10
Kims Loft sah aus wie ein Tatort. Vielleicht nicht im buchstäblichen Sinne, aber wenn die Polizei alles mit Bändern abgesperrt hätte, hätte es daran keinen Zweifel geben können, fand Claire. Überall lagen Sachen wild durcheinander, in den Ecken stapelte sich kaputtes Gerümpel und jede flache Oberfläche war mit Klamotten bedeckt. Es roch nach altem chinesischem Essen und der Müll, der mindestens einen Monat nicht geleert worden war, quoll über mit Kartons und Pizzaschachteln. Ein Pizzakarton lag auf dem Boden und in seinem Inneren fanden sich vertrocknete Scheiben Wurst.
»Hübsch«, bemerkte Shane, während er sich umschaute. »Ist ja allgemein bekannt, dass sie nicht gerade ein Ordnungsfanatiker ist.« Die Wände waren mit Farbe bedeckt - keine Gemälde, einfach nur Farbspritzer, die aussahen, als hätte Kim ein paar Liter Farbe genommen, sich im Kreis gedreht und sie überall verspritzt. Wahrscheinlich nannte man das auch Kunst, aber es gehörte nicht zu Claires bevorzugten Stilen.
»Sie hat wenig Zeit«, erklärte Eve und warf den Pizzakarton und ein paar Schachteln von einem chinesischen Restaurant in einen Müllsack. »Sie ist eine Künstlerin.«
»Sie ist eine Chaotin«, sagte Shane. »Aber ich möchte mir auch kein Urteil erlauben. Also, was ist der Plan? Schauen wir uns um? Darf ich mir die Schublade mit der Unterwäsche vornehmen?«
Claire zuckte zusammen. »Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt.«
Shane warf ihr einen engelhaften Blick zu. »Jemand muss es ja machen«
»Dann ist dieser Jemand ich.«
Shanes Lächeln verschwand und er wurde ernst. »Hey, tut mir leid, ich wollte nicht...«
»Ich weiß.« Trotzdem tat es weh. Sie mied seinen Blick und begann, sich durch irgendwelchen Kram zu wühlen. Es war nicht so, dass Kim tatsächlich eine Schublade für Unterwäsche gehabt hätte - es schien ihr nichts auszumachen, ihre BHs und Höschen überall herumliegen zu lassen. Claire schnappte sich eine Tasche und begann, die Kleider hineinzustopfen.
»Mädels«, sagte Michael. »Wir sind hier, um Hinweise zu suchen, oder? Nicht um aufzuräumen.«
»Richtig«, sagte Eve und holte tief Luft. »Ich überprüfe das Schlafzimmer.«
»Ich übernehm das Bad«, bot Shane an.
»Das nenn ich tapfer. Also gut, du bleibst hier drin«, sagte Michael zu Claire. »Ich nehme mir die Küche vor.«
»Viel Glück.« Das meinte sie ernst. Sie war sich sicher, dass sich im Kühlschrank eigene Schimmelkulturen gebildet hatten.
Claire blieb allein in dem großen, vollgerümpelten Zimmer zurück, Sie hatte keine Ahnung, w o sie überhaupt anfangen sollte nachzuschauen, aber dann beschloss sie, den Müll, die verstreuten Klamotten und das allgemeine Chaos zu ignorieren und sich auf die Wände zu konzentrieren. Auf einer davon war ein Wandgemälde: unheimliche, lang gezogene Gesichter mit starrenden Augen.
Starrende Augen. Sie glitzerten. Eine Schrecksekunde lang dachte Claire, jemand sei hinter der Wand und würde sie beobachten, doch dann riss sie sich zusammen. Es war nur reflektierendes Glas; es waren keine echten Augen. Aber warum sollte Kim Glas auf den Augen anbringen - nein, nur auf einem Auge.
Oh.
»Leute?« Claire öffnete den Schrank neben dem Wandgemälde, wühlte sich durch Gerümpel und Schachteln und fand die Kamera, die so ausgerichtet war, dass sie durch das Loch des Auges filmte. Es war ein kleines, drahtloses Hightechteil. Es musste also irgendwo so etwas wie einen Receiver geben. Sie kletterte wieder aus dem Schrank. »Seht ihr irgendwo einen Computer?«
»Hier drin«, sagte Eve. Auf einem wackeligen Tisch in der Ecke des Schlafzimmers stand ein Mac, direkt neben einem durch hängenden, ungemachten Bett. Der Bildschirmschoner war an, und als Claire auf die Leertaste drückte, wurde ein Passwort verlangt. Sie sah Eve an, die mit den Schultern zuckte, um auszudrücken, dass sie keine Ahnung hatte.
