- Kapitel Drei -
Gute neun Stunden später landeten wir auf dem Newark Liberty International Airport Marriott in New Jersey. Ich hatte die meiste Zeit des Fluges verschlafen und einen völligen Schwachsinn zusammengeträumt. Immer wieder war mir ein großer, dunkler Hund mit zotteligem Fell im Traum begegnet. Ständig hatte er die Zähne gefletscht und mich mit seinen schmalen Augen wütend fixiert, aber nicht einmal zugebissen. Fast kam es mir vor, als wolle er mich nur ängstigen und mich vertreiben. Warum? Und vor was?
Doch nun war ich wach, kein Hund in Sicht, und ich erlebte den Überflug über die Stadt mit all ihren Wolkenkratzern im Wachzustand. Als ich einen Blick auf Ground Zero mit seinen Baukränen und Abgrenzungen erhaschte, bekam ich in Erinnerung an das Attentat auf die Zwillingstürme des World Trade Center am 11. September 2001 leichtes Bauchweh. Wie viele Menschen hatten dabei ihr Leben lassen müssen. Einer tiefen Wunde gleich, zeugte die noch kahle Stelle von der eigentlichen Verletzbarkeit dieser riesigen Stadt. Selbst nach der langen Zeit. Würde sie sich jemals wieder davon erholen können?
Ich wandte mich ab, schaute während des Landeanflugs über den Hudson und fühlte mich leicht gerädert. Die Sitze waren zwar sehr bequem, jedoch nicht das Wahre für einen längeren Schlaf, auch wenn Darian mich dabei meist im Arm gehalten hatte. Außerdem kniff und quetschte die Jeans, die ich schließlich heimlich geöffnet und mit dem langen Shirt verdeckt hatte. Daher freute ich mich darauf, mich endlich wieder bewegen zu können.
Nachdem wir endlich gelandet waren und die Maschine eine geeignete Stelle zum Parken zugewiesen bekommen hatte, stellte ich fest, dass wir ein Problem hatten. Jedem Touristen dieser Stadt hätte es gefallen, wie die Sonne über den Dächern der Stadt stand und alles in Wärme und gleißende Helligkeit hüllte. Jedem anderen, nur uns nicht.
»Ich wage zu bezweifeln, dass es heute noch zuziehen wird.« Darian warf dem Himmel einen abschätzenden Blick zu, ehe er die Treppe hinunter und auf den uns erwartenden Gepäckwagen zueilte. Er dirigierte ihn näher an den Jet heran und verfrachtete zusammen mit Dad und Jason die Gepäckstücke in den Kofferraum. Dann schleppten sie gemeinsam einen sehr großen Überseereisekoffer die Stufen hinauf und stellten ihn hochkant mitten in den Gang. Die drei Verschlüsse schnappten auf, und Dad schob mit diebischem Grinsen den großen Deckel des Koffers auf. »Dein Sonnenschutz ist angekommen, Steven. Wir wünschen während der Fahrt einen angenehmen Aufenthalt.«
»Na super.« Missmutig schlängelte Steven sich in das Behältnis. »Gibt's hier drin wenigstens room service?1
Statt einer Antwort warf Dad den Deckel zu. Er verschloss ihn und klopfte dann kräftig dagegen. »Immer diese Ansprüche bei der Touristen-Class. Falls du ersticken solltest, mach dir keine Sorgen, kannst ja nicht sterben. Im Hotel lassen wir dich wieder raus.«
»Wie tröstlich«, brummte es aus dem Koffer. Dann folgte ein Schreckenslaut, als dieser gekippt und wieder die Stufen hinunter zum Gepäckwagen befördert wurde. Gemeinsam mit Jason verfrachtete Dad den riesigen Koffer auf den Anhänger des Gepäckwagens, schlug einmal kräftig auf den Deckel und rief dem Fahrer entgegen: »Kannst los!«
»Wenn so weit alles geklärt ist«, erklang Darians Stimme aus dem Cockpit, »macht euch bitte auf den Weg zum Terminal C, International Arrivals. Das ist gleich dort drüben, keine hundert Meter von hier. Ich werde mit Donovan den Rest klären und komme nach. Hast du deine Tasche dabei, Faye? Wir sehen uns in der Halle.«
Ich klopfte auf mein Handgepäck, in dem sich alles Wichtige befand, und hakte mich bei Jason ein, der mir fürsorglich seinen Arm reichte. Dann eilten wir über die große Fläche auf das Gebäude zu. Wir mussten durch eine Glastür, eine breite Treppe hinauf und einen langen Gang entlang, dessen Fußboden, wie der des gesamten Gebäudes, aus weißgrau gesprenkeltem Steingut bestand und der uns direkt an einer großen Fensterfront mit Blick auf das Flughafengelände vorbeiführte. Von hier aus konnte man ein paar Privatflugzeuge sowie einige Maschinen im Landeanflug und die Anfänge der Landebahnen sehen. Dann gelangten wir durch eine weitere Glastür in den Ankunftsbereich, durchquerten ihn und erreichten die Einreisekontrolle. Die Passkontrolle brachten wir problemlos hinter uns und eilten dann eine Rolltreppe hinab zur Gepäckausgabe. Das Förderband in der Nähe des Eingangs drehte seine Runden und auf ihm der Koffer inklusive Steven nebst allen anderen Gepäckteilen.
