Leuten? Lauern die irgendwo in den Schatten, vorzugsweise mit einer Limousine?«
Amelie zog eine ihrer weißen Augenbrauen nach oben. »Wenn ich Begleiter mitgebracht hätte, hätten sie mich bestimmt von meinem Vorhaben hier abgehalten.«
»Die dramatische Todesszene? Ja, anzunehmen. Okay, dann nehmen wir Sie eben mit. Zuerst zur Blutbank, oder?«
»Es sei denn, ihr bietet mir eine Blutspende an.«
»Iiih. Nein. Und Claire brauchen Sie gar nicht erst anzuschauen.«
»Mich auch nicht«, warf Shane ein. »Nicht mit mir, Bro.«
»Manchmal frage ich mich, ob eure Generation überhaupt Englisch spricht«, sagte Amelie. »Aber ja, wenn ihr mich zur Blutbank bringen würdet, könnt ihr mich dort sicher zurücklassen Meine Leute«, sie legte gerade so viel Ironie hinein, um sie wissen zu lassen, dass sie es genauso witzig fand, das zu sagen, wie sie, »werden mich dort finden.«
Als sie sich gerade dicht aneinandergedrängt und langsam von Sams Grab entfernten, löste sich hinter dem großen Marmormausoleum auf dem Hügel ein Schatten. Es war ein Vampir, aber keiner von der Art, wie Claire sie von Morganville her kannte; dieser sah aus wie ein Obdachloser, der keinen Zugang zu einer Dusche oder Körperpflegeartikeln hatte.
Außerdem sah er aus, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf.
»Amelie«, sagte der Mann - zumindest glaubte Claire, dass es ein Mann war, aber das war schwierig zu sagen bei diesem Gewirr aus Haaren, das seit dem letzten Jahrhundert nicht mehr gekämmt worden war, und der unförmigen Masse aus schmutzigen Kleidern, über denen er einen schmuddeligen Regenmantel trug. »Bist du gekommen, um deine Bauern zu besuchen und Almosen zu verteilen wie in alten Zeiten?« Er hatte einen schweren Akzent, vielleicht britisch, aber grob, nicht wie Olivers feine Aussprache. »Oh, bitte, Herrin, Almosen für die Armen?« Und dann lachte er. Es war ein trockenes, hohles Geräusch und es wuchs... bis es von allen Seiten aus der Dunkelheit zu ihnen herüberdrang.
Da draußen waren noch mehr von ihnen.
Michael drehte sich um und starrte in die Nacht; vielleicht konnte ja er etwas erkennen - Claire sah nur Schatten und Grabsteine. Und sie hörte dieses Gelächter. Shane legte den Arm um sie.
Amelie schüttelte Eves stützenden Arm ab und trat aus ihrer kleinen Gruppe hervor. »Morley«, sagte sie. »Wie ich sehe, bist du aus deiner Kloake gekrochen.«
»Und du bist aus deinem Elfenbeinturm herabgestiegen, Lady«, sagte er. »Und hier sind wir nun, auf der Müllkippe, auf der die Menschen ihren Abfall wegwerfen. Und du hast etwas zum Mittagessen mitgebracht. Wie lieb von dir.«
Geisterhaftes Gegacker kam aus der Finsternis. Michael drehte sich wieder, er hatte etwas gewittert, das Claire nicht sehen konnte. Seine Augen wurden rot und sie merkte, wie er sich von dem Michael, den sie kannte, in etwas Beängstigendes verwandelte - in den Michael, der ihr unbekannt war. Eve spürte es auch und trat zurück, näher zu Shane. Sie sah ruhig aus, aber ihre Hände waren an ihren Seiten zu Fäusten geballt.
»Tun Sie etwas«, sagte sie zu Amelie. »Holen Sie uns hier heraus.«
»Und wie, denkst du, soll ich das machen?«
»Lassen Sie sich etwas einfallen!«
»Du bist wirklich ein schwieriges Kind«, sagte Amelie, aber ihr Blick blieb auf Morley geheftet, der Vogelscheuche neben dem Grab aus Marmor. »Ich weiß gar nicht, warum ich mich so anstrenge.«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Morley. »Unter uns gesagt, dein guter alter Dad hatte genau die richtige Einstellung. Bring sie alle um oder sperr sie wegen ihres Blutes ein; dieses Leben als Gleichberechtigte ist Blödsinn, und das weißt du. Sie werden niemals wie wir sein, nicht wahr?«
»Du mich auch!«, sagte Eve und zeigte ihm den Mittelfinger. Shane packte sie rasch am Arm und drückte ihn nach unten. »Was, bist du plötzlich Mr Besonnenheit geworden? Ist heute Gegenteiltag?«
»Halt einfach die Klappe«, flüsterte Shane. »Falls du es noch nicht bemerkt hast: Sie sind in der Überzahl.«
»Na und? Wann sind sie das nicht?«
Claire zuckte mit den Schultern, als Shane sie anschaute. »Wo sie recht hat, hat sie recht. Das sind sie meistens.«
»Ihr seid keine Hilfe. Michael?«, fragte Shane. »Was ist los. Mann?«
»Ärger«, sagte Michael. Auch seine Stimme klang anders - tiefer als Claire es gewohnt war. Dunkler. »Es sind mindestens acht, alles Vampire. Bleib bei den Mädchen.«
»Ich weiß, dass du das nicht so meinst, wie es rüberkam. Und du brauchst mich. Amelie ist schwach und du bist weit unterlegen, Bro.«
»Bin ich das?« Michael warf ihnen ein beunruhigendes Lächeln zu, bei dem er seine Vampirzähne zeigte. »Bleib einfach bei den Mädchen, Shane.«
»Ich würde sagen, du bist echt ätzend, aber warum das Offensichtliche aussprechen?« Shanes Worte waren scherzhaft gemeint, aber seine Stimme war todernst, angespannt und besorgt. »Sei vorsichtig. Mann. Echt vorsichtig.«
Amelie sagte: »Wir kämpfen nicht.«
Oben auf dem Hügel, hinter ihm das große weiße Mausoleum, das weiß wie Knochen schimmerte, legte Morley den Kopf auf die Seite und verschränkte die Arme. »Nein?«
»Nein«, sagte sie. »Du wirst jetzt gehen und deine Freunde mitnehmen.«
»Und warum sollte ich das tun, wo ihr so köstliche Begleiter dabeihabt? Meine Leute sind hungrig, Amelie. Gelegentlich eine Ratte oder ein betrunkener Fremder - das macht noch keine ausgewogene Ernährung.«
»Du und dein Rudel Schakale könnt wie alle anderen Vampire zur Blutbank kommen«, sagte sie gerade so, als hätte sie in dieser Situation das Sagen. Doch Claire konnte sehen, dass sie schwach und erschöpft war. »Alles, was dich daran hindert, ist deine eigene Sturheit.«
»Ich beuge vor deinesgleichen nicht den Kopf. Ich habe meinen Stolz.«
»Dann genieß deine Ratten«, sagte Amelie und warf den anderen einen befehlenden Blick zu. »Wir gehen jetzt.«
Morley lachte. »Glaubst du das wirklich?«
»Oh ja.« Amelie lächelte und es fühlte sich an, als würde die Temperatur um sie herum um mehrere Grad fallen. »Das glaube ich wirklich. Vielleicht gefallen dir deine Spielchen und Darbietungen, Morley, aber du kannst wohl kaum so dumm sein zu glauben, dass es nicht seinen Preis hat, wenn du mir in die Quere kommst.«
Dieses Mal war es kein Gelächter, das sie um sich herum hörten, sondern ein tiefes Grollen, das aufgegriffen wurde und einmal die Runde machte.