Claire tippte Eves Namen ein. Nichts. Sie versuchte es mit Morganville, aber wieder nichts.
Auf eine äußerst unangenehme Vermutung hin tippte sie – Shane.
Das Bildschirmbild veränderte sich und Claire blickte auf sich selbst. Überrascht zuckte sie zurück und das Bild auf dem Monitor tat es ihr nach - es lehnte sich zurück. Oh. Die eingebaute Kamera war an. Claire schaltete sie ab und schaute sich an, was auf dem Desktop war. Dort legte sie selbst nämlich immer Dinge ab, die sie schnell benutzen wollte... und sie wurde tatsächlich fündig: Ein Ordner mit dem Namen Reality-Projekt-Kamera Nr. 72.
Es befanden sich Videodateien darin. Claire klickte eine an und Kim erschien auf dem Bildschirm. Sie beugte sich dramatisch zur Kameralinse des Computers vor. »Tag zweiundzwanzig des Projekts«, sagte sie in einem lauten Flüstern. »Immer noch nicht sicher, ob einige der Extra-Websites entdeckt worden sind oder nicht, aber ich betreibe sie, so lange ich kann. Großartiges Material bis jetzt. Das offizielle Geschichtsprojekt läuft noch, aber die meisten Vamps wollen nicht reden. Auch egal; das hier wird sowieso um einiges besser. Die Oscars werden Schlange stehen.« Sie griff nach einer Flasche Mineralwasser, die neben ihr stand und hielt sie mit beiden Händen. Dabei sah sie überglücklich aus. »Oh, vielen herzlichen Dank; ich kann diese Ehre kaum fassen. Ich möchte der Academy danken...«
Claire hielt den Film an und blickte zu Eve und Shane, die aus dem Bad geeilt waren, um zuzuschauen. Michael kam ebenfalls hinzu.
»Was ist das?«, fragte Claire. Eve schüttelte den Kopf, den Blick auf den Bildschirm geheftet. »Im Ernst, du weißt es nicht?«
»Nein. Worüber spricht sie?«
Claire spulte so weit vor, bis Kim ihre Dankesrede beendet hatte, dann klickte sie wieder auf PLAY. Kims Gesicht leuchtete vor Entzücken. Worüber auch immer sie sprach, für sie war es überaus wichtig.
»Ich kann es nicht glauben; endlich habe ich es geschafft, einige im letzten Gründerinnenhaus zu installieren. Die Verbindungen scheinen gut zu sein, der Stream lädt hoch. Gott, warum fallen die Leute immer auf die dümmsten Sachen herein? Den alten Badezimmer-Trick? Sie hat sich nicht einmal gewundert, als ich zehn Minuten weg war und mich umgesehen habe. Echt süß.« Kim beugte sich vertraulich vor. »Einiges davon werde ich für mich selbst behalten müssen. Shane, ausgezogen. Oh, ja.«
»Wie bitte?«, platzte Shane heraus. »Was zum Henker...?«
Eves Augen weiteten sich, sie leckte sich über ihre schwarz bemalten Lippen und fragte: »Wann war das?«
Claire schaute aufs Datum. »Anfang letzte Woche.«
»Oh, Gott«, sagte Eve. »Ich... ich habe Kim beim Vorsprechen getroffen. Ich meine, ich kannte sie schon, aber wir waren keine engen Freundinnen oder so und sie wirkte einfach echt... interessant. Sie kam mit zu mir, als wir fertig waren. Du warst an der Uni, Michael war nicht da, Shane war gerade auf dem Sprung.«
»Und sie fragte, ob sie mal ins Bad darf?«, hakte Claire nach.