Dad hatte einen Wagen geholt, Jason nahm bereits die drei Taschen und zwei Koffer vom Band und verlud sie auf den Wagen. Natürlich maulte Steven durch die Kofferwand über den miserablen Service, doch noch musste er warten. Konnten Vampiren eigentlich die Gliedmaßen einschlafen? Ich beschloss, ihn bei Gelegenheit danach zu fragen.
Um zum Ausgang zu gelangen, mussten wir einer aus Venezuela ankommenden Menschenschar ausweichen, die sich um das Förderband drängte, welches für ihren Flug reserviert war. Dann folgte eine Menschenmenge aus Frankfurt, eine aus Buenos Aires, eine aus London und Montreal. Internationaler Flughafen eben. Entsprechendes Gerangel gab es auch beim Ausgang der Gepäckhalle, da sich mehrere Reisende gleichzeitig statt hintereinander durch die Türöffnung drängen wollten. Und auch wir gelangten erst durch den energischen Einsatz von Dads Ellenbogen und seiner lauten Stimme in den Zollbereich.
Ein etwas älterer Zollfahnder winkte uns freundlich, aber bestimmt zu sich herüber. Ich verdrehte insgeheim die Augen. Auch das noch.
»Führen Sie anmeldepflichtige Güter bei sich? Elektrogeräte, Lebensmittel, Alkohol, Tabak, Rauschwaren?«
»Nichts dergleichen, Sir«, erwiderte Jason steif und bedachte den Mann mit einem distinguierten Blick.
Dadurch ließ sich der Mann allerdings nicht beeindrucken und wies auf den Überseekoffer: »Wenn Sie bitte die Freundlichkeit hätten, diesen Koffer zu öffnen, Sir.«
Na klar. Ich wäre bei drei Leuten und fünf Gepäckstücken nebst diesem Ungetüm ebenfalls neugierig geworden.
Dad und Jason nahmen die Taschen vom Koffer, stellten sie auf dem Tisch des Zöllners ab und schoben den Wagen mit dem großen Koffer näher heran.
»Was befindet sich in dem Gepäckstück?«, verlangte der Mann zu wissen, auf dessen Namensschild E. Jankins stand. Er streifte sich dabei Latexhandschuhe über und trat um den Tisch herum.
»Eigentlich ist er leer«, murmelte Dad und ließ die Verschlüsse aufspringen. »Bis auf einen für Sie unsichtbaren Vampir, den wir in die Staaten einschmuggeln.«
»Sir?« Die grauen Augen im leicht faltigen Gesicht des Mannes machten deutlich, dass er es für einen schlechten Scherz hielt, und auch seine verkniffene Miene zeugte davon, dass er uns nicht glaubte. Sein Problem.
Ich lächelte, als der Deckel aufschwang. »Seien Sie bitte vorsichtig, wenn Sie hineingreifen. Nicht, dass Sie gebissen werden.«
»Sie glauben doch nicht, dass Sie mich mit dieser Masche ...« Er verstummte, als er hineinblickte und den Koffer leer vorfand. Dann sah er wieder auf und uns nacheinander ärgerlich an. »Da ist nichts drin.«
»Das wurde Ihnen vorher gesagt, Sir«, meinte Jason, und Dad ergänzte: »Nicht ganz. Ich sagte, er würde den Vampir nicht sehen können.«
Ich ahnte das Unwetter voraus, als E. Jankins seine Hände in die Seiten stemmte und einen Exerzierplatz-Ton anschlug: »Was zur Hölle bezwecken Sie damit? Wollen Sie mich verarschen?«
»Mitnichten, Sir.« Jason wischte ein imaginäres Staubkorn vom Revers seines dunkelblauen Sakkos. »Sie haben gefragt und eine Antwort bekommen, Sir.«
»Das hat man nun davon, wenn man ehrlich ist«, knurrte Dad und ließ den Deckel wieder zufallen.
