4

 

Michael spielte im Wohnzimmer Gitarre, als Claire den Flur entlangstapfte, ihren Rucksack ohne Rücksicht auf die elektronischen Gefühle ihres darin befindlichen Laptops hinwarf und sich der Länge nach auf das Sofa fallen ließ. Michael hielt mitten im Akkord inne und sie spürte, wie er sie anstarrte, aber sie schaute nicht zu ihm hinüber. Schließlich fing er wieder an zu spielen. Die Musik hüllte sie ein, sie war schön und kompliziert, und während Claire so dalag und sich auf ihre Atmung konzentrierte, fühlte sie, wie die Anspannung in ihr nachließ. Es war zwar immer noch ein schrecklicher Tag, aber wenn Michael spielte, konnte sie nie allzu zornig sein.

»Nun«, sagte er, ohne von den Bünden seiner Gitarre aufzuschauen, während er eine komplizierte Flut neuer Klänge ausprobierte, »ich spiele mit dem Gedanken, auf E-Gitarre umzusteigen. Was hältst du davon?«

»Eve hat mich ausgebootet. Ich wurde als beste Freundin abgelöst.«

Michaels Gitarrenspiel stockte kurz, dann wurde es wieder flüssig. »Ich nehme an, das heißt Nein?«

»Da ist dieses Mädchen, Kim. Kennst du sie?« Michael nickte, sagte jedoch nichts. Claire spürte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Sie streckte sie bewusst und vorsichtig wieder aus. »Also diese Kim, sie scheint perfekt zu sein und so weiter. Ooooh und sie ist Künstlerin. Und Eve und sie scheinen alles gemeinsam zu haben und ich bin nur - die Außenstehende, die die Witze nicht kapiert.«

»Ich habe Kim kennengelernt«, sagte Michael. Seine Stimme war neutral und er hielt seinen Blick auf die Gitarre gesenkt. »Sie ist wie ein schwarzes Loch; sie zieht die Leute direkt aus ihrem Orbit heraus. Eve ist immer noch deine Freundin. Sie ist nur völlig hingerissen von Kim, weil die früher nie etwas mit ihr zu tun haben wollte.«

»Aber was steckt denn hinter der ach so fantastischen Kim?« Er zuckte mit den Achseln und warf ihr einen kurzen, schwer entzifferbaren Blick zu. »Sie ist aufs OLOM gegangen, deshalb kenne ich sie nicht so gut.«

»OLOM?«, wiederholte Claire.

»Oh, ich habe ganz vergessen, dass du nicht hier aufgewachsen bist. Our Lady of Mystery, eine katholische Schule auf der anderen Seite der Stadt, die von den furchteinflößendsten Nonnen geleitet wird, die du je gesehen hast. Soviel ich weiß, ist Kim mit vierzehn aus der Schule abgehauen. Sie ist wohl die flippige Künstlerin am Ort und ist eher geneigt, dir den Mittelfinger zu zeigen als dir die Hand zu geben.«

»Wetten, dass sie voll schlecht ist?«

Michael sah aus, als würde er sich bemühen, ein Lächeln zu unterdrücken. »Kunst ist immer subjektiv. Für dich mag sie schlecht sein.«

»Findest du nicht?« Claire spürte, wie sich ihre Laune verschlechterte. Oh, großartig, natürlich mochte Michael Kim auch. Shane mochte sie wahrscheinlich nicht nur, sondern war auch schon mit ihr ausgegangen und war insgeheim in sie verliebt. Claire Danvers, die Neue, war wahrscheinlich die Einzige, die Kim nicht so toll fand.

Michael brachte die Saiten seiner Gitarre zum Schweigen, indem er seine flache Hand darauf legte. Er lehnte sich zurück und sah sie endlich an. »Du solltest sie kennenlernen«, sagte er. »Sie ist... interessant. Du darfst ihr bloß nicht zu nahe kommen.«

»Sie hat mich wie den letzten Dreck behandelt!«

»Das sieht ihr ähnlich«, stimmte er zu. »Wusstest du, dass sie mal einen Vampirangriff überlebt hat, als sie sechzehn Jahre alt und obdachlos war?«

Claire schluckte, was immer sie gerade hatte sagen wollen, hinunter, weil es bissig und sarkastisch rübergekommen wäre. Stattdessen sagte sie: »Wie hat sie überlebt?«

»Sie hat den Vampir, der versucht hatte, sie auszusaugen, umgebracht. Sie hätte hingerichtet werden können - Stadtgesetze. Stattdessen wurde sie freigesprochen. Kein Gefängnisaufenthalt. Brandon war darüber nicht glücklich - er war damals die Nummer zwei und kam gleich nach Amelie -, aber er musste es schlucken. Also eigentlich gibt es nur zwei Menschen in Morganville, die jemals einen Vampir getötet haben und damit durchgekommen sind.«

»Kim und wer noch?«

Michael zog die Augenbrauen nach oben. »Wusstest du das nicht?«

»Was weiß ich nicht?«

»Richard Morrell«, sagte er.

»Ernsthaft?« Richard Morrell war inzwischen Bürgermeister von Morganville, gehörte zu den drei wichtigsten Leuten der Stadt und es wollte Claire einfach nicht in den Kopf, dass die Vampire es zugelassen hatten, dass er... damit einfach durchkam. »Wann?«

Michael hatte keine Zeit zu antworten, weil sein Handy anfing, »Born to Be Wild« zu spielen. Er zog es heraus und schaute auf das Display. »Ich muss mich fertig machen«, sagte er. »Sorry, ich erzähl dir die Geschichte später. Hey, glaub mir, Kim ist zwar eine Naturgewalt, aber sie zieht weiter wie ein Sturm. Eve wird eine Zeit lang fasziniert sein, aber Kim wird schon bald jemand Neues finden. So läuft das immer bei ihr.«

Claire hatte das starke Gefühl, dass er ihr nicht alles gesagt hatte. Eigentlich hatte er ihr überhaupt nichts gesagt. Doch er ließ ihr auch keine Zeit nachzuhaken, sondern räumte einfach seine Gitarre in ihren Kasten und ging nach oben.