Eve sah unglücklich aus. »Ja. Sie war ein Weilchen weg, aber da fragt man ja nicht nach, oder? Man geht auch nicht hinterher, ich meine, komm schon. Außerdem war sie so cool«
»Sie ist cool«, stimmte Shane zu. »Sie ist aber auch ein manipulatives Miststück. Ich bin mit ihr ausgegangen, erinnert ihr euch? Ein Mal. Du hättest mich fragen sollen. Und was soll der Mist, dass sie mich nackt gesehen hat? Ich war nicht einmal da!«
Eve bedeckte ihren Mund mit beiden Händen. »Was hat sie getan? Oh, mein Gott - sie hat mich benutzt, nicht wahr?«
»Sie benutzt jeden«, sagte Shane. »Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage lang. Tut mir echt leid, aber ich habe mir Sorgen gemacht, als du so eng mit ihr wurdest. Sie ist nicht... du weißt schon. Sie ist es einfach nicht.«
Claire fragte sich, ob sie sie verteidigen sollte, aber ihr war absolut nicht danach. Sie war nervös. »Was hat sie in unserem Haus gemacht?«
»Wofür bekommt man einen Oscar?«
»Für Filme«, sagten Shane und Michael wie aus einem Mund.
Einen Moment lang schauten sich die vier schweigend an. Claire wusste nicht, wie sich die anderen fühlten, aber ihr Magen befand sich im freien Fall - und ein Ende war nicht in Sicht.
Langsam wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu, schloss das Video und sah sich den Ordner an.
»Was?«, fragte Shane. Sie deutete auf den Bildschirm, »Das ist Kims persönliches Videotagebuch«, sagte sie. »Hier hat sie all das persönliche Zeug aufgenommen.«
»Und?«
»Schau dir die Zahl an.«
»Reality-Projekt-Kamera... Nummer...« Eve zog scharf die Luft ein.»Oh, heilige Sch...«
»Es gibt noch einundsiebzig weitere Kameras da draußen in Morganville«, sagte Claire. »Und zwar irgendwo.«
»Und mindestens eine davon ist bei uns zu Hause«, vollendete Shane den Satz.
***
Auf dem Computer in Kims Wohnung fand sich kein Hinweis darauf, wohin der Live-Stream geleitet wurde... Wenn sie weitere einundsiebzig Kameras betrieb und wenn sie Terabytes an Daten speicherte, würde sie mehr Rechnerkapazität brauchen als einen einzelnen Laptop. »Sie brauchte einen Server«, schloss Claire ihren Gedanken. »Oder Offline-Speicherkapazitäten. Vielleicht nimmt sie nur zu bestimmten Zeiten auf und speichert dann alles auf DVD-ROM oder so.«
»Was ist mit der Uni?«, fragte Eve. »Dort gibt es doch haufenweise Server, oder?«
Claire dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Ja, dort gäbe es genügend Platz, aber wie würde sie da rankommen, ohne dass es jemand merkt? Sie ist dort nicht einmal eingeschrieben. Und die Sicherheitsvorkehrungen der Computer an der TPU sind ziemlich streng - müssen sie ja auch, weil die Vamps alles überwachen, um zu verhindern, dass jemand kompromittierende Informationen rausschickt.« Das führte sie zu einem anderen, noch schlimmeren Gedanken. »Kim scheint sich für eine rebellische Indie-Filmemacherin zu halten, oder?«
»Stimmt«, sagte Eve. »Sie redet auch viel über diese Dinge, übers Fernsehen, Kabel-TV-Shows und so war. Sie ist geradezu besessen davon. Die Sache mit der Schauspielerei macht sie eigentlich nur mit, damit sie den ganzen Backstage-Kram, den technischen Teil, mitkriegt.«
Shane ließ sich auf Kims durchhängendes Bett nieder, was bei Claire unangenehme Assoziationen hervorrief, auf die sie lieber verzichtet hätte. »Sie hat die ganze Stadt verwanzt«, sagte Shane. »Sie hat überall Überwachungskameras installiert. Und das will sie alles zu einer Art überdimensionaler Dokumentation über Vampire zusammenschneiden?«
»Schlimmer«, sagte Claire. »Zweiundsiebzig Kameras, die alle gleichzeitig laufen? Sie schneidet Episoden zusammen. Sie will eine Realityshow. Eine Morganville Reality Show.« Sie drehte sich wieder der Tastatur zu und rief Kims E-Mail-Account auf. Soweit Claire feststellen konnte, war der standardmäßige Posteingang nie benutzt worden. »Aber sie muss doch E-Mails benutzen.«
»Webmail«, erklärte Michael. »Wenn sie ihre Spuren verwischen will, dann macht sie das auf diese Weise. Glaubst du, sie kommuniziert mit jemandem von außerhalb?«
Claire rief den Browser-Verlauf auf, aber er war gelöscht worden.