»Sie halten das wohl für einen Witz, was?«, fuhr uns der Zöllner abermals an, trat wieder um den langen Tisch herum und wies auf die übrigen Gepäckstücke. »Aufmachen!«
Ergeben öffnete Dad jedes einzelne und ließ den Mann hineinschauen. Natürlich fand er nichts. Wie denn auch? Sämtliche Gefahrengüter und Waffen, unter anderem das Schwert, hatte Darian bei sich, und ich bezweifelte nicht eine Sekunde, dass er sie unbemerkt durch jede Kontrolle bringen würde. Es würde mich auch nicht wundern, wenn er in unserer unmittelbaren Nähe stand, uns beobachtete und kaum einer davon etwas mitbekam.
Vorsichtig sah ich mich um, ließ meine antrainierten Sinne die Umgebung abtasten. Und fand nichts – bis auf den auf mir ruhenden Blick Jasons, der mein Vorhaben mitbekommen hatte. Ich blickte ertappt zu Boden, sah wieder auf und straffte die Schultern. Warum ließ ich mich ständig einschüchtern?
»Alles klar, Faye?«, riss Dads Frage mich aus meinen Gedanken.
»Ja, sicher. Sind wir fertig?«
»Gleich. Nur noch deine Tasche, dann wurde alles kontrolliert.«
E. Jankins schien regelrecht verärgert, dass er trotz seiner beinahe übertriebenen Gründlichkeit nichts gefunden hatte. Er ließ sogar nochmals den Überseekoffer öffnen, klopfte erst von außen dagegen und tastete dann erneut von innen die Verkleidung ab. Während dieser Zeit stand Steven verhüllt neben mir und murmelte etwas von »gleich mal in den Hintern beißen, damit der schneller wird.«
»Wozu brauchen Sie den leeren Koffer wirklich?«, fragte der Mann schließlich, während Steven ungesehen wieder hineinschlüpfte und Dad ihn dann verschloss.
»Ich möchte ein paar Dinge für meine bevorstehende Hochzeit einkaufen und brauche mir so keinen Koffer mehr zu besorgen«, erklärte ich rasch. »Sie kennen das sicher. Ein paar Kleider, Schuhe, das ganze Drumherum. Verzeihen Sie uns bitte den kleinen Scherz von vorhin. Versteckte Vampire, so ein Quatsch.« Ich lachte gekünstelt.
»Na ja.« Der Mann grinste mich verlegen an und kratzte sich gleichzeitig am Hinterkopf. »Fast hätten Sie es ja geschafft. Ich hatte schon Wunder was erwartet, was mir aus dem Koffer entgegenspringen würde. Vampire. Daran glaubt doch kein Mensch.«
»Das ließe sich durchaus ändern«, kam es gedämpft durch den Kofferdeckel, verstummte jedoch, als Dad kräftig dagegen trat, unschuldig tat und hinzufügte: »Sie sollten uns an Halloween erleben. Wir sind da die absoluten Perfektionisten.«
»So, wie Sie mich grade aufs Glatteis geführt haben, möchte ich das gerne glauben.« Er klopfte meinem Vater fast kameradschaftlich auf die Schulter. »Dann kann ich Ihnen ja nur noch einen schönen Aufenthalt in New York wünschen, Sir.«
Wir waren entlassen und sahen zu, dass wir fortkamen, eilten durch die automatisch aufschwingende Glastür und hatten nun offiziell amerikanischen Boden unter den Füßen. Spätestens hier wäre auch dem letzten Menschen aufgefallen, wo er sich befand, denn die riesigen amerikanischen Flaggen hingen beinahe überall herum und erschlugen die Ankommenden regelrecht. Understatement war nicht gerade eine amerikanische Tugend.
»Seht ihr Darian hier irgendwo?«, fragte Dad und blickte sich suchend um.