»Fertig machen«, wiederholte sie. Ihre Wut war noch immer nicht ganz abgeflaut. »Ja, alle müssen irgendwohin, nur ich nicht. Du solltest Kim kennenlernen; sie ist interessant.« Claire legte eine Menge Spott hinein, als sie Michael nachäffte. »Ja, klar.«

Die Hintertür ging auf und fiel wieder ins Schloss. In der Küche knarrten Dielen und Claire nahm den köstlich rauchigen Duft von Gegrilltem wahr. Unwillkürlich musste sie lächeln – bei dem Gedanken an Gegrilltes.

Und bei dem Gedanken an denjenigen, der es brachte.

»Hey«, sagte Shane. Er lehnte sich über das Sofa, um auf sie hinunterzustarren. Sein Haar war länger und sah noch zotteliger aus, so als hätte er die widerspenstigsten Stellen mit einer Schere traktiert. Oder einer Heckenschere. Eigentlich hätte das furchtbar aussehen müssen, aber an ihm... sah es irgendwie unwiderstehlich aus.

Nicht dass sie in irgendeiner Weise voreingenommen wäre.

»Hey«, antwortete sie und hob die Hand, damit er einschlagen konnte. Stattdessen nahm er sie und küsste sie zart.

»Warum das trübselige Gesicht? Habe ich vergessen, irgendetwas zu sagen?«

»Von dir reicht mir schon ein Hey.« Sie seufzte. Sich über Kim zu beschweren, hatte nicht die große Erleichterung gebracht, die sie sich erhofft hatte. Michael war bestenfalls unschlüssig gewesen und sie hatte keinen Grund anzunehmen, dass es bei Shane anders sein würde. »Ich habe einfach nur schlechte Laune.«

»Das muss ich sehen.« Shane beugte sich vor und starrte ihr in die Augen. »Wow. Ja, das ist beängstigend, ich sehe, dass du nur noch einen Wimpernschlag vom Ausflippen entfernt bist, Hannibal Lecter.«

Sie seufzte. »Vor mir hat niemand Angst.«

»Nee. Keiner. Und das ist auch gut so, Claire.«

»Sagt der Typ, der allen Angst macht.«

Shane dachte darüber nach und lächelte langsam. Sie mochte es, wie sich sein Mund beim Lächeln auf einer Seite weiter nach oben zog als auf der anderen und dass sich dabei ein kleines Grübchen bildete. »Dir mache ich keine Angst, oder?«

»Na ja, ein bisschen vielleicht.«

»Ich werde daran arbeiten, dieses bisschen verschwinden zu lassen«, sagte er. »Wo wir gerade von Angst einjagen sprechen, wie geht es deinem durchgedrehten Boss?«

»Weiß nicht, war nicht dort, ist mir egal«, sagte sie. »Mein Gesicht tut weh.«

»Du bläst also Trübsal, weil dein Gesicht wehtut?«

»Ich bin hässlich und keiner liebt mich.«

»Falsch«, sagte er, »so was von falsch.« Er küsste wieder ihre Finger und dieses Mal blieben seine Lippen warm und lange auf ihrer Haut. »Macht sich Michael fertig?«

Claire atmete verärgert aus. »Ja. Alle gehen irgendwohin, nur ich nicht und... was?« Denn sie erntete einen verblüfften Blick.

»Der Auftritt an der TPU? Er spielt heute? Rappelvoller Laden? Erinnerst du dich?«

Oh, Mist. Nein, das hatte sie ganz vergessen und jetzt fühlte sie sich noch schlechter, wenn das überhaupt möglich war. »Ich bin so blöd«, sagte sie. »Oh Mann. Ich habe wegen Kim herumgejammert wie eine Zweijährige. Ich hatte ganz vergessen, dass er sich für den Auftritt sammelte.«

»Kim?« Shane war auf einmal hellwach. »Kim. Gothic Kim?«

»Ja, wie heißt sie überhaupt mit Nachnamen? Die seltsame Kim, meine ich.«

»Wo hast du Kim kennengelernt?«

»Eve. Sie spielen wohl zusammen in dem Stück?«

»Oh, shit«, sagte Shane. Seine Miene änderte sich und wurde vorsichtig. »Du hast mit ihr gesprochen?«

»Ich war es nicht wert, dass man mit mir redete.«

Täuschte sie sich oder flackerte Erleichterung in seinem Gesicht auf? »Wahrscheinlich besser so. Sie spinnt irgendwie.«

»Irgendwie?« Claires Augen wurden schmal. »Bist du mit ihr ausgegangen?«

Seine Augen wurden groß und er schwieg eine fatale Sekunde lang, bevor er sagte: »Nein... nicht direkt. Nein, ich... nein.«

»Hattet ihr etwas miteinander?«

Er setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann aber den Kopf.

»Es ist sowieso egal«, sagte er. »Was immer ich sage - du wirst glauben, dass es so war, oder? Doch selbst wenn es so war - es ist lange her und außerdem bin ich jetzt mit dir zusammen. Okay?«

»Okay«, sagte sie, fühlte dabei aber, dass etwas in ihr zerbrach, und irgendwie war das alles Kims Schuld. Ich bin erwachsen, sagte sie sich selbst. Erwachsene stressen nicht wegen Exfreundinnen oder Exaffären oder was auch immer herum. Aber sie wollte nichts sehnlicher als Kim finden und ihr eine reinhauen, was nicht gut war, denn sie war ziemlich sicher, dass Kim zurückschlagen würde, und zwar härter. »Klar. Alles ist gut.«

Shane glaubte ihr keine Sekunde lang, aber sie merkte, dass er beschlossen hatte, so zu tun. »Gut«, sagte er. »Also, Grillwürstchen? Bist du dabei?«

»Ich kann nicht glauben, dass du Gegrilltes essen kannst, nachdem du es den ganzen Tag serviert hast. Wird das nicht alt?«

»Es ist Gegrilltes«, sagte er. »Worauf willst du hinaus? Komm schon. Übellaunige. Komm essen.«

Er zerrte sie mehr oder weniger vom Sofa, kitzelte sie, bis sie kicherte, und jagte sie in die Küche.