»Sie muss eine Art Wartungsprogramm haben, das regelmäßig ihre temporären Dateien und den Verlauf löscht.«
»Jemand arbeitet mit ihr zusammen«, sagte Shane und zuckte mit den Schultern, als alle ihn anschauten. »Das macht doch Sinn. Webcams fallen nicht so einfach vom Himmel, oder? Man braucht Geld, um so viele davon zu kaufen. So viel verdient Kim nicht mit ihrer Recycling-Kunst.«
»Jemand außerhalb von Morganville weiß Bescheid«, kombinierte Claire. »Glaubt ihr, die Vampire sind dahintergekommen? Stecken sie vielleicht hinter Kims Verschwinden?«
»Oliver schien nicht beunruhigt zu sein. Wenn wir davon wüssten, dann wäre das alles garantiert nicht mehr da«, sagte Michael und machte eine Kopfbewegung zum Computer hin. Wir, nicht sie. Claire war das nicht entgangen und sie sah, dass auch Eve es registriert hatte. »Wir hätten es mitgenommen.«
Shane wechselte einen Blick mit beiden Mädchen. Ihm war dieses Wir-gegen-sie auch nicht entgangen. »Was soll das mit diesem Wir, Mann?«
»Was?«
»Zählst du dich mittlerweile zum Vampirteam?«
Michael seufzte. »Müssen wir das jetzt diskutieren? Ich glaube, wir haben gerade größere Probleme.«
»Nein, haben wir nicht«, sagte Eve. »Kim ist verschwunden. Sie macht gerade etwas echt Gefährliches und viele Leute - einschließlich der Vampire - möchten vielleicht, dass sie aufgehalten wird oder einfach verschwindet. Aber ich muss wissen, wo du stehst, Michael. Stehst du auf der Seite der Vampire? Oder stehst du auf unserer Seite?«
»Uns bedeutet was? Menschen? Eve...«
»Uns bedeutet Shane, Claire und ich«, sagte Eve rundheraus. »Bist du auf unserer Seite? Oder wirst du Amelie und Oliver erzählen, was Kim da macht, damit daraus eine allgemeine Hexenjagd entsteht?«
Ein paar Sekunden lang antwortete er nicht. Shane erhob sich vom Bett, das ächzte, als sich die alten Sprungfedern entspannten. »Michael?«
»Tu das nicht«, sagte Michael zu Eve. »Es gibt keine Wahl. Ich habe keine Wahl.«
»Du hast immer eine Wahl, und das weißt du. Du hattest die Wahl, als du zugelassen hast, dass Amelie dich verwandelt, und du hast auch jetzt eine Wahl. Sam ist nicht mit dem Strom geschwommen. Und du brauchst das auch nicht zu tun. Du kannst... Gutes tun.«
»Nicht alles, was die Vampire machen, ist schlecht.«
Shane schlug mit solcher Wucht die flache Hand auf die Wand, dass es wie ein Gewehrschuss klang und alle zusammenzuckten und ihn ansahen. »Hilfst du uns, dafür zu sorgen, dass das aufhört, oder willst du abhauen und petzen?«, fragte er. »Das ist eine einfache Frage, Mann.«
»Es geht nicht um uns drei. Es geht darum, dass Kim versucht, uns alle zu vernichten und selbst eine Art superreiche Reality-TV-Diva zu werden.«
»Vielleicht«, sagte Shane. »Vielleicht muss das aber auch gar nicht sein. Der Video-Stream wird irgendwohin geleitet. Sie muss immer noch versuchen, alles zusammenzuschneiden. Wir können sie immer noch finden und dem Treiben ein Ende setzen. Niemand muss etwas davon erfahren.«
»Warum willst du sie beschützen?«, fragte Michael. Shane warf Claire einen kurzen Blick zu, einen ganz flüchtigen, aber sie bemerkte das Schuldbewusstsein, das darin lag. »Exfreundinnen-Blues?«
»Oh, Mann, du hältst jetzt besser die Klappe.«
»Eve möchte sie retten, weil sie Freundinnen sind, das verstehe ich. Claire möchte einfach nur alle retten...«
»Nicht alle«, murmelte sie.