Einem Impuls folgend wies ich Richtung Ausgang. »Er wartet draußen auf uns.«
»Und anscheinend nicht nur er«, meinte Jason. »Kennt jemand von Ihnen die etwas ungewöhnlich bekleidete junge Dame, die dort drüben mit einem Schild in der Hand steht, auf dem Ihr Name prangt, Miss McNamara?«
Verblüfft sah ich in die gewiesene Richtung. Sie war kleiner, als ich gedacht hatte, und jünger. Vielleicht gerade mal achtzehn Lenze. Ihr Haar war tatsächlich feuerrot und stand wie kurze Stacheln von ihrem Kopf ab. Sie hatte ein ovales Gesicht mit sehr heller Haut, zu der die schwarz umrandeten, kornblumenblauen Augen einen starken Kontrast bildeten. Ihre Statur war ebenfalls recht schmal und in schwarze Kleidung gehüllt. Das Oberteil bestand aus einem zerfetzt wirkenden Netzshirt, unter dem ein schwarzes Top zu sehen war. Dazu trug sie ein schmales Halsband mit Nieten und ein großes Silberkreuz an einem Lederband. Ein breiter Gürtel, dessen silberne Schnalle wie zwei ineinander verschlungene Schlangen aussah, bildete den Übergang zu einem schwarzen, knappen Lederrock, unter dem eine ebenfalls durchlöcherte Netzstrumpfhose zum Vorschein kam. Schwarze Chucks mit weißen Sohlen rundeten das Outfit ab. Einzig das helle Pappschild mit dem in roten Buchstaben geschriebenen Namen McNamara, das sie in ihren mit schwarzem Nagellack verzierten Händen hielt, brachte neben ihren Haaren etwas Farbe ins Spiel.
Ich trat auf sie zu und blieb direkt vor ihr stehen. »Kimberly?«
In aller Ruhe ließ ich ihre Musterung über mich ergehen. Als sie von meinen Fußspitzen zurück in mein Gesicht schaute, ließ sie eine große Kaugummiblase zerplatzen und nickte schließlich. »Yeah. Du musst Faye sein, richtig? Und der Große da ist dann wohl dein Alter.« Ihr Blick blieb kurz an Jason hängen. Sie zog erstaunt die Brauen zusammen und sah mich wieder an. »Den alten Sack willst du echt heiraten?«
»Bitte?« Ich starrte sie erschrocken an, schüttelte dann eifrig den Kopf. »Nein, wo hast du denn das her? Der ältere Herr ist Jason -«
»Und mein Butler, junge Dame«, schnitt Darian mir das Wort ab, trat neben mich und legte mir den Arm um die Taille. Gleichzeitig reichte er Kimberly eine Hand. »Wenn Sie erlauben, dass ich mich vorstelle: Darian Knight. Und somit der zukünftige Gatte dieser bezaubernden Dame.«
»Ah ja.« Kimberly nahm die Hand und schüttelte sie kräftig. Dabei unterzog sie Darian der gleichen Musterung wie mich zuvor. Als sie wieder aufblickte, war eine ihrer Brauen hochgerückt, und sie schnalzte mit dem Kaugummi. »Na gut, damit lässt sich doch schon durchaus was anfangen. Is' allemal besser als das alte Fossil da drüben. Seid ihr jetzt komplett, oder muss ich mit weiteren rechnen? Dann wäre ich nämlich mit 'nem Bus gekommen.«
»Du bist ganz schön vorlaut, Kleine. Warum ist Alistair nicht selbst gekommen?«, kam Dad mir zuvor. Ich verkniff mir eine weitere Bemerkung, denn das wollte ich lieber in Ruhe und außerhalb der Schusslinien betrachten.
»Is' genetisch bedingt. Von nix kommt nix«, antwortete Kimberly nur, stopfte das Pappschild in den Mülleimer neben sich und wandte sich um. »Er kann grad nicht weg und hat mich geschickt, damit ich euch einsammle. Dann mal los, Leute, wir essen zeitig.«
Sie führte uns quer über den Parkplatz, bis sie schließlich vor einem alten, ziemlich klapprig aussehenden dunkelgrünen Van stehen blieb. Sie fischte den Schlüssel aus einer Tasche, wo ich niemals eine vermutet hätte, und schloss den Wagen auf. »Schmeißt die Koffer hinten rein, und dann lasst uns los. Mein Ticket läuft ab. Hat jemand 'nen besonderen Wunsch, muss vorne sitzen, weil er hinten sonst kotzt?«
Hatte nur ich allein das Gefühl, dass sie etwas unerfreut über unsere Anwesenheit war, oder ging es auch den anderen so?
