- Kapitel Siebenundvierzig -

Er nicht, mein alter Freund«, erklang unerwartet eine weibliche Stimme hinter mir. »Aber ich werde es tun.«

Verblüfft sah ich mich um. Knapp einen Meter von mir entfernt stand sie. Groß, schlank, in ein langes dunkles Gewand gehüllt, mit hoheitsvollem Blick. Eine makellose Schönheit. Die weiße Strähne leuchtete im glatten schwarzen Haar. Ihre dunklen Augen fixierten über mich hinweg die beiden Männer, und ein winziges, sinnliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Präsenz war schwer, vollkommen und nahezu erdrückend. Wer würde es wagen, ihr zu widersprechen?

Ein grollender Laut folgte ihren Worten, und mit überheblicher Miene kam Ahjarvir näher. Mit einem Mal kam es mir vor, als existierten Darian und ich für diese beiden Vampire nicht mehr. Sie konzentrierten sich nur aufeinander. »Du stellst dich gegen mich, Lilith?«

»Nein«, erwiderte sie gelassen. »Nimm es nicht zu persönlich. Ich bin diese Machtspielchen einfach nur leid.«

Fassungslos starrte er sie an. Er blickte zurück auf Darian und wieder zu ihr. Anscheinend rang er um Worte, und es dauerte einige Sekunden, bis er sie schließlich fand: »Weil du es leid bist, schickst du ihn? Dieses vermenschlichte Ungeziefer, das einst mein Geschenk an dich war? Ich werde ihn unter meinen Füßen zermalmen wie die lästige Kakerlake, die aus ihm geworden ist.«

»Vertu dich nicht«, erwiderte Lilith milde, während ich fast zu platzen drohte. Dieser Kerl brüstete sich des Handels mit Menschen und beleidigte meinem Mann aufs Übelste. Und ich sollte danebenstehen und schweigen? Diese disziplinarische Übung ließ sich mit meinem Temperament überhaupt nicht vereinbaren.

Obwohl ich Darians warnenden Blick auffing und mir durchaus bewusst war, dass ich zwischen die Fronten zweier sehr gefährlicher und alter Vampire geraten würde, war ich nicht in der Lage, meinen Mund zu halten. So machte ich aus meiner Meinung keinen Hehl: »Sie haben bei Ihrer letzten Mahlzeit wohl von der falschen Blutgruppe genascht, Mr. Unverschämt. Haben Sie in den Tausenden von Jahren Ihrer Existenz nicht gelernt, wie man sich zu benehmen hat?«

Eiskalte Augen streiften mich fast gelangweilt, ehe sie sich wieder auf die Frau hinter mir richteten. »Wer ist dieses zerbrechliche menschliche Ding, das alle glauben, beschützen zu müssen?«

»Ich bin kein Ding!«

Ich fühlte das Entsetzen meines Mannes mehr, als ich es sah, konnte meine Wut aber kaum weiter zügeln. Auch wenn ich Angst vor den Konsequenzen meiner Worte hatte, so durfte ich nicht zulassen, als Mäuschen angesehen zu werden. Wobei es angesichts seines Blickes jetzt sicher die sinnvollere Alternative gewesen wäre. Denn diesmal hatte ich Ahjarvirs volle Aufmerksamkeit erhalten.

Er sah mich an, als wolle er mich in der Luft zerreißen. Ich konnte innerlich nur noch beten, zumal ich sah, dass Darian von einer Ohnmacht in die nächste zu fallen drohte. Als der alte Vampir nun einen Schritt vortrat, befürchtete ich das Schlimmste. Doch unerwartet verharrte er mitten in der Bewegung.

»Lege Hand an sie, alter Freund, und ich mache dich dem Erdboden gleich«, ertönten Liliths nahezu gleichgültig klingenden Worte, die ihre Wirkung jedoch nicht verfehlten.

Verblüfft drehte ich mich zu ihr um. Sie sah mich nicht einmal an, blickte lediglich über mich hinweg zu Ahjarvir. Völlige Gelassenheit stand in ihrem Blick und drückte sich in ihrer ganzen Haltung aus, doch mir war absolut klar, dass sich das binnen Sekunden ändern konnte.

Ich hatte gehofft, dass sie mich schützte. Und ich fand es nun bestätigt, auch wenn mir Darians Worte im Kopf widerhallten, sie würde nichts ohne Gegenleistung tun. Ich wollte gar nicht wissen, welche sie verlangte. Ich war einfach nur froh über ihre Anwesenheit und schickte ihr gedanklich meinen Dank.

»Für einen Menschen würdest du einen der Deinigen vernichten?«, lenkte Ahjarvir meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. Seine Lippen kräuselten sich in einem zynischen Lächeln, und in seinen Augen stand pure Arglist. »Du erhebst Anrecht auf das belegte Brötchen? Was genau ist es? Die Verpackung oder die Füllung? Oder bist du neidisch, weil sie kann, was dir verwehrt bleibt, Lilith?«

Seine Bemerkung traf mich härter als geahnt. Ich spürte eine mütterliche Urangst in mir aufsteigen, die sich selbst mit eisernem Willen nicht verdrängen ließ. Sie stand mir ins Gesicht geschrieben, als ich den Blickkontakt mit Darian suchte, dessen Miene überaus verschlossen wirkte. Selbst Liliths leises Fauchen hinter mir konnte mich nicht mehr schrecken. Hatte sie es tatsächlich auf unser Kind abgesehen?

