11

 

Claire packte Kims Laptop aus, als sie zu Hause, das heißt im Glass House, ankam - das Letzte, was sie jetzt wollte, war, ihre Eltern da mit hineinzuziehen. Sie richtete die Webcam ein und versuchte, auf den Datenfluss zuzugreifen. Das war nicht besonders schwierig, weil sie die IP-Adresse der Kamera kannte; Kim hatte die Info praktischerweise direkt mit auf das Etikett geschrieben. Das Problem war nur, dass sich am anderen Ende ein Zufallsgenerator befand, ein spezielles Programm, das das Signal verschob und alle paar Minuten über das Internet umleitete. Das Signal befand sich direkt in Morganville; das konnte Claire an den Zeiten erkennen, aber Claire hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte zu suchen. Kim hatte offensichtlich ein paar Vorsichtsmaßnahmen getroffen.

Doch so leicht gab Claire nicht auf. Sie mochte Kim nicht, aber hier stand eine Menge auf dem Spiel: Das Leben der Vampire - einschließlich Michaels -, Kims Leben, vielleicht alles, was sie sich hier - zu welchem Preis auch immer - aufgebaut hatten.

Michael hatte recht; sie konnten nicht zulassen, dass Kim das für ihren eigenen Ehrgeiz opferte. Die Wahrheit mochte vielleicht ans Licht kommen, aber das sollte nicht auf diese Weise geschehen, nicht als eine schreckliche Form des Voyeurismus.

Schließlich schaute sie sich das Video noch einmal an, das sie in Kims Loft gesehen hatten. Ich kann es nicht glauben; endlich habe ich es geschafft, einige im letzten Gründerinnenhaus zu installieren. Die Verbindungen scheinen gut zu sein, der Stream lädt hoch.

Claire machte sich im Glass House auf die Suche nach Kameras.

Die erste fand sie im Belüftungsschacht in Shanes Zimmer. Sie musste sich auf sein Bett sinken lassen, den Kopf in die Hände gestützt. Die Kamera war direkt auf sein Bett gerichtet.

Oh, mein Gott. Oh nein. Zuerst wurde ihr ganz elend bei dem Gedanken, dass Kim stundenlange Videoaufnahmen von Shane durchsah, in seine Privatsphäre eindrang, ihn dabei beobachtete, wie er sich auszog... und dann fiel es ihr wieder ein.

Wir waren hier drin. Zusammen. Und sie hat es gesehen.

Claire hob den Kopf und blickte direkt in die Kamera. Sie hatte keine Ahnung, was sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, aber wenn es auch nur annähernd die Wut ausdrückte, die in ihr hochkochte, das Gefühl vollkommenen Verrats und der Entblößung, konnte sie sich nicht vorstellen, dass Kim Spaß dabei hatte, das zu sehen. »Ich hoffe, diese Kameras haben auch Ton«, sagte sie. »Du Miststück. Ich hoffe inständig, dass du dafür in der Hölle schmorst, und ich schwöre dir, wenn du irgendetwas davon online stellst, werde ich dich finden.«

Dann zog Claire einen Stuhl heran, stellte sich darauf und riss die Abdeckung der Belüftung aus der Wand. Dahinter blinkte das Licht der Webcam und starrte Claire mit ihrem Glasauge an, das ebenso emotionslos war wie die Augen von Bob, der Spinne.

Claire nahm sie mit in ihr Zimmer und stellte sie neben die erste, die sie in Kims Wohnung gefunden hatten. Dann durchsuchte sie die anderen Zimmer. Sie fand noch zwei weitere - eine war kaum sichtbar im Wohnzimmer oben auf dem Bücherregal versteckt. So konnte man die gesamte Wohnfläche aus der Vogelperspektive beobachten. Die andere war in Michaels Zimmer auf das Bett gerichtet.

»Pervers«, murmelte Claire, riss sie aus der künstlichen Topfpflanze, die auf seiner Kommode stand, und brachte sie zu den anderen. Die IP-Adressen waren aufeinanderfolgend. Claire versuchte, sie in den Webbrowser einzugeben, das Signal war auch da, aber es wurde nur Flimmern angezeigt.

Eine Verschlüsselung, die das Zufallsgeneratorenprogramm, das Kim verwendete, mit sich brachte.

Sie war gerade damit beschäftigt, die Signale zurückzuverfolgen, als sie dieses vertraute Prickeln im Nacken spürte, das Gefühl, dass die Umgebung sich gerade verschoben hatte.

Ein Portal.

Claire glitt von ihrem Stuhl und schnappte sich eine Waffe, dann wartete sie. Es hatte sich angefühlt, als hätte sich das Portal oben auf dem Dachboden geöffnet. Und plötzlich hörte sie, wie der alte Holzboden über ihr leicht knackte und knarzte. Das sind keine Spinnen, dachte sie. Spinnen sind nicht so schwer.

Gott, sie hoffte, dass Spinnen nicht so schwer wären. Das war ein Furcht einflößender Gedanke. Sie bewegte sich bereits auf B-Movie-Niveau... allein zu Hause! Mit einer Riesenspinne!

Und vielleicht einem Vampir.

Was unter Umständen noch schlimmer war.

Lange Minuten verstrichen und nichts kam, um sie zu fressen. Claires Hand war schweißnass und ihre Muskeln schmerzten, weil sie das silberne Messer in ihrer Hand so krampfhaft umklammerte. Komm schon, dachte sie. Bringen wir es hinter uns. Es konnte jemand mit enormer Macht sein - Myrnin, Oliver oder Amelie. In diesem Fall würde sie das Messer weglegen und sich entschuldigen.

Aber sie dachte, es könnte eventuell Ada sein, die einen weiteren Versuch unternahm.

Das Knarzen über ihrem Kopf verstummte und sie hörte, wie derjenige, der es verursacht hatte, sich zurückzog.

Dann spürte sie, wie das Portal erneut aktiviert und dann zugeschlagen wurde. All die Schutzvorkehrungen rasteten wieder ein, als wären sie niemals durchbrochen worden. Wenn sie nicht hier gewesen wäre... hätte sie niemals erfahren, dass jemand im Haus gewesen war.

Claire schlich sich in den Flur hinaus und starrte die versteckte Tür an, durch die man hinauf in das Geheimzimmer gelangte. Sie war geschlossen und sie hörte kein Geräusch dahinter. Natürlich nicht, sie war schalldicht, aber trotzdem... Sie hatte das Gefühl, dass sie es spüren müsste, wenn etwas da war... und normalerweise vermittelte es das Haus, wenn Gefahr im Verzug war. Wenn es das nicht tat, dann meistens, weil Amelie...

Amelie.

Claire öffnete die Geheimtür, ging die Treppe hinauf und sah, dass die Lichter oben brannten. Die Farben des bunten Glases zeichneten sich durch den sanften Schein an der Wand und auf dem Sofa ab. Dort lag auch Amelie in voller Länge ausgestreckt und presste ihre weiße Hand gegen die Stirn.

Sie trug ein fließendes weißes Kleid, das aussah wie ein sehr edler Morgenmantel, auf dem sich aber Blutspritzer abzeichneten. Nicht dass sie verletzt gewesen wäre - es sah eher so aus, als hätte sie neben jemandem gestanden, der verletzt worden war. Als Claire das Zimmer betrat, schlug Amelie die Augen auf und heftete ihren Blick auf sie, aber sie rührte sich nicht.

»Wir haben ein Problem. Ada«, sagte Amelie. »Du weißt es schon, nicht wahr?«

»Dass sie verrücktspielt? Ja. Dahinter bin ich schon gekommen.« Claire merkte, dass sie noch immer das Messer in der Hand hielt, und legte es weg. »Tut mir leid.«

»Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme in unsicheren Zeiten«, sagte Amelie leise. Sonst nichts. Claire wartete, aber Amelie war so reglos wie einer dieser Marmorengel über einem Grab.

»Was ist passiert?«, wagte Claire schließlich zu fragen.