Sie ist nicht nur unerfreut, Faye, sie ist stinksauer deswegen, vernahm ich Darians Stimme in meinen Gedanken und nickte gleichzeitig unbemerkt. Das hatte ich mir gedacht. Und, fuhr er fort, während er die Koffer hinten einlud, sie hält uns für überflüssig. Du könntest dir die Mühe machen und selbst ihren Gedanken lauschen, denn sie schreit förmlich.
»Wenn ich es bei mir nicht mag, Schatz«, säuselte ich ihm liebreizend zu, »werde ich es auch nicht bei anderen anwenden, solange es nicht unbedingt sein muss.«
»Wie du möchtest.« Er küsste mich kurz auf die Stirn und hielt mir dann die hintere Tür auf. »Bitte einzusteigen, Gnädigste.«
Jason und Dad nahmen ebenfalls hinten Platz und mich somit in ihre Mitte. Darian ließ sich vorne neben Kimberly nieder und schenkte ihr ein Lächeln aus der Kategorie »Mach keine krummen Dinger«. Und Kimberly antwortete mit einem dieser Du-mich-auch-Grinsen, wobei sie strahlend weiße Zähne entblößte. Meinem Empfinden nach ging diese erste Runde eindeutig an das Mädchen.
Sie startete den Wagen und trat im Leerlauf einmal kräftig auf das Pedal, ehe sie den Gang einlegte und aus der Parklücke fuhr. Anfangs verlief die Fahrt schweigend, ich schaute aus dem Fenster. Ich grübelte darüber nach, was uns hier erwarten könnte und warum sie uns gegenüber so offensichtlich feindlich eingestellt war. Würde Alistair ebenso empfinden? Und welche Verbindung bestand zwischen ihr und meinem Bruder?
Ich spürte Dads Hand auf meiner. Er drückte sie sanft, lächelte mir aufmunternd zu. Dann sah er nach vorn auf ihre Nackenstütze und öffnete bereits den Mund, als sie plötzlich fragte: »Soll ich euch vorher irgendwo absetzen, falls ihr eine Bleibe habt? Oder soll ich euch gleich zur Werkstatt fahren und ihr klärt das mit der Unterbringung von da aus? Muss ich wissen, weil ich da vorne sonst runter muss. Kann euch aber gleich sagen, dass wir euch nicht alle unterbringen können, dazu ist das Apartment zu klein.«
Sie wohnten zusammen. Das hatte ich mir gedacht. Meine Sorge wuchs, denn das Mädchen war sehr jung, mein Bruder hingegen schon sechsunddreißig. Ich wollte mir einfach nicht vorstellen, dass Alistair und sie ...
»Fahr uns bitte zum Plaza, Fifth Avenue Central Park South«, gab Darian geschäftsmäßig an. »Ich möchte vermuten, dass ein späteres Treffen mehr im Sinne Alistairs ist und wir uns vorher gerne noch etwas frisch machen möchten.«
»Plaza also«, wiederholte Kimberly anerkennend, setzte den Blinker und zog links rüber. »Noble Nummer. Kleiner ging's nicht, oder?«
Auch mir drohten bei der Erwähnung dieser Adresse schier die Augen aus dem Kopf zu fallen. Ich wusste, dass luxuriöse Unterbringungen für Darian eine Selbstverständlichkeit waren. Sein Loft in London sowie sein Landsitz waren voll von Antiquitäten und teuren Sammlerstücken wie Bildern, Vasen und weiteren Kostbarkeiten. Eigentlich hätte ich ahnen müssen, dass das Teuerste und Bekannteste für einen Darian Knight gerade gut genug war, hatte ich doch schon mehrfach erlebt, wie er ganz nebenbei eine Summe für Kleidung ausgab, die mich vor einiger Zeit noch einen ganzen Monat über Wasser gehalten hätte. Seine Devise war: Über Geld spricht man nicht, man hat es. Daran würde ich mich wohl niemals gewöhnen.
Über Union City und den Lincoln-Tunnel gelangten wir nach New York City. Jetzt erst konnte man ein wahres Gefühl für die Größe dieser Stadt bekommen. Beim Überfliegen war sie schon riesig erschienen, doch nun, mittendrin, war sie gigantisch. Obwohl ich vor Jahren schon einmal hier gewesen war, erschlug es mich wie beim ersten Mal. Die Stadt pulsierte regelrecht, als hätte sie ein Eigenleben. Und sie riss jeden sofort mit. Beleuchtete Werbeflächen brüllten die beworbenen Produkte jedem entgegen. Menschen hasteten umher, über die Straßen und auf Gehwegen. Einige standen winkend am Straßenrand, versuchten eines dieser unzähligen gelben Taxis dieser Stadt zu ergattern, die irgendwie meistens besetzt waren. Rollende Imbissstände säumten die Gehwege und boten den Hungrigen Hot Dogs, Burger und allerhand anderes Fastfood an.