»Wage dich nicht zu weit vor, Ahjarvir«, sprach sie mit warnendem Unterton. »Du kannst den Wandel nicht aufhalten.«

Nun lachte er, wähnte sich siegreich. Es klang höhnisch. »Du kannst ihn nicht erzwingen, Lilith. Selbst wenn diese schwangere Auster ein Teil der Bestimmung ist, so ist sie nicht unverwundbar.«

So viel zu: Komm ihm nicht zu nahe, Faye! Inzwischen stand ich im Fokus des allgemeinen Interesses und wünschte mich weit fort. Mein Blick fiel auf die Federn in meiner Hand, doch seine nächsten Worte vernichteten auch diese Hoffnung: »Vergiss es, kleines Menschenkind. Sie werden dir nicht helfen.« Dabei tippte er sich mit hinterhältig aufblitzenden Augen gegen die Nasenspitze. »Egal, wohin du verschwindest, ich werde dich finden. Dein süßer Geruch wird mich zu dir führen.«

All meine Wut auf ihn fokussierend, blickte ich ihn bitterböse an. »Gleichfalls, Blutsauger, denn Aas riecht nach langer Zeit auch süßlich!«

Sein unterschwelliges Knurren wirkte bedrohlich genug, doch wieder war es Lilith, die ihn mit einem einzigen Blick daran hinderte, sich auf mich zu stürzen. Dennoch bezweifelte ich seine Worte nicht eine Sekunde. Den Rest meines Lebens würde ich vor seinem Zorn nirgends mehr sicher sein, selbst mit Darian an meiner Seite nicht. Ich steckte die Federn in meinen Hosenbund. Dabei traf mein Blick auf seinen, und er wusste, dass auch ich es wusste. Er lächelte mich lauwarm an. Und doch bemerkte ich dahinter bösartigste Berechnung, die mich erschaudern ließ.

»Angst, Kleines?«, säuselte er leise. »Die solltest du auch haben.«

»Spiel mit mir und nicht mit ihr, Ahjarvir. Für deine unsinnigen Machtspiele ist sie nicht empfänglich und zu schade. Ich bin es, dem dein Interesse gilt, nicht sie«, schaltete sich Darian mit zornig blitzenden Augen ein.

Warum hatte er so lange gezögert? Lag es an Liliths Präsenz? Ich schielte zu ihr hoch und sah sie Darian knapp zunicken. Also doch. Vermutlich gab sie ihm ihr Einverständnis, die Sache zu übernehmen. Ich hoffte nicht, dass er weiterhin als ihr Geschenk von Ahjarvir agieren würde, obwohl er momentan sehr deutlich seine Achtung vor ihr zeigte.

Sehr langsam drehte der Ältere sich zu ihm um. »Jetzt nicht mehr, Sohn. Aber es ist immer wieder interessant, wie sehr ein trächtiges Weibchen den Beschützerinstinkt eines, in diesem Fall halbmenschlichen Männchens erweckt.«

Was würde geschehen, wenn ich diesem arroganten, uralten Vampir vor Wut einmal gehörig in den Allerwertesten träte?

Es wäre die absolut letzte Handlung in deinem ohnehin recht kurzen Leben, vernahm ich eine weibliche Stimme in meinem Kopf. Verblüfft nickte ich, weil sie vollkommen recht hatte. Was hätte ich einem so alten Wesen auch entgegenzusetzen?

Nichts, hörte ich abermals ihre Stimme und fühlte kurz darauf ihre Hand auf meiner Schulter. Sie war eiskalt, und verschreckt zuckte ich zusammen.

»Von mir droht dir keine Gefahr, Faye«, sagte sie leise. »Ich bin zu müde zum Töten.«

Es mag merkwürdig klingen, doch sie hatte ich niemals gefürchtet. Ich hatte nicht die geringste Spur von Todesangst in mir, wusste ich doch, dass sie mich schützen würde. Lediglich die Angst um mein Kind blieb. Was waren ihre tatsächlichen Motive? Sollte Ahjarvir recht behalten, und es lag an dem Kind in mir?

Als schien meine ungeborene Tochter meine Gedanken zu hören, bewegte sie sich in mir, stieß mir kräftig gegen die Bauchdek-ke. Schützend legte ich die Hände darüber. Dann blieb mir keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ahjarvir hatte sich meinem Mann bis auf wenige Schritte genähert.

»Hattest du jemals eine Chance gegen mich, Dahad? Alles, was dich ausmacht, ist durch mich entstanden. Und alles, was dich ausmacht, wird durch mich in einer Sekunde vernichtet werden, stellst du dich gegen mich. Sieh mich an. Das ist alles, was von dir übrig bleiben wird. Eine Erinnerung ...« Mit einem kräftigen Ruck riss er sein Hemd entzwei und offenbarte auf seiner fast schwarzen Haut eine schwelende, leuchtend rote Fleischwunde mit ausgefransten, verbrannten Wundrändern. Sie zog sich einem Mahnmal gleich quer über seine gesamte Brust. Mein Blick irrte von der breiten Narbe zu meinem Mann und wieder zurück. Er hatte diese Verwundung verursacht? Wie? Wann? Und vor allem, wo-

mit?

