- Kapitel Neunzehn -
Kaum hatte ich die Küche betreten, jagten mir Bilder durch den Kopf, die an Wirklichkeitsnähe und Intensität kaum zu überbieten waren. Eine moderne Einbauküche mit dunkelroter Front erschien vor meinem inneren Auge. Ein Tisch, zwei Stühle, heller Fliesenboden. Auf dem Fensterbrett ein bemalter Blumentopf mit rosa Zierröschen aus Plastik. Links die Küchenzeile mit Spüle und Spülmaschine, ein Einbauherd. Schräg davon ein freistehender Kühlschrank. Dann eine Tür, halb offen, dahinter gähnende Schwärze. Ein Rundblick auf eine weitere Küchenzeile samt Arbeitsplatte mit allerlei Utensilien, darüber Wandschränke.
Plötzlich kippte das Bild, verschwamm und wurde wieder scharf. Der Tisch vor dem Fenster stand nun halb im Raum, die Stühle lagen beide auf der Seite, einer davon war zerbrochen. Auf dem hellen Fußboden glänzte eine dunkle Lache, von der Schleifspuren in Richtung Tür führten. Die Gardine hing in Fetzen, war mit dunklen Spritzern übersät. Der Blumentopf lag zerborsten auf dem Boden. Mehrere Schubläden der Schränke waren aufgezogen, teilweise herausgerissen und der Inhalt auf dem Küchenboden verteilt. Schranktüren standen in anklagendem Schweigen weit offen. Der Kühlschrank war gekippt, lehnte schräg an der Wand. Seine Tür hing schief in den Angeln, der Inhalt lag vor ihm auf dem Boden. Aus einer Flasche lief weiterhin Flüssigkeit aus, tropfte herunter, lief als Rinnsal die Fliesenfugen entlang, bis sie sich zu einem kleinen See vor einem Hindernis ansammelte. Einem Hindernis, das aus einem Büschel blonder Haare bestand.
Schlagartig wurde mir übel. Ich musste mich setzen.
»Nein«, kam ich jeder weiteren Frage zuvor, »nichts ist in Ordnung, Jason.«
»Was haben Sie gesehen?«, fragte er knapp und sah mich dabei sehr beunruhigt an.
Da verstand ich. Ich riss die Augen auf, schnellte hoch und stürmte aus der Küche. »Oh mein Gott! Lass es nicht wahr sein!«
Im Flur rannte ich beinahe meinen Bruder über den Haufen, stürmte ungeachtet seines Protests durch die Tür, das Treppenhaus hinunter, aus dem Haus und quer über die Straße. Direkt vor dem Gebäude bremste ich und blickte mit rasendem Herzschlag auf die mich wissend anstarrende, dunkle Fensterfront.
Hinter mir erklangen hektische Schritte, hielten dann ebenfalls inne. »Miss McNamara, was in aller Welt -«
Eine herrische Geste brachte Jason zum Schweigen. Meinen Bruder, der kurz nach ihm eintraf, berührte dies allerdings wenig, denn er trompetete erbost: »Sag mal, spinnst du? Und was willst du überhaupt vor Lucindas Haus, Faye?«
»Damit wäre das Überraschungsmoment wohl gnadenlos zunichtegemacht«, resümierte ich mit einem giftigen Blick Richtung Alistair.
Abermals ignorierte er meinen Einwand, sah sich stattdessen intensiv um, trat weiter auf das Gebäude zu und sog geräuschvoll die Luft ein. »Es riecht nach frischem Blut. Und nach Tod.«
»Ach, was du nicht sagst«, spottete ich. »Dann sind wir uns ja wenigstens in diesem Punkt einig.«
»Die Haustür scheint offen zu stehen«, schaltete Jason sich leise ein und lenkte so meine Aufmerksamkeit zurück auf das Gebäude.
Mein Bruder hatte sich inzwischen der Vordertreppe genähert, seinen Fuß auf die erste Stufe gesetzt und sah sich nun fragend zu uns um. »Kommt ihr?«
Stöhnend eilte ich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es wäre schön, wenn du das nächste Mal abwarten würdest. Bleibt hier, ich gehe allein.«
Ich schob mich an ihm vorbei und lauschte gebannt, während ich mich langsam den letzten Stufen vor der nur leicht angelehnten Tür näherte.