Ein Knurren.
»Du drohst uns«, sagte der zerlumpte Vampir und lehnte sich an den Grabstein hinter ihm. »Du, die nach ihrem eigenen Blut und ihrer Schwäche riecht. Du, die da steht, mit einem neugeborenen Vampir als einzigem Verbündeten und drei saftigen Snacks, die ihr verteidigen wollt. Ist das dein Ernst? Du warst schon immer kühn, meine hochgeborene Lady, aber es gibt eine Grenze zwischen kühn und töricht, und ich glaube, wenn du mal nachschaust, ist diese Grenze direkt hinter dir.«
Amelie sagte nichts. Sie stand nur da, schweigend und eiskalt. Schließlich richtete sich Morley wieder auf.
»Ich bin nicht dein Lehnsmann«, sagte er. »Gib uns die Beute und ich werde dich und den Jungen gehen lassen.«
Claire wurde übel, als sie daran dachte, dass mit Beute sie, Eve und Shane gemeint waren. Shane gefiel das auch nicht. Sie spürte, wie er sich neben ihr anspannte.
»Warum glaubst du, dass ich das tun würde?«, fragte Amelie. Sie schien an diesem ganzen Problem nur vage interessiert zu sein.
»Du bist eine gute Schachspielerin. Du verstehst dich darauf, Bauern zu opfern.« Morley lächelte und entblößte dabei braune, krumme Vampirzähne, die, nur weil sie noch nie eine Zahnbürste gesehen hatten, nicht weniger lebensgefährlich aussahen. »Das ist Taktik, keine Strategie.«
»Wenn ich eine Lektion über Strategie erhalten möchte, dann frage ich jemanden, der schon mal eine Schlacht gewonnen hat« sagte Amelie. »Nicht jemanden, der davor davongelaufen ist.«
»Das hat gesessen«, sagte Eve.
»Du weißt, wovon sie sprechen?«, fragte Shane.
»Das ist nicht nötig, um das zu verstehen. Das hat jedenfalls gesessen.«
Morley fand das auch. Er trat einen Schritt vor, und als er dieses Mal die Zähne zeigte, war es kein Lächeln. »Letzte Chance«, sagte er. »Verschwinde, Amelie.«
»Ich kann ein Portal öffnen«, flüsterte Claire und versuchte dabei, so leise zu sein, dass Morley, der sechs Meter weit weg stand, sie nicht hören konnte. Amelie warf ihr einen Blick zu, einen dieser Blicke.
»Wenn ich auf diese Weise einfach gehe, sogar mit euch allen, kann er behaupten, dass er mich besiegt und davongejagt hat«, sagte sie. »Einfach entkommen reicht nicht.«
»Genau«, sagte Morley und klatschte. Das Geräusch war entsetzlich und laut, als es von den Grabsteinen widerhallte. Eine Schar Vögel flog aufgeregt zwitschernd aus den Bäumen auf. »Du musst mein Fehlverhalten erst beweisen. Und das, meine liebe Lehnsherrin, wird schwierig werden. Große Klappe und nichts dahinter, wie man in dieser Gegend so schön sagt. Es sei denn, du zählst diese drei da als Unterstützung, aber dann würde ich die Klappe nicht so weit aufreißen.
»Das langweilt mich. Greif an oder tu einfach nichts, so wie immer«, sagte Amelie. »Wir gehen so oder so.« Sie drehte sich zu den Übrigen um und sagte mit genau der gleichen kühlen, ruhigen Stimme: »Ignoriert ihn. Morley macht immer so ein Getue. Er ist ein Feigling, ein Lügner und völlig heruntergekommen. Er verkriecht sich hier, weil er Angst hat, dass, wenn er zu uns Übrigen steht, herauskommt, was für ein armseliger, unzureichender Bettler er...«
»Tötet sie alle!«, schrie Morley und stürzte auf Amelie zu.
Michael stieß frontal mit ihm zusammen und die beiden stürzten über Grabsteine. Claire wirbelte herum, als Schatten aus der Dunkelheit hervortraten, die sich zu schnell bewegten, als dass man sie deutlich hätte sehen können, ihr Puls raste und sie machte sich bereit zum Kämpfen.
Amelie sagte nur: »Oliver, bitte zeig Morley, weshalb er sich so schrecklich geirrt hat.«
Einer der Schatten trat heraus ins Mondlicht - und das war definitiv kein Fremder. Oliver, nach Amelie die Nummer zwei in Morganville, trug seine harmlose Cafébesitzer-Verkleidung – das gebatikte Shirt mit dem Common-Grounds-Logo vorne drauf, dazu Jeans - und hatte sein ergrautes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Er sah aus wie ein Kaffeehaus-Revoluzzer.
Nur seinem Gesichtsausdruck ließ sich entnehmen, dass er absolut nicht begeistert war, auf Amelies Geheiß hier zu sein, und noch weniger begeistert schien er von der Tatsache, dass er sich mit Morley herumschlagen musste. Die Gestalten, die hinter ihm aus der Dunkelheit traten, waren jedenfalls nicht Morleys Leute sondern Olivers... herausgeputzte, aalglatte Vampire mit einem Hauch von Kälte und Distanz, der Claire schaudern ließ. Sie waren höflich, aber gleichzeitig waren sie Killer.