Er hatte recht. Grillwürstchen waren tatsächlich eine Art Zaubermittel gegen schlechte Laune.

***

Claire machte sich für Michaels Auftritt an der TPU schick, aber angesichts ihres Sonnenbrandes war sie sich nicht sicher, ob sich die Mühe überhaupt lohnte - zumindest, bis sie wieder nach unten kam. Shane und Michael standen beisammen, unterhielten sich und... wow, Claire blieb bewundernd auf der Treppe stehen.

»Was«, fragte Shane, der sie dabei ertappte.

»Nichts. Ihr Jungs seht großartig aus.«

Michael zuckte mit den Schultern, als wäre das kein großes Ding. Shane auch, obwohl er sich die Zeit genommen hatte, sein schwarzes Hemd und seine schwarze Lederjacke anzuziehen. Außerdem hatte er wohl versucht, seine Haare zu kämmen.

Aber Michael... er war ein Rockstar. Nicht dass er glamourösen Haarschmuck getragen hätte oder so - nein, er sah einfach ... wichtig aus. Claire fragte sich, ob Eve die Klamotten für ihn ausgesucht hatte; wenn ja, dann liebte sie ihn wirklich, denn sie waren vollkommen perfekt. A propos: »Wo ist eigentlich Eve?«

»Sie ist spät dran«, sagte Michael. »Wir treffen sie dort.«

Eve ließ sich Gegrilltes entgehen? Das war komisch. Claire ging die letzten Stufen hinunter und wirbelte herum, damit Shane sie begutachten konnte. »Okay?«

»Spektakulär«, sagte er und küsste sie - vorsichtig, wegen des Sonnenbrandes. »Weißt du, ich liebe diesen Rock.«

Sie wurde rot unter ihrem Sonnenbrand. »Ja, ich weiß.« Es war ein kurzer Faltenrock. Kariert. Die Schuhe, die sie dazu anhatte, waren die, die Eve ihr letztes Halloween gekauft hatte - flippig, aber cool und irgendwie sexy. Claire fühlte sich im Allgemeinen noch immer ein wenig unbehaglich in ihrem Körper, aber irgendwie kam sie sich durch die Signale, die Shane aussandte, weniger unbeholfen vor. Vielmehr selbstsicherer.

»Kommt ihr beiden mit mir?«, fragte Michael und rasselte mit seinem Autoschlüssel. »Wenn ja, dann geht es jetzt los.«

Natürlich fuhren sie mit ihm; da Eve nicht da war, hatten sie kein anderes Auto und in der Dunkelheit zu Fuß zu gehen, war selbst im neuen, ruhigeren Morganville nicht die beste aller Ideen. Die Fahrt dauerte nicht lange und Michael trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, als wollte er Fingerübungen für seine Gitarre machen; sie redeten nicht viel. Claire lehnte sich auf dem Rücksitz an Shane, ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter und seine Anwesenheit ließ sie fast vergessen, was für einen schrecklichen Tag sie erlebt hatte.

Zumindest bis ihr wieder einfiel, dass er früher, in nicht näher definierten alten Zeiten, mit Kim so dagesessen hatte. »Hey«, sagte sie. »Das mit Kim...«

»Oh, Mann, ich wusste es. Du lässt nicht locker, oder?«

»Ich will nur wissen... seid ihr zusammen ausgegangen oder...«

»Nein«, sagte Shane und schaute weg. Er hätte aus dem Autofenster geschaut, nur konnte er durch die dunkle Tönung draußen nichts sehen. »Okay, ich bin mal mit ihr Bowlen gegangen. Das konnte sie ziemlich gut. Zählt das?«

»Es zählt, wenn ihr hinterher etwas miteinander hattet.«

Er zögerte, schließlich seufzte er. »Ja«, sagte er. »Schuldig. Wir sind ausgegangen. Hatten eine Affäre. Dann zog sie weiter zum nächsten Kerl. Sonst noch was?«

Claire war absolut nicht darauf vorbereitet, wie schlecht sie sich dadurch fühlte. »Hast du... mochtest du sie wirklich?«

»Müssen wir wirklich jetzt darüber reden? Vor Zeugen?«

Michael hob die Hand. »Nur fürs Protokoll - ich höre überhaupt nicht zu.«

»Und... dennoch.«

»Mann, da hast du dich selbst reingeritten, ich kann nichts dafür.« Michael klang definitiv amüsiert, wodurch sich Claire nicht besser fühlte.

»Tut mir leid«, sagte Claire kläglich. »Wir können auch später darüber reden. Es ist sowieso kein Problem.« War es aber doch. Und zwar ein ziemliches Problem.

Shane drehte sich wieder zu ihr, um ihr in die Augen zu schauen. Seine Pupillen wirkten im Schimmer der Armaturen riesig. »Ich habe ein Mädchen gesucht«, sagte er. »Kim war nicht die Richtige. Du schon, deshalb hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Ob ich sie wirklich mochte? Wohl nicht. Es hat mir nicht gerade das Herz gebrochen, als sie weitergezogen ist. Es war eher eine Erleichterung.«

Claire blinzelte. »Oh.« Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie fühlte sich zwar besser, gleichzeitig aber auch ein wenig verwirrt, kindisch und beschämt. Eifersüchtig zu sein auf ein Mädchen, das er gern hatte ziehen lassen? Das schien irgendwie falsch zu sein.

»Hey«, sagte er und strich ihr mit einem Finger über die Wange, wobei er sorgfältig die verbrannten Stellen mied. »Ich find es toll, dass es dir etwas ausmacht. Echt.«

Sie holte tief Luft. »Ich möchte dich einfach nicht mit jemandem teilen«, sagte sie. »Niemals. Auch nicht in der Zeit, bevor ich dich kennengelernt habe. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber...«

»Doch, tut es«, sagte er und küsste sie. »Es macht absolut Sinn.«

Michael lächelte, das konnte sie im Rückspiegel sehen. Er erwischte sie dabei, wie sie ihn beobachtete, und schüttelte den Kopf.

»Was?«, fragte sie ihn herausfordernd.