Fast zärtlich fuhr Ahjarvir sich mit den Fingern über diese Narbe. »Was wird ...« Er blickte über seine Schulter kurz auf mich, ehe er Darian wieder bösartig lächelnd ansah, »... aus deiner Gefährtin und ihrem ungeborenen Kind? Dem Kätzchen werden die Krallen herausgerissen, oder glaubst du, sie wird am Leben gelassen, ist dein Schutz erst einmal von ihr genommen?«

Schlagartig trocknete mein Mund aus. Darians Blick streifte mein Gesicht, erreichte Lilith und wandte sich wieder Ahjarvir zu. Für einen Augenblick wirkte er unsicher. Dann schlich plötzlich ein erleichtertes Lächeln auf sein Gesicht, und er beschrieb eine umfassende Geste. »Hältst du sie wahrlich für schutzlos?«

Innerlich triumphierte ich. Ich hatte also doch recht damit, dass Lilith mich gegen alle Widrigkeiten beschützte.

»Verdammt seid ihr!« Ahjarvirs wütender Ausbruch ließ mich ruckartig zusammenfahren, und nur Liliths Hand auf meiner Schulter verhinderte, dass ich zurückstolperte und hinfiel.

»Hast du geglaubt, er lässt sie verwundbar zurück, Sohn?«, erklang eine tiefe Stimme, die wie ein Donnergrollen über uns hinwegrollte und in einem einzigen Luftzug die umliegenden Blätter emporwirbelte.

Mein innerer Triumph fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Geistige Fehlinformation, Faye, zu früh gefreut. Es lag nicht allein an Liliths Gegenwart. Wir hatten eindeutig weiteren Besuch erhalten. Heimlich sah ich mich um.

Während die Blätter gemächlich zu Boden taumelten, erschien sehr bedächtig eine gleißend helle Gestalt. Sie wuchs an, wurde länger und breiter, bis sie die beeindruckende Dimension eines mittleren Hochhauses erreicht hatte. Ich musste bei ihrem Anblick meine Augen schützen und gewahrte durch vorgehaltene Hände, wie sie sich in vier verschiedenfarbig lichte Schemen aufteilte. Einer war in leichtes Blau getaucht, einer in Grün, ein weiterer in ein sattes Rubinrot, und der letzte schien nur aus gleißend weißem Licht zu bestehen. Zu meiner grenzenlosen Verblüffung bildeten die Schemen in einigen Metern Abstand um uns herum einen Kreis und regulierten nur langsam ihren Schein. Und obwohl sie weiterhin leuchteten wie die Sonne in persona, reichte ihr Glühen doch nicht bis direkt zu uns.

»Lass ab, Ahjarvir«, dröhnte abermals diese Stimme, deren Besitzer ich unter den gleißenden Wesen nicht erkennen, jedoch erahnen konnte.

Michael. Er war hier. Ich atmete erleichtert durch. Ebenso erkannte ich in dem grünen Schemen Raphael, und der weiße musste Gabriel sein. Doch wer war der vierte? Dieser Engel, der Hand an Darian gelegt hatte? Er war mir goldfarben erschienen, nicht rubinrot. Und warum waren sie hier?

«Nein! Ihr habt kein Recht, euch einzumischen. Er hat kein Recht dazu.«

»Er hat die Machtvollkommenheit, seine Schöpfung zu hüten und die zu schützen, die seines Schutzes bedürfen. Er hat die Machtvollkommenheit, die zu verdammen, die sich gegen ihn stellen. Du hast seinen Zorn einst erfahren, erfahre ihn nicht erneut. Denn deine Zeichnung kam in liebender Warnung von ihm«, erklang Michaels Stimme erneut. »Es ist an dir, seinem Gebot zu folgen.«

»Nein.« Zurückweichend schüttelte Ahjarvir den Kopf. »Nein. Das ist nicht fair. Nein!«

Was nun geschah, war erschreckend. Ich war keinesfalls darauf vorbereitet gewesen, und keiner der Anwesenden schien damit gerechnet zu haben. Ich hatte keine Möglichkeit, irgendetwas zu tun, denn es ging alles viel zu schnell. Starr vor Schreck konnte ich noch verfolgen, wie Ahjarvir sich blitzartig auflöste und direkt neben Darian wieder auftauchte. Mein Schrei erfolgte im gleichen Augenblick, in dem er zuschlug.

Obgleich Darian das Schwert abwehrbereit hochriss und rechtzeitig beiseitesprang, erwischten die zuschlagenden Krallen seinen Oberkörper und rissen tiefe Furchen ins Fleisch. Tiefrotes Blut durchtränkte das zerfetzte Hemd, rann in schmalen Bächen an seiner Hose herunter und tropfte auf den Boden. Mit ungläubigem Ausdruck in den Augen taumelte Darian einige Schritte zurück.

Nur Liliths schwere Hand auf meiner Schulter bewahrte mich davor, kopflos ins Geschehen zu stürzen. Entsetzt riss ich die Augen auf. Oh mein Gott! Auch wenn ich wusste, was Darian alles einstecken konnte, so hatte dieser Schlag gesessen. Instinktiv fuhr meine rechte Hand an meine Lippen, und ich hielt den Atem an. Mein Herz blutete innerlich so stark wie seine äußerlichen Wunden, und für einen Moment wandte ich meine Augen schmerzerfüllt von diesem Anblick ab. Doch nicht für lange. Schon vernahm ich einen zischenden Laut und sah wie unter Zwang dem Geschehen wieder zu.