»Nichts, was du verstehen würdest.« Amelie schloss die Augen. »Ich bin müde, Claire.«

Es lag eine so schlichte Resignation in der Art und Weise, wie sie das sagte, dass Claire schauderte. »Soll ich... gibt es jemanden, den ich benachrichtigen soll, oder...«

»Ich werde mich erst einmal hier ausruhen. Danke.« Damit war Claire entlassen, worüber sie ein wenig erleichtert war. Amelie schien einfach... geistesabwesend zu sein. Leer.

»Okay. Aber... falls Sie etwas brauchen...«

Amelie riss die Augen auf und auch Claire spürte es: Eine Welle der Macht - das Portal öffnete sich wieder.

Amelie ließ es durch ihre Willenskraft wieder zuschlagen.

»Jemand ist auf der Suche nach Ihnen«, sagte Claire. »Wer?«

»Das geht dich nichts an.«

»Doch, es geht mich etwas an, wenn sie hierherkommen! Verfolgt Sie jemand?«

»Es sind meine Wachen«, sagte Amelie. »Früher oder später werden sie mich finden, aber jetzt möchte ich hier sein. Hier, wo Sam...« Sie verstummte wieder; silbrige Tränen sammelten sich in ihren Augen und rannen in ihr offenes blassblondes Haar. »Wo Sam gesagt hat, er würde mich nie verlassen. Aber er hat mich verlassen, Claire. Ich wusste, dass er es tun würde, und er hat es getan. Alle gehen. Alle.«

Als das Portal erneut aufflackerte, versuchte Amelie nicht, es wieder zu schließen. Sekunden später flog die Dachbodentür auf und es waren keineswegs ihre Bodyguards in ihren schwarzen Geheimdienstanzügen.

Es war Oliver, der noch immer sein Bowling-Shirt trug. Die grau melierten Haare hatte er zu einem strammen Pferdeschwanz zusammengebunden. Als sein Blick auf Amelie fiel, sah er einen Moment lang aus wie eine andere Person.

Nein, das war nicht möglich. Es konnte nicht sein, dass er tatsächlich etwas für sie empfand. Oder doch?

»Du«, sagte er zu Claire. »Lass uns allein. Sofort.«

»Bleib«, sagte Amelie. In ihrer Stimme lag unverkennbar ein drohender Befehl. »Du gibst meinen Dienern in meinem Haus keine Befehle, Oliver. Noch nicht.«

»Du versteckst dich hinter Kindern?«

»Ich verstecke mich überhaupt nicht. Nicht einmal vor dir.« Langsam setzte sie sich auf und im vielfarbigen Schein der Lampen sah sie jung aus und sehr müde. »Wir haben unsere Spielchen gespielt, nicht wahr? Wir beide haben all die Jahrhunderte lang Intrigen gesponnen, uns betrogen und gegenseitig für unsere jeweiligen Zwecke benutzt. Was hat uns das gebracht? Frieden? Für uns gibt es niemals Frieden. Es kann keinen Frieden geben.«

»Ich kann nicht über Frieden sprechen«, sagte er. Dabei kniete er vor ihr nieder und sah sie an. »Und du kannst das auch nicht. Neulich, nachts auf dem Friedhof hat Morley versucht, dich umzubringen, und du läufst immer noch allein herum und suchst deine eigene Vernichtung. Das muss aufhören.«

»Du sprichst als mein offizieller Stellvertreter.«

»Ich spreche als dein Freund«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Amelie, wir haben unsere Differenzen, du und ich. Die werden wir immer haben. Aber ich kann dich nicht so leiden sehen. Morganville überfordert dich momentan - es gibt hier zu viele Vampire mit zu viel Ehrgeiz. Die Kontrolle muss aufrechterhalten werden, und wenn du es nicht tust, dann musst du das in stärkere Hände legen. Meine Hände.«

»Wie freundlich von dir, dass dir die Anliegen der anderen so sehr am Herzen liegen«, sagte sie. Sie versuchte nicht, ihre Finger seinem Griff zu entziehen, aber ihr Tonfall hatte eine distanzierte Kühle bekommen. »Was schlägst du also vor?«

»Überlass mir die Stadt, bis du deine Trauer beigelegt hast«, erklärte er. »Du weißt, ich kann hier für Ordnung sorgen. Ich werde als dein Regent fungieren. Sobald du bereit bist, gebe ich sie dir wieder zurück.«

»Lügner«, sagte sie ohne besondere Betonung und ohne Vorwurf. Claire sah, wie sich Olivers Hand fester um ihre Finger schloss. Amelie lächelte, aber nur leicht. »Lügner und Betrüger. Glaubst du wirklich, dass eine solche Taktik gegen die Tochter von Bishop funktioniert? Du hättest gut daran getan, ein wenig mehr Mitgefühl zu heucheln. Oder weniger. Halbe Sachen funktionieren bei dir einfach nicht, Oliver.«

»Du verlierst die Stadt gerade zentimeterweise«, sagte er.

»Morley ist nur der erste der Vampire, der sich gegen dich erhebt - weitere werden folgen. Die Menschen auch; es gibt Banden, die uns nachts angreifen. Man ist bereits an mich herangetreten, damit ich dem Einhalt gebiete.«

»Jetzt ist es also ein Komplott. Ein Komplott, um mich von der Macht zu entheben. Und du bist mein treuer Diener, der gekommen ist, um mich zu warnen.« Ihre Zähne blitzten auf, als sie leise lachte. »Oh, Oliver. Der einzige Grund, weshalb du mich nicht an meinen Vater verraten hast, als du die Gelegenheit dazu hattest, war der, dass die Chancen gleich standen. Wenn er dir auch nur einen Moment lang den Hof gemacht hätte, wärst du eingeknickt wie ein liebeskrankes Mädchen. Und du hättest mir höchstpersönlich den Dolch in den Rücken gestoßen.«

»Nein«, sagte er und zog sie zu sich hinunter auf die Knie. »Das würde ich nicht tun. Du bist keine Königin mehr, Amelie. Glaub nicht, dass du noch immer auf deinem Thron sitzt und über mich urteilen kannst!«

Sie entwand ihm eine Hand und schlug ihm fest ins Gesicht. Claire wich zurück, als sich die beiden Vampire mit blutunterlaufenen Augen anstarrten. »Ich werde beschließen, was ich für richtig halte«, sagte Amelie. »Und ich werde keine weiteren Anmaßungen mehr von dir dulden. Denk dir Intrigen aus, so viele du willst - es wird keine Rolle spielen. Morganville gehört mir und wird niemals dir gehören. Niemals. Ich bin jetzt gewarnt.

Ich kann dir versichern, dass jegliche Verschwörung gegen mich aufgedeckt und zunichte gemacht wird. Selbst wenn du sie anzettelst.«

Sie stieß ihn von sich und Oliver fiel in voller Länge nach hinten. Blitzschnell griff Amelie nach dem silbernen Messer, das Claire auf den Tisch gelegt hatte, und noch bevor Claire blinzeln konnte, lag das Messer an Olivers Kehle. »Nun?«, fragte Amelie. »Was sagst du jetzt, mein Diener?«

Er breitete in stummer Kapitulation die Hände aus.

Amelie starrte auf ihn hinunter, dann sah sie Claire an. »Ruf meinen Wagen«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde eine Fahrt durch Morganville machen. Es wird Zeit, dass meine Leute mich sehen und wissen, dass ich nicht zu unterschätzen bin.«

Sie rammte das Messer so dicht neben Olivers Kopf in den Boden, dass die Klinge einen blutigen Striemen auf seiner Wange hinterließ, dann kam sie auf die Füße und fegte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Claire kramte ihr Handy heraus und rief die Nummer von Amelies Sicherheitsdienst an. Dort teilte sie mit, dass Amelie abgeholt werden wollte.

Als sie das Telefonat beendete, saß Oliver auf dem Sofa. Er tupfte sich den Schnitt im Gesicht ab und sah weit weniger aufgebracht aus, als Claire erwartet hätte.

