- Kapitel Sieben -
Was hat euch aufgehalten?«, empfing mein Vater uns sichtlich erheitert, als er die Tür öffnete und Darian mich endlich im Flur absetzte. Selbstredend hatte er am Küchenfenster zugeschaut.
»Partnerschaftliche Uneinigkeiten«, erwiderte Darian dennoch freiheraus, legte seinen Arm um meine Taille und vereitelte so meine Flucht. Ich blickte ihn gespielt grimmig an.
»Vom Regen in die Traufe«, witzelte mein Vater zusätzlich, und diesmal war er es, der den echten, grimmigen Blick kassierte.
»Du solltest deine Tochter besser nicht ärgern, Duncan. Sie vertritt ihre Standpunkte momentan recht energisch.«
»Davon gehe ich aus, denn das liegt in der Familie«, erklang es hinter uns. Mein Bruder trat aus dem Bad und nibbelte sich dabei mit einem Gästehandtuch die Haare trocken. Ein weiteres hatte er sich um die Hüften geschlungen. Tropfen liefen ihm über den perfekt definierten Oberkörper, der mit Tätowierungen übersät war. Ich erkannte Tribals, die mehrere Tiermotive einschlossen. Einen Wolf, einen Adler und eine Krähe konnte ich entdecken. Als Alistair sich zwischen uns durchdrängte, sah ich auf seinem Rücken einen riesigen Bären, der durch das Spiel der Rückenmuskulatur selbst zum Leben zu erwachen schien.
»Du kannst den Mund ruhig wieder schließen, Faye, er ist dein Bruder«, vernahm ich wie durch einen Schleier Darians amüsierte Stimme. »Oder bevorzugst du eventuell einen dezenten Hinweis auf meinen Unmut ob deiner den Kopf verlassenden Augen – vielleicht in Höhe deines Schienbeins?«
Fragend blinzelte ich ihn an. »Was meinst du?« Dann begriff ich. »Oh! Oh nein, ich meine, ich habe nicht geguckt ... Ich hab nur geguckt, weil... Ich dachte nur gerade... Oh Mann! Hast du diese Tattoos gesehen?«
»Durchaus, Liebes.«
»Die sind der Hammer!«
Er lächelte matt. »Möchtest du ihn fragen, ob er dir den Rest seines Körperschmucks zeigt?«
Ich sah ihn empört an. »Darian! Er ist mein Bruder.«
»Gut, dass wir das nun geklärt haben.«
»Du hast doch nicht im Ernst gedacht...?«
»Nein, nein«, meint er lakonisch, hakte mich bei sich unter und zog mich zur Küche. »Ich dachte gar nichts. Guck nach vorne, Liebes, du rennst gleich gegen den Türrahmen.«
Zu meiner Sicherheit und seiner Erheiterung tat ich ihm den Gefallen. Nein, nicht den, den man jetzt annehmen könnte. Vielmehr schaute ich nach vorn und wich dem Türrahmen geschickt aus.
Dad war vorangegangen und zog mir galant den Stuhl zurecht. Dabei funkelten seine Augen vor verhaltener Erheiterung, er sagte jedoch kein Wort. War auch besser so.
Darian lehnte sich mit dem Rücken ans Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Um seine Lippen zuckte ein kleines Lächeln, das auch er nicht ganz unterdrücken konnte.
»Haben wir etwas verpasst?«, fragte Steven neugierig und blickte uns nacheinander an.
»Faye begegnete auf dem Flur lediglich ihrem Bruder, als er aus der Dusche kam«, klärte Dad auf.
»Und was ist daran so amüsant?«, hakte Steven nach.