Angstvoll sah ich Ahjarvir erneut ausholen. Diesmal war Darian gewappnet. Blitzschnell wehrte er den Schlag mit dem Schwert ab. Doch der Ältere stob herum, tauchte direkt hinter ihm auf und packte ihn im Genick. Statt des befürchteten charakteristischen Knackens vernahm ich ein wütendes Fauchen, dem ein schmerzerfülltes Zischen folgte. Da erst sah ich das Schwert tief in Ahjarvirs Brust stecken und aus seinem Rücken wieder herausragen. Nahezu bewegungslos kniete Darian mit dem Rücken zu seinem Gegner und hielt weiterhin den Griff des Katana zwischen den Händen. Mit einem einzigen Rück riss er es wieder heraus und stieß den Alten dabei zurück. In einer einzigen, fließenden Bewegung erhob er sich und wandte sich um, und völlig emotionslos betrachtete er den Zurücktaumelnden, dessen Blick pure Überraschung widerspiegelte.

»Ich habe dich unterschätzt, Dahad«, murmelte Ahjarvir, nahm die Hände von der klaffenden Wunde und demonstrierte auf eindrucksvolle Weise seine Regenerationsfähigkeit. Binnen Sekunden stoppte die Blutung und schloss sich die Wunde, bis nur noch eine schmale rosafarbene Narbe übrig blieb. Mit unheilvollem Grinsen entblößte der Alte seine langen, scharfen Reißzähne. »Das wird mir nicht noch einmal passieren.«

Darian nickte nur, wirkte gefasst und ernst. Trotzdem fiel mir auf, dass er mit dem Schließen seiner Wunden erheblich mehr Probleme hatte, sich sehr konzentrieren musste. Lag es an seiner kürzlichen Veränderung? Raubte ihm das die Kraft? Aus Ahjarvirs frohlockender Mimik schloss ich, dass es ihm ebenfalls nicht entgangen war.

Lauernd begannen sie einander zu umkreisen. Zwar bewegten sich beide Männer mit der Geschmeidigkeit von Raubkatzen, doch wirkten Darians Bewegungen langsamer und irgendwie schwerer, ein wenig unsicherer. Und seine Wunden waren noch immer nicht ganz geschlossen, auch wenn die Blutung versiegt war. Ein unbehagliches Gefühl stieg in mir hoch, das sich als angstvoller Knoten in meinem Magen zusammenzog und weiter hinaufkroch, um mein Herz zu martern und meinen Hals zu verschließen.

Panisch sah ich mich um. Da standen vier Engel, die weiterhin regungslos das Geschehen beobachteten. Sie taten nichts, krümmten nicht eine einzige lichte Tentakel. Sie mussten doch auch sehen, dass Darian seinem Gegner unterlegen war. Warum griffen sie nicht ein? Warum unternahm Michael denn nichts, um Darian zu helfen?

Weil wir ohne Erlaubnis handeln würden, hörte ich die leise Antwort in meinem Kopf. Es ist seine freie Entscheidung und sein selbst gewähltes Schicksal, sich ihm zu stellen. Diese Entscheidung würden wir durch unser Eingreifen infrage stellen. Er wird sterben, Michael. Voll Angst blickte ich in die Richtung des Engels, beschwor ihn mit meinen Blicken.

Diese Möglichkeit besteht, antwortete er ausweichend. Täuschte es, oder schwang eine Spur von Sorge darin? Ich keuchte ängstlich auf.

Als hätte Darian meine Gefühle empfangen, sah er zu mir herüber. Für einen winzigen Moment transportierte sein Blick all seine Empfindungen. Ein elektrischer Schauer jagte wie ein Strudel durch mich hindurch, sammelte sich und verblieb als warmer Druck in meinem Herzen. Instinktiv schloss ich die Augen und legte eine Hand auf mein Herz, wollte dieses Gefühl ganz für mich behalten und niemals wieder loslassen. Gleichzeitig verhinderte ich so, dass er die aufsteigenden Tränen in meinen Augen erkennen konnte. Um nichts in der Welt wollte ich ihm zeigen, wie viel Angst ich wirklich um ihn hatte.

»Bemerkenswert«, hörte ich Liliths emotionslosen Kommentar. »Er liebt dich tatsächlich.«

»Ja, das tut er. Auch wenn ihr es immer für unmöglich gehalten habt.« Obwohl ich es nicht beabsichtigt hatte, brachte ich es doch wie eine leise Anschuldigung hervor.

Lilith honorierte es mit einem sanften Druck ihrer Hände auf meinen Schultern. Solidarität unter Frauen?

Meine Aufmerksamkeit kehrte zum Geschehen zurück. Das Belauern war beendet, die beiden Männer lieferten sich einen erbitterten und unausgewogenen Kampf. Darian hatte sich sein zerfetztes Hemd inzwischen vom Leib gerissen und blutete aus mehreren kleineren Wunden. Er wirkte ermüdet, seine Bewegungen wurden fahriger und seine Deckung nachlässiger, als könne er das Katana kaum noch halten. Fortwährend musste er die Attacken des Älteren abwehren, bekam kaum Gelegenheit zum Gegenangriff. Ahjarvir selbst schien nur wenig abbekommen zu haben, auch wenn seine ebenholzfarbene Haut vom verschmierten Blut feucht schimmerte. Einzig die schwelende Wunde mutete in ihrem Leuchten heller und entzündeter an.