»Wow, Sie haben das geplant«, sagte sie. »Richtig?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie hat Sam geliebt. Sie braucht jemanden, um die Leere in sich zu füllen - entweder einen Geliebten oder einen Feind.«

»Und Sie sind der Feind.«

Oliver klopfte sich den Staub ab. »Das ist das, was all die langen, langen Jahre immer zwischen uns war. Zorn und Respekt.« Er lächelte ein wenig. »Und manchmal ein Funke von etwas anderem - nicht dass wir das jemals voreinander zugeben würden. Nein, Feindschaft ist einfacher. Es gefällt ihr, mein Feind zu sein. Und mir gefällt es, ihrer zu sein.«

Claire verstand das absolut nicht, aber sie glaubte nicht, dass das irgendeinem v on ihnen etwas ausmachen würde.

»Hey« sagte sie. »Sie sind doch durch das Portal gekommen. War daran irgendetwas seltsam?«

»Seltsam?« Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

»Ich meine - ach, egal. Ich bin nur irgendwie besorgt wegen der Portale. Ich will das ganze System neu kalibrieren.«

»Ich wollte sowieso zu Fuß gehen. Für die Einwohner von Morganville ist es genauso wichtig, mich zu Fuß zu sehen, wie Amelie in ihrer königlichen schwarzen Kutsche.« Oliver strich sein Shirt glatt und stand auf. »Das verleiht uns... Gleichgewicht.«

»Oliver?«

Er blieb am oberen Absatz der Treppe stehen.

»Was würde passieren, wenn jemand dafür sorgen würde, dass Nachrichten aus dieser Stadt nach draußen dringen.«

»Nach draußen?«

»Hinaus in die Welt. Sie wissen schon.«

»Oh, das ist schon einmal passiert. Aber das glaubt sowieso niemand. Keiner glaubt das.«

»Was, wenn... was, wenn derjenige Beweise hätte?«

»Der einzig mögliche Beweis wäre ein echter Vampir, und das wird niemals passieren. Alle anderen Beweise können leicht entkräftet werden.«

»Wie steht es mit... Videos?«

»Claire. Du gehst doch ins Kino, oder? Glaubst du wirklich, dass im Zeitalter digitaler Tricktechnik irgendjemand an Vampire glauben würde?« Er schüttelte den Kopf. »Heute ist das noch weniger glaubhaft denn je. Es ist nämlich genau diese Popularität der Vampire in euren Geschichten, die uns beschützt.« Er blickte sie scharf an. »Warum?«

»Ich habe mich nur gefragt«, sagte sie.

»Hör auf, dich zu fragen. Das ist nicht gesund.«

Dann war er weg. Claire setzte sich auf das Sofa und strich mit der Handfläche über ihre Jeans.

Oliver hatte recht; die Leute würden es wahrscheinlich nicht glauben. Die meisten Leute glaubten ja auch diesen Reality Shows mit Geistern nicht. Das Problem heutzutage war, dass die Realität nicht real zu sein brauchte, um ein Hit zu werden – und Morganville konnte einer echten Prüfung nicht standhalten.

Sie mussten Kim aufhalten, bevor alles auseinanderbrach.

Außerdem mussten sie ihr wirklich in den Hintern treten wegen der Kameras, denn das ging einfach zu weit.

***

Eve und Shane kamen als Erste nach Hause zurück. Claire war gerade dabei, ein Brötchen mit Erdnussbutter zu verschlingen. Sie erzählte ihnen nichts von Amelie und Olivers Besuch, denn sie sahen ziemlich finster aus. Sie war sich sicher, dass sie das ohnehin nicht besonders interessiert hätte.

»Was ist los?«, fragte sie. Shane schnappte sich im Vorbeigehen ihr halbes Sandwich vom Teller. »Hey!«

»Hab Appetit bekommen, während wir Miss Ungezogen gesucht haben«, sagte er mit vollem Mund. »Sie hat die interessantesten Orte herausgesucht. Und mit interessant meine ich höllisch furchteinflößend.«

»Erzähl Claire nicht von diesem Club«, bat Eve und nahm ihre metallische Sonnenbrille ab. Dahinter war ihre Wimperntusche verschmiert und ihre Augen waren rot - nicht vampirrot, sondern wie von einer Überdosis Tränen. »Außerdem habe ich nicht willkürlich beschlossen, dorthin zu gehen, sondern weil Kim dort immer herumhängt.«

»Was für eine Art von Club?«, flüsterte Claire Shane zu.

»Leder« flüsterte er zurück. »Sie hat recht - du willst es wirklich nicht so genau wissen.«

»Kim ist seit ein paar Tagen nicht dort aufgetaucht«, sagte Eve. »Aber wir haben ein paar Vampire getroffen, die sie vor Kurzem für das Geschichtsprojekt interviewt hat.«

Shanes Gesichtsausdruck nach zu urteilen, steckte hinter der Geschichte noch mehr. »Und das haben sie euch erzählt? Einfach so?«, fragte Claire zweifelnd.

»Ich musste mich auf ein paar Deals einlassen, um die Details zu erfahren.« Eve mied Claires Blick, während sie das sagte. Sie legte ihre schwarze, mit Schnallen verzierte Lederjacke ab und schnappte sich eine Ecke von Claires übrig gebliebenem halbem Sandwich. »Hmm, das schmeckt gut; hast du Honig drauf getan?«

»Du hast was?« In Morganville irgendeine Art von Deal mit irgendeiner Art von Vampir zu machen, war irrsinnig. Aber Deals mit der Art von Vampir, die in Leder-Bars herumhing, zu machen, war Selbstmord. Claire ging auf Shane los. »Du hast das zugelassen?«

»Du kannst doch nicht im Ernst mir dafür die Schuld geben, wenn sie so was macht, ich bin nur der Bodyguard. Hätte ich sie vielleicht fesseln und knebeln sollen...?«

»Das hätten sie in dem Laden vielleicht sogar toll gefunden«, warf Eve ein. »Hör mal, ich kann aus den Deals wieder rauskommen. Amelie ist unsere Freikarte. Aber ich muss Kim finden, und um das zu tun, brauchen wir Informationen. Es sei denn, du hast den magischen Technik-Zauberstab geschwungen und...«

Claire blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln.

»Okay, dann schau mich nicht an, als hätte ich das Putzen vergessen oder so.« Claire merkte, dass sich Eve deswegen wirklich unbehaglich fühlte. Wahrscheinlich hatte sie sich zwingen müssen, mit diesen Vampiren überhaupt zu reden, und das Letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass jemand nach dem Spiel die Fehler analysierte.

Claire räusperte sich. »Was habt ihr herausgefunden?«

»Ich habe vier Vamps gefunden, mit denen Kim entweder vor der Kamera gesprochen oder mit denen sie für nächste Woche einen Termin für ein Interview vereinbart hat, was bedeutet, dass sie nicht geplant hatte, jetzt schon die Stadt zu verlassen. Und ein paar Menschen, die, ähm, Kim zu Hause besucht hatten.

»Typen, die sie abgeschleppt hat«, bestätigte Shane. »Das ist Kims Stil. Auch wenn ich über ihren Geschmack nicht viel sagen kann. Mit dem ist es steil bergab gegangen.«

»Also, Moment mal - was sagt uns das, was wir nicht ohnehin schon wissen? Und was hast du diesen Vamps überhaupt versprochen?«

»So Sachen«, sagte Eve, ohne weiter ins Detail zu gehen. Shane schaute weg. »Das ist jetzt nicht so wichtig. Der Punkt ist, dass zwei der Vampire, die sie interviewt hat, im Common Grounds gefilmt wurden, aber der dritte Vampir sagte, dass sie ihn mit in eine Art Studio genommen hat.«

»Ein Studio«, wiederholte Claire. »Das klingt vielversprechend.«

»Dachte ich mir auch. Man stand dort nicht knietief im Abfall, deshalb kann es nicht ihre Wohnung gewesen sein, stimmt's?«

»Haben sie euch gesagt, wo es war?«

»Nein«, sagte Shane und beugte sich über Eves Schulter. »Für diese kleine Perle von Information wollten sie mehr. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sie sich sonst wohin schieben.«

Claire blinzelte. Vampire. Lederbar. »Und die fanden das okay?«

»Wenn ich ehrlich bin, nicht so wirklich. Die meisten von ihnen waren der Meinung, dass wir gutes Kauspielzeug abgeben würden.«

»Shane!« Claire sah ihn mit einem flehentlichen Blick an. »Du hast doch nicht etwa...«

»Mich geprügelt? Das war nicht nötig«, sagte er. Bevor er es erklären konnte, ging die Haustür auf und wieder zu. Claire hörte wie die Schlösser wieder einrasteten. Eve erstarrte und blickte zu Boden; sie grub ihre schwarz lackierten Fingernägel in ihre Handflächen, als sie ihre Hände zu Fäusten ballte.

