2
Als Claire wieder die Augen aufschlug, sah sie über sich drei Gesichter. Eines davon gehörte Myrnin, er sah besorgt aus. Eines war der schimmernde Blondschopf ihres Mitbewohners Michael Glass - Michael hielt ihre Hand, was nett war. Er war nämlich süß und hatte auch sehr schöne Hände. Beim letzten Gesicht musste sie einen Moment überlegen, aber dann erkannte sie es. »Oh«, murmelte Claire. »Hallo, Dr. Goldman.«
»Hallo, Claire«, sagte Theo Goldman und legte den Finger auf die Lippen. Er war ein freundlich aussehender älterer Mann, der etwas mitgenommen wirkte, und er hatte ein Stethoskop in den Ohren, mit dem er ihr Herz abhörte. »Ah. Sehr gut. Dein Herz schlägt noch, bestimmt bist du erfreut, das zu hören.«
»Juhu«, sagte Claire und versuchte, sich aufzusetzen. Das war keine gute Idee und Michael musste sie stützen, als sie das Gleichgewicht verlor. Kurz danach setzten die Kopfschmerzen ein, sie tobten wie ein Hurrikan durch ihren Schädel. »Au?«
»Du hast dir beim Fallen den Kopf gestoßen«, sagte Theo. »Ich glaube nicht, dass das bleibende Schäden hinterlassen hat, aber du solltest zum Arzt gehen und dich untersuchen lassen. Ich würde mir Vorwürfe machen, wenn ich etwas übersehen hätte.«
Claire holte tief Luft. »Vielleicht sollte ich zu Dr. Mills gehen, für alle Fälle. Moment mal. Warum bin ich überhaupt hingefallen?«
Die anderen wechselten einen Blick. »Du erinnerst dich nicht daran?«, fragte Michael.
»Warum? Ist das schlecht? Habe ich einen Hirnschaden?«
»Nein«, sagte Theo nachdrücklich, »es ist ganz normal, dass man bei solch einem Ereignis ein paar Dinge vergisst.«
»Was für ein Ereignis?« Da war es wieder, dieses Schweigen, und Claire schaltete auf ihrer persönlichen Alarmskala von Gelb auf Orange. »Sprecht ihr vielleicht mal mit mir?«
Myrnin sagte: »Es war eine Bombe.«
Sie blinzelte, weil sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Eine Bombe. Sind Sie sicher, dass Sie wissen, was das ist? Weil...« Sie deutete vage auf sich selbst und dann im Raum umher, der ziemlich unberührt aussah. Alle Glasgegenstände waren noch ganz. »Weil Bomben im Allgemeinen >Bumm!< machen.«
»Es war eine leichte Bombe«, sagte Myrnin. »Berühr mal dein Gesicht.«
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fühlte sich ihr Gesicht tatsächlich ein wenig heiß an. Sie legte die Finger auf ihre Wange. Es brannte wie Feuer. »Was ist mit mir passiert?« Sie schaffte es nicht, die Angst aus ihrer Stimme rauszuhalten.
Theo und Michael begannen, beide auf einmal zu sprechen, aber Michael gewann. »Es ist so ähnlich wie ein Sonnenbrand«, erklärte er. Dein Gesicht ist ein wenig rosa, das ist alles.