Die Angst um Darian schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte etwas tun, musste einfach, selbst wenn Lilith mich weiterhin eisern festhielt. So konzentrierte ich mich auf meinen Mann, stieß mit meinen mentalen Tentakeln blitzschnell vor und legte meine ganze Kraft hinein. Pures Entsetzen breitete sich in mir aus, als ich mein Scheitern an einer undurchdringlichen Wand bemerkte, die um die beiden Kämpfenden errichtet worden war. Mein Blick streifte Liliths bildschönes Antlitz. Kurz fühlte ich ihre Augen auf mir, ehe sie sich wieder den Männern zuwandte.

Auch meine Aufmerksamkeit kehrte zurück, und mein Herz setzte furchtsam aus, als ich Darians gequältem Blick begegnete. Er hatte große Schmerzen, körperlich und auch seelisch, und ihn verließen die Kräfte. Ich fühlte und sah es.

Ich wollte schreien, ihm eine Aufmunterung zurufen, und brachte doch keinen Ton heraus. Seine Augen weiterhin auf mich gerichtet, ließ er das Schwert plötzlich sinken. In diesem Moment fühlte ich, dass er aufgab. Seine Lippen formten drei lautlose Worte, die mir tief ins Herz schnitten. Tränen schossen mir in die Augen, verwischten seinen Anblick.

Dann stand sein Gegner wie aus dem Boden gewachsen vor ihm, riss mit einem einzigen Schlag tiefe Furchen in seinem Brustkorb. Darian taumelte. Ahjarvir setzte nach und packte ihn bei der Schulter. Dabei sah er sich mit einer Mischung aus brennender Wut und leuchtendem Triumph um. »Ihr wollt ihn zurück?« Er lachte höhnisch auf, und jäh stieß er mit der freien Hand zu. «Niemals!«

Wie in Zeitlupe sah ich das Katana endgültig aus Darians Hand gleiten und zu Boden fallen. Schock und Unglaube standen in seinen Augen, während er auf die Hand starrte, die sich tief in seinem Brustkorb vergraben hatte. Mit einem Ruck riss der alte Vampir die blutverschmierte Faust wieder heraus. Vollkommen unfähig zu jedweder Regung konnte ich nur hilflos Darians Fallen zusehen.

Es zerriss mich innerlich. Ein glühender Schmerz raste durch meinen Leib, sammelte sich in meinem Herzen, verkrampfte sich und brach in einem langgezogenen Klagelaut aus mir heraus. Zur Regung vollkommen unfähig, konnte ich nur hilflos Darians Fallen beobachten.

In siegreicher Pose öffnete Ahjarvir die Faust und offenbarte das, was er darin gehalten hatte. Grauenhaft langsam ließ er es von seiner Handfläche rollen, bis es mit einem unangenehmen Laut in den Staub fiel. Augenblicklich verfärbte sich der Sand blutrot. Dann packte er Darian ins Haar, riss seinen Kopf zurück und entblößte die Zähne mit einem diabolischen Grinsen.

Der Eisesstarre in mir löste sich abrupt, bahnte sich mit einem gellenden Schrei den Weg und brachte mich endlich in Bewegung. »Nein

Blitzschnell tauchte ich unter Liliths Händen hervor und stürmte auf die beiden Männer zu. Darian durfte nicht sterben! Nicht jetzt, nicht so! Ich brauchte ihn, ich würde ohne ihn nicht leben können.

Wie ich Liliths Schutz überwunden hatte, weiß ich nicht. Ich rannte einfach hindurch. Und wie das Katana in meine Hand gelangte, kann ich auch nicht sagen. Es war einfach da. Ich konnte kaum noch klar denken, wusste nur: Das durfte niemals wieder geschehen.

Mit gezielter Präzision näherten sich Ahjarvirs Saugzähne dem Hals meines Mannes, unter dessen heller Haut ich sogar die dunklen Linien der Adern ausmachen konnte. Pure Verzweiflung brachte mich direkt neben ihn und ließ mich das Schwert hochreißen. »Lass ihn los. Sofort!«

Nun erst nahm Ahjarvir mich wahr. Die Hand weiterhin in Darians Haar vergraben, sah er zu mir auf, und echtes Erstaunen trat in seinen Blick.

Ich zögerte nicht. Innerlich spürte ich den Befehl zu einer Tat, die ich mir niemals zugetraut hätte. Das Schwert sauste nieder und glitt ohne Widerstand durch seinen Hals. Ein kurzes rötliches Aufflackern der Augen, ein Zittern, das seinen gesamten Körper durchlief, dann kippte sein Kopf zur Seite und fiel in den Sand. Der Griff in Darians Haar löste sich, die Hand fiel leblos herab und riss den Rumpf mit sich, der auf der Seite zum Liegen kam. Kaum aufgekommen, trocknete der Leib binnen Sekunden aus und zerfiel, bis nichts mehr von ihm blieb als dunkler Staub.

Erst jetzt sah Darian mich mit gebrochenen Augen blicklos an. Das Strahlen, das ich vor einigen Tagen in ihm bemerkt hatte, glich nur noch einem müden Glimmen, kurz vor dem Verlöschen. Plötzlich begann er zu schwanken und kippte langsam nach vorn. Hastig warf ich das Katana beiseite, fiel auf die Knie und fing seinen Sturz ab. Schluchzend hielt ich ihn umfangen, suchte fieberhaft nach einem Lebenszeichen. Tränen brannten in meinen Augen, tropften auf sein fahles Gesicht. Immer wieder flüsterte ich seinen Namen, rüttelte an seiner Schulter und strich über seine Wangen, doch mir blieb jedes Lebenszeichen von ihm versagt. Er war tot. Endgültig.