»Michael«, sagte Oliver, »Lass den Narren los.« Michael schien ebenso überrascht zu sein wie Morley - oder auch Claire -, aber er ließ den anderen Vampir los und trat zurück. Morley sprang auf die Füße, dann hielt er inne, als er Oliver und sein ganzes Gefolge erblickte. »Deine Anhänger - wenn man ein Rudel verhungernder Hunde überhaupt so bezeichnen möchte - konnten davon überzeugt werden zu verschwinden. Du bist allein, Morley.«
»Schachmatt«, sagte Amelie leise. »Strategie, nicht Taktik. Ich nehme an, du verstehst den Unterschied.«
Morley verstand. Er zögerte einen Moment, dann stürzte er sich in den Schutz aus Grabsteinen und Schatten und war einfach ... weg.
Krise überstanden.
»Nun«, sagte Eve. »Das war enttäuschend, in Filmen gibt es dann wenigstens immer Kickboxen.«
Oliver drehte den Kopf ein wenig, warf Amelie einen raschen, vielsagenden Blick zu, der an dem Blut an ihren Händen hängen blieb. Sein Mund zog sich angewidert zusammen. »Bist du hier fertig?«, fragte er.
»Ich glaube schon«, sagte Amelie.
»Wenn du erlaubst, bringe ich dich nach Hause.«
Ihr Lächeln wurde zynisch. »Machst du dir solche Sorgen um mich, mein Freund? Wie liebenswürdig.«
»Überhaupt nicht. Ich bin sehr erfreut darüber, dass ich bei der Verteidigung deiner Ehre von Hilfe sein konnte.«
»Michael hat mich verteidigt«, sagte Amelie. »Du bist einfach nur aufgetaucht.«
Claire dachte: Auch das hat gesessen. Sie merkte, dass Eve dasselbe dachte. Keine von ihnen hatte jedoch den Mut, es laut auszusprechen.
Oliver zuckte mit den Achseln. »Strategie und Taktik. Ich kenne den Unterschied. Und ich habe Schlachten gewonnen - im Gegensatz zu Morley.«
»Aus diesem Grund verlasse ich mich auf dich, Oliver, auf deinen Rat. Ich vertraue darauf, dass ich auch weiterhin in dieser Beziehung auf dich zählen kann.«
Ihre Blicke trafen sich und Claire schauderte ein wenig. Morley war eine Mogelpackung; Oliver nicht. Er war der Typ, der tat, was er sagte, wenn er glaubte, damit durchkommen zu können. Auch er wollte Morganville. Vielleicht nicht so sehr, dass er Amelie dafür umbringen würde, aber die Grenze war ziemlich dünn.
Tatsächlich konnte Claire diese Grenze gerade in Form der schwindenden blassen Narben an Amelies Handgelenk erkennen.
»Michael und seine Freunde waren so liebenswürdig, mir anzubieten, mich zur Blutbank zu begleiten«, sagte Amelie. »Ich werde mit ihnen gehen. Vielleicht kannst du meinen Wagen dorthin schicken, um mich abzuholen.«
Olivers Lächeln war scharf wie ein Papierschnitt. »Stets zu Diensten.«
»Das bezweifle ich aufrichtig.«
Michael stellte sich an Amelies Seite und sie gingen alle fünf den gewundenen Pfad entlang zurück zum Auto. Als Claire zurückschaute, entdeckte sie keine Spur mehr von Oliver und seinen Leuten oder von Morley. Nur der Friedhof und das schimmernde Mausoleum oben auf d em Hügel lagen hinter ihnen in der Stille.
»Ist sonst noch jemand der Meinung, dass das total schräg war?«, fragte Shane, während sie ins Auto einstiegen. Eve warf ihm einen gereizten Blick zu; die drei saßen natürlich auf dem Rücksitz. Amelie saß vorne neben Michael.
»Findest du wirklich? Im Allgemeinen oder im Besonderen?«
»Schräg, dass wir das Ganze überstanden haben, ohne dass ich jemanden schlagen musste.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Als Michael den Motor anließ, sagte er: »Du hast recht, Shane. Das ist wirklich schräg.«
***
Als Michael vor der Blutbank vorfuhr, war Amelies Sicherheitsdienst schon da - ihre Limousine parkte am Straßenrand. Claire erwartete fast, dass sich diese kleinen Geräte, die der Geheimdienst immer hatte, um ihre bleichen Ohren schlängelten, aber wahrscheinlich brauchten Vampire gar keine modernen Technologien, um sich gegenseitig zu hören. Was sie jedoch trugen, waren elegante schwarze Anzüge und Sonnenbrillen, und genau in dem Moment, als Michaels Auto anhielt, öffnete einer von ihnen die Beifahrertür und bot Amelie seine Hand an. Sie nahm sie ohne jegliche Verlegenheit, anmutig wie Wasser, und bevor die Tür wieder zuging, blickte sie zurück und sagte: »Ich danke euch. Euch allen.«
Das war's. Für Amelie war das jedoch ganz schön viel.
»Ich sitze vorne«, sagten Eve und Shane gleichzeitig und spielten Stein-Papier-Schere, um es auszulosen. Shane gewann und sein Gesicht nahm plötzlich einen seltsamen Ausdruck an.
»Sitz ruhig vorne«, sagte er zu Eve, die mit den Fingern noch immer die Schere beschrieb, mit der sie gegen Shanes Stein verloren hatte.
»Im Ernst?« Sie machte große Augen. »Du gibst deinen Platz auf? Ich meine, du hast doch gewonnen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich bleibe lieber hier hinten.«
Also bei Claire. Eve verlor keine Zeit; sie stieg aus und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten, wo sie zufrieden herumwackelte. Michael lächelte sie an und sie ergriff seine Hand.
Shane legte seinen Arm um Claire und sie legte ihren Kopf auf seine Brust. Wärme, endlich. Warm, sicher und geliebt. »Oh Mann, das Abendessen ist bestimmt kalt«, sagte er. »Tut mir leid - ich weiß, wie sehr du Tacos magst.«
»Kalte Tacos sind auch gut.«
»Krank.« Aber er meinte das positiv. »Möchtest du nach den Tacos vielleicht einen Film anschauen oder so?«
Claire gab ein vage zustimmendes Geräusch von sich, schloss die Augen und schlief ohne bewusste Entscheidung in seinen Armen ein. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass sie aufgewacht war, als Shane sagte: »Wir bringen sie besser nach Hause.« Und dann hatte sie noch eine verschwommene Erinnerung daran, wie er seine Lippen auf ihre presste...