Michael war kein guter Lügner. »Großartig. Ich bin rot wie eine Tomate, richtig?«
»Überhaupt nicht«, sagte Myrnin fröhlich. »Du bist definitiv nicht so rot wie eine Tomate. Oder ein Apfel. Noch nicht. Das wird seine Zeit dauern.«
Claire versuchte, sich wieder auf das zu konzentrieren, was – hoffentlich - wichtiger war. »Eine leichte Bombe?«
Myrnin sah plötzlich sehr viel ernster aus. »Für einen Menschen ist es eine Unannehmlichkeit«, sagte er. »Für mich oder jeden anderen Vampir wäre es extrem schädlich gewesen, die Kiste zu öffnen.«
»Und wer hat Ihnen die Bombe geschickt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist schon so lange her. Vielleicht Klaus. Aber vielleicht habe ich sie auch an mich selbst geschickt. Ich bin nicht immer so besonders rational, weißt du? Hör mal, wenn ich du wäre, würde ich die letzte Schachtel nicht aufmachen.«
Claire warf ihm einen langen, stummen Blick zu, dann ergriff sie die Hand, die Michael ihr hinstreckte, um ihr auf die Füße zu helfen. Sie fühlte sich schwindlig und - ja - als hätte sie Sonnenbrand und sie kam sich ziemlich schmutzig vor. »Großartig. Sie haben also ihre eigenen Kisten mit versteckten Sprengladungen gespickt. Warum tun Sie so etwas?«
»Hervorragende Frage.« Myrnin ging zum Tisch und entnahm der offenen Kiste ein kompliziert aussehendes Knäuel aus Metall und Kabeln - die Art von Bombe, wie sie ein verrückter viktorianischer Erfinder hergestellt haben könnte - und legte sie sehr vorsichtig beiseite. »Ich kann mir höchstens vorstellen, dass ich schützen wollte, was sonst noch in dem Behältnis war.«
Er stand völlig unbeweglich da und starrte in die Kiste. Schließlich verdrehte Claire die Augen und sagte: »Und?«
»Was?«
»Was ist in der Kiste, Myrnin?«
Anstelle einer Antwort kippte er sie in ihre Richtung aus. Eine Staubwolke vernebelte die Luft, und als sie sich legte, sah Claire, dass nichts weiter in der Kiste war.
Überhaupt nichts.
»Ich gehe nach Hause«, seufzte sie. »Dieser Job ist echt das Letzte.«
***
Michael brachte sie mit dem Auto zurück ins Glass House, denn das meinte sie, wenn sie nach Hause sagte, auch wenn sie eigentlich gar nicht dort wohnte. Eigentlich hatten ihre Eltern in ihrem Haus ein Zimmer für sie und ihre Sachen waren auch dort. Zumindest die meisten. Na ja, einige. Und gemäß der Vereinbarung, die sie mit ihnen getroffen hatte, schlief sie dort auch die meiste Zeit jeder Nacht - jedenfalls ein paar Stunden.
Das alles war Teil des großen Plans ihrer Eltern, sie und Shane, nun ja, voneinander fernzuhalten - wenn man es grob formulierte. Das Ganze sollte flüchtig bleiben. Sie wollten nicht, dass ihr kleines Mädchen mit dem Bad Boy der Stadt zusammenlebte, auch wenn Shane nicht der Bad Boy war und er und Claire ineinander verliebt waren.
Verliebt. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, überkam sie immer noch ein köstliches kleines Prickeln.
»Eltern«, sagte Claire laut. Michael warf ihr einen Blick zu.
»Und?«
»Sie bringen alles durcheinander«, sagte sie. »Ist Shane zu Hause?«
»Noch nicht. Ich habe Eve zu ihrer ersten Probe gebracht.« Er lächelte träge. »War sie aufgeregt, als sie den Brief bekommen hat?«
»Definiere aufgeregt. Du meinst, ob sie ausgesehen hat wie eine Comicfigur auf Crack? Ja. ich wusste gar nicht, dass sie sich für Schauspielerei interessiert.«
»Sie liebt es. Sie spielt in ihrem Zimmer immer Szenen aus Filmen und Fernsehshows nach. Als wir noch auf der Highschool waren, hat sie immer diese kleinen Stücke organisiert. Sie verteilte die Rollen an uns, die sie auf kleine Papierschnipsel geschrieben hatte, und der Lehrer hatte keinen blassen Schimmer, was da vor sich ging. Verrückt, aber witzig.« Michael bremste; Claire konnte durch die getönten Scheiben nichts erkennen, aber sie nahm an, dass sie an einer roten Ampel waren. Zum Glück hatte Michael die außergewöhnliche Sehkraft der Vampire, denn sonst würden sie jetzt Versicherungsnummern mit irgendeinem anderen Fahrer austauschen. »Das ist also echt wichtig für sie.«