Kimberly wählte die Fahrstrecke über den Broadway bis zum Columbus Circle direkt am Central Park. Von dort aus bog sie rechts ab und fuhr die Central Park South am Essex House und dem Ritz-Carlton vorbei entlang, um zum Plaza zu gelangen. Unter dem Vordach des Hotels blieb sie direkt vor dem Eingang stehen.
Ich lehnte mich halb über Jason, um einen Blick auf das berühmte, im französischen Stil der Renaissance gebaute Haus zu ergattern, in dem schon Hitchcock Teile seines Films Der unsichtbare Dritte gedreht hatte, sah von hier aus aber lediglich den Eingangsbereich. Nur die mittlere der drei Doppeltüren oberhalb der breiten Treppen stand offen, und die Stufen davor waren mit einem breiten, roten Teppich mit goldener Borte ausgelegt. Jeder Treppenbereich wurde von blank geputzten, goldfarbenen Geländern flankiert. Zwischen den einzelnen Aufgängen befanden sich Säulen mit einem Podest, auf dem direkt neben den Türen je eine reich verzierte, goldfarbene Lampe mit fünf großen, weißen Glühlampen die Stufen beleuchtete. Auf dem Gehweg vor der Treppe standen vor den Säulen große Blumenkästen, in denen derzeit kleine, runde Buchsbäume wuchsen. Und mitten auf dem in schwarzweißem Rautenmuster angelegten Gehweg hatte sich der Portier postiert, mit Mütze, Handschuhen und der dunkelblauen Dienstkleidung des Hotels. Jederzeit bereit herbeizueilen, behielt er unseren Wagen im Auge.
Fragend sah Kimberly sich um. »Seid ihr sicher, dass ihr vorher nicht noch mal schnell eine Bank ausrauben wollt?«
»Absolut sicher, Kimberly. Aber danke für das Angebot«, gab Darian zurück, stieg aus und half zuerst Jason, dann mir aus dem Wagen. Er winkte dem Portier zu, der wiederum eilig einen Gepäckträger herbeirief, und beugte sich erneut zu Kimberly vor. »Möchtest du uns begleiten oder erst einmal zurück zu deinem Vater?«
Entweder war sie nicht wirklich überrascht, oder sie war eine gute Schauspielerin, denn sie zuckte mit keiner Wimper. Mir allerdings fiel vor Überraschung fast die Kinnlade herunter. Und mein Vater selbst platzte lautstark heraus: »Was?«
Ab und an ist es von Vorteil, die Gedanken anderer zu lesen, Faye, hallte es mit der Untermalung eines entsprechend vorwurfsvollen Blickes in meinem Kopf wider. Ich schwieg, knirschte lediglich lautlos mit den Zähnen und erwiderte Darians Blick so lange, bis er mit den Schultern zuckte und Kimberly bat, den Kofferraum zu öffnen.
Der mit Messingbügeln versehene Rollwagen für das Gepäck wurde an den Wagen herangefahren, und ein Angestellter mittleren Alters in dunkelblauer Hoteluniform mit goldbesticktem Stehkragen und weißen Handschuhen machte sich sofort daran, die Taschen und Koffer darauf abzustellen. Bei dem Überseekoffer zuckte er kurz zusammen, doch half Dad ihm, diesen ebenfalls aus dem Wagen zu heben. Einzig die schmale, lange Tasche, aus der ein Golfschläger schaute, blieb in Darians Gewahrsam. Ich konnte mir durchaus vorstellen, was dieser Golfschläger tatsächlich war. Ein wenig irritiert war ich allerdings darüber, dass der Gepäckwagen die knapp drei Meter Breite des Gehweges bis an die Stufen der Treppe gerollt wurde, von wo aus das Gepäck mit Muskelkraft ins Hotel befördert wurde.