»Du gehst vielleicht allein die Treppe rauf, Schwester, mehr aber auch nicht«, grollte mein Bruder kehlig zurück. »Wenn du glaubst, dass ich dich allein in diese Bude spazieren lasse, hast du dich geschnitten. Mir wäre es ohnehin lieber, du bliebest draußen und lässt mich diese Arbeit erledigen.«
»Darian ist vermutlich da drin. Und wer weiß, was noch alles«, fuhr ich ihn an und stockte, als er laut zu lachen begann. »Jeder andere wäre bei dem Krach, den wir hier veranstalten, längst über alle Berge, Faye.«
»Auch wieder wahr, Bruderherz.« Damit stapfte ich die Stufen hoch, trat die Tür auf und marschierte in den langen, dunklen Flur hinein. Zielstrebig trugen mich meine Beine auf die linke Tür zu. Hier wurde der Geruch von Blut und allerlei anderen Dingen intensiver. Nachdem ich die Tür zur Küche aufgestoßen hatte, wurde er beinahe unerträglich. Mir entwich ein angeekelter Laut.
»Heilige Scheiße!«, kommentierte Alistair keine Sekunde später das Bild, das sich nun auch seinen Augen darbot.
Während ich nur mit Mühe aufrecht im Türrahmen stehen blieb und mit dem Inhalt meines Magens kämpfte, betrat Alistair vorsichtig den Raum. Es knirschte leise unter seinen Füßen. Ohne langes Suchen fand er den Lichtschalter und knipste ihn mit dem Ellenbogen an. Kurz darauf tauchte die Deckenlampe die schauderhafte Szenerie in erbarmungslose Helligkeit.
Alles stimmte mit meiner letzten Vision überein. Das Chaos auf dem Küchenboden, die Möbel, der schräg stehende Kühlschrank. Dazu das blonde Büschel Haare, das sich ausgerissen direkt neben einem Kopf befand.
Sie lag auf dem Bauch, Arme und Beine merkwürdig verdreht. Die Oberbekleidung bestand nur noch aus Fetzen und ließ den Blick auf die tiefen Schnitte frei, die sich quer über ihren Rücken zogen. Ihre Beine waren entblößt, sie trug keinen Slip. Der gesamte Körper war blutüberströmt. Eine weitere Blutlache hatte sich neben ihrem Kopf gebildet. Die Schleifspuren von der Pfütze in der Mitte der Küche führten bis zu ihr. Sie war gekrochen oder gezogen worden. In Anbetracht des ausgerissenen Haarbüschels schien die zweite Variante wahrscheinlicher. Wer zum Teufel tat so etwas?
»Sie hat sich tapfer gewehrt«, vernahm ich Jason neben mir. »Leider hat es ihr wenig genützt.«
»Und sie hat ihm freiwillig die Tür geöffnet. Er hat sie zusammengeschlagen. Sie hat noch versucht, ihm zu entkommen, was unmöglich war. Hier am Tisch hat er sie erwischt, sie bis hierher gezerrt und sie dann anscheinend gegen den Kühlschrank geschleudert. Es sieht zudem nach einer Vergewaltigung aus. Ich wette, es ist keine, auch wenn Sex im Spiel war. Es riecht förmlich danach. Wir drehen sie besser nicht um, ihre Vorderseite sieht bestimmt nicht angenehmer aus«, erklärte Alistair nahezu emotionslos und sah mich dabei fest an. »Das war kein Mensch, Faye. Auch, wenn es danach aussehen soll.«
Ich nickte schwach, während ich weiterhin die Tote betrachtete und mit meinem Magen haderte. Dann sah ich auf und Alistair an. Wir alle hatten Lucinda Pester mit ihrer unhöflichen Art und dem eklatanten Mangel an Taktgefühl nicht unbedingt ins Herz geschlossen, doch ein solches Ende hatte ihr niemand gewünscht.
»Wir sollten die Cops rufen«, schlug Jason vor, doch ich schüttelte den Kopf. »Nein, erst, wenn wir Darian gefunden haben. Ich weiß, dass er hier ist.«
»Er war hier«, meinte mein Bruder, löschte das Licht und schob uns aus der Küche zurück in den Flur. »Wir sollten möglichst wenig Spuren hinterlassen und schon gar nichts verändern. Habt ihr etwas angefasst?«
Jason und ich verneinten gleichzeitig.