»Dann hast du's gesehen?« Kimberlys Augen strahlten förmlich. »Das sieht so genial aus. Ich will auch eins, aber Dad erlaubt es nicht.«
Steven verstand offensichtlich nur Bahnhof. »Genial? Nicht erlauben? Wovon redet sie?«
»Von Köperschmuck«, kam es von der Tür her, und Alistair trat ein. Seine Haare glänzten dunkel und nass und hinterließen feuchte Rinnsale auf dem weißen, ärmellosen T-Shirt. Seine langen Beine steckten in einer schwarzen Wildlederhose, deren breiter Gürtel eine ovale Silberschließe mit einem Wolfskopf zierte. Schwarze, mit weißen und türkisfarbenen Perlen bestickte Mokassins aus Wildleder vervollständigten das Gesamtbild.
»Was für Körperschmuck?«
»Spirits in Tribals eingearbeitet, Steven«, sagte Darian. »Faye war davon recht angetan.«
»Sie sehen ja auch schick aus, wenn sie gut gemacht sind und derjenige es tragen kann«, verteidigte ich mich.
Mein Bruder sagte nichts, blickte mich nur neugierig an. Ich zog eine Grimasse. Er lachte.
»Ob mir so was auch steht?«, überlegte Steven laut.
»Deine Regeneration wird die Farbe unter der Haut und die Wunde, die durch das Stechen einer Tätowierung entsteht, in kürzester Zeit neutralisiert haben«, meinte Darian leichthin. »Und was, glaubst du, wäre dein Spirit?«
»Vermutlich eine Fledermaus«, kam es aus der hinteren Ecke von meinem Dad.
Steven warf ihm einen versnobten Blick zu und meinte spitz: »Bei dir passt der Blauwal sicherlich eins zu eins auf den Bauch. Ich muss da schon zwangsläufig etwas Kleineres wählen. Außerdem stehen Frauen drauf, wie deine Tochter unlängst zeigte.«
Leicht verstimmt griff ich nach meiner Tasse, nahm einen Schluck und musste meine ganze Körperbeherrschung aufwenden, um das kalte, starke Zeug nicht wieder von mir zu geben. Ohne eine Miene zu verziehen, schluckte ich es runter. Was zum Geier hatte Kimberly da zusammengebraut? Altöl mit dem Aroma von rostigen Eisenspänen?
»Magst du noch einen?«, erkundigte sie sich diensteifrig, was ich meiner Gesundheit zuliebe schleunigst ablehnte.
Alistair nahm einen Kaffeebecher mit der Aufschrift Route 66 aus dem Schrank und langte nach der Kanne, hielt dann aber inne. »Du hast diese Kanne für Kaffee benutzt, Kim?«
Ich saß schlagartig gerade. Das ließ nichts Gutes vermuten. Was kam jetzt?
»Klar, welche sonst?«
»Die schwarze, Kim. In dieser koche ich für gewöhnlich kleine Mengen von Gerbsäure aus der Baumrinde für meine Mokassins.«
Mir wurde übel, meine Hand wanderte instinktiv auf meinen Unterbauch. »Kann man davon sterben?«
»Nein, jedenfalls nicht in der geringen Konzentration, die noch als Rest darin war. Es schmeckt nur erbärmlich. Wenn du allerdings zu viel davon erwischst, kommst du von der Schüssel eine Weile nicht mehr runter.« Er zwinkerte mir zu, stellte seinen Kaffeepott ab und ging zur Tür. »Warte, ich hole dir etwas zum Spülen.«
Mit einer Flasche in der Hand kehrte er zurück. Er öffnete sie, goss etwas von der dunklen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit in seinen Becher und reichte mir diesen. »Trink. Das räumt auf.«
Das tat ich. Und es räumte auf. Wie flüssiges Feuer rann es meine Kehle hinunter. Es brannte, ich hustete. Tränen schossen mir in die Augen, ich konnte kaum noch atmen und fächelte mir Luft zu.
Darian trat vor, doch mein Bruder war schneller.
»Kleine Schlucke, Faye.« Er klopfte mir fürsorglich auf den Rücken. »Man kippt doch einen Whisky nicht auf ex wie Wasser runter.«
»Du hast mir nicht gesagt, dass das Whisky ist«, japste ich und wischte mir die Tränen ab.