Michael sah aus... als hätte er einen üblen Abend in einer schlechten Bar verbracht, fand Claire. Völlig derangiert, mit am Saum aufgerissenen Kleidern. Auf seinem T-Shirt war etwas Dunkles, das wie ein Blutfleck aussah.

»Alles in Ordnung?« Claire kam auf die Füße und starrte ihn an. Er hatte keine Verletzungen oder so, aber er sah erschöpft aus. Seine Augen waren ein bisschen rot und seine Hände zitterten.

»Mir geht es gut«, sagte er. »Ich brauche nur... etwas zu trinken. Bin gleich wieder da.«

Er verschwand in der Küche. Die Stille im Raum war tief und unbehaglich. Claire sah Eve an, die ihre Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Ich habe ihn nicht darum gebeten, zu kommen und uns zu retten«, sagte sie und senkte dabei den Blick. »Ich wollte überhaupt nicht, dass er kommt.«

Michael kam mit einer schwarzen Sportflasche zurück. Sie wussten alle, was darin war, aber niemand sagte etwas, als er durch den Strohhalm einen Schluck nahm.

»Ich hatte meine Gründe, weshalb ich gehen musste«, sagte Michael. Dabei sah er Eve nicht an. Und Eve sah ihn nicht an. »Danke, dass du sie da rausgeholt hast, Shane.«

Shane nickte. »Kein Problem. Was ist passiert?«

Das war eine Frage, die Michael offenbar nicht beantworten wollte, denn er zuckte nur mit den Achseln. ›Kampf‹. Und was für einer, seinen Klamotten und seinem Blutdurst nach zu urteilen. »Es hat sich gelohnt. Einer von ihnen hat mir gesagt, wohin Kim ihn zum Interview mitgenommen hat, und das war keiner der Orte, von denen hier schon die Rede war.«

Eve hob langsam den Kopf ihre Augen wurden schmal. »Du bist uns gefolgt. Du dachtest, wir würden nicht zurechtkommen.«

»Ich wusste, wohin ihr wolltet. Und ich hatte recht, oder?«

»Nein, du hattest nicht recht! Michael...«

Er stellte die Flasche ab, trat vor und nahm ihre Hände in seine. Eve wollte sich losreißen, aber er hielt sie fest und zwang sie, ihn anzuschauen. Das wirkte irgendwie... intim.

»Ich bin ein Vampir«, sagte er. »Ich werde niemals etwas anderes sein. Du musst entscheiden, ob das okay für dich ist, Eve. Für mich ist es okay.«

»Was, wenn es nicht okay ist?« Ihre Stimme klang jetzt kleinlaut und gekränkt. »Was, wenn ich will, dass du einfach Michael bist, nicht... nicht Vampir-Michael aus dem Clan oder was auch immer?«

»Ich kann nicht«, sagte er. »Weil ich nicht mehr einfach nur Michael bin. Das war ich auch nicht, bevor du eingezogen bist. Das hast du nur nicht gewusst.«.

Er ließ ihre Hände los, schraubte die Sportflasche auf und trank das Blut in langen, durstigen Schlucken, wobei er dafür sorgte, dass sie zuschaute. Seine Augen wurden rubinrot und er leckte sich ein paar Tropfen von den Lippen. Dann setzte er die leere Flasche ab und beobachtete sie.

Sie verschränkte die Arme und wandte sich von ihm ab. Michael schloss vor Schmerz die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren sie einfach nur menschlich und traurig.

Claire fragte sich, ob sie gerade miterlebt hatte, wie sie miteinander Schluss machten. Sie hoffte nicht.

Shane räusperte sich. »Du bist also einfach an einem der Orte aufgetaucht die Kim sonst besucht, oder? Lass uns darüber reden. Bitte.«

Michael ging hinüber zu dem Sessel, auf dem seine Gitarre lag. Er nahm sie in den Arm, wobei er immer noch Eve beobachtete. Nach ein paar Sekunden spielte er leise einige Akkorde. Es waren schmerzvolle Klänge, sanft und voller Gefühl. Claire beobachtete, wie sich Eves Schultern anspannten und bebten, bei dem Versuch, Tränen zu unterdrücken.

»Kim hat früher im KVVV gearbeitet«, sagte Michael. »Sie war dort Praktikantin, bevor es zumachte. Der Vampir sagte, sie hätte ihn in einer Kabine der alten Studios am Stadtrand beim Funkturm interviewt.«

Claire spürte unwillkürlich Aufregung in sich aufsteigen. »Das ist es. Das muss es einfach sein, findet ihr nicht? Du sagtest, sie haben zugemacht?«

»Ja, Amelie hat den Radiosender vor ein paar Jahren geschlossen, nachdem... es dort einen Vorfall gab«, erklärte Michael. »Der Stadtrat hat beschlossen, dass wir keine weitere Radiostation brauchen. Seitdem ist sie geschlossen.«

»Das müssen wir uns anschauen!« Claire sprang los, aber Shane packte sie an den Schultern und führte sie zu einem Sessel.

»Bleib cool. Nicht bei Nacht, sicher nicht. Das Letzte, was wir jetzt tun, ist, in einer Stadt voller Vampire in einem verlassenen Gebäude herumstöbern.«

»Aber was, wenn sie beschließt, ihre Zelte abzubrechen? Ihren Schaden begrenzt, ihre Schätze schnappt und versucht abzuhauen?«, sagte Eve. »Sie könnte umgebracht werden. Wir müssen sie warnen.«

»Sie warnen?« Claire schnappte nach Luft und wäre beinahe in hysterisches Gelächter ausgebrochen. »Eve, kapierst du das nicht? Sie hat unser Haus verwanzt. Sie hat uns beobachtet. Sie hat alles beobachtet, alle privaten Details...«

»Nein«, sagte Eve. »Nein, das würde sie nicht tun. Du irrst dich.«

»Ich habe Kameras in den Schlafzimmern gefunden!«

Eve öffnete den Mund, klappte ihn dann aber wieder zu. Claire hatte sie noch nie so am Boden zerstört gesehen. Sie ließ sich auf die Couch fallen und bedeckte ihr reispuderblasses Gesicht mit beiden Händen.

Shane starrte Claire mit entsetzter Miene an. »Welche Schlafzimmer?«

»Deines«, sagte sie leise. »Und Michaels.«

Eine Sekunde lang rührte sich Shane nicht, dann schnappte er sich den nächstbesten Gegenstand - eine DVD-Hülle - und schleuderte ihn mit aller Kraft durch den Raum, sodass er an der Wand eine Delle hinterließ. »Verdammter Mist«, murmelte er. »Diese kleine...«

Michaels Gesicht war vollkommen reglos geworden und er hatte aufgehört zu spielen. Er hielt die Gitarre, als hätte er sie vollkommen vergessen. »Sie hat uns aufgenommen, ihre eigene kleine Big-Brother-Show mit Vampiren.«

Eve sagte nichts. Claire konnte sich nicht einmal vorstellen, wie ihr zumute war, aber sie sah völlig unglücklich aus.