»Okay, ich will mich kurz umsehen. Bleibt im Flur und rührt nichts an!« Damit löschte Alistair das Licht in der Küche und verschwand in den angrenzenden Räumen. Ich hörte ihn geharnischt fluchen, wollte schon zu ihm eilen, als Jason mich mit leichtem Kopfschütteln am Arm festhielt. Kurz darauf hörte ich Alistair telefonieren, dann tauchte er wieder auf. »Jetzt raus hier. Ich habe gerade die Cops gerufen. Und Faye«, hielt er mich auf den Stufen vor dem Haus auf, »Darian war hier. Irgendwie hat er damit zu tun, aber er ist es nicht gewesen. Ich denke, du solltest das wissen.«
Meine Hand landete auf seiner und tätschelte sie verstehend. »Ich weiß, Alistair. Darian würde so etwas niemals tun. Und Steven ebenfalls nicht.«
Energisch schob Alistair mich weiter die Stufen hinunter und über die Straße. »Steven konnte es nicht sein, Faye. Er war die ganze Zeit zusammen mit Jason und mir in der Werkstatt. Wer immer das hier getan hat, er wollte eine Spur legen. Und nun verschwindet, ich habe der Polizei gesagt, ich hätte Lucinda allein gefunden.«
Ich nickte verstehend und eilte Jason bereits nach, als ich innehielt und mich umsah. Die Tonne. Sie müsste schräg von hier an der Hauswand stehen. Ja, da war sie. Langsam ging ich darauf zu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was würde ich als Krönung dieser grausamen Nacht hier vorfinden?
Ich schrak heftig zusammen, als Alistair wie aus dem Nichts plötzlich neben mir auftauchte und mich ansprach: »Was suchst du noch?«
Reflexhaft flog meine Hand zu meinem Herzen, und erschrocken fuhr ich herum. »Willst du mich umbringen?«
»Nein, die beiden im Haus reichen. Also, was suchst du?«
»Die beiden?«
Alistair schenkte mir einen genervten Blick. »Lucinda hatte Herrenbesuch, der dieses Stelldichein auch nicht unversehrt überstanden hat. Er liegt auf ihrem Bett. Die Einzelheiten erspare ich dir. Nun?«
»Oh. Okay.« Zitternd massierte ich mir die Schläfen und bemühte mich, das Gehörte zügig zu begreifen. Dann wies ich auf die Tonne und erklärte Alistair in knappen Worten, was ich gesehen hatte. Er bat mich zu warten und sah nach. Abermals fluchte er leise und kam zurück zu mir, legte einen Arm um mich und zog mich fort. »Ich mochte diese kläffende, verwöhnte Fußhupe nie. Trotzdem muss niemand ein Tier dermaßen brutal umbringen.«
»Da liegt ihr Hund?«
Mein Bruder nickte. »Ja, hinter der Tonne. Und nun geh rein. Ich kläre den Rest. Falls ich Hilfe brauchen sollte, lasse ich es dich wissen.«
Bedrückt beobachtete ich durch das Küchenfenster das Ankommen der Ordnungshüter. Alistair erwartete sie vor der Werkstatt. Zwei Männer und eine Frau mit einer Tasche unter dem Arm stiegen aus dem Auto und unterhielten sich kurz mit meinem Bruder. Zuerst führte er sie zu der Tonne, wo sie sich umsahen, und anschließend über die Straße auf den Tatort zu. Während er mit dem älteren der beiden Cops vor der Tür stehen blieb, gingen die Frau und der jüngere die Treppen hinauf in das Haus. Eine geraume Weile später trafen weitere Wagen ein, und es begann vor Polizisten nur so zu wimmeln. Allerlei Gerätschaften wurden ins Haus geschleppt, inzwischen war jedes Zimmer beleuchtet.
»Es macht schon einen großen Unterschied, solche Szenen in einem Film zu sehen oder sie selbst zu erleben«, murmelte Jason, der mit einer Teetasse in der Hand leise neben mich getreten war.