Während Dad und Jason dem Gepäckträger den riesigen Überseekoffer abnahmen, eilte Darian mit der Golftasche die Stufen hinauf ins Hotel und durchquerte mit energischen Schritten die Lobby. Er hatte die Rezeption bereits erreicht, als ich mich noch staunend in dem Raum umsah. Der Boden war mit beigefarbenem Marmor belegt, der sich zu einem braun abgesetzten Rautenmuster zusammenfügte, in das wiederum ein großes, geschwungenes Ornament eingefasst war. Jeder Schritt hallte auf diesem harten, auf Hochglanz polierten Boden wider. Riesige Kristalllüster hingen von den Decken und tauchten alles zusätzlich in ein funkelndes Lichtermeer.
Mir schräg gegenüber führte eine geschwungene Marmortreppe mit elegant verziertem und verspielt wirkendem Geländer nach oben ins nächste Stockwerk. Links davon war eine Unterführung zu erkennen, dort waren wohl die Fahrstühle untergebracht. Zwangsläufig, denn wer konnte schon erwarten, dass ein Gast dieses neunzehnstöckigen Hauses durch sämtliche Etagen bis in den obersten Stock laufen sollte?
Die komplette Fensterfront an dieser Seite war mit kleinen, gemütlich wirkenden Sitzgruppen bestückt, die aus bequemen Sesseln und kleinen Tischen bestanden. Als ich um die Ecke blicke, sah ich eine Bar mit einem fast bis zur Decke reichenden Regal voll mit Gläsern und Spirituosen diverser Herkunftsländer.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Madam?«, fragte mich jemand, und ich drehte mich zu dem jungen Mann mit kurzgeschnittenen blonden Haaren herum, der mich aus hellbraunen Augen freundlich musterte. Sein dunkelblauer Anzug wies ihn als einen Hotelangestellten aus, daher wies ich nur über meine Schulter Richtung Rezeption. »Mein...« Ich stockte kurz, ehe ich weiter sprach, «Mann regelt gerade alles Weitere. Aber danke.«
»Ah, Sie gehören zu Mr. Knight«, stellte der Angestellte fest und sah mich weiterhin fragend an. Ich blinzelte ungläubig. Woher kannte er Darian? War er etwa Stammgast hier im Plaza? Da ich keinen Ton herausbrachte und nur nickte, fügte er hinzu: »Wenn Sie wünschen, erkundige ich mich sofort nach Ihrer Suite und begleite Sie dorthin, Mrs. Knight.«
»McNamara«, gab ich mit leicht tonloser Stimme automatisch zurück. »Faye McNamara.«
»Oh, Verzeihung, Mrs. McNamara.« Und bevor er sich noch weiter entschuldigen konnte, winkte ich schnell ab. Ebenso wenig stand mir der Sinn danach, ihm zu erklären, dass die verheiratete Mrs. noch eine unverheiratete Miss war. Aber egal. Dieser kleine Standesdünkel konnte gut außer Acht gelassen werden, da ich so oder so auf Darians Kosten in dieser feudalen Umgebung residieren würde.
Plötzlich kam ich mir mit meinen verwaschenen Jeans und Turnschuhen, dem schlabberigen T-Shirt und meinem völlig ungekämmten und offenen Haar sehr deplaziert vor. Alle Anwesenden hier waren vom Scheitel bis zur Sohle elegant und akkurat gekleidet. Doch ich bekam keinerlei Chance zur offensichtlichen Verlegenheit, denn schon rollte ein beladener Gepäckwagen an mir vorbei, dem erst der Angestellte vom Eingang folgte, dann Dad und Jason.
»Wo ist Darian?«, erkundigte sich mein Vater und schien für seine elitäre Umgebung kein Auge übrig zu haben. Ich wies abermals Richtung Rezeption und sah dabei an ihm vorbei. »Was ist mit Kimberly?«
»Die junge Dame zog es vor, zunächst ihren Herrn Vater persönlich über unser Eintreffen zu informieren«, klärte Jason mich sogleich auf.
»Zumindest hab' ich so genug Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich Großvater bin«, brummte Dad. »Wenn der Bengel es mir letzte Nacht am Telefon gesagt hätte, würde ich jetzt garantiert mit einem großen Plüschbären ziemlich blöde in der Gegend herumstehen.«
Die Vorstellung, dass mein Vater Kimberly einen Teddy schenken würde, brachte mich nun doch zum Grinsen. Ich vermutete wegen ihres Erscheinungsbildes, dass sie andere Interessen hatte als ausgerechnet Stofftiere. Möglicherweise Schmuck. Vielleicht ein gusseiserner, mit Dornen verzierter Schlagring oder eine neunschwänzige Katze in Gürtelform zum Umhängen?