»Gut, dass ich mit euch beiden leben muss«, sagte er, »sonst würde ich das später auf YouTube einstellen. Und euch nachäffen.«

»Mistkerl.«

»Du vergisst da was: Blut saugender Mistkerl.«

»Und untoter, blutsaugender Mistkerl«, fügte Shane hinzu. »Das ist ebenfalls entscheidend.«

Michael hielt an. »Wir sind da.« Er nahm seinen Gitarrenkoffer und stieg aus. Dann schaute er zu ihnen hinein und bedachte sie mit einem wissenden Lächeln. »Schließt ab, wenn ihr aussteigt.

Oh und denkt daran - Vampire können durch die Tönung hindurchsehen. Ich sag's ja nur.«

»Iiih«, seufzte Claire. »Und schon ist die ganze Stimmung im Eimer.«

***

Michael verschwand durch den Künstlereingang. Dabei bewegte er sich, als würde ihm die Bühne bereits gehören; Claire und Shane gingen Hand in Hand durch die Tiefgarage zum Vordereingang. Viele andere Leute hatten dort ebenfalls geparkt, unterhielten sich und gingen grüppchenweise zum Eingang des Theaters. Wie die meisten anderen TPU-Gebäude war es nicht gerade schön - ein Produkt der sperrigen 1970er, Glas und Beton, solide, schlicht und funktionell, zumindest von außen.

Die Lobby wirkte wärmer mit ihrem dunkelroten Teppich und den schweren Vorhängen an den Seiten, die vielleicht seit etwa zehn Jahren aus der Mode waren. Claire sah, wie die Leute sie anstarrten, und wünschte, sie hätte ihre Mütze mitgenommen, aber weil sie sie nicht dabeihatte, streckte sie ihr Kinn nach oben und umklammerte Shanes Hand noch fester, während er ihre Tickets vorzeigte und sie auf den obersten Rang führte. Auf dem Weg dorthin entdeckte Claire viele vertraute Gesichter – Pater Joe von der Kirche zum Beispiel, der mit seinem schwarzen Hemd mit weißem Kragen und seinem roten Haar aus der Masse herausstach. Leute, die sie vom Studium kannte und die wahrscheinlich keine Ahnung hatten, dass sie hierhergekommen waren, um einen Vampir Gitarre spielen zu hören. Und natürlich haufenweise Vamps, die sich recht unauffällig verhielten - abgesehen vielleicht vom Glitzern in ihren Augen und der leicht hungrigen Art und Weise, mit der sie die Menge absuchten. Manche von ihnen waren ziemlich gut angezogen.

Amelie, Myrnin und Oliver waren nirgends zu sehen und ihre Abwesenheit war ziemlich auffällig. Den unangenehmen Mr Pennywell sah sie allerdings sehr deutlich, in seinem schlichten Jackett und der schwarzen Hose sah er arrogant, unnahbar und geschlechtslos aus. Er saß an einem kleinen Tisch neben der Treppe und beobachtete alle, die vorübergingen. Er erinnerte sie sehr stark an diese Leute, die vor dem Hummeraquarium stehen, um auszuwählen, was sie später auf dem Teller haben wollten.

Igitt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Shane und sie merkte, dass er damit nicht die Vampire oder so meinte. Rasch fügte er hinzu: »Du weißt schon, zwischen uns beiden?«

»Oh. Ähm... ja. Ich glaube schon.« Sie schien nicht besonders überzeugend gewesen zu sein, denn er blieb auf der Treppe stehen, sah sich um und ging dann auf eine kleine Gruppe von Stühlen etwas abseits vom Treppenabsatz zu. Niemand war in ihrer Nähe. Es war eine dunklere Ecke, irgendwie intim, wie das Licht an der Wand schimmerte. Die Leute strömten vorbei, ohne dass jemand zu ihnen hinüberzuschauen schien.

»Ich muss sicher sein«, sagte er. »Ich will nämlich nicht, dass du glaubst, Kim sei Konkurrenz. Das ist sie nicht. Bis heute habe ich kaum an sie gedacht.«

Aber dadurch deutete er ja an, dass er jetzt an sie dachte – dass er sie mit Claire verglich. Und Claire konnte sich nicht einmal vollkommen sicher sein, ob sie diesem Vergleich standhalten würde. »Es ist nur so, dass alle finden, sie sei so interessant. Und ich bin einfach nur... du verstehst schon.«

»Die superschlaue Azubine eines Vampirs mit bipolarer Störung? Ganz zu schweigen davon, dass du zurzeit die einzige Person in der Stadt bist, auf die Amelie hört? Ja. Du bist todlangweilig.« Shanes warme Hände umfassten vorsichtig ihr Gesicht und schoben ihr Kinn nach oben, damit sie ihm in dem gedämpften Licht in die Augen sehen konnte. »Bitte schön. Schon besser.«

»Warum?« Das Wort zitterte auf ihren Lippen, ein unterdrücktes bitteres Wimmern. »Damit du sehen kannst, wie hässlich ich im Vergleich zu Kim bin?«

»Einige deiner Hautschichten sind verbrannt«, sagte er. »Ganz großes Drama. In einer Woche wirst du eine höllische Sommerbräune haben und alle werden sich fragen, woher du dieses Zeug zum Draufsprühen hast. Es spielt keine Rolle. Nicht das allerkleinste bisschen. Verstanden?«

Sie wollte nicht weinen und wundersamerweise tat sie es auch nicht. Sie atmete schaudernd ein, hielt die Luft an, atmete langsam aus, und das war's.

Dann lächelte sie. »Verstanden.«

»Alles klar. Ich liebe dich nämlich. Erinnerst du dich wieder?«

Wärme schoss durch ihre Nerven und sammelte sich zu einem heißen, glühenden Punkt irgendwo unter ihrer Magengrube. »Ich erinnere mich«, sagte sie. »Ich liebe dich auch.«

Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Eifersüchtig. Irgendwie gefällt mir das.«

Hand in Hand machten sie sich auf den Weg in die Konzerthalle.

Mr Pennywell stellte sich ihnen in den Weg.

***

Irgendetwas stimmte auf ganz unangenehme Weise an Pennywell nicht, aber Claire konnte nicht den Finger darauf legen; der Vampir hatte eine ungünstige Figur und sah je nach Licht mal weiblich, mal männlich aus, aber das war nicht das, was ihn so Furcht einflößend machte.