Ich nickte ihm im Spiegelbild der Fensterscheibe zu. Ich versuchte noch immer, das Erlebte zu verarbeiten. Es war nicht leicht, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen, entwickelten sie doch ein Eigenleben und traten fortwährend vor das innere Auge, sobald man nur für einen winzigen Moment die Konzentration verlor. Und sie warfen Fragen auf. Wer tat so etwas Grausames? Welchen Anteil hatte ich daran, da es mir gezeigt worden war?
»Würde sie noch leben, wenn Darian und ich uns nicht gestritten hätten?«, stellte ich die bedeutungsvollste aller Fragen.
»Ihr Disput hat mit dem Ableben der Frau nicht das Geringste zu tun«, begehrte Jason heftig auf. »Sie dürfen nicht einmal daran denken, Miss McNamara.«
»Das ist leichter gesagt als getan, Jason.« Ich lächelte ihm tapfer zu. »Aber ich arbeite daran.«
»Woran arbeitest du?«, klang es leicht verschlafen hinter uns. Jason und ich fuhren gleichzeitig herum und erblickten Kimberly, die im knielangen, schwarzen Nachthemd mit Freddy-Krueger-Aufdruck schlaftrunken im Türrahmen stand und sich die Augen rieb. Sie schmatzte leise und sah uns dabei schläfrig interessiert an. »Was hängt ihr hier um diese Zeit noch rum? Schlachtpläne wegen deiner Hochzeit morgen, Tante Faye?«
»Es wird keine Hochzeit stattfinden, Kim«, ließ ich wenig diplomatisch die Bombe platzen.
»Was?« Sie starrte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Aber wieso? Ich meine, du und Darian ... Scheiße, du verarschst mich gerade, richtig?«
»Mr. Knight ist derzeit anderweitig beschäftigt und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in der Lage, zum angegebenen Termin zu erscheinen, Miss Kimberly. Daher wird die Hochzeit auf unbestimmte Zeit verschoben«, gab Jason für mich die Erklärung ab. Kimberly verstand seine Antwort nicht ganz so, wie er sie gemeint hatte, denn ihre Augen wurden noch größer. »Wie jetzt? War er zweigleisig unterwegs, die Olle meldet Besitz an, und er muss das erst mal klären?«
»Ich muss doch bitten, Miss Kimberly. Mr. Knights Verhalten ist über jeden Zweifel erhaben.«
Grinsend winkte Kimberly ab und trat zu uns. »Schon klar, nur nicht künstlich aufregen, Meister. Hey, was ist denn da los? Eine Invasion? Und wieso rennen die der Bitch nebenan die Tür ein? Die schafft die doch gar nicht alle auf einmal.«
»Sie wird gar nichts mehr schaffen, Kim, denn sie ist ermordet worden.«
»Echt? Cool. Oder ne, nicht cool. Eher ganz schön blöd.« Kim nahm einem verblüfften Jason die Tasse aus der Hand, trank einen Schluck und gab sie ihm zurück. »Hätte sie sich nicht einen anderen Zeitpunkt aussuchen können als ausgerechnet heute Nacht? Ich meine, so 'ne Bluthochzeit ist echt nicht Jedermanns Ding. Kann euch voll verstehen, dass ihr die Hochzeit erst mal absagt. Schon 'ne Ahnung, wer ihr den Hahn zugedreht hat?«
»Berührt es dich denn gar nicht, dass sie tot ist?«, fragte ich über ihre Reaktion erschüttert.
Meine Nichte sah mich irritiert an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nö, ist mir ziemlich egal. Außerdem ist das recht praktisch, dann braucht dein Mann keine Kündigung zu schreiben, damit sie auszieht. Was denn? Wieso fuchteln Sie in der Luft herum, Jason?«
Hinter mir erklang ein gepeinigtes Stöhnen. Sehr langsam drehte ich mich zu Jason um, der mich mit unschuldigem Lächeln ansah. Einem sehr unglaubwürdigen unschuldigen Lächeln. »Jason?«
»Miss McNamara?«
»Ach, Tante Faye hat nicht gewusst, dass ihr Künftiger die Hütte nebenan gekauft hat? Ups, ich hab' mich hier wohl gerade etwas verplappert, hm? 'Tschuldigung.«
»Ich wäre Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie für den Moment schweigen würden, Miss Kimberly.«
»Und ich warte auf eine Antwort, Jason.«
»Nun ja, Miss McNamara. Es steht mir nicht zu -«
»Jason!«, donnerte ich dazwischen.