»Wir müssen gehen«, sagte Eve schließlich. »Wir müssen herausfinden, wo sie die Aufnahmen aufbewahrt, und sie löschen. Jedes kleinste bisschen. Das darf doch nicht wahr sein. Das kann sie einfach nicht machen.«

»Ich hoffe nur, sie hat es nicht bereits getan«, sagte Claire. »Sie bastelt das seit über einem Monat zusammen. Sie müsste inzwischen fast fertig sein. Wenn wir recht haben und sie hat eine Art Sponsor außerhalb der Stadt...«

»Dann müssen wir wirklich gehen. Jetzt. Heute Nacht.«

»Nein«, sagte Michael. »Nicht bei Nacht.«

»Sie wird ungestraft davonkommen!«

»Das ist ein Risiko, das wir auf uns nehmen müssen«, sagte Michael. »Shane hat recht. Wir stürzen jetzt nicht einfach in die Dunkelheit hinaus. Das muss bis morgen warten.« Dann fing er wieder an zu spielen. Er hielt dabei den Kopf gesenkt, als würde er sich auf seine Musik konzentrieren, aber Claire glaubte nicht, dass er das tat. Irgendetwas stimmte nicht mit der Art und Weise, wie er das gesagt hatte. Wie er sie dabei nicht angeschaut hatte. »Wie wäre es mit noch ein paar Sandwichs?«

Eve hob den Kopf und starrte ihn an, Tränen verschmierten ihre Wimperntusche zu einem Clowns-Make-up. »Unglaublich«, sagte sie. »Du weißt, was auf diesen Aufnahmen ist. Du weißt es, Michael. Du lässt zu, dass sie sie nimmt und verkauft?«

»Wir müssen klug vorgehen. Wenn wir völlig planlos losstürmen...«

»Pfeif auf deine Pläne!«, schrie sie und sprang vom Sofa, dann stapfte sie die Treppe hinauf, dass ihre Ketten rasselten. »Und pfeif auch auf dich!«

Michael sah Claire an, dann Shane.

»Da hat sie nicht ganz unrecht«, sagte Shane. »Sorry, Mann.«

***

Michael hat sie angelogen und Claire hatte ihn dabei erwischt.

Sie war auf dem Weg ins Bad, ihr Tanktop und ihre Pyjamahose unter dem Arm, und dachte gerade darüber nach, wie sie sich in Shanes Armen warm zusammenkuscheln würde, als sie Michael in seinem Zimmer sprechen hörte. Die Tür war einen Spalt offen. Shane und Eve waren noch unten und räumten die Küche auf.

Er war an seinem Handy. »Nein«, sagte er gerade. »Nein, ich bin sicher. Ich muss nur gehen und es herausfinden, heute Nacht. Stell sicher, dass niemand die Einrichtung benutzt, ohne...«

Claire schob die Tür auf. Michael wirbelte herum und sah sie an. Kalt erwischt. Er erstarrte eine Sekunde lang, dann sagte er: »Ich rufe dich zurück«, und legte auf. »Lass mich raten«, sagte sie. »Oliver. Du erzählst ihm alles, nicht wahr?«

»Claire...«

»Wir haben dich gefragt. Wir haben dich gefragt, ob du zu uns hältst, und du hast Ja gesagt. Du hast es versprochen.«

»Claire, bitte.«

»Nein.« Sie wich zurück, als er die Hand nach ihr ausstreckte. »Eve hatte recht. Du bist nicht mehr Michael. Du bist Vampir – Michael. Es geht wirklich um wir oder sie und du hältst zu ihnen.«

»Claire.«

»Was?«

»Das war nicht Oliver.«

»Wer dann?«

»Detective Hess. Er wollte sich mit mir am Bahnhof treffen und es überprüfen. Heute Nacht. Eve hatte recht. Wir können nicht warten, nicht einmal bis morgen früh.« Michaels Gesicht hatte einen leicht gefährlichen Ausdruck angenommen. »Kim ist zu weit gegangen. Sie hat sich bei uns eingeschlichen und uns hereingelegt. Ich kann vieles verzeihen, Claire, aber das nicht.«

»Du wolltest uns also hier zurücklassen.«

Seine Augen flackerten kurz auf »Weil ich mir Sorgen um euch mache. Ja. Weißt du, wie knapp Eve heute Abend davor war, umgebracht zu werden? Und Shane? Das reicht. Ich riskiere nicht euer Leben. Nicht ihretwegen.«

»Hey! Du bist nicht unser Vater! Du kannst nicht einfach beschließen, dass wir Schutz brauchen - wir stecken alle mit drin!«

»Nein«, sagte er. »Tun wir nicht. Einige von uns werden leichter verletzt als andere und ich mag euch. Ich will euch nicht verlieren. Nicht auf diese Weise.«

Er zog sein zerrissenes Hemd aus und zog ein neues an, schnappte sich seine Schlüssel vom Tisch und hob Claire sehr sanft hoch und stellte sie zur Seite, als sie versuchte, ihm den Weg zu verstellen. »Nicht«, sagte er. »Claire, ich meine es ernst. Sag ihnen nicht, wohin ich gegangen bin. Lass mich das erledigen.«

Sie sagte nichts.

Sie wollte ihn nicht anlügen.

Michael starrte sie einige lange Sekunden an, lang genug, dass sie fast sicher war, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Dann steckte er seine Schlüssel in die Tasche und ging die Treppe hinunter.

Sie setzte sich auf sein Bett und starrte zu der Pflanze hinüber, in der sie die Kamera gefunden hatte. Claire hatte eigentlich keine Ahnung, was sie tun sollte, bis sie hörte, wie Michael draußen sein neues Ersatzauto anspringen ließ. Sie stand auf, ging in die Küche hinunter und platzte in ein intensives Gespräch zwischen Shane und Eve, die an der Spüle standen. »Michael ist weggegangen, um Kim zu finden, wir müssen sofort los.«

Die beiden verstummten augenblicklich und sahen sie über die Schulter hinweg ab. Eves Arme steckten bis zum Ellbogen in Seifenlauge. Shane hielt ein Geschirrtuch und einen Teller.

»Sofort«, wiederholte Claire. »Bitte.«

Eve zog den Stöpsel aus der Spüle, nahm Shane das Geschirrtuch aus der Hand und trocknete sich Hände und Arme ab. Dann warf sie das Geschirrtuch auf die Theke. »Ich fahre« sagte sie und rannte los, um ihre Schlüssel zu holen. Shane stand noch an derselben Stelle, er hatte noch immer den Teller in der Hand und sah Claire an. Er öffnete den Mund.

»Wag nicht zu sagen, dass ich nicht mitkommen kann«, sagte sie. »Wag es nicht, Shane. Ich bin auch auf diesen Videos, und das weißt du.«

Er stellte den Teller ab. »Michael ist allein gegangen?«

»Mr Vampir-Superheld braucht keine Verstärkung.« Na ja, das war nicht gerade fair. »Er trifft sich mit Detective Hess. Aber trotzdem.«

Die Küchentür wurde aufgerissen und Eve kam hereingeschossen, sie war in lebhaftes Schwarz-Weiß gekleidet - eine Pantomimendarstellerin auf Mission. Sie warf mit einem metallischen Klappern immer wieder nervös die Schlüssel in die Luft und sagte: »Waffen.«

Niemand argumentierte, dass sie nur gegen Kim vorgehen würden. Shane zog eine schwarze Nylontasche unter der Küchentheke hervor - in anderen Städten bewahrten die Leute dort vielleicht Notrationen von Essen und Wasser auf, vielleicht auch einen Erste-Hilfe-Kasten, aber in Morganville bestand die Ausrüstung für Notfälle aus Pfählen und Messern mit Silber-Überzug. »Hab ich«, sagte er und warf sich die Tasche über die Schulter. »Claire...«

»Wag es nicht!«

Er grinste und warf ihr eine zweite Tasche zu. »Silbernitrat und Wasser in einer Wasser-Pumpgun«, sagte er zu ihr. »Meine eigene Erfindung. Sollte auf sechs Meter Abstand Wirkung zeigen, etwa wie Wespenspray.«

Oh. »Du schenkst mir immer die hübschesten Sachen.«

»Schmuck kann ja jeder kaufen. Das ist was für Angeber.«

Eve verdrehte die Augen. »Los jetzt, du Komiker.«

Als sie wieder die Schlüssel hochwarf griff Shane sie aus der Luft. »Ich bin vielleicht ein Komiker, aber du siehst aus wie eine Pantomimendarstellerin, hat dir das schon mal jemand gesagt?«

Er stürzte zur Tür. Eve folgte. Claire schulterte ihre Nylontasche und machte sich daran, die Haustür zu verriegeln. Dabei spürte sie, wie eine Welle voller Gefühle über sie hinwegschwappte. Das Haus, Michaels Haus, machte sich Sorgen. Manchmal war es fast schon lebendig. So wie jetzt.