Es war die vollkommene, seelenlose Abwesenheit von Gefühlen in seiner Miene und seinem Blick. Selbst wenn er lächelte, passierte in der oberen Hälfte seines Gesichts nichts. Nur Muskeln bewegten sich, es wurden aber keine Gefühle sichtbar.

»Weg da«, sagte Shane und Claire spürte, wie sich sein Griff um ihre Hand unbewusst verstärkte. »Hey, Mann, du bist doch wohl nicht so verrückt, dass du uns auf neutralem Boden vor Zeugen angreifen würdest. Oder?«

»Das würde vollkommen davon abhängen, was ich erreichen will«, sagte Pennywell. »Aber ich bin nicht hier, um euch zu bedrohen. Ich bin hier, um euch zu holen.«

»Um uns zu unseren Sitzen zu begleiten? Danke. Wir brauchen keinen Platzanweiser.«

Pennywell versperrte ihnen weiterhin den Weg. Die Menge um sie herum lichtete sich. Das Letzte, was Claire wollte, war, mit ihm allein zu sein, während drinnen alle jubelten und klatschten und damit Claires allzu wahrscheinliche Schreie übertönen würden. Sie wechselte einen Blick mit Shane.

»Oliver würde euch gern sprechen«, sagte Pennywell und machte eine anmutige Handbewegung nach links. »Würdet ihr bitte...?«

»Jetzt?«

»Er vereinbart keine Termine. Ja. Jetzt.«

Es schien nicht so viele Möglichkeiten zu geben, aber Claire merkte, dass Shane Pennywell am liebsten gesagt hätte, er solle sich vom Acker machen. Das wäre schlimm. Pennywell gehörte nicht zu den Leuten, die eine Abfuhr gut wegstecken konnten.

Dazu kam es aber nicht, und zwar aus dem schlimmstmöglichen Grund.

»Shane? Shane Collins? Ich glaub es einfach nicht!« Die Stimme eines Mädchens hallte über Pennywells Schulter zu ihnen herüber. Und dann schlängelte sich ein Mädchen um den Vampir herum und stürzte sich auf Shane. Überrascht ließ er Claires Hand los, um das Mädchen aufzufangen, bevor sie beide hinfielen.

Es dauerte ein wenig, bis Claire das schwarz-pink gefärbte Haar und die Stimme zusammengefügt hatte, aber Claire erkannte sie, noch bevor ihr Gehirn den Namen lieferte.

Kim. Oh, perfekt.

Und Kim küsste Shane.

Es war nicht so, dass er sie zurückküsste... er versuchte eher, sie von seinen Lippen wegzuschieben. Aber trotzdem. Ihre Lippen! Berührten Shanes!

Sogar Pennywell sah aus, als wäre er aus dem Konzept gekommen.

»Hey!«, protestierte Claire. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte, aber sie hätte am liebsten mit beiden Händen in das schwarze Haar gegriffen und heftig daran gerissen. Das war nicht nötig. Shane hob Kim hoch und setzte sie eine Armlänge von sich entfernt ab - dort hielt er sie fest.

»Kim«, sagte er. »Ähm... hi.«

»Wie geht's, Collins? Wow, wir haben uns ja ewig nicht gesehen, was? Tut mir leid mit dem ganzen Familienkram, das ist wirklich beschissen. Mann. Oh, hast du gehört, dass ich jetzt ein Loft habe? Ich verkaufe über das Internet. Sehr cool.« Kims Blick war auf Shanes Gesicht geheftet und ihre Miene war dabei übelkeiterregend begeistert. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du es bist, Shane. Wow. Echt großartig, dich zu sehen.«

»Ja«, sagte er und schaute Claire an - nur ein rascher (und panischer) Blick. »Das ist Claire. Meine Freundin.« Er betonte das Wort. Es schien nicht anzukommen, und wenn doch, dann tat Kim es ab. Sie sah Claire kaum an.

»Cool«, sagte sie. »Hey, du bist doch die aus dem Cafe. Eves Freundin. Die Welt ist klein, was?«

»Klaustrophobisch«, sagte Claire. »Was machst du hier?« Sie wusste, dass sie verärgert klang, aber sie konnte einfach nichts dafür. Pennywell sah von ihr zu Kim und versuchte, sich offensichtlich gerade zu entscheiden, welche von ihnen er zuerst umbringen sollte. Seinem Gesichtsausdruck nach tendierte er zu Kim, was Claire absolut nicht bekümmerte.

»Ich bin hier, um Michael Glass spielen zu hören«, sagte Kim. »Eve hat mir alles erzählt. Michael war schon immer der coolste Typ der ganzen Stadt - Anwesende ausgeschlossen.« Sie zwinkerte Shane zu. Zwinkerte. Claire hätte sich am liebsten übergeben. »Ich wollte nur meine Unterstützung bekunden.«

»Du interessierst mich nicht«, sagte Pennywell zu ihr. »Geh weg.«

Kim blinzelte und wandte sich zum ersten Mal dem Vampir zu. Dann tat sie so, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass er da war. Und sie hat ernsthaft eine Rolle in diesem Stück bekommen? Denn Claire hatte noch nie gesehen, wie jemand so schlecht schauspielert - allenfalls vielleicht in alten Stummfilmen. »Oh, mein Gott! Was zum Henker bist denn du? Ich meine, ja, offensichtlich ...« Sie hielt zwei Finger hoch. Zuerst dachte Claire, sie machte das Peace-Zeichen, aber dann wurde ihr klar, dass es vermutlich ein V - wie Vampir - sein sollte. »Aber verdammt noch mal, du bist echt komisch.«

Dem Stirnrunzeln nach zu urteilen, das seine glatte, hohe Stirn in Furchen legte, hatte Pennywell keine Ahnung, was er tun sollte. Er legte den Kopf schief und sah Kim stumm an. Er studierte sie einfach nur.