Schuldbewusst zuckte er zusammen. »Nun gut, ich werde mich über Mr. Knights Anordnung hinwegsetzten. Jedoch nur unter Protest.«
Ich winkte ungeduldig ab. »Ja, ja, zur Kenntnis genommen. Also, ich höre.«
Er seufzte. Ihm war anzusehen, dass er sich in einer Zwangslage befand. Doch gab er sich einen Ruck und blickte mich fest an, als er erklärte: »Vorgestern hat Mr. Knight den Kaufvertrag unterschrieben und die Kaufsumme zum Transfer angewiesen. Gestern wurde die Eigentumsurkunde ausgestellt. Deswegen war Mr. Knight diverse Male in Manhattan. Er verpflichtete mich zum Schweigen, Miss McNamara. Ich vermute, er wollte Sie damit überraschen.«
»Das ist ihm gelungen«, murmelte ich und blickte schwermütig auf das Gebäude. »Dann ist euch vermutlich auch klar, dass er somit ein Motiv für den Mord an seiner einzigen Mieterin hat. Und dass er im Augenblick spurlos verschwunden ist, ist nicht unbedingt von Vorteil.«
»Wie? Darian ist verschwunden?«, schaltete Kimberly sich ein und wirkte plötzlich sehr mitgenommen. »Hat er was damit zu tun? Und was ist mit Steven? Ich meine, er wird sich doch da raushalten?«
»Beide haben damit nichts zu tun, Kim«, erläuterte ich ruhiger, als ich war. »Trotzdem hängen beide mit drin, weil nämlich beide verschwunden sind.«
»Scheiße.«
»In der Tat, Miss Kimberly. In der Tat. Wobei ich zu Ihrer Beruhigung anmerken möchte, dass wir Mr. Montgomery illegal in einem Koffer in dieses Land einschmuggelten und er sich somit nicht offiziell hier befindet. Ein Umstand, der sich den Behörden gegenüber durchaus als Vorteil erweisen dürfte.«
»Jason, Sie entwickeln erstaunlich viel kriminelle Energie.«
Er lächelte steif. »Danke, Miss McNamara. Ich passe mich lediglich den Gegebenheiten an.«
Meine Aufmerksamkeit wandte sich erneut meiner Nichte zu. »Wer weiß noch von dem Kauf des Gebäudes?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Na, alle, würde ich vermuten. Dad hatte es ja vorgeschlagen und auch den Besichtigungstermin klargemacht. Da warst du zusammen mit Jason und Ernestine shoppen.«
Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich mit jeder weiteren Erkenntnis die Schlinge um unseren Hals fester zog. Was würde noch alles ans Tageslicht kommen? Nur mühevoll schüttelte ich die erneut aufkeimende Angst ab, straffte die Schultern und wandte mich vom Fenster ab. Meine Kaffeetasse landete auf dem Tisch und mit festen Schritten verließ ich die Küche.
»Darf ich erfahren, was Sie zu tun beabsichtigen, Miss McNamara?«
»Ich hole die Kuh vom Eis, bevor sie sich den Hals bricht, Jason.«
Ungeachtet weiterer Einwände marschierte ich aus dem Haus und schnurstracks zum Ort des Geschehens hinüber. In einigem Abstand eilte Jason mir nach, hielt mich jedoch nicht weiter auf. Ich vermutete, er wollte mir mit seiner Anwesenheit den Rücken stärken und notfalls jeden Meineid leisten, der notwendig war. Lobenswert, doch hoffentlich nicht nötig.
Alistair sah mich kommen und versuchte, mir den Weg zu verstellen. Da ich seine massige Gestalt kaum von der Stelle bewegen konnte, lief ich einfach um ihn herum und achtete auch nicht auf seine Einwände. Gleichzeitig signalisierte ich Jason, mir nicht weiter zu folgen. Er verstand und blieb auf der anderen Straßenseite abwartend stehen.