»Alles wird gut«, sagte sie zu ihm und tätschelte es. »Ihm wird nichts passieren. Uns wird nichts passieren.«

Die Lichter wurden etwas dunkler, als sie die Tür schloss.

***

Eves Auto wollte nicht anspringen.

»Ähm... das ist nicht gut«, bemerkte Eve, als Shane erneut versuchte, den Motor anspringen zu lassen. Es machte Klick, und das war's. »Das darf doch wohl nicht wahr sein, du miese, dumme Schrottlaube!« Sie schlug auf das Armaturenbrett, was natürlich absolut nichts brachte. »Komm schon, spring an!«

Draußen war es sehr dunkel - die Straßenlampen waren nicht an und der Mond und die Sterne waren hinter einem Schleier aus dichten, rasch über den Himmel ziehenden Wolken. Im Schein der Lichter auf dem Armaturenbrett sahen Shane und Eve besorgt aus. Shane zog den altmodischen Hebel unter dem Armaturenbrett und die Motorhaube des Wagens sprang mit einem dumpfen, metallischen Geräusch auf. »Bleibt hier«, sagte er. »Ich schaue mal nach.«

»Nur weil du ein Typ bist, bist du auch automatisch ein besserer Mechaniker als ich? Wohl kaum«, sagte Eve und sprang auf der Beifahrerseite aus dem Auto. Shane ließ seinen Kopf die Kopfstütze des Sitzes fallen.

»Im Ernst«, sagte er. »Warum muss sie immer alles so kompliziert machen?«

»Sie macht sich Sorgen«, sagte Claire.

»Wir machen uns alle Sorgen. Du bleibst im Wagen.«

»Ich habe ja auch keine Ahnung von Autos.«

»Wenigstens eine, die vernünftig ist.« Er beugte sich über den Sitz und küsste sie, dann stieg er aus und ging zu Eve, die gerade die riesige, schwere Motorhaube des Wagens nach oben stemmte. Nun hatte Claire nur noch eine beschränkte Sicht auf die Geschehnisse - die Motorhaube, die dunkle Nacht draußen, ein paar Lichter in den Häusern der Nachbarn...

Ein Auto bog um die Ecke und seine Scheinwerfer verliehen der Dunkelheit Farbe. Sie zeigten das Glass House in seiner ganzen verfallenden viktorianischen Pracht, den verblassten Lattenzaun, die frühlingshaften Triebe des Unkrauts am Straßenrand...

Und dann stürzte eine Gruppe Vampire aus der Dunkelheit auf Shane und Eve zu. Einer davon war Morley, der schmuddlige obdachlose Kerl vom Friedhof. Die anderen waren wohl seine Freunde, vermutete Claire; die sahen nicht so aalglatt und gepflegt aus w ie die meisten anderen Vampire, sondern hungrig, fies und schmutzig.

Claire warf sich von der Rück- auf die große Vorderbank des Wagens und ließ ihre Hand auf die Hupe krachen, die aufbrüllte wie ein Nebelhorn. Es gab einen kurzen Knall, als Eve und Shane gleichzeitig beim Hochfahren mit dem Kopf gegen die Motorhaube krachten.

»Leute!«, brüllte sie. »Es gibt Ärger!«

Shane, der sich mit einer Hand den Kopf hielt, machte die Autotür auf und zog sie heraus. »Haustür«, rief er. »Geh zurück ins Haus. Das mit dem Auto klappt nicht.«

Claire widersprach nicht. Beim Rennen kramte sie ihren Schlüssel aus der Jeanstasche, riss das Gartentor auf und kam vor der Haustür zum Stehen. Flackernd ging das Verandalicht an.

»Danke«, sagte sie geistesabwesend zum Haus, rammte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

Shane war am Fuß der Treppe, aber er blickte noch einmal zurück.

Eve war zwischen Auto und Haus gefangen, umringt von Vampiren.

Claire schnappte nach Luft, als sie sah, dass weder Shane noch Eve Zeit gehabt hatten, ihre Taschen mit den Waffen aus dem Auto zu holen.

Doch sie hatte ihre noch.

Morley stürzte nach vorne und drückte Eve auf den abgerundeten Kotflügel des Wagens. Eves panischer Schrei zerriss die Nacht. Shane eilte auf sie zu und zog dabei einen Pfahl aus seiner Jacke, auch wenn das nichts nützen würde. Sie waren zu sechst und sie hatten alle Vampirkräfte.

Das würde ihn umbringen.

Claire machte den Reißverschluss an ihrer Tasche auf und zog eine große Wasser-Pumpgun aus Plastik heraus. Sie war neonfarben, was völlig absurd schien, und schwer, da sie mit Unmengen Wasser gefüllt war.

Gott, bitte mach, dass sie funktioniert.

Claire rannte los und drückte auf den Abzug. Ein überraschend breiter Wasserstrahl schoss heraus und traf auf den Gehweg; sie zog die Pumpgun hoch über den Zaun und spritzte damit in einem Bogen über Shanes Rücken, die Vampire, die auf ihn zukamen, Morley und Eve.

Wo der Wasserstrahl auf ungeschützte Vampirhaut traf, ließ die Lösung aus Silberpulver und Wasser die Vampire aufleuchten wie Weihnachtsbäume. Eine knochige Frau mit langem schwarzem Haar, die sich auf Shane stürzen wollte, blieb schreiend stehen, schlug sich in ihr brennendes Gesicht und starrte dann auf ihre Hände, wo die Lösung begann, das Fleisch aufzufressen.

Claire pumpte erneut mit dem Spielzeuggewehr, um Druck aufzubauen, und legte es an, während sie zum Stehen kam. »Zurück!«, brüllte sie. »Hört sofort auf! Du, lass sie los!« Letzteres war an Morley gerichtet, der Eve vor sich an den Schultern nach unten drückte. Er trug einen schmutzigen alten Regenmantel, der ihn vor der Lösung geschützt hatte; sie entdeckte eine dunkelviolette Verbrennung auf seiner Wange, aber nichts, was wirklich wehtun würde.

Shane wich zurück und stellte sich keuchend neben Claire. Diese zielte mit der Wasser-Pumpgun direkt auf Morley und Eve. »Lass sie los«, wiederholte sie. »Wir haben euch nichts getan.«

»Es ist nicht persönlich gemeint«, erklärte Morley. »Wir verhungern, Süße. Und ihr seid so schön saftig.«

»Igitt«, sagte Eve schwach. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du nach Grabstein riechst?«

Er sah sie an und lächelte. »Du bist die Erste, die das sagt«, versicherte er ihr. »Was ein wenig schmeichelhaft ist. Ich bin Morley. Und du bist...? Ah, ja. Amelies Freundin. Ich kenne dich vom Friedhof. Sam Glass' Grab.«

»Schön, dich kennenzulernen. Friss mich aber nicht, okay?«

Er lachte und strich ihr das Haar aus dem blassen Gesicht. »Du bist süß. Vielleicht muss ich dich verwandeln und als Haustier halten.«

»Hey«, sagte Claire scharf und trat einen Schritt vor. »Hast du nicht gehört? Lass sie los! Sie steht unter Amelies Schutz!«

»Ich sehe kein Armband.« Morley schnappte sich Eves Arm, hielt ihn ins schwache Licht und drehte ihn nach allen Seiten. »Nein, da ist definitiv nichts.« Er küsste ihren Handrücken, dann fuhr er die Vampirzähne aus und wollte aus den bleichen Venen an ihrem Handgelenk Blut saugen.

Eve wand sich und schlug ihm auf den Mund.

Morley taumelte rückwärts gegen das Auto, Claire drückte auf den Abzug der Pumpgun und hüllte ihn in Silberspray. Dieses Mal brüllte er auf und ruderte mit den Armen, dann sprang Eve weg in die Dunkelheit. Claire besprühte auch den Rest seiner Eskorte noch einmal, als sie ihm folgte, und rief dadurch zorniges Schmerzengeheul hervor.