Danach nichts.
***
Der Morgen dämmerte und sie wachte in ihrem Doppelbett im Haus ihrer Eltern auf. Die ersten paar Sekunden spürte sie nichts außer einem vagen Gefühl der Enttäuschung darüber, dass sie die Gelegenheit nicht genutzt hatte, bei Shane zu bleiben. Doch dann wurde das alles durch unglaubliche Hitze, die sie auf ihrem Gesicht spürte, ausgelöscht. Es war, als wäre sie unter einer Höhensonne eingeschlafen, nur dass das Zimmer angenehm dämmrig war.
Claire schlüpfte aus dem Bett und stolperte auf dem Weg ins Bad über einen Stapel Kleider auf dem Boden - sie erinnerte sich nicht daran, sie ausgezogen zu haben, aber sie trug ein Mom-taugliches Baumwollnachthemd, was bedeutete, dass es nicht Shane gewesen war, der sie ausgezogen hatte.
Die Lichter blendeten sie und sie waren grausam. Claire wimmerte, als sie den roten Fleck sah, der ihr Gesicht war. Weiße Stellen zeichneten sich darauf ab, unter denen sich - unter den ersten Hautschichten - Blasen gebildet haben mussten. Vorsichtig drückte sie auf ihr Gesicht; es tat weh - sehr weh. »Dafür bringe ich dich echt um, Myrnin«, sagte sie. »Und dann werde ich lachen.«
Die Dusche war furchtbar. Das heiße Wasser explodierte förmlich auf den Verbrennungen, und nur weil sie die Zähne zusammenbiss und eine Reihe grausamer und kreativer Arten, wie sie ihren Boss killen könnte, vor sich hin sagte, überstand sie es. Danach fühlte sie sich ein wenig besser, sah aber ihrer Meinung nach noch schlimmer aus. Nicht dass das wirklich einen großen Unterschied gemacht hätte.
Im Flur traf sie auf ihre Mutter, die gerade mit einem Stapel ordentlich zusammengelegter Laken und Handtücher im Arm die letzten Stufen heraufkam. »Oh, du bist schon aufgewacht, Liebes«, sagte Mom und warf ihr ein zerstreutes Lächeln zu. »Soll ich vielleicht deine Bettwäsche... oh, mein Gott, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«
Der Wäschestapel geriet ins Wanken und Claire fing ihn auf.
»So schlimm ist es nicht«, log sie. »Ich, äh, bin eingeschlafen. In der Sonne.«
»Liebling, das ist gefährlich! Hautkrebs!«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Es war ein Unfall. Gehören die hier in den Wäscheschrank?«
»Oh... warte, ich nehm sie dir ab. Ich habe ein System.« Die Drohung, Moms sorgfältig zusammengelegte Wäsche durcheinanderzubringen, hatte den gewünschten Effekt: Mom ließ Claires Sonnenbrand als Thema fallen und konzentrierte sich auf das Naheliegende. »Frühstück ist fertig, Liebes. Oje, dein Gesicht - soll ich dir eine Lotion holen?«
»Nein, ich habe schon eine. Danke.« Claire ging zurück in ihr Zimmer, zog sich vollends an und öffnete ihren Rucksack. Ehrlich gesagt hatte der Rucksack schon bessere Tage gesehen; der Nylonstoff war an einigen Stellen zerrissen und ausgefranst, auf der Rückseite waren Flecken, von denen sich Claire unangenehm bewusst war, dass es sich um Blut handelte. Auch die Riemen lösten sich allmählich ab. Vielleicht lag es daran, dass sie immer so viel hineinstopfte. Sie ruckelte an den Büchern, bis es ihr gelang, Teilchenphysik für Fortgeschrittene herauszuziehen und das enttäuschend unzureichende Grundlagen der Matrixberechnung, was ungefähr der schlechteste Text war, der je zu diesem Thema verfasst wurde. Dahinter steckten ein riesiges, bleischweres Buch über englische Literatur und all ihre farbkodierten Hefte. Und dahinter war all das andere Zeug. Alchemie und die hermetischen Künste, was weniger ein Lehrbuch war, sondern eher analysierte, warum das ganze Fachgebiet Schwachsinn war. Myrnin hatte es nicht empfohlen; Claire hatte es im Internet auf einer Website bestellt, die einem Typen gehörte, der auf gruselige Weise paranoid war. Wenn er wüsste, was sie wusste, wäre er wahrscheinlich schreiend davongelaufen, deshalb war Paranoia vielleicht die einzig richtige Einstellung.
Hinten in ihrer Klettverschlusstasche befand sich ihre Spezialausrüstung - extra für Vampire: Ein paar schwere, silberbeschlagene Pfähle, die sie hoffentlich nie würde benutzen müssen, und ein paar Spritzen, die sie und Myrnin mit dem Serum gefüllt hatten, das Dr. Mills entwickelt hatte - nur für den Fall, dass noch immer ein paar Vampire herumliefen, die noch nicht geimpft und deshalb, gelinde gesagt, instabil waren. Und sie fragte sich, ob Morley vom Friedhof vielleicht dazugehörte, aber andererseits war sie froh, dass sie ihm nicht nah genug gekommen war, um eine der Spritzen benutzen zu können.
Ganz nach hinten gerutscht war der zusammengefaltete Zettel mit einer in Symbolen aufgeschriebenen Zahlenfolge, den Myrnin ihr gegeben hatte. Wie jeden Tag prägte Claire sich die Zahlenfolge ein. Sie würde sich später selbst prüfen, die Symbole auswendig aufschreiben und sie dann mit dem Original vergleichen. Myrnin hatte zwar gesagt, dass die Reset-Zahlenfolge nur in Notfällen verwendet werden dürfe, aber sie hatte das Gefühl, dass sie garantiert nicht die Zeit haben würde, seine schlampigen Zeichnungen zu entziffern, wenn es wirklich dazu kommen sollte.
Sie packte ihren Rucksack neu, wobei sie sicherstellte, dass sie dieses Mal die Bücher leicht herausnehmen und hineinstecken konnte, und hievte ihn versuchsweise hoch. Der Riemen knackte und sie hörte, wie ein weiterer Faden riss. Ich brauche wirklich einen neuen. Sie fragte sich, wo Eve immer ihre süßen Lacklederrucksäcke kaufte, in die entweder die pinkfarbenen Kätzchen oder die niedlichen Totenköpfe geprägt waren. Wahrscheinlich nicht hier in der Stadt, dachte Claire. Morganville war nicht gerade ein Modezentrum.