»Ja, das habe ich gemerkt. Wo wir gerade von wichtigen Dingen sprechen, ich habe gehört, dass du morgen im TPU-Theater spielst.«
Die Spitzen seiner Ohrläppchen wurden ein wenig rosa, was (selbst bei einem Vampir) entzückend war. »Ja, offensichtlich haben sie von den letzten drei Auftritten im Common Grounds gehört.« Das waren ziemlich spektakuläre Events gewesen, wie Claire zugeben musste - die Leute standen dicht gedrängt, einschließlich einer beeindruckenden Anzahl von Vampiren, die sich alle benahmen - wenigstens für diesen einen Abend. »Das ist doch keine große Sache.«
»Ich habe gehört, dass es keine Tickets mehr gibt«, sagte Claire selbstzufrieden. »Also ist es doch eine große Sache. Damit musst du dich abfinden.«
Michaels Gesichtsausdruck spiegelte eine komplizierte Mischung aus Stolz, Nervosität und unverhohlener Angst wider. Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Fühlst du dich auch manchmal, als sei dein Leben außer Kontrolle geraten?«
»Ich arbeite für einen Vampir - ich wurde heute von einer Spinne erschreckt und von einer Bräunungs-Bombe niedergestreckt. Und das war erst ein Tag, nicht die ganze Woche.«
»Okay, ja. Da ist ein Argument.« Michael drehte das Lenkrad und bremste noch einmal. »Wir sind zu Hause, Pinky.«
»Denk nicht mal daran, mich so zu nennen.«
Aber als sie nach oben ging und in den Spiegel schaute, wurde ihr klar, dass Michael nicht der Einzige sein würde, der ihr diesen - oder noch schlimmere - Spitznamen geben würde. Ihr Gesicht war leuchtend pink. Als wäre sie in Schamesröte getaucht und dann laminiert worden. Bäh. Als sie mit den Fingern auf ihre Haut drückte, blieben dramatische weiße Flecken zurück, die sich nur langsam wieder dunkel färbten. »Ich werde ihn umbringen«, murmelte sie. Sie schlug die Badezimmertür zu, schloss ab und drehte die Dusche auf, während sie ihr flammend pinkfarbenes Spiegelbild anstarrte. »Ich sperre ihn in eine Sonnenbank oder jage ihn oben ohne in die Wüste. Myrnin, du bist Toast. Verbrannter Toast.«
Als sie die Kleider ausgezogen hatte, sah es noch schlimmer aus; ihre von Natur aus blasse Haut bildete einen brutalen, völlig abartigen Kontrast zu dem Sonnenbrand auf ihrem Gesicht. Erst jetzt merkte sie, dass sie auch auf den Handrücken und auf den Armen verbrannt war - alle Stellen, die der Explosion aus Licht ausgesetzt gewesen waren.
Strahlung. UV-Strahlung. Es tat noch nicht wirklich weh, aber Claire wusste, dass das noch kommen würde, und zwar bald. Sie nahm eine schnelle Dusche; es fühlte sich bereits unangenehm an, wo das Wasser auf die betroffenen Hautstellen traf. Dann durchsuchte sie ihren Schrank vergeblich nach Kleidung, die sich nicht mit ihrer neuen, grell pinkfarbenen Farbpalette beißen würde.
Oh, Monica würde das lieben wie einen neuen Welpen.
Schließlich zog sie BH und Slip an, ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sie wusste, dass sie ihr Haar föhnen sollte, aber sie war zu schlecht gelaunt, als dass sie das scherte. Schönes, glänzendes Haar würde überhaupt nichts bringen. Und verheddertes, verlottertes Haar würde wenigstens zu ihrer derzeitigen Laune passen.
Nachdem sie geschlagene fünfzehn Minuten mürrisch vor sich hin gegrübelt hatte - womit sie so ziemlich ihre Grenze erreichte -, schnappte sich Claire ihre Kopfhörer und lud die neueste Unterrichtsstunde von Myrnin über die Stringtheorie hoch. Na ja, zumindest nahm sie an, dass es um die Stringtheorie ging, auch wenn Myrnin dazu neigte, Wissenschaft mit Mythologie, Alchemie, Magie und weiß-Gott-was-noch-allem zu verwechseln. Manche Teile ergaben immer noch mehr Sinn als alles, was sie von ihren ordentlichen Professoren zu hören bekommen hatte - andere Teile waren jedoch einfach nur Kauderwelsch.