»Was hast du denn gedacht, was das ist? Malventee?«
Mein Blick war leicht unscharf, als ich ihn ansah. »Etwas weniger Starkes, Alistair.«
Er betrachtete mit gerunzelter Stirn die Flasche, anschließend mich. »Was ist an Glen Grant stark?«
»Nichts, Sir, es sei denn, der Verkoster ist dergleichen nicht gewöhnt«, warf Jason ein und lächelte schmal. »Wobei ich die Vermutung hege, dass, gesetzt den Fall, Sie hätten besagten Tee griffbereit, dieser sicherlich eine ähnliche Wirkung entfaltet hätte wie der Whisky – wie auch möglicherweise jene aus der Versenkung aufgetauchten, antik anmutenden Aufbrühbeutel.«
»Wenn Sie den Tee meinen, der ist tatsächlich schon etwas älter. Ich habe aber einen guten Salbeitee auf Vorrat.« Alistair schmunzelte, als Jason ihn leidvoll anblickte. »Das dachte ich mir. Kim, würdest du bitte die Gläser aus dem Wohnzimmerschrank holen?«
Sie wirkte überrascht. »Die guten?«
Er nickte. »Die guten.«
»Okay.« Ergeben marschierte sie aus der Küche, murmelte etwas vor sich hin und verschwand in dem Raum schräg gegenüber. Dann kehrte sie mit einem Tablett zurück, auf dem sich sechs edle Whiskygläser aus mundgeblasenem Kristall befanden. Sie stellte das Tablett auf dem Küchentisch ab. »Bitte, Daddy, die guten.«
»Danke.« Er entkorkte die Flasche abermals und füllte in jedes Glas einen Finger breit den Whisky. »Bedient euch.«
Alistair nahm meine Tasse fort und drückte mir eins der Gläser in die Hand. Bevor ich es ablehnen konnte, nahm Darian es mir ab und schüttelte ruhig den Kopf. »Ich glaube, du hast dir heute schon genug zugemutet, Liebes.«
»Hat sie?«, fragte mein Bruder nicht ohne eine Spur Herablassung in der Stimme. »So wie ich das sehe, kann sie durchaus für sich selbst entscheiden. Und was die Zumutung betrifft, was haben Sie sich vorhin dabei gedacht, Lucinda ...«
»Er hat Recht«, unterbrach ich ihn, bevor er zur Höchstform auflaufen konnte. Inzwischen hatte ich begriffen, dass er so ohne weiteres Darian nicht für das vergeben wollte, was er nun einmal war.
»Das Recht, eine andere Frau zu küssen, während seine Verlobte dabei zusieht?«
»Das war in der Tat eine etwas ungewöhnliche Handlung«, stimmte Jason zu, hob dann die Hand und ergänzte: »Aber Mr. Knight hat noch nie etwas ohne Sinn getan.«
»Und der besteht in der Demütigung meiner Schwester? Sie haben eine interessante Vorstellung von Ehre, Mr. Knight.«
»Sohn!« Dad war aufgesprungen, schob geräuschvoll den Stuhl zurück, doch Darian gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. »Ich kann für mich selbst sprechen, Duncan.«
Die Spannung im Raum war regelrecht greifbar. Ich spürte den Zwiespalt meines Vaters, der in seiner Liebe zu seinem Sohn und der Loyalität zu Darian ins Schwanken geriet. Und auch ich haderte mit meinen Gefühlen, wollte keine Stellung beziehen. Doch wie sollte ich mich neutral verhalten, wenn zwei Männer, die ich liebte, einander fast an den Kragen gingen?
Ein tiefes, drohendes Knurren erklang aus Alistairs Kehle, als er sich direkt vor Darian aufbaute.