Ahjarvir hatte ihn mir genommen.

Der Sieg über den alten Vampir war bedeutungslos gegen das Loch, das in mein Herz gerissen worden war. Ich fühlte nichts als reinen, gleißenden und alles verzehrenden Schmerz. Jedes andere Gefühl war ausgeblendet. Vor Tränen blind sackte ich über seinem leblosen Körper zusammen und presste ihn an mich. Alles in mir schrie. Kalte Klauen eisigen Entsetzens hatten sich in mein blutendes Herz geschlagen und schienen mir das Leben herauszupressen.

Meine ganze Liebe, mein komplettes Sein hatten ihn nicht bei mir halten können. Was sollte das für ein Preis für die Erfüllung eines Schicksals oder einer Bestimmung sein? Nichts von dem, was hier geschehen war, war fair oder ergab einen Sinn.

Meine Trauer schlug um in Wut, und zornig blickte ich auf. Zuerst erfasste ich Michael, danach die anderen drei Engel. Behutsam ließ ich Darians Körper von meinem Schoß gleiten und erhob mich, den Blick anklagend auf die Engel gerichtet.

»Ihr hättet es verhindern können«, brachte ich voll Bitterkeit hervor, wies auf Darian und trat auf Michael zu. »Du und deine Berufsgenossen hätten es verhindern können. Ihr taucht hier in leuchtender Glorie auf, macht einen auf himmlischen Abgesandten und steht dann in eurer glorreichen Neutralität tatenlos in der Gegend herum, obwohl eure Hilfe gebraucht wurde. Sehr lobenswerte Einstellung, fürwahr.« Jeden Einzelnen von ihnen erfasste mein anklagender Blick, dann holte ich tief Luft und legte so richtig los: »Solange er euch von Nutzen war, habt ihr euch eingemischt, aber jetzt ist sein Job ja getan, richtig? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen? Was ist das für ein Gott, der seine besten Leute für eine Sache verrecken lässt, die er selbst versaut hat? Das hier ist nicht gerecht, und ihr wisst das ganz genau. Er hat euren Job gemacht, verdammt noch mal!«

»Wir können nichts für ihn tun, Faye«, sprach Michael bedächtig. »Seine Zeit ist gekommen. Er wählte frei -«

»Bullshit!«, fuhr ich ihm wütend ins Wort und verwischte mit dem Handrücken die Tränenbäche auf meinen Wangen, die unaufhaltsam weiterflossen. »Er hatte überhaupt keine Wahl. Ihr habt sie ihm niemals gelassen. Dieser ganze Mist mit der Austreibung – das habt ihr verbockt, Michael. Du hast es damals selbst zugegeben. Ihr habt ihn benutzt, immer. Also bewegt gefälligst eure gefiederten Ärsche und sorgt dafür, dass er sein Kind erleben darf! Das seid ihr ihm schuldig. Ihr seid es seinem Kind schuldig. Verdammt! Ihm erst die Möglichkeit zu geben und dann wieder wegzunehmen ist niederträchtig.«

Mit den letzten Worten war auch meine Wut verpufft. Ich bekam kaum noch Luft, musste mich zum Atmen regelrecht zwingen. Gleichzeitig spürte ich, wie mein Kreislauf allmählich versagte, mir leicht schwindlig und übel wurde. Kraftlos wandte ich mich ab, sank wieder neben Darian auf die Knie und zog ihn abermals auf meinen Schoß. Sanft strich ich ihm das wirre, blutverschmierte Haar aus dem Gesicht, wiegte ihn wie ein Baby. Geh nicht weg. Lass mich nicht allein. Lass uns nicht allein. Bitte. Bitte komm zurück.

Langsam versiegten meine Tränen, denn selbst dazu fehlte mir nun die Kraft. Nur noch leise schluchzend hatte ich meine Finger in seine Schultern vergraben, als plötzlich ein verschmiertes Etwas neben mir meinen Blick magisch anzog. Wie in Trance streckte ich eine Hand danach aus. Es war recht groß und füllte meine Handfläche vollkommen aus. Außerdem fühlte es sich glitschig an und schien plötzlich irgendwie zu puckern. Was war das? Schok-kiert erkannte ich es. Sein Herz! Ahjarvir hatte ihm das Herz herausgerissen. Oh Gott!

Ich schrie, ohne es zu merken, presste dabei das Organ auf die Öffnung in Darians zerfetzter Brust und versuchte es an seinen Platz zurückzudrücken. Ich scheiterte. Verzweifelt hielt ich es an meine Brust und wünschte mir nur noch, ihm folgen zu können.

Da legte sich eine Hand schwer auf meine Schulter und holte mich zurück. Mühsam hob ich den Kopf und bemerkte Lilith vor mir. Ihr Blick war ruhig, ausdruckslos. »Welchen Preis bist du für sein Leben zu zahlen bereit, Faye?«

»Jeden«, antwortete ich, ohne nachzudenken. »Welchen verlangst du?«

»Dein Kind«, gab sie mit unbeweglichem Gesichtsausdruck zurück.