Frühstück war im Hause Danver eine Familienangelegenheit und Claire freute sich immer richtig darauf. Sie schaffte es nicht oft, zum Mittag- oder Abendessen wieder da zu sein, aber morgens saß sie immer mit ihrer Mom und ihrem Dad zusammen. Mom fragte nach der Uni; Dad fragte sie über ihren Job aus. Claire wusste nicht, wie andere Familien in Morganville funktionierten, aber ihre schien recht... normal zu sein. Wenigstens theoretisch. Die Besonderheiten waren schließlich immer skurril.
Nach dem Frühstück (das wie immer köstlich war) machte sich Claire auf den Weg in die Uni. Morganville war so klein, dass man zu Fuß gehen konnte, wenn man es wollte, und Claire wollte - meistens zumindest. Heute, wo ihr Gesicht so übel aussah und in der Hitze der Sonne pulsierte, wünschte sie, sie hätte das Angebot ihres Vaters, ihr ein Auto zu kaufen, angenommen, obwohl die Bedingung daran geknüpft gewesen war, ihren Freund nicht mehr so oft zu sehen. Sie hatte Shane nicht erzählt, dass er ihr mehr bedeutete als der Besitz eines Autos. Diese Art von Hingabe wäre wohl jedem Typen suspekt gewesen.
Claire blieb am ersten geöffneten Laden stehen: Pablo's Market. Er lag in der Nähe des Campus. Dort fand sie eine schwarze Stoffkappe mit einer Krempe, die ihr Gesicht im Schatten verschwinden ließ. Das half und sie fühlte sich ein bisschen weniger entstellt... bis sie hinter sich jemanden hupen hörte. Sie blickte über ihre Schulter und sah, wie sich auf der Straße ein rotes Cabrio näherte.
Claire sah geradeaus und ging weiter. Beschleunigte.
»Was ist das?«, fragte eine Stimme auf dem Rücksitz des Autos. Gina oder Jennifer - Claire konnte ihre Stimmen nie auseinanderhalten. »Aussehen tut es irgendwie menschlich.«
»Ich weiß auch nicht. Ein Zombie? Wir hatten hier schon mal Zombies, oder?«, sagte Ginas (oder Jennifers) Zwillingsstimme. »Könnte ein Zombie sein. Hey, wie bringt man denn einen Zombie um?«
»Kopf ab«, sagte eine dritte Stimme. Es bestand kein Zweifel daran, wem diese Stimme gehörte. Absolut kein Zweifel: Monica. Ihre Stimme war cool, selbstbewusst und machte deutlich, dass man ihr besser gehorchte. »Wir suchen das Superhirn und fragen sie - die wird es wissen. Hey, Zombie. Hast du Claire Danvers, das Superhirn, gesehen?«
Claire zeigte ihr den Mittelfinger und ging weiter. Sie nahm Monica, die wieder schwarzes Haar hatte und zweifellos hübsch und glänzend aussah, nur als vagen Schatten in ihren Augenwinkeln wahr, und dabei wollte es Claire belassen.
Aber sie wusste, dass es nicht so bleiben würde.
Monica mochte es nämlich nicht, wenn man ihr den Mittelfinger zeigte. Sie beschleunigte den Sportwagen, fuhr rasant um die Ecke und hielt abrupt an, wobei sie Claire, die gerade die Straße überquerte, den Weg abschnitt. Monica und Gina fauchten sich gegenseitig an, wahrscheinlich stritten sie gerade über die Details, wie sie Claire am besten in den Hintern treten konnten, ohne sich einen Nagel abzubrechen oder sich die Schuhe zu zerkratzen.
Claire scherte sich nicht weiter darum und ging hinter dem Wagen vorbei.
Monica legte den Rückwärtsgang ein und blockierte wieder den Weg.
Sie spielten das Spiel noch zweimal, vor und zurück, bevor Claire einfach stehen blieb und Monica anstarrte.
Monica lachte. »Oh, mein Gott, das ist der Superhirn-Freak. Du weißt schon, dass Freak nur so ein Ausdruck ist, oder? Du brauchst nicht extra für mich eine Zirkusattraktion werden oder so.«
»Das ist etwas ganz Neues. Man nennt es Highspeed-Bräunen. Ich bin dabei, mir eine super Sommerbräune zuzulegen. Du solltest es auch mal probieren«, sagte Claire. Jennifer brach tatsächlich in Gelächter aus und wirkte sofort schuldbewusst. »Ich komme zu spät zum Unterricht.«
»Gut. Das bringt die Normalverteilung wenigstens wieder ins Gleichgewicht.«
»Aber nur, wenn du tatsächlich teilnimmst.«
»Oooooh, Hut ab«, sagte Monica. »Ich bin am Boden zerstört, mein Gehirn ist nämlich alles, was ich habe. Nein warte - das warst ja du, nicht wahr?«
Claire seufzte. »Was willst du?« Denn es war irgendwie klar, dass sie etwas wollten - wahrscheinlich ging es nicht nur um die übliche tägliche Schikane. Immerhin hatte Monica sich wirklich Mühe gegeben, ihr den Weg abzuschneiden, normalerweise investierte sie nicht so viel Energie.
»Ich brauche Nachhilfe«, sagte Monica. »Ich kapiere diesen Wirtschaftsquatsch einfach nicht. Da geht es um Bruchrechnen und so Zeug.«
Claire war der Meinung, dass Wirtschaft eine Art Voodoo-Wissenschaft war, aber sie zuckte mit den Schultern. Mathe war Mathe. »Okay. Morgen. Fünfzig Mäuse, und damit das vorher klar ist: Ich schreibe keine Prüfungen für dich, stehle keine Antworten und erfinde auch keine Hightechmethode, mit der du schummeln kannst.«
Monica zog ihre perfekten Augenbrauen nach oben. »Du kennst mich wirklich gut.«
»Ja oder nein.«
»Gut.«
»Common Grounds, drei Uhr. Du kaufst den Kaffee.«
»Gieriges kleines Miststück«, sagte Monica. Als sie das Geschäftliche erledigt hatten, zeigte Monica Claire ihren perfekt manikürten Mittelfinger, lächelte und sagte. »Du siehst beschissen aus. Die Mütze gefällt mir, wo hast du sie her - von deinem geistig zurückgebliebenen, inzestuösen Cousin?«
Ihr Gelächter blieb noch in der Luft hängen, zusammen mit den Abgasen ihres Autos, als die drei Mädchen auf ihrer üblichen Mission aus Chaos und Zerstörung davonbrausten.