Das Knifflige war, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, dass noch jemand im Zimmer war, bis sich das Bett auf einer Seite neigte. Claire schlug die Augen auf. Es war fast vollkommen dunkel - wann war das passiert? - und instinktiv griff sie nach der Decke, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie darauf lag und dass sie fast nackt war. Eine Welle der Panik überkam sie. Sie riss sich die Kopfhörer herunter und ließ sich von ihrer Bettseite heruntergleiten, weg von dem Gewicht, das sich auf der anderen Seite niedergelassen hatte...
Die Nachttischlampe ging an und beleuchtete Eve, die in vollem Gothic-Prunk dasaß. Noch immer war Violett die Farbe des Tages, aber inzwischen war sie nicht mehr so formell gekleidet - violette Strümpfe, schlabberige Shorts und ein T-Shirt, das mit Gothic-Schriftzügen übersät war.
Eve neigte den Kopf zur Seite und starrte Claire an. »Wow!«, sagte sie. »Respekt, Claire. Das ist ja ein höllischer Sonnenbrand. So einen schlimmen habe ich nicht mehr gesehen, seit meine Cousine am Unabhängigkeitstag um neun Uhr morgens in einem Liegestuhl eingeschlafen ist und erst um vier Uhr wieder geweckt wurde.«
Claire, die noch immer damit beschäftigt war, ihren rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen, schluckte keuchend und schnappte sich ihren Morgenmantel vom Stuhl in der Zimmerecke. Als sie ihn überzog, streifte er ihre Hände und Arme und sie hätte fast aufgeschrien vor Schmerzen. Ihr Gesicht fühlte sich an, als würde es brennen, als würde es buchstäblich in Flammen stehen. »Das ist kein Sonnenbrand«, sagte sie. »Es war eine Art UV-Bombe, die für Myrnin gedacht war.«
»Autsch. Nun, dann sollten wir dir eine Literflasche von diesem Cremezeug gegen Sonnenbrand besorgen. Schon notiert.«
Claire knotete den Gürtel ihres Morgenmantels zu. »Bist du nur gekommen, um dir die Freak-Show anzuschauen?«
»Na ja... so amüsant das auch ist - aber, nein. Ich wollte dir nur sagen, dass das Abendessen fertig ist, aber die Musik hatte dich völlig in ihren Bann gezogen.
Claire überlegte, ob sie ihr sagen sollte, dass sie sich Vorlesungen angehört hatte, beschloss dann aber, dass das in Eves Welt zu viele Informationen wären. »Sorry«, sagte sie.
»Hey, ich hätte nie gewagt, einfach so hereinzukommen, wenn Shane nicht unten wäre und den Tisch decken würde.« Eve zwinkerte. »Und wenn ich ihn geschickt hätte... na ja, dann würde das Abendessen kalt werden, stimmt's?«
Oh Gott. Shane. Shane würde sie so sehen, jetzt wo sie aussah wie eine Verbannte vom purpurnen Planeten. »Ich... ich glaube, es geht mir nicht gut genug, um etwas zu essen«, log sie, auch wenn ihr beim Gedanken an etwas zu essen der Magen knurrte. »Vielleicht könntest du mir etwas...«
»Es wird doch nur schlimmer«, unterbrach Eve sie mit unbarmherziger Fröhlichkeit. »Oh ja. Viel, viel schlimmer. Erst das rote Gesicht, danach kommen die Blasen und dann beginnt die Haut, sich zu schälen. Glaub mir, wenn du dich nicht - mindestens! - die ganze nächste Woche verstecken willst, dann komm jetzt mit nach unten. Es gibt Tacos.«
»Tacos?«, wiederholte Claire sehnsüchtig.