»Daddy! Nein!« Fast panisch sprang Kimberly dazwischen, schob die beiden Männer auseinander, die sich gegenseitig über sie hinweg fixierten. Nur mühsam unterbrach Alistair den Blickkontakt, atmete schwer durch und wandte sich ab. »Es ist gut, Kim. Es ist gut.«
Er verließ die Küche ohne ein weiteres Wort, nahm nur sein Glas und die Flasche mit. Kurz darauf schlug eine Tür zu. Zurück blieb betretenes Schweigen.
»Das nenne ich doch mal ein gelungenes Familienzusammentreffen«, meinte Steven lakonisch, hob sein Glas an und saugte es geräuschvoll leer. Mit einem Knall stellte er es wieder auf dem Tisch ab und erhob sich. »Ich denke, wir sind entlassen.«
»Ach, halt die Klappe«, fauchte Kim ihn an. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Danke, Kimberly«, raunte Dad ihr zu.
Sie winkte ab. »Passt schon.«
Für einen Augenblick noch blieb ich sitzen, dann stand ich auf und sah Kimberly streng an. »Wenn du weißt, wohin er gegangen ist, sag es mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee. Es ist besser, ihn jetzt in Ruhe zu lassen.«
Darian schien der gleichen Ansicht zu sein, denn er legte seine Hand auf meine Schulter. Sein Blick war deutlich. Geh nicht, Faye. Ich schüttelte ihn ärgerlich ab. »Wohin, Kim?« Sie seufzte und sah Darian an. »Ist sie immer so hartnäckig?« Sein Schulterzucken war bezeichnend. »Ich kenne sie nicht anders.«
»Also gut, wenn du Bock auf Ärger hast. Die Treppe hoch bis aufs Dach. Da ist er meistens, wenn er seine Ruhe haben will und es nicht gerade regnet.«
»Danke.« Ich schnappte mir ein Glas vom Tisch, ignorierte Darians tadelnden Blick und ging meinen Bruder suchen.
Was willst du?«
Ein kühler Wind blies mir vom Fluss aus entgegen. Ich roch das Wasser, den Dunst der Stadt. Mich fröstelte, es war kühl geworden, und meine Jacke hatte ich trotz Darians Bitte im Hotel gelassen. Ich legte die Arme enger um den Leib und sah von hier oben auf den Hudson River und in einiger Entfernung die Skyline von Manhattan, die langsam im Dämmerlicht versank und bald darauf millionenfach beleuchtet wieder daraus hervortauchen würde.
»Ich will niemanden hier haben. Also geh wieder, Faye«, hörte ich ihn abermals, als ich weiter schwieg.
Es knirschte leise unter seinen Füßen, dann fühlte ich ihn direkt hinter mir. Fühlte die Hitze, die von seinem Körper ausging, und fühlte auch seine Wut. Seine Stimme war nur ein warnendes Grollen: »Du hast hier nichts zu suchen.«
»Ich liebe ihn, Alistair«, sprach ich leise, ohne ihn dabei anzusehen.
Er seufzte schwer, legte seine Hände um meine Oberarme und zog mich an sich. »Ich weiß. Darum lasse ich ihn am Leben.«
Seine Worte schockierten mich keineswegs, auch wenn ich Zweifel an der Aussage als solche hatte. Ich hatte es gefühlt, seit sie einander das erste Mal gesehen hatten. Von Anfang an hatte ich geahnt, dass es Schwierigkeiten geben würde. Dass sie aber solche Ausmaße annehmen würden, hatte niemand voraussehen können. Was hatte Dad ihm über Darian erzählt? Und woran hielt Alistair fest? »Warum hasst du ihn? Du kennst ihn nicht. Du weißt nicht, wie er ist.«
»Ich kenne seine Art, Faye.« Sanft legte er seine Arme um mich, nahm mir das Glas aus der Hand und schleuderte es achtlos fort.