»Selbstverständlich, Mr. Knight. Ich werde alles Nötige sogleich veranlassen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wie immer wohl in unserem Haus«, vernahm ich noch hinter mir, dann stand Darian neben uns und sah uns nacheinander an. »Wollen wir?«
Als wir die Suite im Flur 20 betraten, war unser Gepäck längst oben angekommen. Sämtliche Möbel dieser mit zwei Schlafzimmern ausgestatteten Suite waren im opulenten Stil des Spätbarocks gehalten. Ich kam mir fast vor, als hätte ich mit Betreten dieser Räumlichkeiten eine Reise in die Zeit französischer Könige angetreten, wären da nicht ein hochmoderner Flachbildfernseher und ein Telefon gewesen. Selbst die Bilder an den Wänden mit ihren breiten, geschwungenen Rahmen passten sich dem Ambiente dieser Räume perfekt an. Und die breiten Betten, mit denen die beiden Schlafzimmer ausgestattet waren, machten die Wahl der Schlafstätte recht schwer. Ausschlag gab jedoch der Ausblick. Ich wählte das Bett mit dem Blick zum Central Park.
Das Bad mit einer Wanne und einer abgetrennten Dusche mit Glastür ließ mir bewusst werden, dass ich eine gewisse Reinigung bitter nötig hatte. Aus vergoldeten Hähnen lief das Wasser in ein aus weißem Marmor bestehendes, ovales Waschbecken, das mit einer goldenen Bordüre verziert war.
Da Darian zwei solcher Suiten auf dem gleichen Flur angemietet hatte, entschieden Dad und Jason, sich die andere zu teilen, während Steven bei uns unterkommen sollte. Ich hielt diese Lösung ebenfalls für die sinnvollste, denn Dad wollte Darian und mich nicht stören und auch Jason dachte ähnlich. Und Steven zusammen mit meinem Vater in einer Suite wäre sicherlich alles andere als eine friedliche Konstellation geworden. Von daher landete der große Überseekoffer in dem Schlafzimmer mit Blick zur achtundfünfzigsten Straße. Wir zogen die Vorhänge zu und ließen Steven schließlich aus seinem Gefängnis.
»Wurde ja auch Zeit«, brummte er verstimmt, faltete sich auseinander und entstieg dem Behältnis – nur, um sogleich nach einem schnellen Rundblick mit einem Schreckensschrei zurück in den Koffer zu hüpfen. »Wo sind wir hier? Frankreich? Vorzimmer zur Inquisition?«
»Nein, in einer Suite im Plaza am Central Park. Aber ich möchte dir vorschlagen, das erst später per Blick aus dem Fenster zu überprüfen, da momentan die Sonne scheint«, gab ich gelassen zurück und reichte ihm die Hand, um ihm abermals herauszuhelfen.
Sichtlich beruhigt entstieg er dem Koffer erneut und überprüfte sogleich die Federung des King-Size-Bettes, indem er sich darauf setzte und leicht wippte. Befriedigt nickte er. »Lässt sich aushalten. Durchaus.«
»Deine Tasche steht am Fußende, Steven. Wenn ihr mich entschuldigt?« Damit verließ Darian den Raum. Ich sah Steven kurz an, ehe ich Darian nacheilte.
Die Glastür zur Terrasse stand offen, und ich fand ihn mit den Händen auf das Geländer gestützt vor. Ich wusste, dass er mich gehört hatte, sagte jedoch nichts, sondern ließ mich nur auf der eleganten Sitzbank neben dem ovalen Tisch nieder und sah ebenfalls über die Skyline der Stadt.
»Möchtest du mir sagen, was los ist, Faye?«, hörte ich ihn leise fragen und sah zu ihm hinüber. Er hatte sich zu mir umgedreht und die Arme vor der Brust verschränkt, wobei er mich besorgt musterte.
»Ich bin nur etwas müde«, wich ich aus und wandte den Blick ab. Sogleich war Darian bei mir, kniete sich vor mich und legte mir die Hände auf die Knie. »Du hast fast den ganzen Flug verschlafen. Und du fühlst dich keinesfalls krank an.«
»Jetlag«, probierte ich es erneut und schenkte ihm ein schmales Lächeln. Seine Brauen ruckten nach oben, noch einmal sah er mich prüfend an und seufzte dann. »Na gut. Wie du möchtest.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und ging zurück in die Suite. Kurz darauf hörte ic