So tippte ich dem erstbesten Polizisten auf die Schulter, der mir im Weg stand. Fragend drehte sich der junge, dunkelhaarige Mann zu mir um. Ich blickte kurz auf sein Namensschild. »Wer leitet diese Untersuchung, Officer Saunders? Ich möchte ihn gern sprechen.«
»Detective Anne Da Silva, Ma'am.« Seine blauen Augen erfassten mich einmal von oben bis unten, dann wies er mit dem Daumen über seine Schulter zum Eingang hin. »Sie ist drin. Aber da können Sie jetzt nicht rein.«
»Dann holen Sie sie raus und sagen ihr, dass die neue Eigentümerin des Gebäudes sie zu sprechen wünscht, Officer Saunders. Und das am besten gestern.«
»Ma'am, das ist-«
Meine Hand berührte sanft seinen Arm. »Sofort, Officer.«
Für einen kurzen Moment blickte er mich irritiert an, dann nickte er. »Ja, Ma'am, selbstverständlich. Bitte warten Sie hier.«
»Wie hast du das denn gemacht?«, flüsterte mein Bruder, nachdem der Polizist im Haus verschwunden war.
»Darian hat mich viel gelehrt. Du solltest ihn fragen, ob er dich auch unterrichtet.«
Er schenkte mir einen nachdenklichen Blick. »Angesichts dieser überzeugenden Demonstration deiner Überredungskunst sollte ich das wirklich tun.«
Derweil kam Officer Saunders in Begleitung einer älteren, dunkelhaarigen Frau aus dem Gebäude. In ihrem hellbraunen Hosenanzug nebst farblich passendem Rolli wirkte sie auf den ersten Blick wie eine Zivilistin, wäre da nicht das Abzeichen gewesen, das bei jedem Schritt an ihrem Gürtel aufblitzte. Während sie auf uns zukamen, sprach sie leise, jedoch deutlich verärgert auf ihren Kollegen ein.
Fast tat er mir Leid, denn dass seine Chefin sauer auf ihn war, ging wohl auf mein Konto. Ich schickte ihm ein aufmunterndes Lächeln und wandte mich gleich darauf der Frau an seiner Seite zu. »Detective Da Silva?«
»Und Sie sind?«, fragte sie streng, blieb vor mir stehen und betrachtete mich misstrauisch.
Sie war eine attraktive Frau um die fünfzig, mit großen, braunen Augen in einem schmalen, beinahe faltenlosen Gesicht. Sie war nicht sehr groß, ging mir gerade bis unter das Kinn, was ihrer Aura von Autorität jedoch keinerlei Abbruch tat. Das streng zurückgebundene, schwarze Haar unterstrich zusätzlich ihren spanischen Typ. Ich konnte sie mir durchaus mit einem Flamencokleid tanzend auf einem Tisch vorstellen.
»Faye McNamara«, stellte ich mich vor und registrierte sehr wohl ihren blitzschnellen Seitenblick auf meinen Bruder.
»Sie liegen fast richtig, Detective«, reagierte ich prompt. »Wir sind miteinander verwandt, allerdings bin ich seine Schwester. Und wie Sie möglicherweise von meinem Bruder bereits erfahren haben, sind mein Verlobter und ich die neuen Besitzer dieses Gebäudes. Wir haben es erst vor wenigen Tagen erworben.«
»Ach.« Ihre Brauen wanderten interessiert in die Höhe. »Nein, Ihr Bruder erwähnte diesen Umstand keineswegs. Sicher möchten Sie nun erfahren, wie lange wir noch für die Beweisaufnahme benötigen, bis das Gebäude wieder freigegeben werden kann, nicht wahr?«
»Nein«, überraschte ich sie. »Lassen Sie sich Zeit. Soweit es mir möglich ist, möchte ich Ihnen meine Mithilfe anbieten. Falls wir Ihre Ermittlungen in irgendeiner Form unterstützen können, lassen Sie es mich wissen. Wir hatten auf die Weitelführung des Mietverhältnisses mit Mrs. Pester gehofft. Es hat mich sehr getroffen, eben von meinem Bruder zu erfahren, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
»Sie ist tot, Mrs. McNamara«, ließ sie wie nebenbei fallen und beobachtete mich dabei scharf.