Irgendwo rechts von uns klirrte es leise. Dann drehte er mich zu sich herum und sah mich fest an. In seinen Augen loderten Gefühle, die ich kaum zu deuten vermochte; ich sah in ihnen eine Wildheit, die nur mühsam im Zaum gehalten wurde. »Viel zu lange bekämpfe ich Wesen seiner Art. Ich habe gesehen, was sie tun. Wie sie Menschen benutzen, sie quälen und bis auf den letzten Tropfen aussaugen. Wie sie das Leben und alles was ist durch ihre bloße Existenz beleidigen und verdammen. Sie haben kein Mitleid, sie kennen nur den Tod, Hass und Vernichtung.«
»Sprichst du von Wesen seiner Art? Oder vielleicht von der menschlichen Rasse?« Mir entschlüpfte ein zynisches Lachen, für das ich mich fast schämte. »All das trifft auch auf viele Menschen zu. Auch unter uns gibt es gewissenlose Blutsauger, die ihre Macht nur stärken und ausnutzen wollen und die dafür über Leichen gehen. Dein Blick ist verklärt. Woher kommt dieser Hass, Alistair?«
Für einen Moment schloss er die Augen, fuhr sich mit beiden Händen über die Haare. Dann sah er mich wieder an und schob mich energisch von sich. »Geh zu ihm und flieg zurück nach England, Faye. Bring ihn fort von hier, fort von mir. Du hast hier nichts zu suchen. Es ist nicht dein Kampf.«
»Nicht mein Kampf? Bullshit!«, brachte ich bitter hervor. »Ich habe nie kämpfen wollen, aber niemand hat mich nach meiner Meinung gefragt, Alistair. Weißt du, wie es ist, in Geschehnisse gezerrt zu werden, die du nicht beeinflussen kannst? Hast du überhaupt eine Ahnung davon, was ich in den letzten Monaten erleben durfte? Nein, kannst du nicht haben. Und jetzt verlangst du von mir, dass ich abziehe? Niemals!« Inzwischen schrie ich ihn fast an. Ich hatte die Hände verschränkt, um sie nicht nach ihm auszustrecken, um ihn zu schütteln. »Ich soll dich aufgeben, wie ich Julie aufgeben musste? Einfach so?«
Plötzlich packte er mich, seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Schultern, sein Gesicht kam meinem ganz nahe. Wutverzerrt, bedrohlich. »Was geschah mit Julie, Faye? Und versuch nicht, mir das Märchen mit dem Unfall aufzutischen. Ich habe den Bericht der Times im Internet gelesen und glaube davon kein Wort. Wie starb sie tatsächlich?«
Ich keuchte. Er tat mir weh. Und doch verdrängte ich es, blickte ihn an, und die tief in mir vergrabenen Erinnerungen schwappten über mich hinweg, so dass meine Stimme nur noch ein Hauch war: »Sie wurde verwandelt. Es war zu spät. Viel zu spät. Wir konnten die Verwandlung nicht mehr aufhalten, ihr nicht helfen.«
Meine Beine knickten ein, ich sackte zusammen, lehnte an seiner Brust und merkte erst jetzt, dass mir die Tränen über die Wangen rannen. Wir fielen zusammen auf die Knie, er hielt mich fest umfangen, und wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an ihn, verbarg mein Gesicht an seinem Hals. »Wir konnten überhaupt nichts mehr tun. Ich war zu dumm, es vorher zu erkennen, Alistair. Es ist meine Schuld, dass sie sterben musste.«
»Nein«, meinte er brüchig, strich mir über die Wange. «Nein, es ist nicht deine Schuld. Rede dir das nicht ein. Du hast dagegen keine Chance. Die gibt es nie.«
»Woher willst du das wissen?« Ich stieß ihn voll Verzweiflung von mir. »Wie kannst du das sagen? Du warst nicht da. Du hast nicht mit ansehen müssen, wie dir das Leben von jemandem, den du liebst, durch die Finger rinnt. Wie er dir entgleitet und du unfähig bist, daran etwas zu ändern. Wie du seinen Tod nicht verhindern kannst.«