Dann sagte er: »Du bist die Historikerin.«

Kim lächelte. »Bingo, Mann. Ich bin die Historikerin. Und du bist neu hier, kann das sein? Ich muss einfach ein Bild von dir schießen. Lass dir einen Termin geben, okay? Hier. Hier ist meine Nummer.« Sie griff in die kleine schwarze Tasche, die sie am Handgelenk trug, und zog eine Art Visitenkarte heraus, die sie ihm reichte. Pennywell nahm sie, hauptsächlich zur Selbstverteidigung, und steckte sie in seine Manteltasche. »Willst du einen guten Rat? Nehru-Jacken sind seit den wilden Sechzigern out. Halt dich lieber an die Brooks Brothers. Du willst doch wohl nicht, dass du schlecht angezogen bist, wenn du für die Nachwelt festgehalten wirst, oder? Vielleicht kannst du auch etwas mit deinem Haar machen, damit es männlicher aussieht. Denk mal darüber nach.«

Shane nahm Claire am Ellbogen und schob sie lautlos an Pennywell vorbei, dessen Blick auf Kim geheftet blieb, während diese weiterplapperte. Als dem Vampir klar wurde, was passierte, und er Kim beiseiteschubste, schlüpften Shane und Claire gerade durch die Tür in die Halle. Außer Reichweite.

Hoffentlich.

»Hat sie das mit Absicht gemacht?«, fragte Claire.

»Weiß nicht«, antwortete Shane. »Aber ich wollte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Ruf Oliver an. Finde heraus, ob er uns wirklich sehen wollte.«

Claire nickte. Die Menge im Raum war noch immer geschäftig und der Geräuschpegel war hoch. Niemand würde bemerken, dass sie am Telefon war; es mussten Hunderte oder mehr sein, die in den Sitzreihen aufblitzten, als die Leute sich zu ihren Freunden gesellten, plauderten und Verabredungen ausmachten.

Claire drückte auf Kurzwahl, um den Vampir anzurufen. Sie erreichte nur die Mailbox. Oliver machte sich nicht die Mühe, seinen Namen zu nennen, sondern forderte den Anrufer nur auf eine Nachricht zu hinterlassen, was sie auch tat. Dann stellte sie das Handy auf Vibrationsalarm.

Shane schaute immer wieder zu der Tür, durch die sie hereingekommen waren, und Claire unterdrückte das Bedürfnis, mit den Zähnen zu knirschen. »Du machst dir Sorgen um sie?«, fragte sie, wobei sie versuchte, ihre Stimme neutral zu halten.

»Wir haben sie mit Pennywell allein gelassen«, sagte er. »Verdammt. Ich dachte, sie kommt uns nach.«

Nun, Kim war ihnen nicht gefolgt. Claire versuchte, besorgter zu wirken, aber sie konnte bestenfalls ein mattes Gefühl der Verärgerung aufbringen. Und das sah ihr ganz und gar nicht ähnlich; eigentlich versuchte sie ständig, selbst für die schlimmsten Leute irgendwelche Entschuldigungen zu finden, aber irgendwie konnte sie sich einfach nicht auf Kims Seite stellen.

Doch sie wusste, was richtig war. »Wir sollten gehen und nach ihr schauen.«

»Nein«, sagte Shane. »Du bleibst hier. Ich gehe nur nachschauen, ob sie da draußen ist. Ich möchte nur sichergehen, dass bei ihr alles in Ordnung ist.«

Weil du dir ganz und gar nichts aus ihr machst, dachte Claire, aber sie war klug genug, das für sich zu behalten. Sie nickte nur. Shane ließ ihre Hand los. Dann machte er sich auf den Weg zur Tür, öffnete sie und sah nach draußen. Er zögerte einen Augenblick, dann ließ er sie zufallen und kam zurück. »Nicht da«, sagte er.

»Wer von beiden?«

»Beide.« Shane klang angespannt und das konnte sie ihm nicht verübeln. Er neigte dazu, sich viel aufzubürden, und wenn Kim irgendetwas Schlimmes zustieße, würde er das als sein persönliches Versagen betrachten, was Blödsinn war, aber so tickte Shane eben. »Ich muss...«

»Du musst was?«

Das war Kim, die sich von hinten an Claire herangepirscht hatte.

Claire kniff die Augen zu und hätte vor Frustration - nicht vor Erleichterung - fast geschrien, aber sie schaffte es, sich zu beherrschen, sich umzudrehen und sehr ruhig zu sagen: »... sichergehen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Aber das ist es ja offensichtlich.«

Kim sah sie einen Moment an; dann breitete sich allmählich ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen aus. »Offensichtlich«, schnurrte sie geradezu. Dann wanderte ihr Blick - und ihr Lächeln - zu Shane. »Du hast dir Sorgen um mich gemacht? Das ist ja süß, aber der Transen-Vamp da draußen wollte mir nichts tun.«

»Warum nicht?«, fragte Claire.

Kim zuckte mit den Schultern. »Ach, du weißt schon... verdammt, ich habe dich wirklich Ewigkeiten nicht gesehen, Collins. Was hast du so getrieben?«

»Nicht viel«, sagte er und griff wieder nach Claires Hand. »Unsere Sitzplätze sind da unten. Sorry. Danke, dass du da draußen eingegriffen hast.«

»Klar«, sagte Kim. »Bis später dann.«

Ihre Sitzplätze waren weit vorne, und als sie sie erreichten, gingen gerade die Lichter aus. Claire blickte sich um, konnte Kim aber nirgends in den Schatten sehen.

»Ich glaube, ich kann dieses Mädchen echt nicht leiden«, sagte sie.

Shane küsste sie leicht auf die Finger. »Sei nicht eifersüchtig. Ich steh nicht auf sie. Weder jetzt noch später.«

Claire wünschte, sie könnte das glauben, aber ein kleiner, komplizierter Teil von ihr war sich noch immer allzu sehr ihrer eigenen Unzulänglichkeiten bewusst.

Dann ging ein Spotlight an, die Lichter im Saal erloschen und Michael, begleitet von einem plötzlichen aufbrandenden Applaus, kam auf die Bühne, doch er war nicht der Michael, den Claire kannte - er war nicht der, der im Wohnzimmer herumhing, Videospiele spielte, auf seiner Gitarre herumklimperte und schreckliche Western für gemeinsame Filmabende aussuchte.