»Ich habe sogar dieses abgefahrene Reiszeugs gemacht, auf du so stehst. Na ja. Jedenfalls habe ich Wasser zum Kochen gebracht und das abgefahrene Reiszeugs hineingeworfen. Das nennt man kochen, nicht wahr?«
»So ungefähr.« Claire seufzte. Auf der anderen Seite des Zimmers zeigte ein Spiegel das Bild von jemandem, der ihre Klamotten trug. Sie weigerte sich zu glauben, dass das wirklich sie war. »Okay, ich komme gleich runter.«
»Gut.« Eve warf Claire eine Kusshand zu, flitzte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Claire war gerade damit beschäftigt zu entscheiden, ob sie mit einem pinkfarbenen T-Shirt ein wenig besser oder ein wenig schlechter aussah, als sie ein eiskalter Schauder wie eine Welle überlief. Kein Luftzug, nichts in dieser Art - das kam von innen. Es war eine Warnung, die direkt vom Haus kam, das so etwas wie ein Bewusstsein hatte.
Etwas im Haus stimmte nicht.
Auf dem Weg aus dem Zimmer schnappte sich Claire ihre Verteidigungsausrüstung für häusliche Notfälle - eine Tasche, die vom Pfefferspray bis zu silberbeschlagenen Pfählen alles Mögliche enthielt. Sie rannte den Flur entlang und die Treppe hinunter. Unten angekommen stellte sie fest, dass die anderen, einschließlich Michael, gemütlich beim Abendessen saßen.
»Was ist los?«, fragte Eve. Michael stand auf, offenbar hatte er Claires Gesichtsausdruck richtig gedeutet.
»Was ist denn mit dir passiert?«, platzte Shane heraus. Unter normalen Umständen hätte sie sich jetzt bestimmt echt mies gefühlt, aber dafür hatte sie jetzt keinen Nerv.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie. »Habt ihr das nicht gespürt?«
Die anderen tauschten Blicke. »Was sollten wir spüren?«, fragte Michael.
»Die... die Kälte. Es war wie eine Welle... aus Kälte?« Sie stockte, weil sie keine Reaktion von ihnen erhielt. »Ihr habt es nicht gespürt? Wie ist das möglich? Michael?« Es war Michaels Haus und eigentlich wohnte sie ja nicht einmal mehr hier. Genau! Das Haus sollte ihr eigentlich gar nichts mitteilen, bevor es nicht mit ihm kommuniziert hat.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Fühlt es sich jetzt immer noch so an?«
»Ja.« Es war ihr noch immer kalt, so kalt, dass ihr ganzer Körper erschauerte. Sie war erstaunt, dass ihr Atem keine Rauchwolken bildete. »Schlimmer«, brachte sie heraus. Shane, der seinen Schock über ihren Sonnenbrand überwunden hatte, kam zu ihr herüber und ergriff ihre Hände. Sie zuckte zusammen, als die empfindliche Haut vor Schmerz aufzuschreien schien, aber sie war auch dankbar für die Wärme.
»Du erfrierst ja«, sagte er. Er schnappte sich eine Fleece-Decke von der Rückenlehne des Sofas und wickelte sie darin ein. »Verdammt, Claire. Vielleicht ist es der Sonnenbrand...«
»Kein... Sonnenbrand«, stieß sie zwischen klappernden Zähnen hervor, während er sie zum Tisch führte und sie zwang, sich hinzusetzen. »Es ist das Haus. Es muss das Haus sein!«
»Ich... das glaube ich nicht«, sagte Michael und ließ sich langsam auf seinem Stuhl nach hinten sinken. »Das würde ich wissen, Claire, auf alle Fälle. Es muss etwas anderes sein.«
Sie schüttelte den Kopf und zog die Decke fester um sich. Jetzt fühlte sie sich gleich doppelt schlecht - ihr Gesicht war brennend heiß, ihr Körper zitterte vor Kälte.
»Versuch, etwas zu essen«, sagte Eve und häufte ihr Tacos auf den Teller. »Wie wäre es mit etwas Heißem zu trinken?«
Claire nickte. Die Kälte schien tiefer zu sickern und bis in ihre Knochen vorzudringen. Sie hatte keine Ahnung, was passieren wurde, wenn sie dort ankäme, aber das schien nicht gut zu sein. Überhaupt nicht gut.