»Doch, ich weiß es. Ich weiß genau, wie es ist, jemanden zu verlieren. Ich kenne die ganze Hilflosigkeit, die Verzweiflung und die Trauer. Und ich weiß, wie man sich fühlt, wenn die Hoffnung vergebens ist.« Er sprach leise, sah mich dabei nicht an. Sein Blick war abgewandt, ins Nirgendwo gerichtet. »Ich war gerade vier Jahre alt, Faye. Sie kamen spät am Abend. Ich war schon im Bett, hatte längst geschlafen. Irgendwas weckte mich, ich musste mal und bin die Treppe runter. Da sah ich sie. Unten im Flur, ein Mann und eine Frau. Der Mann hat meine Mutter festgehalten, die Frau machte sich an ihr zu schaffen. Mutter wehrte sich, weinte und bettelte um ihr Leben, bis sie mich sah. Dann hörte sie damit auf. Ich sehe den Blick ihrer Augen noch vor mir, wie sie mich anflehte, mich zu verstecken. Bis zum Morgen lag ich verängstigt unter meinem Bett. Großmutter fand mich, tröstete mich und nahm mich mit. Es verfolgt mich bis heute.«
Während seiner Worte war ich still geworden, brauchte einen Augenblick, das Geständnis komplett zu begreifen. Alistair hatte den Tod seiner Mutter miterlebt, meine Großmutter Brianna hatte es gewusst und geschwiegen. Dad hatte erwähnt, dass seine erste Frau auf die gleiche Weise ums Leben gekommen war wie meine Schwester. Aber niemand von uns hatte gewusst, dass Alistair es mitbekommen hatte. Oh Gott, er war noch ein Kind gewesen.
Mitfühlend streckte ich eine Hand aus, berührte sachte sein Gesicht, strich ihm einen der Zöpfe beiseite. Trotz meiner eigenen Traurigkeit wollte ich ihn trösten, weil ich ihn verstand und er mich. Alistair sah mich an, unendliche Trauer stand in seinen grünen Augen. Dann legte er seine Hand über meine und hielt sie fest. Und in diesem Moment wurde uns eins klar: Wir hatten beide auf die gleiche Weise einen sehr wichtigen Menschen verloren, und das schweißte uns enger zusammen, als es die Familienbande hätten tun können. Er konnte mich nicht mehr fortschicken. Und er wusste es.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich damit klarkommen soll«, gestand er leise, ich nickte. »Wie soll ich deinen ...«, er stockte, suchte nach den richtigen Worten, blickte dabei auf den Hudson hinaus, »ihn an deiner Seite akzeptieren, wenn ich weiß, was er ist?«
»Darian ist nicht wie andere, Alistair. Würdest du seine Geschichte kennen, wüsstest du es. Denn wäre er wie sie, hätte ich mich niemals in ihn verliebt. Ich hätte genau so reagiert wie du und alles daran gesetzt, ihn zu vernichten. Doch nicht alle sind böse und berechnend.«
»Alles hat seinen Preis, Faye. Man muss nur herausfinden, welcher verlangt wird«, gab er nachdenklich zurück. »Manchmal ist er höher, als man denkt.«
»Ja, das ist wohl wahr«, bestätigte ich leise und lächelte still in mich hinein. Ich trug den Preis in mir, und der war kostbarer, als mancher denken würde.
»Willst du ihn zahlen, Faye?«
Ich lächelte weiter, schloss für einen Moment die Augen, sann darüber nach, was geschehen würde, wenn Alistair von dem Baby –
»Nein.« Abrupt wurde ich herumgerissen, Schraubstöcke an den Schultergelenken und schreckgeweitete, grüne Augen direkt vor mir. »Sag mir, dass es nicht stimmt.«
Ich protestierte: »Du tust mir weh.«
Er überging meinen Protest. »Das Baby in dir, Faye. Ist das der Preis?«
»Woher weißt du ...«
»Frauen riechen anders, wenn sie schwanger sind. Sag mir, dass ich mich irre.« Er schüttelte mich leicht. »Sag mir, dass ich mich irre, Faye.«
»Das tust du nicht, Alistair«, klang es von der Tür her zu uns herüber. »Nun komm ihrer Bitte nach und lass sie los.«
»Darian!« Ich wollte aufspringen, zu ihm eilen, doch Alistair hielt mich fest.