Das hier war jemand völlig anderes.

Jemand, der beinahe Furcht einflößend war, wie er das Rampenlicht auf sich zog und nicht mehr losließ. Vorhin hatte er gut ausgesehen, aber jetzt sah Claire, was schon immer Michael Glass' Bestimmung gewesen war: auf der Bühne zu stehen. Das Licht verwandelte sein Haar in strahlendes Gold, ließ seine blasse Haut schimmern wie ein Mondstein, machte ihn zu etwas Exotischem, Fabelhaftem und Unnahbarem - und gleichzeitig zu etwas, was man sehnsüchtig berühren wollte.

Jemand glitt auf den Stuhl neben Claire. Eve. Sie hatte ihr bestes, überwiegend rückenfreies schwarzes Samtkleid an. Ihr Haar war zu einem schicken glänzend schwarzen Turm hochgesteckt, und als sie die Beine übereinanderschlug, enthüllte der Schlitz in ihrem Kleid meterweise Bein sowie Stilettoabsätze.

Sie war außer Atem.

»Oh Gott, ich dachte schon, ich würde es nie schaffen«, flüsterte sie Claire zu und ließ einen schwarzen Seidenfächer aufschnappen, mit dem sie sich kühle Luft zufächerte. »Das ist mein Freund, weißt du?«

»Ich weiß«, sagte Claire. Sie hatte sich vorgenommen, nicht mit Eve zu sprechen, aber nach nur zwei Sätzen lächelte sie unwillkürlich. Es war einfach so schön, ihre Freude zu teilen. »Ich glaube, er ist ganz okay.«

Eve schlug mit dem zusammengeklappten Fächer nach ihr.

»Sei bloß still. Mein Freund ist ein Rock-Gott, Baby.«

Und das bewies Michael Glass dem ganzen Saal schon mit den ersten Noten seines Songs.

***

Das Konzert war großartig und die anschließende Party war überwältigend, vor allem deshalb, weil Claire gar nicht gewusst hatte, dass es eine geben würde. Außerdem war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, von ein paar Hundert Fremden angestarrt zu werden, die sich drängten, um zu Michael zu gelangen, und sich fragten, was an ihr so Besonderes war, dass sie hinter dem Autogrammtisch stand und nicht davor. Michael hatte kaum Zeit gehabt, Hi zu sagen, seit er von der Bühne gekommen war. Er wurde von allen Seiten belagert und nicht einmal Eve, die wie ein Filmstar aussah, konnte ein paar persönliche Worte mit ihm wechseln, während er von Fans umringt war. Von Kim war keine Spur zu sehen. Die Vamps legten keinen Wert darauf, sich unter die Menge zu mischen, aber jeder, der das Gebäude verließ, blieb stehen und nickte Michael zu. Claire vermutete, dass das ihre Art von Standing Ovations war.

Als die Zahl der Autogrammjäger schließlich kleiner wurde, waren nur noch wenige Leute übrig. Einer davon war Pennywell, der dreißig Meter entfernt an einer Marmorsäule lehnte und gelangweilt, aber unzerstörbar aussah, als könnte er, wenn nötig, noch zehntausend Jahre warten, ohne sich die Unterwäsche zu wechseln. Kim war auch da, sie war in ein angeregtes Gespräch mit ein paar TPU-Typen verwickelt, die in Claires Augen wie Studenten der freien Künste aussahen. Kim warf immer wieder Blicke zu der kleinen Gruppe hinüber und Claire nahm an, dass sie ihre Warteschleifen-Jungs jeden Augenblick abservieren und schnurstracks auf Shane zusteuern würde.

Die letzte Person war ein Mensch - ein älterer Typ in schwarzer Lederjacke und Jeans -, der, wenn man das so sagen konnte, irgendwie wie ein taffer Geschäftsmann aussah. Er hatte fantastisches Haar und ein freundliches, ebenmäßiges Lächeln, das strahlend weiße Zähne entblößte, wie die Leute im Fernsehen. Und er war sonnengebräunt.

»Michael, großartige Show«, sagte der Mann und beugte sich vor, um Michael die Hand zu schütteln. »Im Ernst, das war etwas ganz Besonderes. Ich heiße Harry Sloan, meine Tochter Hillary ist hier auf der Schule. Sie wollte, dass ich herkomme und mir dich mal anschaue, und ich muss sagen, ich bin sehr beeindruckt.«

»Danke«, sagte Michael. Er sah ein wenig müde aus, nicht mehr wie der mächtige Gott an der Gitarre, der er auf der Bühne gewesen war, und wollte es wahrscheinlich einfach nur hinter sich haben und nach Hause gehen. »Das weiß ich sehr zu schätzen, Mr Sloan.«

Mr Sloan zog eine Visitenkarte heraus, die er über den Tisch auf Michaels Hand zuschob. »Ja, die Sache ist die. Ich glaube, du hast echt Potenzial, Michael. Ich arbeite für eine bedeutende Plattenfirma und ich möchte gerne eine Demo-CD mit zurücknehmen.«

Einen Moment lang starrten ihn alle an, dann brachte Michael verständnislos hervor: »Demo-CD?«

»Hast du keine?«

»Nein. Ich war...« Michael wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. »... beschäftigt.« Damit beschäftigt, umgebracht, in einen Geist und später in einen Vampir verwandelt zu werden. Kriege zu führen. Und so weiter.

»Du musst echt ins Studio, Mann, aber sofort. Ich werde alles arrangieren - ich kenn da eine gute Adresse in Dallas. Ich werde etwas für dich vereinbaren, wenn du mir deine Termine gibst. Aber ich will deine Sachen nächstes Mal, wenn wir Neuentdeckungen besprechen, unbedingt mit ins Meeting nehmen. Ich glaube, wir können wirklich ins Geschäft kommen. Denk darüber nach, okay? Aber zuerst mal musst du eine Demo-CD machen. Ruf mich an.«

Er streckte wieder die Hand aus und Michael schüttelte sie. Er sah blass aus und ein wenig ausdruckslos, fand Claire. Mr Sloan schenkte wieder allen dieses Hollywoodlächeln, setzte eine sehr teure Sonnenbrille auf und ging.