Hatte Ahjarvir doch recht gehabt. Schützend legte ich die Hände auf meinen Bauch. Meine aufkeimende Hoffnung war schlagartig unter dem eisigen Wind der Erkenntnis erfroren und machte tiefer Empörung und kalter Angst Platz. Meine Stimme versagte beinahe: »Du willst mir das Einzige nehmen, was mir von ihm noch bleibt?«

»Nein«, erwiderte sie ruhig und wies mit einer Hand auf Darian. »Ich kann dir geben, was dein Herz begehrt. Im Gegenzug verlange ich nur Einfluss auf das Leben deiner Tochter. Sie ist die Hoffnungsträgerin für unsere gesamte Rasse, und ich will sie all das lehren, was sie dafür benötigt.« Zum ersten Mal sah ich Lilith lächeln. »Überlege schnell, Faye. Die Zeit rinnt auch mir durch die Finger. Der Preis für sein Leben ist nur gering.«

Voll ängstlicher Zweifel suchte mein Blick den von Michael. Fast glaubte ich einem Trugschluss zu erliegen, als er mir sehr langsam zunickte. Er unterstützte Liliths Vorschlag. Ganz offensichtlich. Trotzdem hatte ich unbändige Angst. Angst um meinen Mann und Angst um mein Kind. Einen der beiden würde ich verlieren. Jetzt und hier. Die Entscheidung lag ganz allein bei mir. Niemand würde sie mir abnehmen. Es kam mir wie ein Tanz mit dem Teufel auf einem Drahtseil vor. Am Ende würde ich verlieren, so oder so.

»Nun?«, fragte sie leise. »Hast du dich entschieden?«

Ja, ich hatte mich entschieden. So nickte ich entschlossen und rutschte beiseite. »Ja. Tu, was zu tun ist. Ich werde dir mein Kind überlassen, sobald es alt genug ist. Und nur zu meinen Bedingungen.«

»In deiner Situation willst du verhandeln?« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist eine Närrin, Faye.«

Meine Hand schoss vor und legte sich auf ihre. Wie gewünscht sah sie mir in die Augen. »Ich verhandle nicht, und ich bin auch keine Närrin, Lilith. Ich würde jede Chance nutzen, Darian zurückzubekommen. Aber ich werde bald Mutter, und als solche spreche ich zu dir. Denn als Mutter werde ich um mein Kind kämpfen wie eine Löwin um ihr Junges. Willst du das wirklich?«

Einen Augenblick lang musterte sie mich mit offenem Erstaunen, dann schlich ein winziges Lächeln um ihre Lippen. »Du musst es mir nicht überlassen, Faye. Ich möchte teilhaben, denn die Mutter könnte ich ihr niemals ersetzen.«

»Wie eine Gouvernante oder gar Großmutter?«, platze ich verblüfft heraus und ließ zu, dass sie Darians Oberkörper von meinem auf ihren Schoß umbettete. Dabei sah sie mich ruhig an., Ja, wenn du es so nennen möchtest.« Dann wurde ihr Blick ernst, und sie streckte mir die Hand entgegen. »Sein Herz, gib es mir.«

Ohne weitere Bedenken übergab ich ihr das blutige Etwas. Ich war nur kurz geschockt, als sie sich selbst in den Arm biss und ein wenig ihres Blutes darauftropfen ließ. Danach sah sie mich auffordernd an. »Reich mir bitte deinen Arm.«

Fragend hielt ich ihr den Arm hin. Umgehend schob sie meinen Ärmel zurück, lächelte mich mit aufblitzenden Beißern beunruhigend an und senkte den Kopf.

»Ich bin giftig«, raunte ich und wollte ihr meinen Arm entziehen, den sie mühelos festhielt.

Ihr Seitenblick sprach Bände. »Glaubst du wirklich, ich hätte das nicht bedacht?«

Als sie mir ihre scharfen Zähne in den Unterarm schlug, war der Schmerz nur kurz. Tiefrot quoll Blut hervor, und Lilith sah mich von der Seite her amüsiert an. »Keine Sorge, Faye. So schnell bringt mich nichts um. Nicht einmal dein Blut kann das bewirken. Doch sein Herz braucht zusätzlich die Lebenskraft eines Menschen. Welche wäre besser geeignet als deine?«

Verlegen wandte ich den Blick ab und beobachtete, wie mein Blut das Herz in ihrer Hand benetzte. Was immer ich erwartet hatte, das Ergebnis war ernüchternd. Vielleicht hatte ich gehofft, dass es zu schlagen oder vielleicht sogar zu rauchen beginnen würde. Doch es geschah überhaupt nichts.

»Habe Geduld«, meinte sie, legte das Herz auf die klaffende Wunde in Darians Brustkorb und schlug mit der flachen Hand einmal kräftig zu. Ein eklig schmatzender Laut folgte. Ich blickte zur Seite und kämpfte mit abrupt auftretender Übelkeit.

Ich konnte nur inständig hoffen, dass sie wusste, was sie tat, denn ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung von dem, was geschah. Abgesehen von der Tatsache, dass sie ein Organ wieder an die Stelle brachte, an die es gehörte. Zumindest grob betrachtet. Gefäßchirurgie schien keines ihrer größten Talente zu sein.