Langsam und geschmeidig stand er auf, umfasste mein rechtes Handgelenk und half mir hoch, ließ mich nicht mehr los. Er trat einen Schritt auf Darian zu und schob mich dabei hinter sich, als wolle er mich schützen. Selbst als ich an ihm vorbei wollte, verstellte er mir den Weg.
»Willst du es tatsächlich darauf ankommen lassen, Alistair?« Darians Stimme hatte jede Freundlichkeit verloren, klang hart, beherrscht.
Behutsam legte ich meinem Bruder die freie Hand auf den Arm. »Bitte. Tu das nicht.«
Er ignorierte mich, starrte weiterhin den Mann zehn Schritte entfernt an. Ein leises Knurren entstieg seiner Kehle.
Darian trat einen Schritt vor. »Du kannst es nicht verhindern, Alistair. Du kannst sie nicht von mir fern halten. Sie hat ihre Entscheidung gefällt. Gib sie frei.«
»Du hast nicht im Mindesten eine Ahnung davon, was mir möglich ist, Vampir.« Die Haltung meines Bruders wirkte, als wolle er seinen Gegner jeden Moment anspringen. »Ich werde nicht zulassen, dass du sie benutzt.«
»Sie wird nicht benutzt.« Scheinbar unbemerkt kam Darian näher.
Ich versuchte einen weiteren Protest, doch Alistair überging ihn. Vermutlich hätte ich vom Dach fallen können und er hätte es nicht einmal mehr bemerkt. Seine ganze Aufmerksamkeit galt allein Darian. »Deinesgleichen töteten meine Schwester. Deinesgleichen töteten meine Mutter. Ihr werdet sie nicht auch noch töten.«
Kopfschüttelnd war Darian stehen geblieben. »Nicht alle sind gleich.«
Alistair sah ihm höhnisch entgegen. »Das sagt jemand, der sich auf die gleiche Weise ernährt? Der auf die gleiche Weise handelt? Der für den Tod vieler verantwortlich ist?«
Wie zwei ungleiche Krieger standen sie sich gegenüber – der eine im Maßanzug, der andere wie ein Waldläufer gekleidet; der eine elegant beherrscht, der andere gefährlich wild. Sie funkelten einander mit der gleichen Intensität an, und jedem Beobachter dürfte spätestens jetzt klar sein, dass keiner von beiden je nachgeben würde.
»Mir ist bewusst, dass meine Vergangenheit nicht rühmlich ist. Du musst mich nicht daran erinnern. Doch auch deine Weste ist nicht weiß, Alistair. Nur weil mich notgedrungen gewisse Verhaltensweisen einer Spezies zuordnen, bedeutet das nicht, dass ich dazugehören muss. Sieh dich selbst an. Du kennst das Verderben und den Tod. Du weißt, wie es ist, auf der Schwelle zu stehen, und doch hast du deinen eigenen Weg eingeschlagen. Das Recht gestehe auch mir zu.« Darian sah mich kurz an, dann wieder meinen Bruder. Er schien innerlich mit sich zu ringen, und ich wusste, er würde alles tun, um die Sache friedlich zu lösen. Wenn Alistair es zuließ. »Denk nach, Junge. Wenn ich sie vernichten wollte, hätte ich es längst getan.«
Mein Bruder wischte diesen Einwand mit einer harschen Geste fort. »Du hast zu lange gezögert, Vampir. Es ist zu spät. Du wirst sie nicht bekommen. Auch wenn sie glaubt, dass sie dich liebt. Ich erlaube niemals, dass meiner Familie weiteres Leid durch deine Spezies zugefügt wird.«
Abermals schüttelte Darian betrübt den Kopf. »Wenn du das tatsächlich wünschst, dann lass sie gehen.«
»Bitte tu es, Alistair«, flehte ich leise und zog an seinem Handgelenk. »Mach dich und mich nicht unglücklich.«
»Nur über meine Leiche.«
»Versprich niemals etwas, was du nicht zu halten bereit bist.« War Darian bis eben noch verärgert gewesen, hatte sich das nun in offensichtlichen Zorn gewandelt. Ich erkannte es an seinen Augen, sie schienen mit einem Mal heller zu werden. Auch seine Gestik, seine Mimik, seine gesamte Haltung machte deutlich, dass er nicht bereit war zu weichen. Und doch war er kontrolliert. Noch.