»Das ist jetzt nicht wahr«, sagte Eve. »Das muss doch ein Scherz sein, oder? Monicas Vorstellung von einem guten Witz oder so.«

Michael hielt die Visitenkarte hoch. Eve untersuchte sie, blinzelte und gab sie an Shane weiter, der sie Claire reichte.

»Vize-Vorsitzender«, las Claire. »Oh. Wow.«

»Das ist kein Scherz«, sagte Michael. »Vor etwa sechs Wochen war ein Artikel über diesen Kerl im Rolling Stone.« Michael stand langsam auf und nur langsam sickerte die Botschaft durch. »Er will mich unter Vertrag nehmen. Als Musiker.«

Shane hob die Hand und Michael schlug ein. Dann griff er nach Eve und wirbelte sie in einem Strudel aus Samt und Kreischen herum. Er wurde still, vergrub sein Gesicht in ihrem weichen, schimmernden Haar und hielt sie einfach fest. »Mein ganzes Leben lang«, sagte er. »Darauf habe ich mein ganzes Leben lang gewartet.«

»Ich weiß«, sagte Eve und küsste ihn. »Ich bin so stolz auf dich.«

Auf der anderen Seite des dreißig Meter langen altmodischen Teppichs begann Mr Pennywell zu klatschen. Es klang wie das klare, erschreckende Geräusch von Schüssen. Die beiden Jungs, mit denen Kim geplaudert hatte, stellten fest, dass sie noch eine Verabredung hatten, und gingen zur Tür, um in die Nacht hinauszufliehen. Genau wie Claire befürchtet hatte, kam Kim zu ihnen herüber. Pennywell hörte auf zu klatschen und sagte: »Du weißt natürlich, dass sie dich nie gehen lassen werden?«

Michael hob den Kopf und Claire kam es so vor, als würden alle anderen aus ihrer Welt schwinden. Es gab nur noch Michael und Pennywell.

»Sie?«, fragte Michael. »Du meinst Oliver und Amelie.«

»Sie wollen, dass alle Vampire hier unter ihrer Kontrolle sind. In ihrer Obhut.« Pennywells Spott war wie ein Schlag ins Gesicht. »Zwei ängstliche kleine Hündchen, die versuchen, ein Rudel Wölfe im Griff zu halten. Bist du ein Herdentier, Michael? Ich selbst bin keines.«

»Was willst du?«, fragte Michael.

»Von dir? Gar nichts. Du bist nur ein Hund, der bei Fuß geht.« Sein leerer Blick schweifte von Michael ab und heftete sich mit einem Ruck auf Claire. »Ich will sie.« Shane, Michael und Eve rückten vor ihr zusammen, bevor Claire auch nur Luft holen konnte. Pennywell schnalzte mit der Zunge. »Nein, nein, nein, Kinder. Das ist eine Verschwendung von Blut. Ich werde euch alle umbringen - ja, auch dich. Kleiner - und mir sowieso nehmen, was ich will. Du, Mädchen, willst du deine Freunde wirklich auf diesem unschönen Teppich tot sehen?«

»Wohl kaum«, sagte Shane. »Wir haben euch schon einmal in euren dreckigen Hintern getreten, erinnerst du dich? Geh Bishop fragen, wie das für ihn ausgegangen ist, wenn du Angst hast, darüber nachzudenken.«

Pennywell warf ihm einen glühenden, zornigen Blick zu. »Du warst nicht allein, Junge. Du hattest Verbündete. Hier hast du...« Er beschrieb einen langsamen Kreis und nahm Kim ins Visier. »Sie. Nicht unbedingt das überzeugendste aller Argumente.« Sein Tonfall wurde auf unheimliche Art ruhig und sehr ernst, während sein Blick zu Claire zurückwanderte. »Ich bin siebenhundert Jahre alt und seit ich alt genug war, ein Schwert zu halten, bin ich ein Killer. Ich habe Hexen und Häretiker durch ganz Europa verfolgt. Ich habe Stärkere als euch vernichtet, und das in härteren Zeiten. Glaubt nicht, dass ich es nicht so meine, wenn ich sage, dass ich euch keine weitere Chance gebe.«

Claire schluckte und trat hinter Shane vor. Er versuchte, nach ihrem Arm zu greifen, aber sie entwand sich ihm, wobei sie ihren Blick nicht von Pennywell löste. »Tun Sie ihnen nichts«, sagte sie. »Was wollen Sie?«

»Ich will, dass du sofort mit mir kommst«, sagte er, »ich bin mit meiner Geduld am Ende.«

Claire streckte ihren Freunden die Handflächen hin - Michael, der noch sein Rockstar-Outfit anhatte, wirkte bleich, konzentriert und gefährlich; Eve sah in ihrem Wasserfall aus schwarzem Samt wie ein heimlicher Filmstar aus - bis hin zu ihrem verängstigten Gesichtsausdruck.

Shane flehte sie praktisch an, nicht zu gehen. Sein Bedürfnis, sie zu beschützen, zog an ihr wie die Schwerkraft.

Sie sagte: »Er wird mir nichts tun. Ich rufe euch an, sobald ich kann. Ihr geht jetzt am besten nach Hause. Bitte.«

»Claire...«

»Shane, geh!«

Zu ihrem großen Verdruss sah sie, wie Kim zu ihren Freunden ging und sich neben Shane stellte. Kim legte die Hand auf seinen Arm und er blickte auf sie hinunter. »Lass sie gehen«, sagte sie zu ihm. »Ihr wird nichts passieren.«

Claire wusste, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war, Finger weg von meinem Freund, du Miststück zu schreien, aber sie konnte nur mit Mühe die Worte herunterschlucken. Pennywells Hand schloss sich kalt und starr wie Handschellen um ihr Handgelenk, und als er sie wegzerrte, trafen sich Claires und Shanes Blicke ein letztes Mal.

»Ich komme zurück«, sagte sie. »Tu nichts Unüberlegtes.«

Wahrscheinlich dachte er, sie meinte, gegen Vampire zu kämpfen.

Was sie tief in ihrem Inneren wirklich meinte, war: Verlieb dich nicht in Kim.