Claire holte tief Luft, zog sich den Hut tiefer in die Stirn und ging über die Straße, um durch die Tore der Texas Prairie University zu gehen.
***
Claire mochte Unterricht. Na ja, weniger die eigentlichen Vorlesungen - die Professoren waren als Personen in der Regel nicht allzu interessant. Aber das Wissen. Das war einfach da und wollte, so gut es ging, aufgesaugt und festgehalten werden. In manchen Unterrichtsstunden war das mehr, als man je gewollt hat.
Zum Beispiel englische Literatur, die letzte Stunde ihres Tages - sie wusste immer noch nicht, warum sie das belegen musste. Es war ja nicht so, dass die Brontë-Schwestern Claires Alltag verändern würden, oder? Nicht wie Mathe, was die Grundlage für alles war, von Kochen über Konstruktion bis hin zum Flug auf den Mond. Nein, die Naturwissenschaften waren definitiv cooler.
Zumindest bis heute, als ihre Aufmerksamkeit vorübergehend von einer Aufgabe in Anspruch genommen wurde:
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Wer das Symbol deutet, tut es auf eigene Gefahr. In Wahrheit spiegelt die Kunst den Betrachter und nicht das Leben wider. Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt, dass das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist. Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler einig mit sich selbst. Wir können einem Menschen verzeihen, dass er etwas Nützliches gemacht hat, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, dass einer etwas Nutzloses gemacht hat, ist, dass man es sehr bewundert.
Alle Kunst ist völlig nutzlos.
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Es war seltsam, diese Worte zu lesen, die am Anfang von Oscar Wildes Buch Das Bildnis des Dorian Gray standen, und daran zu denken, wie Myrnin sie sagte - denn auf unheimliche Weise war es tatsächlich genau die Art von Erklärung, wie Myrnin sie abgeben würde. Claire durchlief ein seltsamer Schauer, als sie sich fragte, ob Myrnin je Oscar Wilde getroffen hatte, der offenbar ein ausgesprochener Partylöwe gewesen war. Sie hatte nie großartig über das Leben der Vampire nachgedacht, aber jetzt wurde sie von der Realität heimgesucht, und das war merkwürdig.
Für Myrnin - und Oliver, Amelie und die meisten anderen Vampire - war Geschichte nicht nur irgendwelches Zeug, das in Büchern stand oder auf einem alten, steifen Foto festgehalten war. Für sie passierte Geschichte Tag für Tag für Tag. Und es war schlichtweg schon furchtbar viele Tage her, dass Oscar Wilde gelebt hatte.
Sie wäre jede Wette eingegangen, dass Myrnin Oscar Wilde getroffen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich seinen Hut ausgeliehen oder so.
Dieser Gedanke lenkte sie so sehr ab, dass sie zuerst gar nicht hörte, dass das Telefon klingelte; sie hatte es auf Vibration gestellt, sodass der Professor unten auf der Bühne des wie ein Amphitheater angelegten Hörsaals weiterredete, ohne davon Notiz zu nehmen. Die Leute, die um sie herumsaßen, bekamen es jedoch mit und sie lächelte entschuldigend, schaltete es auf lautlos und las den Namen auf dem winzigen Display. Es war Eve. Claire schrieb ihr eine SMS: IU für »im Unterricht«. Das war ihr Standard-Code. Eve schrieb CG ASAP OMG zurück, was bedeutete, dass sie, so schnell sie konnte, ins Common Grounds kommen sollte.
911?
Nein.
Shane?
Nein.
Sag!
Nein!
Claire lächelte, klappte ihr Handy zu und konzentrierte sich wieder auf den Professor, der nichts bemerkt hatte. Die letzten zehn Minuten der Unterrichtsstunde schienen zu schleichen, aber sie strengte sich wirklich an, aufmerksam zuzuhören. Wenn sie Myrnin wirklich nach Oscar Wilde fragen wollte, dann wäre es vielleicht hilfreich, etwas über diesen Typen zu wissen. Außer dass er bissig war und mehr oder weniger schwul.
Nach dem Unterricht rannte Claire über den Campus und durch die Tore. Es war noch immer mitten am Nachmittag, also noch viel Zeit bis Sonnenuntergang. Das war gut, denn es war schön, an der frischen Luft zu sein, bevor es - wie Eve immer sagte - ZHZL, zu heiß zum Leben, wurde, was von Juni bis Oktober so war. Zu Fuß war es nicht weit zum Common Grounds. Claire hielt den Kopf gesenkt und verdeckte die meiste Zeit ihr Gesicht unter ihrer Hutkrempe, damit die Leute auf der Straße sie nicht schockiert anstarrten.
Sie gelangte zum Common Grounds und zum ersten Mal ging ihr auf, dass es total voll sein und sie wirklich angestarrt werden könnte. Na wunderbar. Na ja, nun war es zu spät.
Claire holte tief Luft, machte die Tür auf und trat ein. Nach dem strahlenden Sonnenschein draußen wirkte es innen dämmrig, sie blinzelte und schaute sich in dem Cafe um. Okay, es war voll - etwa vierzig Leute saßen um die kleinen Tische herum und tranken ihre Mokkas, Lattes und Espressos. Um diese Zeit waren es hauptsächlich Studenten. Nach Einbruch der Dunkelheit veränderte sich die Kundschaft der Kaffee-Fans.
Alle starrten sie an, als sie sich ihren Weg bahnte. Claire versuchte, sich einzureden, dass das daran lag, dass sie so umwerfend süß war, aber das klappte nicht, was ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb und ihren Sonnenbrand noch verschlimmerte, und das tat weh. Autsch.
Eve hatte sich ganz hinten in eine Ecke gequetscht, wo sie einen freien Stuhl auf der anderen Seite des Tisches mit scharfen Blicken und harten Worten verteidigte. Sie sah erleichtert aus, als sich Claire auf den Platz plumpsen ließ, ihren schweren Rucksack an das Tischbein lehnte und »Ich brauche jetzt echt einen Kaffee« seufzte.
Eve starrte für ein paar lange Sekunden ihr Gesicht an, dann sagte sie: »Und ich verstehe, warum. He! Mokka!«
Sie schnipste mit den Fingern.