»Willst du derjenige sein, der durch mein Blut eine weitere Kerbe in sein Holz schlägt?« Grüngelbe Augen blitzen zornig auf und zeigten die innere Wut, die in meinem Bruder schwelte und kurz davor stand, auszubrechen.
»Fordere dein Glück nicht heraus. Meine Geduld hat Grenzen. Ich lasse dich gewähren, weil sie dich liebt, weil du ihr Bruder bist, für den sie alles tun würde. Für den sie sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt. Aber stelle sie niemals vor die Wahl. Sie könnte anders ausfallen, als du es dir erhoffst.«
Schön, dass sie von mir sprachen, als wäre ich nicht anwesend. Glaubten die beiden etwa, ich würde sie so ohne weiteres aufeinander losgehen lassen? Es musste ein Ende finden. Sofort.
Vorbei war es mit der Bitte, und vorbei war es mit meiner schwesterlichen Zurückhaltung. Ich trat Alistair kräftig auf den Fuß. »Lass mich endlich los, verdammt!«
Schlagartig hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Faye, ich kann dich ...«
»Umgehend«, forderte ich mit zornig blitzenden Augen. »Sonst garantiere ich für nichts mehr.«
Er zögerte noch, lockerte aber seinen Griff. »Bist du sicher, dass du das willst?«
Natürlich konnte ich ihn verstehen, fühlte seinen Zweifel und seine Sorge beinahe körperlich. Das minderte meinen Ärger beträchtlich. Er war mein Bruder, und ich hätte vermutlich ähnlich gehandelt, wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre. »Vertrau mir, bitte. Ich weiß, was ich tue. Lass mich gehen.«
Zweifelnd sah er mir in die Augen, als suche er nach einer Antwort. Endlich ließ er mein Handgelenk los. »Okay. Wie du möchtest. Geh.«
Einmal noch strich ich ihm liebevoll über die Wange, dann ging ich zu Darian, der mich sogleich in seine Arme nahm. »Alles okay, Liebes?«
Schnell nickte ich. »Sicher. Er würde mir niemals etwas antun.«
Darian lachte freudlos. »Nein, dir sicher nicht.« Ein sanfter Kuss folgte, dann schob er mich Richtung Tür. »Geh zurück, Faye.«
Ich sah ihn fragend an. »Kommst du nicht mit?«
»Nein, ich möchte das hier ein für alle Mal klären.«
Mein Blick wanderte zu Alistair, der uns aufmerksam beobachtete, dann zurück zu Darian. »Das kannst du nicht tun.«
Abermals lächelte er matt. »Mach dir keine Gedanken. Ich kann dir versichern, dass es fair zugehen wird.«
»Okay«, meinte ich schließlich und gab auf, sie trennen zu wollen. Vermutlich musste es geschehen. Wenn nicht jetzt, dann später. So oder so würden sie aneinander geraten.
Mein Fuß berührte schon die erste Stufe, als mein Bruder mir nachrief: »Faye? Wer ist der Vater?«
»Du stehst ihm gegenüber«, kam Darian meiner Antwort zuvor.
»Das ist unmöglich!«
»Ich sagte dir, er ist anders.« Energisch zog ich die Tür hinter mir zu.