Ich entschied mich gegen die Zurschaustellung falscher Überraschung und nickte daher mit ernster Miene. »Es wurde mir vor einigen Minuten mitgeteilt.«
»Ich darf davon ausgehen, dass Sie und Ihr Verlobter die Ermordete persönlich kannten?«
»Wir sind ihr mehrfach begegnet, das ist richtig. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass wir sie kannten.«
»Aha.« Sie nickte. »Ihr Verlobter, Miss McNamara, ist er ebenfalls hier?«
»Er ist heute Mittag los. Geschäftsreise«, warf mein Bruder wie beiläufig ein. »Aber er wollte morgen, spätestens übermorgen zurück sein. Falls nichts dazwischen kommt.«
»Hat er auch einen Namen?«, fragte sie lauernd nach. Dachte sie, er würde nicht existieren?
»Darian Knight ist sein Name«, kam Alistair mir abermals zuvor. Ich sah ihn finster an.
»Darian Knight? Der Mr. Knight, dessen Name vor wenigen Tagen durch die Presse ging?«, echote sie erstaunt.
Ihre Verblüffung ließ mich aufmerken: »Hat er etwas angestellt, Detective?« Was kam jetzt schon wieder? Mir wurde unangenehm flau im Magen.
Sie lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht, Miss McNamara. Es sei denn, Sie betrachten die Spende einer fünfstelligen Summe an ein Krankenhaus als etwas Angestelltes.«
»Oh. Nein, natürlich nicht.« Erleichtert atmete ich durch. »Diese Spende war mir momentan entfallen. Ja, das passt zu meinem Verlobten. Er setzt sich sehr für solche Projekte ein.«
»Nun gut«, meinte sie schließlich und winkte den jungen Officer heran. »Saunders, nehmen Sie die Daten von Miss McNamara auf.« Dann sah sie mich wieder an. »Ihre Aussprache klingt sehr britisch, Miss McNamara. Besuchen Sie Ihren Bruder in den Vereinigten Staaten?«
Ich lächelte verstehend. »Unter anderem, Detective. Wir gedenken, uns hier geschäftlich ein zweites Standbein aufzubauen, daher der Kauf des Gebäudes. Selbstverständlich werden mein Verlobter und ich in naher Zukunft nicht abreisen und stehen Ihnen demzufolge für weitere Fragen jederzeit zur Verfügung. Sie werden uns weiterhin bei meinem Bruder antreffen.«
»Danke.« Sie reichte mir ihre Hand. »Wenn ich Fragen habe, werde ich mich bei Ihnen melden.«
Ihr Händedruck war kraftvoll und warm, ihr Blick inzwischen vollkommen offen. Ich sah ihr zum Abschied in die Augen. »Selbstverständlich, Detective Da Silva.« ... wird es keine weiteren Fragen mehr geben, fügte ich gedanklich hinzu. Dann ließ ich ihre Hand los.
Sie blinzelte kurz, nickte knapp und wandte sich um. Während sie zum Haus zurückging, zückte Officer Saunders einen Notizblock und schrieb sich Alistairs und meine Personalien inklusive der Telefonnummern auf. Danach waren wir entlassen, und gemeinsam gingen wir auf Jason zu, der noch immer auf der anderen Straßenseite mit Argusaugen über mich wachte.
»Du hast gelogen, Schwester«, brachte mein Bruder in sicherer Entfernung schließlich überrascht heraus.
»Ich habe die Wahrheit lediglich etwas gebeugt, Alistair«, erklärte ich trocken. »Lügen möchte ich das nun wirklich nicht nennen.«
»Aha. Und wie nennst du das, was du sonst gemacht hast? Freundliche Einflussnahme?«
»Ich würde es als Manipulation bezeichnen, Mr. McNamara«, meinte Jason.
»Nun mal nicht ganz so hart geurteilt, Jason. Apropos: Wieso hat mir niemand gesagt, dass Darian in der Zeitung erwähnt wurde?«
»Mr. Knight selbst war wenig erfreut über den Artikel, Miss McNamara. Doch um eine Quelle ständig frischer Blutkonserven zu erschließen, sind solche Maßnahmen hin und wieder notwendig. Auch wenn man dadurch etwas Staub aufwirbeln könnte.«
»Hm, zumindest lässt ihn das in einem Licht dastehen, das seine Weste ein wenig weißer wirken lässt, als sie tatsächlich ist. Und es macht deutlich, dass er niemanden aus Habgier umbringen würde. Nutzen wir es zu unserem Vorteil, falls jemand in der Suppe herumrühren will. Und nun, meine Herren, würde ich gerne meinen verschollenen Verlobten ausfindig machen.«