Mit der rechten Hand umklammerte sie die Decke, mit der linken griff sie sich einen Taco, in der Hoffnung, dass sie mit ihren bebenden Händen nicht den ganzen Inhalt über den Tisch verteilen würde... da packte Shane sie am Arm. »Schaut mal«, sagte er, bevor sie protestieren konnte. »Seht euch das Armband an.«
Es war Amelies Armband, das Claire am linken Handgelenk trug. Sie konnte es nicht abnehmen und es erinnerte die Leute (und sie selbst auch jede Sekunde) daran, für wen Claire arbeitete.
Eigentlich war es aus Gold, aber in der Mitte war es jetzt weiß, als hätte jemand Kristall daraus gemacht.
Oder Eis.
Es war so kalt, dass Nebel rauchartig von ihm aufstieg.
»Wir müssen es abnehmen«, sagte Shane und drehte ihr Handgelenk um, um nach einer Schnalle zu suchen. Claire versuchte, ihm zu sagen, dass es keine gab, doch er hörte nicht zu. »Michael, es ist kalt. Mann. Es ist echt kalt. Irgendetwas stimmt absolut nicht.«
Inzwischen waren alle von ihren Stühlen aufgesprungen und hatten sich um sie versammelt. Michael berührte das Armband, zuckte zurück und wechselte einen Blick mit Shane. »Man kann es nicht abmachen«, sagte Michael.
»Es ist mir egal, dass man es nicht abmachen kann!«, fuhr Shane ihn an. »Hilf mir!«
»Das wird nichts helfen. Es ist ein Gründerinnen-Armband.« Michael packte Shanes Arm, als Shane versuchte, an dem Armband zu zerren. »Mann, hör mir doch zu! Du kannst es nicht abnehmen! Alles, was wir tun können, ist, zu Amelie zu gehen. Nur sie kann es abmachen.«
»Amelie«, wiederholte Claire und versuchte, das heftige Zittern zu unterdrücken, damit sie überhaupt etwas herausbekam. Die ganze Welt schien sich in Eis zu verwandeln - kalt und giftig. »Etwas... stimmt nicht... mit Amelie...«
Shane funkelte Michael an. »Lass los.« Doch auch als Michael gehorchte, funkelte er ihn weiter an. »Solltest du nicht Bescheid wissen, wenn Amelie ein Problem hat, immerhin bist du doch ihr dämonischer Sprössling und all das?«
»So ist das nicht«, sagte Michael. Zorn breitete sich in seinen blauen Augen und auf seinem Gesicht aus. »Ich bin nicht ihr Sprössling.«
»Den dämonischen Teil streitest du also nicht ab? Wie auch immer du es nennen willst. Sie hat dich zu einem Vampir gemacht. Kriegst du nicht mit, wenn sie in Schwierigkeiten steckt?«
»Du verwechselst Vampire mit Spiderman«, schoss Michael zurück, aber er war bereits aus dem Streit ausgestiegen und hatte sein Handy gezückt. Er drückte auf einen Knopf und redete weiter. Aber nicht mit Shane. »Oliver. Bist du bei Amelie? Nein? Wo ist sie?«
Wie auch immer die Antwort gelautet hatte - er klappte, ohne zu antworten, das Handy zu, blickte Shane an und sagte: »Gehen wir.«
»W-w-warte«, stieß Claire hervor, während sie nach Shanes Arm griff. »W-w-wohin...?«
»Genau das wollte ich auch fragen. Wohin geht ihr? Ich werde nämlich mitkommen«, sagte Eve und sprang auf um sich ihre Lacklederhandtasche mit Schädelmuster zu schnappen.
»Nein, du nicht. Jemand muss bei Claire bleiben.«
»Dann kommt sie eben auch mit. Das Weibervolk bleibt nicht mehr zu Hause, Mikey; das war letztes Jahrhundert«, sagte Eve und Claire nickte. Zumindest glaubte sie, dass sie nickte - das war schwer zu sagen bei all dem Gezitter. »Also gut. Hoch mit dir. Kleines.«