Sie schnipste mit den Fingern nach Oliver, der hinter dem Tresen stand und Espressotassen füllte. Er blickte mit unverhohlenem Zorn auf. »He«, wiederholte er mit bissigem Sarkasmus. »Ich bin nicht deine Bedienung.«
»Echt? Wir geben auch Trinkgeld, wenn das hilft. Und eine Rüschenschürze würde dir sicher echt gut stehen.«
Oliver schlug krachend die Klappe an der Bar zurück und kam an ihren Tisch, sodass sie in den vollen Genuss seiner Anwesenheit kamen, was, gelinde gesagt, Furcht einflößend war. »Was willst du, Eve?«
»Nun, als Tagesessen hätte ich gern deinen Rausschmiss aus Morganville und als Beilage, dass du abkratzt, aber ich begnüge mich mit einem Mokka für meine Freundin hier.« Eve klapperte mit metallic-violetten Fingernägeln gegen die Porzellankaffeetasse und hielt Olivers funkelndem Blick stand. »Was willst du machen, Oliver? Willst du mir lebenslänglich Hausverbot für deinen beschissenen Laden erteilen?«
»Das überlege ich mir noch.« Ein Teil der Aggression in seinem Gesicht wich Neugier. »Warum provozierst du mich, Eve?«
»Warum sollte ich nicht? Schließlich sind wir nicht gerade beste Freunde«, sagte Eve. »Und außerdem bist du ein Idiot.«
Er lächelte, aber es war kein nettes Lächeln. »Und inwiefern habe ich dich gekränkt?«
»Du wolltest uns gestern Nacht verarschen, nicht wahr?«
Olivers Lächeln schwand. »Ich kam, als Amelie mich rief. So wie immer.«
»Aber irgendwann wirst du mal nicht mehr kommen, stimmt's? Früher oder später wird sie ihr kleines Glöckchen läuten und ihr getreuer Diener Ollie wird nicht auftauchen, um ihren Hintern zu retten. So lautet der Plan. Tod durch Trödeln und du würdest dir nicht einmal die Hände dabei schmutzig machen.«
»Und? Geht dich das irgendetwas an?« Olivers Augen waren dunkel, sehr dunkel, und voller Geheimnisse, die Claire lieber gar nicht so genau kennen wollte.
»Nein. Ich mag dich nur einfach nicht.« Eve klapperte wieder mit ihren Krallen. »Mokka?«
Er warf einen Blick in Claires mit Blasen überzogenes Gesicht und sagte ohne besonders viel Mitgefühl: »Das ist ziemlich entstellend.«
»Ich weiß.«
»In einer Woche sollte das wieder in Ordnung sein.« Es war irgendwie seltsam tröstlich, wie er ihre Probleme herunterspielte.»Also gut, Mokka.« Aber er ging nicht weg. Eve riss die Augen auf und sah irritiert aus.
»Was?«
»Es ist üblich, die Dinge zu bezahlen, die man kauft.«
»Oh, komm schon...«
»Vier fünfzig.«
Claire kramte einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche ihrer Jeans und reichte ihn Oliver. Er ging.
»Warum machst du das?«, fragte sie Eve ein wenig besorgt.
Denn mal ehrlich, Oliver ins Gesicht zu springen, war cool und alles, aber nicht gerade ungefährlich.
»Weil sie ihm die Rolle des Mitch gegeben haben, und das bedeutet, dass ich so tun muss, als würde ich den Typen mögen.
Urgh.«
»Oh, das Stück. Klar, ich, ähm, hab mal nachgeschlagen. Klingt interessant.« Claire sagte das irgendwie halbherzig, weil es ganz und gar nicht interessant klang, zumindest nicht für sie. Vielmehr klang es danach, als hätte eine Menge Leute mittleren Alters einen ganzen Haufen Probleme.
»Es ist interessant«, sagte Eve und ihre Miene hellte sich sofort auf. »Blanche ist irgendwie echt ein Symbol für die Art und Weise, wie sich Frauen selbst unterdrücken; sie kann einfach nicht ohne Mann leben. Wenn ich es mir genau überlege, dann war es vor diesem Hintergrund genial, Oliver die Rolle zu geben.«
»Du spielst also eine Frau, die nicht ohne Mann leben kann?«
»Es ist gewagt, aber der Regisseur hat sich für einen postmodernen Ansatz entschieden, deshalb möchte er Blanche und Stella mit Gothic Girls besetzen.«
»Gothic Girls, das ist Plural«, wiederholte Claire. »Ich dachte immer, du seist das einzige in der Stadt.«
»Nicht ganz.«
»Eve? Du hast mir eine 911-SMS geschickt?«
»Oh... uuh, ja, hab ich. Ich wollte, dass du jemanden kennenlernst - oh, da ist sie ja schon! Kim!«
Claire schaute sich um. Ein Mädchen war gerade durch die Tür des Cafes eingetreten. Sie war nicht ganz so Gothic wie Eve, aber ein ganzes Stück mehr als alle anderen im Raum. Sie hatte langes, rabenschwarz gefärbtes Haar mit bonbonrosa Strähnen. Ihr Make-up bestand vor allem aus Kajalstift. Sie trug weniger ausgefallene Klamotten, aber was sie trug, war eher düster - schwarze Cargohose, schlichtes schwarzes T-Shirt, schwarzes Lederarmband, auf dem (natürlich) ein Vampirsymbol abgebildet war.
Kim stand offenbar bei einer Vampirin namens Valerie unter Vertrag. Claire wusste nicht viel über sie, aber das war wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Wenn nicht über sie gesprochen wurde, hielt sich Valerie wahrscheinlich an die Regeln. Meistens zumindest.
»Hey, Eve«, sagte Kim und glitt auf den dritten Stuhl an dem kleinen Tisch. »Wer ist denn das Brandopfer hier?«
Claire fühlte, wie sie sich unwillkürlich verspannte. »Ich bin Claire«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Hi.«
»Hey«, sagte Kim und ließ Claire sofort wieder links liegen wie einen miesen Liebhaber, um sich auf Eve zu konzentrieren. »Oh, mein Gott, hast du gehört, dass sie die Rolle des Stanley vergeben haben?«
»Nein! Wer ist es?« Eve beugte sich mit großen Augen vor.
»Gott bitte sag mir jetzt nicht, dass sie dieses Kind von der Highschool genommen haben.«
»Nein. Rat weiter.«
»Ähm, keine Ahnung.«
»Radovic.«
»Echt?« Eve zappelte auf ihrem Stuhl herum, packte Kim an den Händen und beide stießen ein aufgeregtes hohes Kreischen aus.