Shane stürzte vor, sprang über das Gartentor und half Eve, die noch immer an der Stelle lag, wo Morley sie hingeschubst hatte, beim Aufstehen. »Das ging ja gerade noch mal gut«, sagte er mit zitternder Stimme. »Keine Abdrücke von Vampirzähnen, oder?«

»Zum Glück nicht«, sagte Eve und lachte hysterisch. »Hol die Tasche mit den Waffen. Ich kann echt nicht glauben, dass du sie im Auto gelassen hast. Was sollte das denn? In was für einer Stadt bist du denn aufgewachsen?«

»Ich wollte dir helfen, das Auto in Ordnung zu bringen.«

»Volltrottel.« Sie umarmte ihn fest und schlug ihm auf den Hinterkopf Dann holte sie tief Luft, während Shane sie losließ, um die schwarze Nylontasche aus dem Wagen zu holen. »Und du?«

Claire senkte die Wasser-Pumpgun. »Was? Was habe ich verbrochen?«

»Mir das Leben gerettet? Das Wort stark neu definiert?«

»Oh. Okay.« Sie fühlte, wie tief auf ihrem Inneren ein Lächeln aufstieg, und einen Moment lang war alles gut.

Wirklich gut.

»Ladys«, sagte Shane und knallte die Autotür zu. »Lasst und den Champagner im Haus trinken, okay? und darüber reden, wer die Kabel im Motor herausgezogen hat und wie wir Michael unterstützen können, wenn wir nicht motorisiert sind.«

Da hatte er nicht ganz unrecht. Claire sicherte ihren Rückzug mit der Wasser-Pumpgun und fühlte sich dabei wie eine Art Rambo mit neonfarbenem Gewehr. Eve schlug die Haustür hinter ihnen zu und verriegelte sie, dann lehnte sie sich gegen das Holz und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

Als Claire die Pumpgun absetzte, schlang Shane sofort die Arme um sie und küsste sie - sehr zärtlich und süß und ein wenig verzweifelt. Und heiß.

»Hey«, sagte Eve. »Michael, erinnert ihr euch? Wie kommen wir hin? Taxi?«

Es gab nur ein einziges Taxi in Morganville und der Fahrer arbeitete nachts nicht, deshalb war das keine Option. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, darüber zu diskutieren. »Na ja«, sagte Claire äußerst widerwillig, »es gibt noch eine andere Möglichkeit. Die wird euch aber nicht gefallen.«

»Eine, die mir weniger gefallen wird, als von einem Vampir in einem Exhibitionisten-Regenmantel belästigt zu werden, der nach Friedhof stinkt? Komm schon.«

»Ich könnte ein Portal öffnen«, erklärte Claire. »Aber ich war noch nie beim Radiosender, deshalb kann ich es nicht blind riskieren. Ich muss an irgendeinen Ort gehen, der in der Nähe ist und den ich kenne. Was gibt es um den Radiosender herum?«

»Warte mal«, sagte Shane und ließ die Tasche mit den Waffen mit einem dumpfen Geräusch auf den Holzboden fallen. »Was ist mit Ada? Du sagtest, sie ist auf Blut aus, oder?«

»Ich sagte doch, dass euch die Idee nicht gefallen wird.«

»Um es also noch einmal zusammenzufassen - Ada will dich umbringen und du willst durch ein Portal latschen, das sie kontrolliert?«

»Na ja...«

»Nein, Claire. Nächster Vorschlag.«

»Aber...«

»Keine Chance.«

Sie seufzte. »Was, wenn ich Myrnin dazu bringen kann, es für uns zu öffnen? Er ist besser darin. Ich glaube nicht, dass sie es wagen würde, sich direkt mit ihm anzulegen.«

»Und Myrnin erzählen, was los ist? Keine gute Idee. Der Kerl ist die meiste Zeit halb verrückt.«

»Was wäre denn deine glänzende Idee?«, fragte Claire. Shane breitete die Hände aus. »Genau das hatte ich auch gedacht.«

Sie zog ihr Handy hervor und sah auf das Display. Ihr Akku wurde schwach; sie war in letzter Zeit nicht dazu gekommen, ihn aufzuladen, auch wenn das in Morganville zu den grundlegendsten Überlebensstrategien gehörte. Sie griff nach dem Hörer des altmodischen Festnetztelefons auf dem Tischchen im Flur und wählte die Nummer von Myrnins Labor.

Es klingelte und klingelte und klingelte, doch schließlich nahm Myrnin ab. »Was!«, fauchte er. »Ich bin beim Abendessen.«

Claire hatte Angst zu fragen, was es gab. »Ich brauche Hilfe«, sagte sie.

»Claire, du bist meine Assistentin. Nicht umgekehrt. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich ein Organigramm für dich aufstellen würde, das du immer bei dir tragen kannst. Vielleicht kann man es auf deinen Arm tätowieren.«

Er hatte schlechte Laune. Claire biss sich auf die Lippe. »Bitte«, sagte sie. »Es ist nur ein kleiner Gefallen.«

»Oh, schon gut. Was?«

»Kennen Sie den alten Radiosender außerhalb der Stadt? KV...« Ihr Kopf war leer. Sie sah Eve an, die die Antwort mit den Lippen formte. »KVVV. Könnten Sie mir ein Portal öffnen?«

»Hmmm«, sagte er. Sie hörte, wie im Hintergrund eine Flüssigkeit eingeschenkt wurde. Dann hörte sie, wie er die Flüssigkeit schluckte und ein schmatzendes Geräusch von sich gab. »Nun, ich denke, ich kann euch in die Nähe, wenn nicht sogar in das Gebäude bringen. Würde das reichen?«

»Klar. Wie auch immer.«

»Und warum kannst du das nicht selbst?«

»Ada...?«

Myrnin schwieg für ein paar lange Sekunden. »Es geht ihr besser«, sagte er. »Ich weiß nicht, was in das alte Mädchen gefahren ist. Aber ich habe mit ihr geredet und es geht ihr jetzt wirklich viel besser. Viel, viel besser.«

»Das ist gut.« Das wäre es zumindest, wenn es stimmen würde, aber Claire vertraute Myrnins Urteilsfähigkeit nicht, was Ada betraf. »Ähm, wegen des Portals...«

»Ja, gut, kommt gleich. Ich bin gleich da.«

»Nein, Myrnin...«

Doch er hatte aufgelegt, bevor sie erklären konnte, dass es eigentlich nicht nötig war, dass er dazukam. Aber er würde ja sowieso nicht auf sie hören. Claire legte den Hörer wieder zurück auf die Basis.

»Der verrückte Boss kommt«, las Shane an ihrem Gesichtsausdruck ab. »Wunderbar. Das wird bestimmt lustig.«

Etwa fünf Sekunden später spürte Claire, wie eine übersinnliche Welle durch das Haus fegte, die so stark war, dass es sie überraschte, dass weder Shane noch Eve sie spürten. Dann bildete sich auf der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers eine dunkle Öffnung, über deren Schwelle Myrnin trat.

»Ich liebe seine Garderobe«, seufzte Eve. »Ist das oberflächlich oder einfach skurril?«

»Verkauf dich nicht unter Wert. Es ist beides«, sagte Shane und neigte den Kopf zur Seite, um Myrnins neuesten Versuch, sich anzupassen, auf sich wirken zu lassen. Es war... interessant. Claire konnte sich nicht entscheiden, ob es eine bewusste, ruchlose Mischung aus viktorianischem Lord und Hippie sein sollte oder ob es nur das war, was er ganz tief hinten in seinem Kleiderschrank gefunden hatte.

Er trug seine Häschenhausschuhe.

Und sie hatten Vampirzähne.