»Aber du, du bist derjenige, der voller Groll steckt. Du würdest Monica in einem Augenblick des Zorns unter einen Bus stoßen, aber du willst nicht, dass Kim etwas passiert.«
»Im Ernst«, sagte Shane. »Halt die Klappe! Sofort!«
»Merkst du jetzt, wie es sich anfühlt?«, sagte Michael leise. »Ich will auch nicht, dass jemand meine Motive infrage stellt. Ich bin ein Vampir. Dafür kann ich nichts. Ich trinke Blut. Komm verdammt noch mal darüber hinweg und tu nicht so, als würde es dabei nur um mich gehen. Du möchtest Kim retten? Schön. Aber wenn wir sie nicht in den nächsten vierundzwanzig Stunden finden, muss ich jemandem Bescheid sagen und dann geht es los.«
»Dann geht es richtig los«, stimmte Eve zu. Sie hatte Tränen in den Augen, die silbrig schimmerten, aber sie zwinkerte weg. »Und dann ist es aus. Darauf kannst du Gift nehmen, Michael.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus, wobei sie unterwegs Krempel aus dem Weg schubste. Claire sah ihr nach, dann löste sie das Kabel vom Computer. »Shane«, sagte sie, »hol die Kamera aus dem Schrank nebenan. Vielleicht können wir die IP zurückverfolgen und sehen, wohin sie die Videos schickt.«
Michael folgte Eve. Shane blieb zurück, während sie den Computer und das Stromkabel in die Laptoptasche steckte. »Hey«, sagte er. Seine Finger berührten sanft ihr Haar, dann ihre Schulter. »Ich bin nicht - hör mal, es ist nicht so, dass ich verliebt in sie wäre. Das bin ich nicht. Es ist nur...«
»Du hast ein Mal mit ihr geschlafen. Ja, ich hab's gehört.« Sie ließ die Verschlüsse an der Tasche zuschnappen und hängte sie sich über die Schulter. »Sie macht mächtig Eindruck.«
Shane verstellte ihr den Weg und trotz allem, trotz aller guten Vorsätze, blickte sie ihm in die Augen. Das Leuchten darin nahm ihr den Atem. Seine Fingerspitzen berührten ihr Gesicht. Dann beugte er sich herunter und küsste sie. »Nein«, murmelte er in ihren Mund. »Sie nicht. Aber du.«
Bevor ihr einfiel, was sie hätte erwidern können, ging er zum Schrank und holte die Kamera. Claire sah, dass Michael im anderen Zimmer auf Eve einredete - na ja, von Eve sah sie nur den starren Rücken. Michael drehte sich um, als er sie und Shane hereinkommen sah.
Eve öffnete die Wohnungstür und knallte sie hinter sich zu. Dann stürzte sie die Treppe hinunter und ließ sie alle weit, weit zurück. Als sie sie endlich einholten, saß sie längst auf dem Beifahrersitz, das Gesicht dem getönten Fenster zugewandt. Falls sie weinte, konnte Claire es nicht sehen. Sie hatte sich eine riesige, verspiegelte Sonnenbrille aufgesetzt, die sie in einem Vampirauto absolut nicht brauchte.
Okay«, sagte Michael und kletterte hinter das Lenkrad. »Wohin?«
»Bring mich nach Hause«, sagte Claire. »Ich werde mir den technischen Kram mal vornehmen.«
»Setz mich am Common Grounds ab«, sagte Eve. »Ich muss mit ein paar Leuten reden.«
Michael räusperte sich. »Soll ich vielleicht mitkommen?«
»Nein.« Ihre Stimme war ausdruckslos und kühl. Claire zuckte zusammen und sah Shane an. Im dämmrigen Licht konnte sie seine Gesichtszüge nur vage erkennen, aber er sah bestürzt aus. »Du hast sicher etwas zu erledigen, oder?«
Sie musste wohl recht haben, denn Michael verneinte nicht direkt.
Shane sagte: »Okay... dann bleibe ich zu Hause und schaue Fernsehen. Auch eine Aufgabe von größter Wichtigkeit. Nicht jeder kriegt das unter Druck hin.«
»Du solltest mit mir kommen«, sagte Eve. »Ich kann Hilfe gebrauchen.«
Und das, nachdem sie Michaels Angebot soeben abgelehnt hatte. Autsch.
Shane musste dasselbe gedacht haben; er warf Michael einen entschuldigenden Blick zu und Michael nickte kaum merklich.
»Okay, klar«, sagte er. »Hervorragend.« Shane streckte Eve seine Faust hin und sie stieß mit ihrer Faust dagegen. »Claire? Ist es okay, wenn du dann allein bist?«
»Klar«, sagte sie und umklammerte die Laptoptasche noch fester. »Was sollte denn schiefgehen?«
Michaels Augen blitzten auf, ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel.
»Ich meine, abgesehen von allem«, ergänzte sie.