Mich schüttelte es, als ich das rasante Verschließen seiner Verwundung bemerkte und anschließend ein Zittern durch Darians Körper lief. Und ich traute meinen Augen kaum, als ich erneut dieses winzige Glimmen bemerkte, das sich mehr und mehr ausbreitete, bis ich meinen Blick gegen die Helligkeit abschirmen musste. Mein Herz machte einen Satz und begann wie verrückt zu rasen, als ich Sekunden später eine mir wohlbekannte, aber noch sehr brüchige Stimme vernahm: »Verdammt, tut das weh.«

Lilith hingegen war die Ruhe in Person. »Entschuldige, es ist schon etwas länger her, dass ich es anwenden musste.«

Ich glaubte nicht, was ich hier erlebte. So sehr ich das Wunder herbeigesehnt hatte, konnte ich doch kaum begreifen, dass es tatsächlich wahr geworden war. Doch Darian bestätigte es mir. Mit noch sehr belegt klingender Stimme fragte er: »Du weinst, Liebes?«

In Ohnmacht fallen? Nein, keine Zeit und definitiv zuviel Adrenalin im Körper.

»Oh Gott, du lebst!« Überglücklich warf ich mich daher halb auf ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Fortwährend hielt ich inne, um ihn anzusehen und abzutasten. Dabei fuhr ich mit beiden Händen prüfend über seinen verheilten, noch mit Blut gezeichneten Brustkorb, unter dem spürbar kraftvoll sein nun merkwürdig leuchtendes Herz schlug. Egal, er war wieder da. Ich umfasste sein Gesicht, küsste ihn wieder, bis er mich schließlich mühsam lächelnd von sich schob. »Langsam, oder willst du mich umbringen?«

Schlagartig saß ich aufrecht. »Nein. Ganz bestimmt nicht. Nie wieder.«

Mit sichtbarer Anstrengung schob er sich etwas höher und sah sich verunsichert um. »Hätte jemand die Güte mich über das aufzuklären, was hier geschehen ist? Anscheinend war ich im entscheidenden Moment nicht ganz anwesend.«

Michael begann leise zu lachen. Kurz darauf kamen weitere Stimmen hinzu, und schließlich erschien auch auf Liliths Miene ein amüsiertes Lächeln. Verwundert kräuselte Darian die Stirn und stützte sich mit den Ellenbogen ganz ab. »Ist mir etwas Wichtiges entgangen?«

»Ahjarvir hat dich getötet, Schatz«, übernahm ich mit noch leicht zitternder Stimme die Erklärung. Die Erinnerungen waren zu lebendig, als dass ich sie einfach so verdrängen konnte. Erneut kämpfte ich mit den Tränen. Und diesmal gewann ich.

Darian hingegen war irritiert. »Das ist kaum möglich, da ich noch lebe.«

»Nein. Du warst tot. Lilith holte dich zurück.«

Sofort warf Darian ihr einen lauernden Blick zu. »Zu welchem Preis?«

Nanu? Er fragte nicht nach dem Wie. Ihn interessierte nur das Warum. Mir schwante, dass ihm Liliths etwas kuriose Technik der Totenbeschwörung nicht ganz unbekannt war. Zögerlich begann ich: »Das -«

»- werde ich ihm selbst erklären«, unterbrach sie mich, erhob sich und sah auf ihn hinunter. »Begleite mich ein Stück, Dahad, dann erfährst du alles.«

Sehr schwerfällig und nur mit erheblicher Hilfe meinerseits kam Darian auf die Beine, murmelte dabei etwas von Auseinanderfallen und stützte sich flüchtig auf mir ab. Dann winkte er Lilith zu sich heran und hielt sich an ihrem Arm fest. »Lass hören, ich bin ganz Ohr. Aber bitte nicht zu schnell. Aus irgendeinem Grund komme ich mir gerade wie ein Greis vor.«

Ihre Hand berührte seine in einer verständnisvollen Geste. »Ich habe alle Zeit der Welt.« Dabei umfasste sie seine Taille und hielt ihn mit bemerkenswerter Leichtigkeit aufrecht. Sie musste über enorme Kraft verfügen, denn Darian war nicht gerade ein Fliegengewicht.

Ich blickte sie bewundernd an. Mit dieser Frau in einen Ring steigen? Nie im Leben! Es sei denn, sie bastelte ihre Gegner anschließend wieder zusammen.

Ihr flüchtiger Blick ließ mich leicht zusammenzucken.

»Ich darf davon ausgehen, dass meine Frau bei euch in sicheren Händen ist?«, wandte Darian sich nun an die umstehenden Engel.

Michael lächelte sanft. »Sei unbesorgt, wir werden gut auf sie achten.«

Nur mit Mühe konnte ich ein zynisches Zähneknirschen unterdrücken. Dennoch verpasste ich dem bläulichen Erzengel einen erbosten Blick. Schön, dass Darian sich um mich sorgte. In diesem Fall sollte er lieber um diese leuchtende Truppe besorgt sein. Mir war innerlich sehr danach, diesem himmlischen Grüppchen die Hölle heißer zu machen, als selbst Satan persönlich es könnte. Daher verkniff ich mir meinem Mann gegenüber eine spitze Bemerkung und lächelte ihm stattdessen zu. Eine geraume Weile noch sah ich ihm nach, während er an Liliths Seite sehr vorsichtig in die Dunkelheit schritt. Dann aber drehte ich mich mit schmalen Augen zu Michael um.