Claire blinzelte, als ein Mokka vor ihr auf den Tisch geknallt wurde. Sie blickte auf und sah Oliver an, der sie mit kühlen, distanzierten Augen betrachtete. Er zog die Augenbrauen nach oben und ging wortlos zurück an seine Arbeit.
»Wer ist Radovic?«, fragte Claire, weil es sich so anhörte, als sei er das Aufregendste seit der Erfindung der Innentoilette. Sie konnte sich nicht daran erinnern, welcher der Charaktere in dem Stück Stanley war, aber sie glaubte, dass es dieser Vergewaltiger war, der seine Frau schlug - nicht unbedingt jemand, der sie vor Begeisterung zum Kreischen bringen würde.
»Er leitet das Motorradgeschäft«, sagte Eve. »Großer Biker-Typ, glatt rasierter Schädel, Muskeln OE.«
»OE?« Claire legte den Kopf schief »Oh. Ohne Ende.« Sie senkte die Stimme. »Und ist er... ihr wisst schon?« Sie tat so, als würde sie Vampirzähne in einen Hals senken. Beide Gothic Girls lachten.
»Himmel, nein«, sagte Kim. »Rad? Er ist einfach cool, das ist alles. Auf eine gefährliche Art. Ich glaube, er ist weit furchteinflößender, als alle von ihnen, die ich bisher kennengelernt habe.« Damit meinte sie die Vampire.
»Ich nehme an, wir haben nicht dieselben kennengelernt«, sagte Claire. »Die, die ich kenne? Super furchteinflößend.« Und ja... ihr war klar, dass sie ganz plötzlich versuchte, Kim zu überbieten, und das gefiel ihr gar nicht. Es gefiel ihr auch nicht, dass Eve und Kim auf einmal beste Freundinnen waren, während sie wie ein armseliger, bedauernswerter Trampel mit entstelltem Gesicht daneben saß und von Oliver einen Mitleids-Mokka serviert bekam.
Das war einfach nur traurig.
Kim schaute sie kaum an. »Ach ja?« Sie klang total desinteressiert. »Hey, E, kannst du mich heute Abend mit dem Auto zur Probe mitnehmen? Würde das gehen?«
»Klar. Hey, kann ich dann reinkommen und sehen, woran du gerade arbeitest?« Eve warf Claire ein rasches Lächeln zu. »Kim ist eine Art Avantgarde-Künstlerin. Sie ist echt cool, ich mag ihre Sachen.« Eves Augen glänzten richtig vor Begeisterung, wodurch Claire sich unbehaglich und angepisst fühlte. Am liebsten hätte sie gesagt: Ich bin deine Freundin, ich bin auch cool, oder? Sie war zwar keine ausgeflippte Künstlerin, die aus leeren Klopapierrollen und Hühnerknochen Kunst machte, aber na und? Was war daran überhaupt so cool?
Eve hörte all diese gedanklichen Argumente natürlich nicht. Kim sagte etwas über das Skript und sie holten beide ihre Kopien heraus, blätterten darin herum, sprachen über Themen und Motive und Dinge, die Claire absolut nicht interessierten, denn jetzt hatte sie offiziell schlechte Laune.
Sie stürzte ihren Mokka, so schnell es angesichts der Tatsache, dass Oliver ihn auf die Oberflächentemperatur von Lava erhitzt hatte, menschenmöglich war, hinunter. Sie fühlte sich verraten und verkauft, nicht nur, weil Eve sie mitten ins Common Grounds gezerrt hatte, obwohl ihr Gesicht aussah wie ein halb garer Hamburger, sondern auch, weil sie jetzt dasaß und mit Kim plauderte und Claires Anwesenheit komplett ignorierte.
Als Claire aufstand, schaute Eve jedoch auf. »Gehst du schon?«
»Ja.« Claire brachte es nicht über sich, ihre Stimme allzu entschuldigend klingen zu lassen. »Ich muss nach Hause.«
»Oh. Tut mir leid, ich dachte nur, du würdest gern Kim kennenlernen, das ist alles. Sie ist nämlich cool.«
»Schön, dich kennengelernt zu haben«, sagte Kim. Das klang nicht besonders aufrichtig, sondern eher so, als wollte sie, dass Claire so schnell wie möglich Leine zog, damit sie sich wieder ihrem Beste-Freundinnen-Plausch mit Eve widmen konnte. »Hey, wohnt ihr zwei nicht in diesem Haus mit Michael Glass und Shane Collins?«, fragte sie dann jedoch. »Die beiden sind wirklich heiß!«
Claire gefiel nicht, dass Shane Kim überhaupt aufgefallen war, geschweige denn, dass sie seinen Nachnamen wusste. Eve schien das überhaupt nichts auszumachen. Sie nickte nur mit großen Augen. »Allerdings, nicht wahr? Echte Zuckerschnitten. Das wissen wir schon!«
Claire schnappte sich ihren Rucksack. »Ich muss jetzt wirklich los.«
»Claire... alles okay?«
»Klar«, sagte sie. Kim grinste hinter ihrem Getränk hervor und Claire verspürte das wilde Bedürfnis, ihr diesen Kaffee über den Kopf zu schütten.
Aber sie ließ es.
»Tschüss?«, sagte Eve und machte daraus eine klägliche Frage. Claire antwortete nicht. Sie drängte sich nur an Kims Stuhl vorbei, wobei sie nicht gerade vorsichtig war, und ging in Richtung Tür.
Hinter sich hörte sie, wie Kim in ihrer klaren, tragenden Stimme sagte: »Wow, was für eine Laus ist der denn über die Leber gelaufen?«
Claire warf einen giftigen Blick über ihre Schulter und sah dabei, dass Oliver sie mit leicht gerunzelter Stirn beobachtete. Eve sah gequält aus, sie war eindeutig überrascht von Claires Abgang. Kim... Kim schaute ihr nicht einmal nach. Sie zog einfach nur eine Schulter nach oben, als wollte sie damit ausdrücken, dass sie damit nun echt nicht behelligt werden kann.
Dann war Claire draußen, atmete tief die trockene Luft ein und streckte ihr Gesicht in einen plötzlich aufkommenden Windstoß. Sand, der von der Wüste hereingeweht worden war, zischte über den Gehweg.
Claire fühlte sich elend und ihr war bewusst, dass sie übelster Laune war. Sie ging in dem Gefühl nach Hause, dass jeder - absolut jeder - sie beobachtete.