Einen Herzschlag lang sahen sie sie alle schweigend an, dann sagte Shane: »Das finde ich mal absolut abgefahren. Durchgeknallt, aber abgefahren.«

Myrnin sah ihn stirnrunzelnd an, dann blickte er hinunter auf seine Schuhe. Er schien ehrlich überrascht zu sein. »Oh, die. Ich dachte... na ja, ich nehme an, sie sind schicklich.«

»Ich möchte keinesfalls unschicklich sein«, sagte Claire, »aber Sie hätten wirklich nicht zu kommen brauchen. Es tut mir leid.«

»Bin ich aber. Ich habe versucht, ein Portal zum Radiosender zu öffnen, es ging aber nicht.« Myrnins dunkle Augen waren groß und glänzten, er war eindeutig fasziniert. »Claire, weißt du, was das bedeutet?« Er ging auf und ab. Die Ohren der Häschenschuhe flatterten auf irritierende Weise auf und ab. »Jemand hat das Gebiet abgeriegelt. Und ich war das nicht.«

»Wer sonst könnte das tun?«

»Niemand.«

»Aber...«

»Genau!« Er klatschte entzückt in die Hände. »Ein Rätsel! Danke, dass du angerufen und mir diesen Gefallen aufgezwungen hast; das sie ist eine sehr aufregende Angelegenheit, weißt du? Chaos, Durcheinander, jemand ist mir zuvorgekommen – ah, wie ich das die letzten paar Monate vermisst habe, ihr nicht?«

»Nein«, sagten sie alle gleichzeitig. Claire ergriff Shanes Hand und sagte: »Myrnin, wer könnte sonst noch Stadtgebiete abriegeln und Portale einfrieren?«

»Amelie«, sagte er, »aber sie ist es nicht. Ihre Arbeit trägt eine bestimmte Handschrift und außerdem war sie vor Kurzem hier, wusstet ihr das? Sie riecht zurzeit förmlich nach Trauer. Das ist höchst beunruhigend.«

»Konzentrieren Sie sich, Mann«, sagte Eve. »Wer noch?« Sie warf Claire einen Warum-frage-ich-überhaupt-Blick zu, aber Myrnin riss sich zusammen und nickte, während er darüber nachdachte.

»Es hat insgesamt sechs andere in der Geschichte Morganvilles gegeben«, sagte er. »Aber sie sind alle tot. Alle bis auf dich, Claire.«

Alle schauten sie an. Sie blinzelte. »Na ja, aber ich war das nicht!«

»Oh. Schade. Dann habe ich keine Ahnung.«

Sie räusperte sich. »Was ist mit Ada?«

»Ada ist nicht das Schreckgespenst hinter jedem Schatten, meine Liebe«, erklärte Myrnin und ließ sich in Michaels Sessel fallen. Er nahm die akustische Gitarre und spielte darauf eine überraschend gekonnte Akkordfolge. »Ada tut, was man ihr sagt. Anders als du, wenn ich das hinzufügen darf, was keine attraktive Eigenschaft an einer Laborassistentin ist.«

»Wäre sie dazu in der Lage?«

Er brachte die Saiten mit einer Hand zum Verstummen und blickte auf. Seine dunklen Haare fielen um sein bleiches Gesicht und einen Augenblick lang sah er vollkommen ernst aus. »Ada kann alles«, sagte er. »Ich glaube aber nicht, dass sie das weiß. Allerdings, ich finde es höchst unwahrscheinlich...«

»Sie sind ein Vampir, der Häschenhausschuhe mit Vampirzähnen trägt. ›Höchst unwahrscheinlich‹ ist also definitiv drin«, unterbrach Eve ihn. »Wie nah können Sie uns hinbringen? Zum Radiosender?«

»Warum wollt ihr dorthin? Es ist wohl kaum sicher für unmarkierte Blutspender, dort nachts herumzulaufen. Nicht einmal Claire wäre sicher und sie hat den stärksten Schutz, den man kriegen kann. Ich rate euch davon ab.« Er legte die Gitarre beiseite und die Fingerspitzen zusammen. »Aber ich glaube, ihr seid nicht töricht genug, dass ihr dorthin gehen würdet, weil es den Kick gibt, also habt ihr einen Grund. Verratet ihn mir.«

Claire wechselte einen raschen Blick mit ihren Freunden, dann sagte sie: »Michael ist allein dorthin gegangen. Wir müssen ihm helfen.«

»Michael ist ein Vampir. Vampire gehen bei Nacht aus.« Myrnin zuckte mit den Schultern und zupfte ein paar Flusen von seinem schwarzen Samtjackett, das ziemlich elegant aussah, wenn er auf dem Weg zu einem Kostümfest gewesen wäre. »Warum solltet ihr euch Sorgen machen, wenn ihr nicht vermuten würdet, dass es Schwierigkeiten gäbe? Hör auf zu lügen, indem du Dinge verschweigst, Claire. Erzähl mir alles! Sofort!«

Eve schüttelte den Kopf, ein winziges Rucken, das wahrscheinlich nicht beabsichtigt war. Selbst Shane sah aus, als wäre er von der Idee nicht wirklich begeistert. Claire erwiderte aber: »Wir können ihm vertrauen. Wir müssen ihm vertrauen.«

»Oh, das kann ja interessant werden«, sagte Myrnin und beugte sich in Michaels Sessel vor. »Bitte, fahr fort.«

Das tat sie. Sie holte sogar eine der drahtlosen Kameras von oben, zeigte sie ihm und erklärte, wie sie funktionierte, was für sein obsessiv wissenschaftliches Wesen eine wahre Wonne war. »Aber das ist wunderbar«, sagte er und drehte das kleine Gerät zwischen seinen flinken Fingern. »Dieses Mädchen ist ein ziemlich unternehmerisches kleines Ding. Wie viele davon sagtest du?«

»Wir gehen von zweiundsiebzig aus.«

Sein Lächeln erlosch und er war ganz auf den Gegenstand in seiner Hand fixiert. »Dann kann sie das nicht allein getan haben. Es muss einen höheren Zweck geben. Einen größeren Plan. Trotzdem, vielleicht benutzt diese Kim es für ihre eigenen Zwecke; habt ihr darüber schon einmal nachgedacht?«

»Wir wissen, dass sie auch davon profitiert«, antwortete Claire. »Aber wollen Sie damit sagen... es war gar nicht ihre eigene Idee?«

»Genau.«

Also war Kim vielleicht angeheuert worden, die Kameras zu installieren. Und dann hatte sie sie für ihren eigenen Traum vom Reality-Show-Projekt gekapert... aber das bedeutete, dass jemand anderes verantwortlich war.

Jemand, der klug genug war, nicht gefasst oder auch nur verdächtigt zu werden.

»Das solltet ihr wirklich Oliver erzählen«, sagte Myrnin. »Ich weiß, dass er nicht der angenehmste aller Bündnispartner ist, aber unter den richtigen Umständen ist er sehr effektiv. Wie eine dieser Atombomben.«

»Wenn wir es Oliver erzählen, ist Kim tot«, sagte Eve. »Sie mag ja ein unglaubliches Miststück sein, aber dass sie hingerichtet wird, will ich auch wieder nicht.«

»Das lass ich gelten«, stimmte Myrnin zu. »Wenn das allerdings schiefgeht, ist sie so oder so tot. Ich werde mitkommen. Ihr braucht eine erwachsene Aufsichtsperson.«

»Ich sag nur Häschenhausschuhe«, sagte Shane. »Ich mein ja nur.«

»Sie könnten schmutzig werden, ich komme gleich wieder.« Myrnin sprang aus dem Sessel und stürzte durch das Portal. Es schnappte mit einem Energiestoß hinter ihm zu.

»Glaubt ihr...«

Bevor Shane die Frage beenden konnte, öffnete sich das Portal erneut und Myrnin hüpfte auf einem Fuß herein, weil er gerade massive Piratenstiefel anzog, diese kniehohen mit Aufschlägen aus Leder. Er zog den linken vollends an und posierte für Claire, als würde er gerade weglaufen. »Besser?«

»Äh... ja. Ich glaube schon.« Jetzt sah er aus wie dieser debile Pirat, der immer auf Rumflaschen abgebildet war.

»Dann mal los.«

Als er sich umdrehte, um sich auf das Portal zu konzentrieren, zupfte Eve Claire am T-Shirt.

»Was?«

»Frag ihn, woher er die Stiefel hat.«

»Frag ihn doch selbst.« Claire hätte viel lieber die Häschenhausschuhe gehabt.